10.11.2025, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Unbekanntes Deutschland: Forschende starten Inventur der Biodiversität
Die Artenvielfalt ist selbst in Deutschland zu großen Teilen unbekannt. Um diese Wissenslücken zu schließen, haben sich acht deutsche Forschungseinrichtungen in der Initiative „Unbekanntes Deutschland“ zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist es, bisher unentdeckte Arten systematisch zu erfassen, zu beschreiben, ihre ökologische Bedeutung besser zu verstehen und daraus Schutzmaßnahmen zu entwickeln. Die Initiative vereint taxonomische Expertise, naturkundliche Sammlungen und moderne Technologien mit der Beteiligung von Citizen Scientists. Auf diese Weise soll eine umfassende Inventur der Biodiversität Deutschlands entstehen.
Alle Lebewesen – ob wir sie schon kennen oder sie noch im Verborgenen leben – spielen eine wichtige Rolle für das Funktionieren von Ökosystemen und die Leistungen, die sie für uns erbringen. Insekten bestäuben Pflanzen und helfen, Schädlinge auf natürliche Weise in Schach zu halten. Pilze sind unverzichtbar für den Nährstoffkreislauf, bilden enge Partnerschaften mit zahlreichen Gefäßpflanzen und werden zudem in Industrie und Medizin vielfältig genutzt. Die Lebewesen im Boden bauen organisches Material ab und halten so den Nährstoffkreislauf in Gang, speichern Kohlenstoff, regulieren Wasser und liefern Nährstoffe für den Aufbau von Biomasse, die als Nahrung oder Energie genutzt werden kann. „Trotz all dieser und vieler weiterer bekannter Zusammenhänge wissen wir über die grundlegendste Frage der Biodiversität – wie viele Arten es tatsächlich auf der Erde gibt – noch immer viel zu wenig und haben keine verlässlichen Zahlen“, erklärt Erstautorin der neuen Studie Dr. Ricarda Lehmitz vom Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz und fährt fort: „Während der ‚Catalogue of Life‘ derzeit 2,3 Millionen rezente Arten auflistet, reichen die Schätzungen der globalen Artenvielfalt von fast 9 Millionen bis hin zu mehreren Milliarden Arten – wenn man berücksichtigt, dass der Großteil des Lebens aus mikrobiellen Arten besteht. Selbst in der Bundesrepublik Deutschland, einem Land mit langer Tradition naturkundlicher Forschung, ist unsere Wissenslücke enorm.“
Vor diesem Hintergrund haben sich acht deutsche Forschungseinrichtungen –das Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB), das Naturkundemuseum Stuttgart, das Leibniz-Institut DSMZ-Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen, das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), das Museum für Naturkunde in Berlin, das Naturkundemuseum Karlsruhe, die Zoologische Staatssammlung München und die Senckenberg Gesellschaft für Naturkunde – in der Initiative „Unbekanntes Deutschland“ zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist es, die bisher unbekannten Arten in Deutschland zu entdecken, zu beschreiben, besser zu verstehen, angepasste Schutzkonzepte zu entwickeln sowie die Öffentlichkeit für die namenlose Vielfalt zu sensibilisieren. Das Konsortium vereint Forschungsinstitute, naturkundliche Sammlungen, unabhängige Expert*innen sowie Museen mit Erfahrung in Wissenschaftskommunikation und -transfer. „Deutschland ist reich an naturkundlichem Wissen und Forschungsinfrastruktur, über 147 Millionen naturkundliche Sammlungsstücke werden in der Bundesrepublik aufbewahrt. Dieses enorme Erbe bietet eine ideale Ausgangsbasis, um zu zeigen, wie man die Vielfalt des Lebens gezielt und systematisch erfassen kann – durch die Kombination von Fachwissen, naturkundlichen Sammlungen, Citizen-Science-Projekten, modernen Technologien und Bildungsarbeit“, erläutert Prof. Dr. Bernhard Misof, LIB-Generaldirektor und Mitautor der Studie.
Laut Artenlisten und den Bewertungen der Roten Liste Deutschlands leben in Deutschland derzeit etwa 48.000 Tierarten, 9.500 Pflanzenarten und 16.000 Pilzarten. Doch diese Zahlen geben längst nicht die ganze Vielfalt in den 16 Bundesländern wieder, so das Forschungsteam. Während Wirbeltiere und Gefäßpflanzen relativ gut dokumentiert sind, gibt es große Wissenslücken bei Insekten und anderen wirbellosen Tieren, Pilzen, Bakterien sowie Ein- und Mehrzellern. Für diese existieren bisher weder vollständige Artenlisten noch Rote-Liste-Bewertungen. Wenn man das für gemäßigte Regionen übliche Verhältnis von Pilzen zu Pflanzen – 5:1 – anwendet, könnte Deutschland rund 48.000 Pilzarten beherbergen. Das bedeutet, dass aktuell etwa 65 Prozent dieser Pilze noch nicht dokumentiert wurden. Mithilfe von Metabarcoding-Daten aus 75 in ganz Deutschland aufgestellten Insektenfallen konnten Forschende 10.803 Insektenarten identifizieren. Gleichzeitig zeigte sich, dass weitere 21.043 Arten entweder noch keinen Referenzbarcode besitzen oder bislang unbeschrieben sind. „Regenwürmer, Käfer und Tausendfüßer sind recht gut bekannt, bei einigen Milbengruppen und Springschwänzen kennt man zwar die meisten Arten, weiß aber kaum etwas über ihre Bestandsentwicklungen und Funktionen. Bei anderen Milbengruppen oder auch bei den Fadenwürmern sind wir von vollständigen Artenlisten weit entfernt“, so Lehmitz und weiter: „Noch deutlicher wird die unbekannte Vielfalt, wenn man sogenannte ‚kryptische‘ Arten berücksichtigt, die äußerlich kaum zu unterscheiden sind.“
Auch über die Rollen dieser Arten im Ökosystem oder über ihre genetische Vielfalt sei viel zu wenig bekannt, heißt es in der Studie. In der Initiative „Unbekanntes Deutschland“ sollen daher alle Lebensformen – von Bakterien und Archaeen über Pilze, Protisten und Pflanzen bis hin zu kleinen und großen Tieren – in terrestrischen, Süßwasser- und Meeresökosystemen und auf allen Ebenen, von der molekularen Ebene bis hin zu ganzen Ökosystemen, untersucht werden. „Ein Beispiel zeigt, dass solch eine gezielte Forschungsarbeit wirkt: Die erfassten Süßwasser-Diatomeen in Deutschland stiegen in den letzten 20 Jahren durch intensive taxonomische Forschung um 46 Prozent, von 1.437 auf 2.103 Taxa“, so Lehmitz.
Mit herkömmlichen Methoden würde eine vollständige Erfassung der Biodiversität Deutschlands Jahrhunderte dauern, betont das Forschungsteam. Dank modernster Technologien wie Hochdurchsatz-Sequenzierung, künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen, Datenintegration und Ökosystemmodellierung lassen sich diese Prozesse heute jedoch deutlich beschleunigen. Auch Citizen-Science-Projekte und Biodiversitätsdatenbanken spielen eine wichtige Rolle, indem sie Expert*innen bei der umfangreichen taxonomischen, ökologischen und naturschutzrelevanten Arbeit unterstützen.
„Mit der Initiative ‚Unbekanntes Deutschland‘ kombinieren wir moderne Ansätze mit fundierter taxonomischer Expertise und der Beteiligung der Öffentlichkeit, um in absehbarer Zeit eine umfassende Inventur der Biodiversität zu ermöglichen. Ich bin überzeugt, dass beispielsweise die Entdeckung neuer Spinnen- oder Ameisenarten in Deutschland das Interesse an biologischer Vielfalt weckt und in den Medien hohe Aufmerksamkeit findet“, gibt Senckenberg-Generaldirektor Prof. Dr. Klement Tockner, Letztautor der Studie, einen Ausblick und fährt fort: „Erste Schritte sind bereits getan: In einem gemeinsamen Workshop wurden bestehende Wissenslücken identifiziert, Finanzierungsmöglichkeiten geprüft und konkrete Projekte vorbereitet. Die Entdeckung, Beschreibung, funktionale Charakterisierung und Vermittlung der bislang unbekannten Biodiversität Deutschlands ist eine enorme, aber notwendige Aufgabe, wenn wir den unumkehrbaren Verlust biologischer Vielfalt aufhalten wollen.“
Originalpublikation:
Lehmitz, R., Hohberg, K., Husemann, M. et al. Unknown Germany – An integrative biodiversity discovery program. npj biodivers 4, 41 (2025). https://doi.org/10.1038/s44185-025-00108-3
11.11.2025, Universität Konstanz
Wie die männliche Schwangerschaft bei Seepferdchen möglich ist
Bei Seepferdchen tragen die Männchen den Nachwuchs aus. Ein Forschungsteam unter Leitung des Konstanzer Evolutionsbiologen Axel Meyer ergründete die zellulären Grundlagen der „männlichen Schwangerschaft“.
Vertauschte Geschlechterrollen: Bei den Seepferdchen ist es das Männchen, das die Babys austrägt. Das Weibchen legt hierzu seine Eier in eine spezielle Bruttasche am Bauch des Männchens, wo sie von dessen Spermien befruchtet werden. Die Embryos verbleiben im Inneren der Bruttasche und werden vom Körper des Männchens mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt, bis die jungen Seepferdchen schließlich per Lebendgeburt (Viviparie) auf die Welt kommen. Wie aber kann das funktionieren? Ein deutsch-chinesisches Forschungsteam um den Evolutionsbiologen Axel Meyer von der Universität Konstanz in Zusammenarbeit mit Liu Yali und Lin Qiang vom South China Sea Institute for Oceanography in Guangzhou untersuchte die genetischen und zellulären Mechanismen, die den Rollentausch möglich machen. Es stieß dabei auf ungewöhnliche hormonelle Abläufe und einzigartige Strategien der Immuntoleranz, die diese evolutionäre Entwicklung ermöglichten.
Die Bruttasche – eine evolutionäre Neuheit
Evolutionär gesehen ist die Bruttasche eine einzigartige Innovation – und mit ihr die „männliche Schwangerschaft“. Die Bruttasche der männlichen Seepferdchen übernimmt die Aufgaben des Uterus und der Plazenta. Während der Schwangerschaft verändert sich ihr Gewebe und bildet eine Struktur aus, die der Plazenta weiblicher Säugtiere ähnelt. Dieser Prozess ist durchaus vergleichbar mit der Bildung der Plazenta bei schwangeren Säugetieren.
Wie das funktioniert, wurde mit vergleichenden genomischen Methoden anhand von RNA-Analysen auf zellulärer Basis erforscht. Die Zellen und zellulären Signale, die die Plazenta der Säugetiere ausmachen, wurden mit denen der männlichen Bruttasche der Seepferdchen verglichen. In allen anderen Fällen der Lebendgeburt spielen weibliche Hormone eine Schlüsselrolle bei den körperlichen Veränderungen in der Schwangerschaft und für die Entwicklung der Embryos. Wie Axel Meyer und sein Team nun jedoch nachwiesen, verläuft die „männliche Schwangerschaft“ bei Seepferdchen interessanterweise ohne diese typischen weiblichen Hormone.
„Unsere Untersuchungen bestätigten, dass Androgene – also männliche Sexualhormone – anstelle von klassischen weiblichen Hormonen bei der Entwicklung der Embryos in der Bruttasche eine zentrale Rolle spielen“, erläutert Axel Meyer. „Die Androgene induzieren die Verdickung und die Gefäßbildung der Hautschicht im Bauchbereich zu einer Struktur, die der Plazenta von Säugetieren ähnelt. Hier zeigt sich ein interessanter Unterschied zur Entwicklung des weiblichen Uterus der Säugetiere inklusive des Menschen, die typischerweise von weiblichen Hormonen geleitet wird.“
Ebenso überraschend ist der Blick auf das Immunsystem. Bei einer Lebendgeburt muss sichergestellt sein, dass das Immunsystem der Mutter – oder in diesem Fall des „schwangeren“ Männchens – die Embryos nicht als Fremdkörper versteht und immunologisch abstößt. Hierfür sorgt typischerweise das Gen foxp3, ein Schlüssel-Gen des Immunsystems bei vielen lebendgebärenden Arten. Erstaunlicherweise fehlt jedoch genau dieses Gen bei der Schwangerschaft des männlichen Seepferdchens. Dennoch kommt es nicht zu einer Autoimmunreaktion, also zur Abstoßung des Embryos. Axel Meyer vermutet eine ungewöhnliche Immuntoleranz-Strategie bei den Seepferdchen, bei der erneut die männlichen Hormone eine entscheidende Rolle spielen könnten: „Androgene üben oft eine immunsuppressive Wirkung aus, also eine Unterdrückung der Immunabwehr. Dies könnte zu dieser einzigartigen Immuntoleranz beitragen.“
Evolutionäre Einblicke
Die genetischen und zellulären Besonderheiten der Bruttasche erlauben einen spannenden Blick auf die evolutionäre Entwicklung von eierlegenden zu lebendgebärenden Arten. „Die unterschiedlichen evolutionären Stadien innerhalb der Familie der Syngnathidae, der Seepferdchen, machen sie zu einem hervorragenden Modell, um die Entwicklung von der Oviparie ihrer Vorfahren (eierlegende Fortpflanzung) zur Viviparie (Lebendgeburt) nachzuvollziehen.“ Die Fachleute vermuten, dass ein erster Schritt die Entwicklung von „klebrigen Eiern“ war, die am Körper des Männchens – damals noch ohne Bruttasche – anhaften. Der nächste evolutionäre Schritt war daraufhin die Entwicklung der Bruttasche des Männchens, welche die Eier aufnimmt, schützt und mit Nährstoffen versorgt. „Dank unserer Untersuchungen verstehen wir nun die genetischen, molekularen und zellulären Mechanismen besser, die dieser bemerkenswerten evolutionären Entwicklung unterliegen – wie sich die Schwangerschaft bei weiblichen Säugetieren und männlichen Seepferdchen wiederholt entwickelte, aber auf unterschiedlichen genetischen und hormonellen Wegen“, schließt Axel Meyer.
• Originalpublikation: Yali Liu, Han Jiang, Yuanxiang Miao, Wenli Zhao, Ralf Schneider, Liduo Yin, Xinyue Yu, Haiyan Yu, Xuemei Lu, Enguang Bi, Luonan Chen, Axel Meyer, Qiang Lin, Cellular and molecular mechanisms of seahorse male pregnancy, Nature Ecology & Evolution 2025
DOI: 10.1038/s41559-025-02883-5
Link: https://www.nature.com/articles/s41559-025-02883-5
12.11.2025, Justus-Liebig-Universität Gießen
Die Spinne mit dem Bienengift
Forschende entschlüsseln das Toxinarsenal der giftigsten heimischen Spinnenart – Neue Perspektiven für die Suche nach Wirkstoffen gegen zellbasierte Krankheiten
Der Ammen-Dornfinger ist die giftigste Spinne Deutschlands. Ihr Biss kann zu Beschwerden führen, die medizinische Behandlung erfordern. Trotzdem war der Giftcocktail dieser Spinne bislang nahezu unbekannt. Forschende der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) und des Fraunhofer Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie (IME) haben nun erstmalig das Gift des Ammen-Dornfingers entschlüsseln können und dabei wichtige Einblicke in die Evolution und Pharmakologie seiner Toxine erhalten. Die Arbeit ist im Fachjournal „Communications Biology“ erschienen.
Spinnen sind Gifttiere und von vielen Menschen gefürchtet. Dabei sind die Bisse der meisten Arten, vor allem in Deutschland, für den Menschen völlig ungefährlich und oft sogar symptomlos. Eine Ausnahme dazu bildet der Ammen-Dornfinger (Cheiracanthium punctorium), dessen Biss eine für Spinnen äußerst ungewöhnliche Symptomatik verursacht: Starke Schmerzen, Schwellungen und manchmal sogar Kreislaufprobleme, die bei Kindern und Vorerkrankten zu medizinischen Notfällen führen können. Das potente Gift dieser Spinne haben Forschende von JLU und IME nun durch moderne Methoden der Systembiologie entschlüsselt.
„Wir haben einen ganzen Katalog an neuen, spannenden Toxinen identifiziert und konnten zeigen, wie der Ammen-Dornfinger so schmerzhafte Vergiftungen verursachen kann“, sagt Dr. Tim Lüddecke, Leiter der Arbeitsgruppe „Animal Venomics“ am Institut für Insektenbiotechnologie der JLU und Erstautor der Studie. Das Gift des Ammen-Dornfingers enthält viele Komponenten, die Zellstrukturen angreifen – ähnlich wie Bienengift – und so die starken lokalen Effekte verursachen. „Dafür verantwortlich sind vor allem ein Toxintyp namens CPTX sowie das Enzym Phospholipase A2“, so Lüddecke.
Durch umfangreiche vergleichende Analysen von Giften aus dem gesamten Spinnenreich und mittels evolutionärer Rekonstruktionen konnten die Forschenden herleiten, dass beide Toxine eine komplexe Entstehungsgeschichte durchlaufen haben. Während die Toxinfamilie der CPTX und ihrer Verwandten früh in der Evolution der heutigen Spinnen entstanden und durch Genfusion ihre charakteristische Struktur erlangten, finden sich bedeutende Mengen der Phospholipase A2 nur im Ammen-Dornfinger.
Defensive Gifte sind durch schnell einsetzende, starke Schmerzen gekennzeichnet, was eine rasche Abwehr von Feinden ermöglicht. Die Phospholipase A2 kommt bei vielen Tieren vor die ihr Gift defensiv einsetzen, vor allem bei Insekten. Die Forschenden haben ihre Struktur untersucht und festgestellt, dass die Phospholipasen im Ammen-Dornfinger ähnlich zu denen aus Bienengift sind. Sie vermuten, dass die pharmakologische und strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Gift des Ammen-Dornfingers und dem Bienengift in der vergleichbaren biologischen Funktion begründet liegt. „Im Gegensatz zu anderen Spinnen nutzt der Ammen-Dornfinger sein Gift in erster Linie, um seine Brut zu verteidigen“, erläutert Lüddecke. „Auch Bienen und einige weitere Arten haben klassische defensive Gifte. Offenbar reagiert die Evolution hier mit ähnlichen biomolekularen Lösungen auf vergleichbare Problemstellungen, obwohl die jeweiligen Arten nicht nahe verwandt sind.“
Daraus ergeben sich neue Perspektiven für die Suche nach Wirkstoffen. So wurde Spinnengift bislang nahezu ausschließlich für die Suche nach neuen Leitstrukturen für die Behandlung neuronaler Krankheiten berücksichtigt. „Die Bandbreite an Toxinen im Ammen-Dornfinger, die Zellen attackieren, deutet jedoch an, dass sie zukünftig auch für Wirkstoffe gegen zellbasierte Krankheiten wie Krebs evaluiert werden sollten“, sagt Lüddecke.
Originalpublikation:
Lüddecke, T., Hurka, S., Dresler, J. et al. Comparative venomics suggests an evolutionary adaption of spider venom from predation to defense. Commun Biol 8, 1496 (2025). https://doi.org/10.1038/s42003-025-09015-6
12.11.2025, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Ameisen weltweit: Vielfalt bis zu dreimal höher geschätzt
Heute sind rund 14.260 lebende und 810 fossile Ameisenarten bekannt – vermutlich jedoch nur ein Bruchteil der tatsächlichen Zahl. Eine neue im Fachjournal „Insect Systematics and Diversity“ veröffentlichte Studie zeigt, wie moderne Methoden wie DNA-Sequenzierung die Ameisensystematik verändert haben. Ameisen besiedeln fast alle Lebensräume und spielen eine zentrale ökologische Rolle, doch viele Regionen – besonders in Asien und Afrika – sind noch unzureichend erforscht. Das internationale Team unter der Leitung von Senckenberg-Forschenden schlägt ein einheitliches Benennungssystem für höhere Ameisengruppen vor und betont die Bedeutung der Nachwuchsförderung.
Alles begann 1758, als Carl von Linné die ersten 17 Ameisenarten wissenschaftlich beschrieb. Seitdem hat sich die Zahl der bekannten Arten rasant vermehrt: Heute sind weltweit etwa 14.260 lebende und rund 810 fossile Arten dieser eusozialen Tiere wissenschaftlich beschrieben. „Unter allen Insekten stehen die Ameisen wohl unangefochten an der Spitze, was ihre Häufigkeit, weltweite Verbreitung und ökologische Bedeutung angeht“, erklärt die Co-Erstautorin der neuen Studie Dr. Jill T. Oberski vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Ameisen entstanden vermutlich im späten Jura oder frühen Kreidezeitalter und dominieren heute fast alle Lebensräume – von subpolaren Wäldern bis zu tropischen Wüsten. Dort erfüllen die Sechsbeiner zentrale ökologische Funktionen: Sie interagieren mit Pflanzen, Pilzen, Blattläusen, zahllosen Bodenorganismen und sogar Wirbeltieren; sie regulieren andere Gliedertierpopulationen, verbreiten Pflanzensamen und prägen die Struktur ganzer Ökosysteme.“
Oberski hat gemeinsam mit Dr. Brendon E. Boudinot (Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt), Dr. Gabriela P. Camacho (Museu de Zoologia, Universidade de São Paulo, Brasilien) und Dr. Zachary H. Griebenow (Colorado State University, USA) sowie weiteren Forschenden aus Argentinien, Australien, Brasilien, Kanada, Kolumbien, Tschechien, Deutschland, Japan, Ungarn, Indien, Italien, Mexiko, Philippinen, Polen, Singapur, Südafrika, Spanien, Sri Lanka und den USA den aktuellen Stand zur heutigen Ameisenvielfalt zusammengefasst. Zusätzlich zeichnet das internationale Team die Geschichte der Klassifikation der Gliedertiere nach und beleuchtet das enorme Wachstum des Forschungsfeldes im neuen Jahrtausend. „Die moderne Ameisen-Systematik hat sich durch technologische Fortschritte grundlegend verändert. DNA-Sequenzierung, modellbasierte Hypothesentests und präzise Bildgebungstechniken haben es ermöglicht, die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Familie Formicidae viel genauer zu erfassen als je zuvor“, so Boudinot und weiter: „Trotzdem schätzen wir, dass die tatsächliche Zahl der Ameisenarten weltweit zwei- bis dreimal höher liegt als die aktuell etwa 14.000 wissenschaftlich beschriebenen.“
Wie die Studie hervorhebt, richten viele wissenschaftliche Untersuchungen ihren Fokus auf Europa und Nordamerika – Regionen, in denen lediglich ein kleiner Teil der globalen Insektenvielfalt vorkommt. „In Europa ist die Ameisenfauna recht gut dokumentiert“, so Oberski. „Einige mediterrane Gebiete gehören aber trotz intensiver Forschung zu den Regionen mit den meisten noch unentdeckten Arten.“ In Asien seien viele Gebiete weiterhin schlecht erforscht: Himalaya, Nordostindien, Burma, Teile Thailands, Vietnams sowie zahlreiche philippinische und indonesische Inseln gelten als Hotspots seltener Arten. Auch in Afrika ist noch Vieles unentdeckt: Trotz intensiverer Forschung in den letzten Jahrzehnten sind große Teile des Kontinents kaum untersucht. Über 60 Prozent der afrikanischen Ameisenarten sind unbeschrieben, besonders im Kongobecken, dem Eastern Arc und Albertine Rift, in Zentralafrika sowie im Norden von Mosambik und Sambia, vermeldet das Forschungsteam. „Wir sehen, dass die Zahlen der erfassten Ameisenarte mit dem Forschungseinsatz steigen: Aus Sambia sind beispielsweise bisher 142 Arten bekannt, aus dem kleineren, aber besser erforschten Simbabwe 475 Arten“, fügt Boudinot hinzu. Um den wissenschaftlichen Austausch zu erleichtern, schlägt das Forschungsteam nun ein informelles Benennungssystem für die höheren Ameisengruppen vor – basierend auf bereits etablierten Bezeichnungen und neuen Namen, die gemeinschaftlich ausgewählt wurden.
„Damit die Ameisenforschung auch langfristig floriert, wird es aber auch entscheidend sein, neue Fachleute für die Systematik zu gewinnen – etwa durch praxisnahe Feldkurse und Forschungsprojekte für Studierende. Nur so lässt sich das enorme Potenzial dieses faszinierenden Forschungsfelds auch in Zukunft ausschöpfen“, schließt Oberski.
Originalpublikation:
Jill T Oberski*, Z.H. Griebenow*, … (39 authors) … G.P. Camacho**, Brendon E. Boudinot** (2025): Ant systematics: past, present, and future. Insect Systematics and Diversity, Volume 9, Issue 4, July 2025, 11, https://doi.org/10.1093/isd/ixaf025
12.11.2025, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Weniger Laufkäfer in Deutschland
52 Prozent aller Laufkäferarten in Deutschland sind rückläufig, während 22 Prozent zugenommen haben, so die bislang umfassendste Analyse zur Verbreitung von Laufkäfern. Ein Forschungsteam unter der Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) analysierte über 600.000 Datensätze zu 549 Laufkäferarten, die in den letzten 36 Jahren in ganz Deutschland gesammelt wurden. Die in der Fachzeitschrift Diversity and Distributions veröffentlichten Ergebnisse liefern neue Erkenntnisse über die Trends einer wichtigen Artengruppe inmitten der breiteren Debatte über das sogenannte „Insektensterben”.
Laufkäfer spielen als Raubtiere und Samenfresser eine wichtige Rolle in Ökosystemen und dienen gleichzeitig vielen anderen Tieren als Beute. In deutschen Wäldern leben schätzungsweise zwischen 20.000 und 70.000 Individuen pro Hektar Wald.
Die Forscher haben das Vorkommen von 549 Arten analysiert, d. h. ob sie eine Art an einem bestimmten Standort finden konnten oder nicht. Für 383 Arten konnten sie daraufhin nationale Trends über die vergangenen 36 Jahren berechnen: Das Vorkommen ging bei 52 Prozent der Arten zurück, während 22 Prozent der Arten einen Anstieg verzeichneten. Interessanterweise gingen bedrohte und nicht bedrohte Arten in ähnlichem Maße zurück.
„Laufkäfer sind für gesunde Ökosysteme unverzichtbar“, sagt Dr. Shawan Chowdhury, Erstautor der Studie. „Ihr Rückgang ist ein ernstzunehmendes Warnsignal. Wir plädieren für eine harmonisiertere und systematischere Überwachung dieser Insektengruppe.“ Chowdhury führte die Studie bei iDiv, der Friedrich-Schiller-Universität Jena und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) durch. Er arbeitet jetzt an der Monash University in Australien.
Der Rückgang der Laufkäfer ist bei Arten, die in Küstenregionen leben, am stärksten ausgeprägt. Große, in Wäldern lebende Arten scheinen weniger betroffen zu sein, obwohl selbst eng verwandte Arten sehr unterschiedliche Trends zeigen: Der Große Striemenläufer (Molops elatus), eine zentraleuropäisch-montan verbreitete Art, verzeichnet starke Rückgänge. Viel häufiger in Deutschland ist der Braunfüßige Striemenläufer (Molops piceus). Bei ihm ist trotz ähnlicher Lebensweise eine Zunahme zu verzeichnen.
Ähnlich verhält es sich auch bei nah verwandten Großlaufkäfern: Der Dunkelblaue Laufkäfer (Carabus intricatus) breitet sich derzeit in höhere Lagen aus und nimmt aufgrund der Klimaerwärmung wahrscheinlich landesweit zu. Dagegen nimmt der Bergwald-Laufkäfer (Carabus sylvestris), eine Charakterart submontaner und montaner Lagen, im Vorkommen deutlich ab.
„Unsere Synthese und Trendanalyse war nur dank der großartigen Zusammenarbeit mit vielen Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie Fachleuten aus Naturkundevereinen, Nationalparks, Museen und Landesbehörden in unserem sMon-Netzwerk möglich“, sagt Senior-Autorin Prof. Aletta Bonn, Forschungsgruppenleiterin beim UFZ, iDiv and der Friedrich-Schiller-Universität Jena. „Durch die Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten aus Gesellschaft, Politik und Wissenschaft können wir Veränderungen der biologischen Vielfalt verstehen und hoffentlich auch auf die Wiederherstellung gesunder Ökosysteme hinarbeiten.“
Originalpublikation:
Chowdhury, S., Bowler, D. E., Boutaud, E., Bleich, O., Bruelheide, H., Buse, J., Engel, T., Gebert, J., Grescho, V., Gürlich, S., Harry, I., Jansen, F., Klenke, R. A., van Klink, R., Winter, M., Bonn, A. (2025). Widespread decline of ground beetles in Germany. Diversity and Distributions, 31, e70112. DOI: 10.1111/ddi.70112
13.11.2025, Universität Hohenheim
Insektensterben: Simulation ergibt 24 Milliarden Euro Verlust in Europa
Uni Hohenheim: Weitgehendes Verschwinden der wildlebenden Bestäuber in Europa hätte weltweite Folgen für Landwirtschaft, Erträge, Preise, Handel und Ernährung.
Ein hypothetisches Verschwinden der Wildbestäuber im Jahr 2030 würde nicht nur Ernteausfälle und steigende Lebensmittelpreise nach sich ziehen, sondern auch die Ernährungssicherheit und den wirtschaftlichen Wohlstand weltweit gefährden. Zu diesem Schluss kommt eine Simulation der Universität Hohenheim in Stuttgart: Allein in Europa würde im Jahr 2030 der gesamtwirtschaftliche Schaden rund 24 Milliarden Euro betragen. Besonders stark betroffen wären Ost- und Südeuropa. Der weltweite Handel könnte die Ausfälle nur teilweise ausgleichen. Die Ergebnisse zeigen, dass die europäische Landwirtschaft stark von Wildbestäubern abhängt und dass deren Schutz nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch von zentraler Bedeutung ist – insbesondere in den Regionen, die am stärksten gefährdet sind und politisch solche Maßnahmen bislang am wenigsten unterstützen.
Wildlebende Insekten spielen eine entscheidende Rolle für den Ertrag vieler Kulturpflanzen. Ein Verschwinden dieser Wildbestäuber hätte massive wirtschaftliche, ökologische und soziale Folgen, weit über die Landwirtschaft hinaus. Doch wie sähe ein realistisches Szenario aus, wenn ein Großteil der Insekten großflächig wegfallen würde?
Dieser Frage ist ein Hohenheimer Forschungsteam unter Leitung von Professor Arndt Feuerbacher in einer Simulation nachgegangen. Dabei gingen die Forschenden davon aus, dass ein Rückgang der Insekten um 90 Prozent bis in das Jahr 2030 im Vergleich zum Jahr 2017 einem völligen Zusammenbrechen der Populationen gleichkommen würde.
Das Ergebnis lässt aufhorchen: Die Erträge bestäuberabhängiger Kulturen wie Obst, Gemüse und Ölsaaten würden drastisch sinken, während zum Beispiel Getreide, das nicht durch Tiere bestäubt wird, kaum betroffen wäre.
Gesamtwirtschaftlicher Schaden 2030 in Europa rund 24 Milliarden Euro
Insgesamt würde die landwirtschaftliche Produktion in Europa im Durchschnitt um vier Prozent zurückgehen, für stark bestäuberabhängige Pflanzen um rund 13 Prozent. „Regionen wie Spanien oder Teile Osteuropas, die stark von wildlebenden Bestäubern abhängen, müssten sogar mit Ertragseinbußen von über 20 Prozent rechnen“, warnt der Experte.
Diese Ertragseinbrüche führten zu steigenden Preisen für Nahrungsmittel, während die Verfügbarkeit vieler Produkte sinkt. Zwar könnten einige Produzent:innen von höheren Verkaufspreisen profitieren, insgesamt aber überwiegen die Verluste deutlich: „Der daraus resultierende gesamtwirtschaftliche Schaden beliefe sich im Jahr 2030 allein in Europa auf etwa 24 Milliarden Euro.“
Weltweite Handelsverschiebungen & wirtschaftlicher Gesamtverlust über 34 Mrd. Euro
Die Auswirkungen wären jedoch nicht auf Europa beschränkt. Durch die sinkenden europäischen Erträge und steigenden Preise käme es zu spürbaren Verschiebungen im internationalen Handel. Die Europäische Union (EU), bislang Nettoexporteur vieler Obst- und Gemüsearten, würde zum Nettoimporteur.
„Asien sowie Mittel- und Südamerika könnten zwar rund 80 Prozent der zusätzlichen europäischen Nachfrage decken, doch weltweit würden Verbraucher:innen durch höhere Preise belastet“, erläutert Feuerbacher. Besonders ärmere Länder und Haushalte wären stärker betroffen, da sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssten. Der gesamtwirtschaftliche Verlust weltweit würde sich nach Schätzungen der Forschenden im Jahr 2030 auf über 34 Milliarden Euro belaufen.
Sinkende Ernährungssicherheit
Trotz der Marktanpassungen würde sich die Versorgungslage in Europa deutlich verschlechtern. Obst, Gemüse und Ölsaaten sind nicht nur ökonomisch, sondern auch ernährungsphysiologisch von zentraler Bedeutung. Die Verfügbarkeit dieser nährstoffreichen Lebensmittel würde spürbar sinken.
In der Folge nähme insbesondere die Versorgung der Bevölkerung mit Vitamin A und Folat ab. So würde innerhalb der EU die Verfügbarkeit von Vitamin A im Durchschnitt um 3,7 Prozent zurückgehen. Professorin Christine Wieck, die an der Studie beteiligt ist und an der Universität Hohenheim das Fachgebiet Agrar- und Ernährungspolitik leitet, fasst es zusammen: „In Europa leben laut der Welternährungsorganisation bereits 58 Millionen Menschen, die von moderater oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen sind, vor allem in Süd- und Osteuropa. Die Herausforderung, diese Zahl zu reduzieren, würde mit einem Verschwinden der wilden Bestäuber deutlich schwieriger werden.“
Auch in anderen Weltregionen könnten sich Engpässe verschärfen, da die verstärkte europäische Nachfrage nach nährstoffreichen Lebensmitteln dort zu Versorgungsdefiziten führen würde. Vor allem in Teilen Afrikas, Mittel- und Südamerikas sowie Asiens würde die Konkurrenz um vitamin- und mineralstoffreiche Nahrungsmittel zunehmen und sich die Ernährungssicherheit in diesen ohnehin gefährdeten Regionen weiter verschlechtern.
Politische Auffälligkeiten
Die Forschenden stellten auch eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen ökologischer Betroffenheit und politischer Haltung fest: Länder, die besonders stark unter einem möglichen Verschwinden der Wildbestäuber leiden würden, zeigen tendenziell geringere Unterstützung für EU-Verordnungen zum Biodiversitätsschutz, wie beispielsweise die EU-Verordnung über die Wiederherstellung der Natur (das „Nature Restoration Law“) oder die Verordnung zur nachhaltigen Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (die „Sustainable Use Regulation“).
„Die ökonomischen Kosten des Verschwindens wilder Bestäuber sind besonders hoch in Ländern deren EU-Abgeordnete im Parlament mehrheitlich gegen die genannten EU-Verordnungen gestimmt haben“, so Professor Feuerbacher. „Vermutlich liegt diesem Muster die höhere volkswirtschaftliche Abhängigkeit von der landwirtschaftlichen Produktion zu Grunde, was wiederum das Abstimmverhalten der Abgeordneten beeinflussen kann. Hierzu besteht weiterer Forschungsbedarf.“
Handlungsperspektiven
Ein Verlust der Wildbestäuber hätte nicht nur wirtschaftliche, sondern auch ökologische Folgen. Diese Insekten sichern nicht nur Erträge, sondern auch die Fortpflanzung zahlreicher Wildpflanzen, beeinflussen ganze Nahrungsketten und fördern damit die Stabilität ganzer Ökosysteme. Zudem führt der Ertragsrückgang zu einer Flächenausweitung der Landwirtschaft, was Biodiversität und Ökosystemleistungen weiter gefährdet.
Die Forschenden betonen, dass Wildbestäuber nicht vollständig durch Honigbienen oder andere technische Verfahren ersetzt werden könnten. Der Schutz ihrer Lebensräume ist daher dringend erforderlich. „Wenn Europa auch nur einen Teil der 24 Milliarden jährlich in eine biodiversitätsfreundliche Landwirtschaft, die Förderung von Blühstreifen, Hecken und extensiv genutzten Flächen investieren würde, könnten wir die Folgen des Insektenrückgangs deutlich abmildern oder sogar umkehren, und langfristig sowohl Erträge als auch Ernährung sichern“, so das Fazit von Professor Feuerbacher.
Das Modell hinter der Analyse
Für die Untersuchung nutzten die Forschenden das etablierte agrarökonomische Simulationsmodell CAPRI. Es bildet Angebot, Nachfrage und Handel von rund 50 landwirtschaftlichen Produkten weltweit ab und beschreibt komplexe Wechselwirkungen zwischen regionaler Landwirtschaft und globalen Märkten realitätsnah.
Zudem unterscheidet das Modell klar zwischen Wildbestäubern und bewirtschafteten Bestäubern, wie zum Beispiel Honigbienen. Dabei nahmen die Forschenden an, dass die Zahl der bewirtschafteten Bestäuber konstant bleibt – Landwirte können also nicht unbegrenzt Bienenstöcke „nachrüsten“.
„Unser Szenario beschreibt mit einem 90-prozentigen Rückgang der Wildbestäuber einen Extremfall, der zwar unwahrscheinlich, aber leider nicht ausgeschlossen ist“, so Professor Johannes Steidle vom Fachgebiet Chemische Ökologie, der an der Universität Hohenheim zum Thema Insektensterben forscht. „So verdeutlicht es eindrücklich, wie eng ökologische und ökonomische Stabilität miteinander verflochten sind – und wie teuer das Verschwinden der Wildbestäuber letztlich für uns alle werden könnte.“
Publikation
Feuerbacher, A., Kempen, M., Steidle, J.L.M. et al. The economic, agricultural, and food security repercussions of a wild pollinator collapse in Europe. Nat Commun 16, 9892 (2025). https://doi.org/10.1038/s41467-025-65414-7
13.11.2025, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
Biber schaffen Lebensräume für Fledermäuse
Viele Arten profitieren von den Lebensräumen, die Biber durch den Bau von Dämmen schaffen – und zwar nicht nur Wasserlebewesen. Eine neue Untersuchung der Forschungsanstalten WSL und Eawag weist nach, dass in Biberrevieren mehr Fledermäuse jagen als ausserhalb.
* Die Studie untersuchte in Gebieten mit und ohne Biberdämme, wie intensiv Fledermäuse jagten, wie viele Fluginsekten vorkamen und welche Lebensraum-Elemente wie tote Bäume es gab.
* Bei Biberteichen kamen mehr Fledermausarten vor, darunter auch mehr gefährdete Arten, als an anderen Abschnitten.
* Die Jagdaktivität der Fledermäuse an den Biberteichen war 1.6-mal so hoch wie im Gebiet ohne Biberaktivitäten, die Frassaktivität war sogar um 2.3-mal höher.
Der Biber war im 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas bis auf wenige tausend Tiere ausgerottet. Doch dank Jagdverbot und Auswilderungsprojekten gibt es heute europaweit wieder über 1,4 Millionen Biber; in der Schweiz sind es rund 4900. Indem sie Bäche stauen und Bäume fällen, schaffen sie Lebensräume und Nahrung für viele andere Lebewesen, vor allem Fische und andere aquatische Lebewesen. Weniger klar ist bislang, wie sich die Bautätigkeit des Bibers auf Tiere und Ökosysteme an Land auswirkt. Dies hat nun ein Team von der WSL und der Eawag zusammen mit der nationalen Biberfachstelle bei info fauna für Fledermäuse untersucht.
Dazu verglichen die Forschenden an acht Flüssen im Schweizer Mittelland jeweils zwei Abschnitte, einen mit Biberdamm und einen ohne jeglichen Bibereinfluss. Sie zeichneten die Echolot-Rufe der Fledermäuse bei der Insektenjagd auf, um deren Menge zu schätzen, und zählten Fluginsekten, die sie mit speziellen Fallen knapp über der Wasseroberfläche fingen. Ausserdem schauten sie sich die Qualität der Vegetation mit und ohne Biber an: Die Zahl der stehenden und liegenden toten Bäume, die Pflanzenarten und die Waldstruktur, also wie lückig und unterschiedlich hoch das Kronendach ist.
Gefährdete Fledermausarten
Im Schnitt kamen pro Nacht bei Biberteichen fünf und an den anderen Bachabschnitten vier Fledermausarten vor, von schweizweit dreissig einheimischen Arten. Auch flogen an Biberteichen öfter bedrohte Arten der roten Liste. Die Fledermäuse jagten in Biberrevieren zudem 2.3 mal häufiger als in den Kontrollstrecken, was sich an der Struktur der Echolotrufe ablesen liess. «Ich hätte nicht mit einer so deutlichen Zunahme der Fledermäuse gerechnet», sagt Valentin Moser, der die Studie als Teil seiner Doktorarbeit an der WSL durchgeführt hat.
Was lockte die Fledermäuse an? Zum einen waren das der vielfältigere, offenere Baumbestand und das tote Holz in den Biberrevieren, aber auch die grössere Anzahl an Insekten. «Die Qualität des Lebensraums ist in Biberrevieren besser und die Futtermenge höher als ausserhalb», sagt Moser. Eine der bedrohten Arten, die Mopsfledermaus, schlafe zum Beispiel unter abblätternden Rindenstücken an stehenden, toten Bäumen. «In den Bibersystemen gibt es diese häufig», sagt Moser. Ein Teil der Bäume stirbt, weil Biber sie fällen, ein anderer, weil sie im gestauten Wasser absterben. «So stehen die Baumstämme noch jahrelang da und bieten einen sehr wertvollen, weil seltenen Lebensraum», sagt Moser.
Ihre Resultate haben die Forschenden im Fachjournal Journal of Animal Ecology veröffentlicht. Darin betonen sie, dass Biber als natürliche Unterstützer beim Schutz von bedrohten Arten wie Fledermäusen helfen können. Dem schliesst sich Christof Angst an, der Leiter der nationalen Biberfachstelle bei info fauna, dem Nationalen Daten- und Informationszentrum der Schweizer Fauna: «Fast alle Fledermäuse sind gefährdet und stehen auf der Roten Liste. Die brauchen Unterstützung und der Biber scheint genau das für uns zu übernehmen.»
Die nationale Biberfachstelle hatte die Gesamtleitung des Biberforschungsprojekts des Bundesamtes für Umwelt inne, dem sich die Forschenden im Rahmen der Forschungsinitiative Blue-Green Biodiversity von WSL und Eawag anschlossen. Derzeit erarbeitet die nationale Biberfachstelle einen Synthesebericht zuhanden des Bundes, der aufzeigt, wie man den Biber am besten in Naturschutzprogramme integrieren kann und was man unbedingt vermeiden soll, um zukünftige Konflikte zu umgehen. «Der Biber schafft wieder funktionale, sehr artenreiche und widerstandsfähige Gewässer, und zwar billiger und besser als der Mensch mit Ingenieurskunst und Baggern», sagt Angst.
Originalpublikation:
Moser V., Capitani L., Zehnder L., Hürbin A., Obrist M.K., Ecker K., … Risch A.C. (2025) Habitat heterogeneity and food availability in beaver‐engineered streams foster bat richness, activity and feeding. J. Anim. Ecol. https://doi.org/10.1111/1365-2656.70136
3.11.2025, Ludwig-Maximilians-Universität München
Paläogenomik: Menschen und Hunde verbreiteten sich gemeinsam in Eurasien
Eine Genomstudie zeigt, dass eurasische Kulturen in den letzten 10.000 Jahren genetisch unterschiedliche Hundepopulationen gehalten und verbreitet haben.
Hunde sind seit mindestens 20.000 Jahren Teil der menschlichen Gesellschaften in ganz Eurasien und haben uns durch viele soziale und kulturelle Umwälzungen begleitet. Ein internationales Team unter Leitung des Paläogenetikers Professor Laurent Frantz (LMU und Queen Mary University of London (QMUL)) zeigt nun, dass die Ausbreitung neuer Kulturen in Eurasien oft mit der Ausbreitung bestimmter Hundepopulationen einherging.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der LMU, des Kunming Institute of Zoology und der Lanzhou University in China sowie der University of Oxford sequenzierten und analysierten die Genome von 17 alten Hunden aus Sibirien, Ostasien und der zentralasiatischen Steppe – darunter erstmals auch Exemplare aus China. In diesen Regionen kam es in den letzten 10.000 Jahren zu wichtigen kulturellen Veränderungen, die durch die Ausbreitung von Jägern und Sammlern sowie Bauern und Hirten vorangetrieben wurden. Die Proben stammten aus archäologischen Fundstätten, die zwischen 9.700 und 870 Jahre alt waren. Darüber hinaus bezogen die Forscher öffentlich zugängliche Genome von 57 alten und 160 modernen Hunden in ihre Analysen ein.
Hunde folgten Metallarbeitern vor über 4.000 Jahren durch die eurasische Steppe
Ein Vergleich der Genome alter Hunde und Menschen zeigt eine auffällige Übereinstimmung zwischen den genetischen Veränderungen beider Spezies im Verlauf der Zeit und über verschiedene Regionen hinweg. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich während der frühen Bronzezeit in China (vor etwa 4.000 Jahren), als die Metallverarbeitung eingeführt wurde. Wie die Ergebnisse der Forschenden zeigen, brachten die Menschen aus der eurasischen Steppe, die die Technologie erstmals in Westchina einführten, auch ihre Hunde mit.
Dieses Muster der gemeinsamen Wanderung von Menschen und Hunden reicht weit über die Bronzezeit hinaus: Spuren der gemeinsamen Ausbreitung lassen sich mindestens 11.000 Jahre zurückverfolgen, als Jäger und Sammler im Norden Eurasiens Hunde austauschten, die eng mit den heutigen Siberian Huskies verwandt waren.
„Spuren dieser bedeutenden kulturellen Veränderungen spiegeln sich auch in den Genomen alter Hunde wider“, sagt Dr. Lachie Scarsbrook (LMU/Oxford), einer der Hauptautoren der Studie. „Unsere Ergebnisse unterstreichen die tief verwurzelte kulturelle Bedeutung von Hunden. Anstatt einfach nur lokale Populationen zu übernehmen, haben die Menschen seit mindestens 11.000 Jahren ein ausgeprägtes Gefühl der Zugehörigkeit zu ihren eigenen Hunden bewahrt.“
„Diese enge Verbindung zwischen der Genetik von Mensch und Hund zeigt, dass Hunde ein integraler Bestandteil der Gesellschaft waren, egal ob man vor 10.000 Jahren als Jäger und Sammler am Polarkreis lebte oder als Metallarbeiter in einer frühen chinesischen Stadt“, sagt Frantz. „Es ist eine erstaunliche, dauerhafte Partnerschaft, die zeigt, wie vielseitig die Rolle ist, die Hunde in unseren Gesellschaften spielen können – weit mehr als jede andere domestizierte Tierart.“
Originalpublikation:
S.-J. Zhang et al.: Genomic evidence for the Holocene co-dispersal of dogs and humans across Eastern Eurasia. Science 2025.
https://www.science.org/10.1126/science.adu2836
