Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

02.08.2021, Georg-August-Universität Göttingen
Evolution der Wandelnden Blätter aufgeklärt: Göttinger Forschungsteam erstellt Stammbaum der Blattinsekten
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Universität Göttingen hat die Evolution der Wandelnden Blätter untersucht. Wandelnde Blätter gehören zu den Stab- und Gespenstschrecken, die anders als ihre etwa 3000 astförmigen Verwandten keine Zweige imitieren. Stattdessen tragen sie großflächige Erweiterungen an Körper und Beinen, um in Form und Farbe Laubblätter nachzuahmen. In dem nun erstellten genetischen Stammbaum werden die Verwandtschaftsbeziehungen von knapp 100 Arten ermittelt. Das sind etwa zwei Drittel aller bekannten Spezies. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Communications Biology erschienen.
Die Wandelnden Blätter haben ihre Tarnung, die als Schutz vor Fressfeinden wie Vögeln und Säugetieren dient, perfektioniert: durch Nachbildung von Fraßstellen und verwelkenden Blattelementen. Zudem imitieren die Tiere die Blattaderung durch eine spezielle Aderung der großen Vorderflügel.
Bislang war der Großteil der Wandelnden Blätter unter dem Namen Phyllium zusammengefasst. Jedoch waren hier zahlreiche Arten vereint, die überhaupt nicht näher miteinander verwandt sind. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führten nun einige neue Gattungen ein, um die natürliche Verwandtschaft beschreiben zu können. „Viele der untersuchten Arten sind noch nicht einmal wissenschaftlich beschrieben“, erklärt Sarah Bank, Erstautorin der Studie und Doktorandin im Studiengang Biodiversity and Ecology der Universität Göttingen. „Wir haben auch viele kryptische Arten identifiziert – also solche, die sich äußerlich nicht unterscheiden, aber genetisch stark verschieden sind.“ Der Göttinger Evolutionsbiologe Dr. Sven Bradler ergänzt: „Vor wenigen Jahren waren gerade einmal 50 Arten beschrieben. Durch unsere Studien und vor allem durch die Zusammenarbeit mit dem New Yorker Experten für Wandelnde Blätter, Royce Cumming, hat sich diese Zahl nunmehr verdoppelt. Dies zeigt, dass unsere Kenntnisse über biologische Vielfalt häufig stark abhängig sind von der Expertise einzelner. Für viele Organismengruppen fehlt derartiges Wissen schlichtweg.“
Das Team rekonstruierte zudem die stammesgeschichtliche Verbreitung der Insekten. Demnach liegt der Ursprung der Wandelnden Blätter im Südpazifik, von wo sie sich in den vergangenen 50 Millionen Jahre über das gesamte tropische Asien ausbreiteten – im Osten bis zu den Fidschi-Inseln und im Westen bis zu den Seychellen. „Das Alter der Wandelnden Blätter ist ein wissenschaftlich umstrittenes Thema“, sagt Bank. „Andere Studien hatten deren zeitlichen Ursprung in der Kreide- oder sogar Jurazeit, also vor 100 bis 150 Millionen Jahren angesiedelt. Damals waren die angiospermen (bedecktsamigen) Blütenpflanzen, deren Blätter die Insekten so perfekt imitieren, jedoch noch gar nicht verbreitet. Folglich erscheinen uns die Ergebnisse unserer Arbeit plausibler, die einen jüngeren Ursprung favorisieren.“
Originalpublikation:
Sarah Bank et al. A tree of leaves: Phylogeny and historical biogeography of the leaf insects (Phasmatodea:Phylliidae). Communications Biology (2021). Doi: https://doi.org/10.1038/s42003-021-02436-z

02.08.2021, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Verlust der Gefleckten Schnarrschrecke
Senckenberg-Wissenschaftlerin Marianna Simões hat mit einem internationalen Team das Verschwinden der Gefleckten Schnarrschrecke in Europa untersucht. Die vormals weit verbreiteten Insekten sind heute nur noch in wenigen europäischen Gebieten zu finden. Anders als erwartet ist dies keine Folge des globalen Klimawandels. In ihrer im Fachjournal „Biodiversity and Conservation“ erschienenen Studie führen die Forschenden das Aussterben vielmehr auf die massive Änderung der Landnutzung zurück.
Die Gefleckte Schnarrschrecke (Bryodemella tuberculata) ist laut der Roten Liste für bedrohte Tierarten in Deutschland vom Aussterben bedroht. „Noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war diese Art aus der Familie der Feldheuschrecken in ganz Europa und auch hier in Deutschland weitverbreitet“, erklärt Dr. Marianna Simões vom Senckenberg Deutschen Entomologischen Institut in Müncheberg und fährt fort: „Heute finden wir die Insekten, die im Flug einen charakteristischen, schnarrenden Ton erzeugen, nur noch reliktisch in wenigen Landschaftsstrichen Europas.“
Simões hat gemeinsam mit einem russisch-chinesisch-deutschen Team die Gründe für den Rückgang der mit bis zu 39 Millimetern Körperlänge zu den größten Feldheuschrecken zählenden, Art untersucht. Insgesamt 651 Belege von Exkursionen, aus wissenschaftlichen Sammlungen und aus der Literatur haben die Wissenschaftler*innen hierfür ausgewertet. Dabei verglichen sie auch die Populationen in Europa mit denen in Zentralasien. „Während die europäischen Schnarrschrecken nahezu überall dramatische Rückgänge zu verzeichnen haben, sind die zentralasiatischen Bestände recht stabil. Wir wollten verstehen, warum dies so ist und wie wir den europäischen Schnarrschrecken beim Überleben helfen können“, ergänzt die Müncheberger Insektenforscherin.
Die genetischen Analysen des Teams zeigen, dass der Ursprung der grau-braunen Insekten in Asien liegt und die Tiere sich von dort in ganz Europa ausbreiteten. Simões erläutert: „Gefleckte Schnarrschrecken leben bevorzugt in vegetationsarmen, sandigen oder steinigen Gebieten wie in Heiden oder an unverbauten Flussufern – genau diese Lebensräume gibt es aber durch die Umgestaltung und Nutzung durch den Menschen in Europa kaum noch. Unsere Daten zeigen, dass der Landnutzungswandel der entscheidende Faktor für das Aussterben der Tiere ist.“ Den Klimawandel schließen die Forschenden dagegen als Ursache aus – laut der Studie gibt es trotz erhöhter Temperaturen noch ausreichend viele klimatisch passende Habitate für die Insekten.
Um einem unwiederbringlichen Verlust der Schnarrschrecken entgegenzuwirken empfehlen die Wissenschaftler*innen in ihrer Studie den strikten Schutz der noch verbliebenen Lebensräume sowie Wiederansiedlungsprojekte. „Die Gefleckte Schnarrschrecke ist eine von vielen Arten, die durch die anthropogene Zerstörung ihres Lebensraums verschwindet – ein Flaggschiff für eine ganze Organismengruppe! Wir hoffen, dass unsere Ergebnisse dazu beitragen können diese Arten zu schützen bevor sie für immer verloren gehen“, schließt Simões.
Originalpublikation:
Dey, LS., Simões, M.V.P., Hawlitschek, O. et al. Analysis of geographic centrality and genetic diversity in the declining grasshopper species Bryodemella tuberculata (Orthoptera: Oedipodinae). Biodivers Conserv 30, 2773–2796 (2021). https://doi.org/10.1007/s10531-021-02221-8

03.08.2021, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau
Naturnahe Kleinstrukturen ergänzen Blühstreifen beim Schutz von Bestäubern
Zurzeit summt und brummt es in vielen Blühstreifen: Kornblumen, Mohn, wilde Möhren und viele andere Blüten locken zahlreiche Insekten an. Die von diesen Blumen bedeckten Bereiche an Ackerrändern blühen typischerweise im Zeitraum zwischen Mitte Mai und Mitte August. Um Bestäuberinsekten in der Agrarlandschaft das ganze Jahr über zu unterstützen, sind ergänzende Lebensräume notwendig. Naturnahe Kleinstrukturen, wie beispielsweise Gräben, Böschungen, Hecken oder überwachsene Zäune könnten eine solche Ergänzung darstellen.
„Wie wichtig naturnahe Lebensräume für Bestäuber sind, haben Forschende bereits vielfach gezeigt. Fast immer wurden dafür aber nur großflächige Strukturen erforscht, zum Beispiel weite Wiesen oder Weiden. Untersuchungen dazu, was Kleinstrukturen für Bestäuber bedeuten, und welche Arten besonders von diesen profitieren, sind rar“, sagt Vivien von Königslöw vom Institut für Geo- und Umweltnaturwissenschaften der Universität Freiburg. Daher hat sie gemeinsam mit Dr. Anne-Christine Mupepele und Prof. Dr. Alexandra-Maria Klein über zwei Jahre hinweg Blühstreifen sowie naturnahe Kleinstrukturen im Bodenseegebiet untersucht, wo aufgrund des großflächigen Obstanbaus ein besonderes Interesse an bestäubenden Insekten besteht. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscherinnen in der Fachzeitschrift Biological Conservation.
Naturnahe Habitate locken weitere Bienen an
„Unser Ziel war es, herauszufinden, auf welche Weise sich die Diversität von Wildbienen und Schwebfliegen im Umkreis von großflächigen Obstanlagen fördern lässt“, sagt von Königslöw. Dafür verglichen sie in ihrer Studie das Vorkommen von Bienen und Schwebfliegen in Blühstreifen sowie in bestehenden blütenreichen Lebensräumen, die jeweils am Rand von konventionellen Apfelplantagen in Süddeutschland liegen. In ihrer Analyse zeigte sich, dass die unterschiedlichen Blütezeiten und Pflanzenarten in den naturnahen Lebensräumen, wie Hecken und Kleingehölze vor allem Solitär- und oligolektischen, also nur eine Pollenart sammelnden, Bienen zugutekommen. Die vorhandenen Biotopflächen zogen Bienenarten mit einer anderen Pollenspezialisierung an als die eingesäten Blühstreifen. Gleichzeitig fanden die Forscherinnen in den Blühstreifen eine größere Anzahl an Bestäubern und zählten mehr Arten als in den Kleinstrukturen. „Damit ergänzen naturnahe Habitate bestehende Blühstreifen“, resümiert von Königslöw.
Für ihre Forschung legten die Ökologinnen im Jahr 2018 Blühstreifen am Rand von privaten Obstanlagen an. Naturnahe Kleinstrukturen, darunter Entwässerungsgräben, Böschungen und überwachsene Zäune, waren bereits vorhanden. Die Forscherinnen beobachteten die Bienen und Schwebfliegen von Frühling bis Spätsommer mindestens einmal pro Monat.
Effektiv und kostengünstig
„Naturnahe Kleinstrukturen können einen wichtigen Anteil zum Schutz von Bestäubern leisten, weil sie dazu beitragen, dass das ganze Jahr über Blüten bereitstehen“, sagt Klein, Leiterin der Professur für Naturschutz und Landschaftsökologie der Universität Freiburg. Zudem stellen sie potentielle Rückzugsorte und Nistmöglichkeiten dar, die zum Beispiel für überwinternde Hummeln wichtig sind. „Für einen effektiven und kostengünstigen Schutz von bestäubenden Insekten sollte sich nicht nur auf Blühstreifen konzentriert werden“, schlussfolgert Klein. „Auch vorhandene Kleinstrukturen aus Spontanvegetation, also Pflanzenarten, die aus vorhandenen Samen im Boden von alleine wachsen, sind für die Insekten attraktiv und sollten gefördert werden.“ Aktuell gebe es, erklärt die Freiburger Wissenschaftlerin, für Landwirt*innen jedoch kaum Förderanreize, Kleinstrukturen zu entwickeln und zu bewahren.
Originalpublikation:
Von Königslöw, V., Mupepele, A.C., Klein, A.M. (2021): Overlooked jewels. Existing habitat patches complement sown flower strips to conserve pollinators. In: Biological Conservation. DOI: 10.1016/j.biocon.2021.109263

03.08.2021, Universität zu Köln
Höhlenmalereien stammen von Neandertalern
Untersuchungen der Pigmente von Wandmalereien in der Cueva Ardales, einer Höhle in Südspanien, haben die Vermutung bestätigt, dass sie von Neandertalern stammen / Veröffentlichung in PNAS
Die Datierung von Malereien in drei Höhlen in Spanien stützt die Ansicht, dass Neandertaler mehr als 20 000 Jahre vor der Ankunft des anatomisch modernen Menschen in Europa Höhlenkunst in Form von farbigen Markierungen praktizierten. Àfrica Pitarch Martí und ihre Kolleg:innen vom Sonderforschungsbereich 806 „Our Way to Europe“ führten geowissenschaftliche Analysen zu den roten Pigmenten von einem mächtigen stalagmitischen Pfeiler in der Cueva de Ardales durch. Ziel war, die die Zusammensetzung und die mögliche Herkunft der Pigmente zu charakterisieren. Die Ergebnisse zeigten, dass die Zusammensetzung und Anordnung der Pigmente nicht auf natürliche Prozesse zurückgeführt werden kann, sondern dass sie durch Spritzen und an einigen Stellen durch Blasen aufgetragen wurden.
Die Beschaffenheit der Pigmente stimmt nicht mit natürlichen Proben überein, die vom Boden und von den Wänden der Höhle entnommen wurden, was darauf hindeutet, dass die Pigmente von außen in die Höhle gebracht wurden. Die Datierung der Malereien deutet darauf hin, dass sie bei mindestens zwei verschiedenen Gelegenheiten aufgetragen wurden, einmal vor mehr als 65.000 Jahren und ein weiteres Mal zwischen 45.300 und 48.700 Jahren, was die Entstehung der Markierungen in die Zeit der Neandertaler-Besiedlung legt. Nach Ansicht der Autoren handelt es sich nicht um Kunst im engeren Sinne, sondern vielmehr um Markierungen von ausgewählten Bereichen der Höhle, deren symbolische Bedeutung unbekannt ist. Ihr Artikel „The symbolic role of the underground world among Middle Palaeolithic Neanderthals“ wurde jetzt in PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America) veröffentlicht.
Bereits 2017 wurden in Zusammenarbeit mit spanischen, deutschen und britischen Kollegen mehr als 70 Sinterproben genommen, die bildliche Artefakten eindeutig überlagern und ein Mindestalter der darunterliegenden Darstellungen anzeigen. Da sich die dünnen Sinterschichten seit 10.000 von Jahren zufällig bilden, reichen die gemessenen Alter über den Darstellungen von 760 Jahren bis 65.520 Jahren vor heute. Von besonderem Interesse sind die Mindestalter von vier bildlichen Artefakten mit 65.529, 45.940, 45.290, und 38.650 Jahren vor heute, sagt Professor Dr. Gerd-Christian Weniger vom SFB 806 „Our Way to Europe“: „Nach unserem aktuellen Kenntnisstand reicht die älteste Besiedlung des Jungpaläolithikums in Zone 5 nur bis 35.422 Jahren vor heute zurück, sodass die vier genannten Proben auf eine Entstehung der unter ihnen liegenden Farbzeichen im Mittelpaläolithikum hinweisen und Neandertalern zugeschrieben werden können. Im Süden der Iberischen Halbinsel gibt es aktuell keinen gesicherten Nachweis zur Anwesenheit des anatomisch modernen Menschen vor mehr 34.000 Jahren vor heute.“
Drei dieser frühen Sinterdatierungen stammen von einem mächtigen Sinterpfeiler. Die Ränder des Pfeilers weisen eine ganze Serie enger Sinterfahnen auf. Allein in diesen Sinterfahnen wurden an 45 Stellen rote Farbflecken, Punkte und Linien angebracht. Der jüngste datierte Farbauftrag ist mindestens 45.290 Jahre alt, der älteste mindestens 65.529 Jahre alt. „Daher ist davon auszugehen, dass Neandertaler für diesen Auftrag roter Farbpigmente verantwortlich waren“, so Weniger. „Für den Farbauftrag weiter im Inneren der Höhle kann auch eine Autorenschaft von Neandertalern angenommen werden.“ Die datierten Punkte und Farbflecken wurden von Menschen aufgetragen und können nicht zufällig entstanden sein. Da sie tief im Innenbereich der Sintervorhänge angebracht wurden oder in einer Höhe, die nur durch Klettern erreicht werden konnte, handelt es sich gezielte Aktionen.

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