Tierstudien: Erdlinge (Rezension)

Erde ist im empathischen Sinn lebendig und ermöglicht Leben. Böden sind nicht nur buchstäblich Grundlage irdischer Existenz, sie stellen auch Nahrungsmittel für alle Lebewesen bereit und beherbergen bis zu einem Viertel der terrestrischen Biodiversität. Erde wimmelt nur so vor Würmern, Käfern, Milben, Spinnen, Schnecken, Asseln, Engerlingen und Milliarden Mikroorganismen. Sie kompostieren, sanieren und restaurieren Böden und stellen Erde her. Doch bis zu 40 % aller Böden sind geschädigt: Erde wird weggespült, versiegelt, vergiftet, versalzen, verschmutzt, verseucht, ausgedörrt, ausgelaugt und überdüngt. Fracking, Extraktivismus und industrielle Landwirtschaft stellen Bedrohungen für die Integrität der Erde und damit des ganzen Planeten dar.
Dabei ist das Schicksal aller Erdlinge, egal ob menschlich oder mehr-als-menschlich, über erdgebundene Phänomene, Praktiken und Diskurse eng miteinander verzahnt. Bruno Latour fordert beispielsweise zu einem postanthropozentrischen „Terrestrisch-Werden“ auf, María Puig del la Bellacasa entwickelt eine dringend notwendige Fürsorgeethik für Böden und Donna Haraway beschreibt nicht nur die sympoietische Qualität und materielle Bedeutung von Erde, sondern betont auch: „We are compost.“ Oft werden allerdings bei den aktuellen Diskussionen um Böden, Erde und Land die Tiere ausgelassen oder nur am Rande erwähnt.
Deshalb rückt Tierstudien die Erdlinge in den Fokus: Dieser Band beschäftigt sich mit Tieren, die in oder unter der Erde leben oder die von der prekären Situation der Böden besonders betroffen sind. Themenfelder sind u.a. die Ästhetik von Würmern, bodennahes Schreiben und eine Lyrik des Unterirdischen, Erdgeruch, subterrane Soundscapes, metamorphische Erdbeziehungen, das Wertesystem des Ackerbodens und insekteninvolvierende Erd-Utopien.

Die 27. Ausgabe der Tierstudien befasst sich mit allem, was nahe des Bodens oder unter der Erde lebt. Vielseitig fassen die Autoren und Autorinnen das Thema auf und so wird ein breites, und ungewöhnliches Spektrum des Themas gezeigt. Dabei geht es nicht grundsätzlich um die Wesen, die man erwarten würde (Würmer, Insektenlarven, Asseln…), auch der Mensch spielt eine Rolle, die sein Leben und Verständnis mit und über den Boden hat. Da wird beispielsweise gezeigt wie terrestrische Multispezies-Ökologien durch den Bau einer Autobahn zerstört wird (und das ist nur ein Teil der Medaille, es gibt einen noch größeren Zusammenhang und man kann sich darüber Gedanken machen, welche Bedeutung Autobahnen grundsätzlich haben, egal ob es in Südamerika oder Europa ist).
Den wissenschaftlichen Beiträgen von Veronika Beck, Filippo Bertoni, Nicola Kopf, Laura Pappalardo, Laura M. Reiling, Markus Schroer, Nina-Marie Schüchter, Julia Katharina Thiemann und Martin Ullrich stehen die künstlerischen Beiträge von Jenny Kendler, Daro Montag, Claire Pentecost und Linnéa Ryshke gegenüber.
Beiträge, die zum Nachdenken anregen, aber nur wenig über die eigentlichen Erdlinge offenbaren. Und doch bekommt man einen anderen Blick auf diese Wesen, die zu Unrecht ein Schattendasein führen. Und so wundert es nicht, dass diese Ausgabe von Tierstudien Beiträge mit den vielsagenden Titeln „Von Insekten lernen“ oder „Ein Plädoyer für das Leben mit Würmern“ enthält, die versuchen, ungeliebte, verkannte Wesen in den Focus zu stellen.

Tierstudien: Erdlinge bei neofelis

(Rezensionsexemplar)

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