Neues aus Wissenschaft und Natuschutz

03.06.2024, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Deutschlands älteste Weberknechte waren glänzende Zeitgenossen
Die neu entdeckten Weberknechte sind die ältesten Deutschlands und haben sich ihr glänzendes Aussehen bewahrt: Eine neue Studie unter Beteiligung von Christian Bartel und Jason Dunlop vom Museum für Naturkunde Berlin wie auch Sonja Wedmann von der Senckenberg Forschungsstation Grube Messel beschreiben in „Palaeobiodiversity and Palaeoenvironments“ mehrere dieser 48 Millionen Jahre alten „Opa-Langbeins“ aus der Grube Messel bei Darmstadt. Diese schimmernden Weberknechte leben heute in Regenwäldern, was die Einordnung der Grube Messel als tropisches Waldhabitat unterstützt. Damals lebten tropische Spinnentiere in Deutschland – und wahrscheinlich auch bald wieder auf Grund des Klimawandels.
Weberknechte sind als Fossilien selten, die meisten bisherigen Funde stammen aus Bernstein. Noch seltener sind in Gestein konservierte Weberknechte. Doch nun wurden mehrere Fossilien des Typs „Opa-Langbein“ in der Grube Messel gefunden und beschrieben. Die Grube Messel ist eine der bedeutendsten Fossilfundstellen Deutschlands und berühmt für ihre reiche Flora und Fauna, darunter spektakuläre Wirbeltiere wie z.B. Urpferde und Krokodile. Ebenso von Bedeutung sind Funde von Insekten und Spinnen. Nun können auch Weberknechte, die zu den Spinnentieren gehören, zum damaligen Ökosystem hinzugefügt werden. Anhand einer großen Platte, die die Rückseite des Hinterleibs bedeckt, konnten die Autoren sie einer Familie namens Sclerosomatidae zuordnen. Diese Gruppe ist noch heute in weiten Teilen der nördlichen Hemisphäre anzutreffen. Das Interessante an diesen Fossilien ist ihr glänzendes, metallisches Aussehen. Dies ist vermutlich auf sogenannte Strukturfarben zurückzuführen, bei denen die Körperoberfläche das Licht so reflektiert, dass sie auch 48 Millionen Jahre später immer noch glänzend aussieht. Dies wurde noch nie zuvor bei fossilen Weberknechten beobachtet.
Mehrere lebende Mitglieder der Familie Sclerosomatidae haben ebenfalls dieses metallisch glänzende Aussehen. Diese oft auffälligen Weberknechte sind ein beliebtes Motiv für Fotografen. Allerdings leben die meisten dieser glänzenden Arten heute in tropischen Teilen der Erde, insbesondere in den Regenwäldern Südostasiens. Dies würde zur Interpretation der Grube Messel als einem von einem warmen Tropenwald umgebenen ehemaligen Vulkansee passen. Mit anderen Worten: Vor 48 Millionen Jahren lebten möglicherweise eher tropische Spinnentiere in Deutschland. Es gibt jedoch eine interessante Ausnahme. In den letzten Jahren wurde berichtet, dass ein invasiver Weberknecht, der möglicherweise aus Afrika stammt und auch ein langbeiniges und glänzendes Aussehen hat, sein Verbreitungsgebiet in weite Teile Europas ausgeweitet hat. Ob dieser eine enge Verwandtschaft mit den Messel-Fossilien hat, ist derzeit unklar. Aber es scheint so, dass metallisch glänzende Weberknechte – wie schon vor vielen Millionen Jahren – wieder Teil der deutschen Fauna werden!
Bartel, C., Dunlop, J. A. & Wedmann, S. 2024. Iridescent harvestmen (Arachnida: Opiliones: Sclerosomatidae) from the Eocene of Messel, Germany. Palaeobiodiversity and Palaeoenvironments
https://link.springer.com/article/10.1007/s12549-024-00607-4

03.06.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Wilderei-Krise in Südostasien: Entfernung von Drahtschlingen in Schutzgebieten ist aufwändig aber effektiv
Das Auslegen von Drahtschlingen ist in tropischen Wäldern Südostasiens weit verbreitet. Diese nicht-selektive Methode der Wilderei dezimiert Wildtierbestände erheblich und führte dazu, dass viele größere Säugetierarten – lokal und weltweit – ausgerottet wurden. Daten aus elf Jahren aus den Saola-Schutzgebieten von Thua Thien Hue und Quang Nam in Vietnam zeigen, dass Ranger-Patrouillen zur Entfernung der Fallen zwar personalintensiv und teuer sind, die Anzahl der Fallen aber um fast 40 Prozent reduzieren und damit die unmittelbare Bedrohung für Wildtiere verringern konnten. Eine weitere Reduktion war jedoch trotz anhaltender Bemühungen nicht möglich.
Die Entfernung der Schlingfallen sei unverzichtbar, aber alleine nicht ausreichend um die bedrohte Artenvielfalt in den Tropenwäldern zu retten, so die Schlussfolgerung eines internationalen Wissenschaftsteams in der Fachzeitschrift „Conservation Letters“.
Von 2011 bis 2021 beseitigten Ranger des WWF Vietnam und lokaler Behörden fast 120.000 Schlingfallen aus den zusammenhängenden Reservaten Thua Thien Hue Saola und Quang Nam Saola in Zentral-Vietnam. Diese Naturschutzgebiete beherbergen eine Reihe endemischer, seltener und bedrohter Arten, darunter das Annamitische Streifenkaninchen (Nesolagus timminsi) und den Perlenfasan (Rheinardia ocellata). Das Beseitigen von Schlingen ist arbeitsintensiv und kostspielig, da die Ranger große Distanzen in unwegsamem Gelände zu Fuß zurücklegen müssen. Es ist als Vorgehen gegen Wilderei jedoch vergleichsweise unumstritten, da andere Maßnahmen wie die Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung von Wilderern komplizierter um- und durchzusetzen sind. Bislang gibt es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen zu den Auswirkungen der Schlingfallen-Beseitigung auf die Zahl der Schlingen und damit auf die Zahl der gewilderten Tiere über einen längeren Zeitraum.
Ein internationales Team von Wissenschaftler*innen des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW), des WWF Vietnam und des WWF Asien-Pazifik sowie der Universitäten Exeter und Montpellier analysierte Daten von Patrouillen aus 11 Jahren und kam zu dem Schluss, dass ein konsequentes Entfernen der Schlingen die Bedrohung für den Wildtierbestand deutlich verringern kann: Im Laufe der 11 Jahre ging die Zahl der Schlingfallen in beiden Reservaten um 37 Prozent zurück. Der Effekt war an leicht zugänglichen Stellen der tropischen Wälder deutlicher, vermutlich weil dort häufiger patrouilliert wurde. „Unsere Auswertungen zeigen auch, dass in einem Gebiet, in dem intensiv patrouilliert wurde, danach weniger neue Schlingfallen ausgebracht werden“, sagt Jürgen Niedballa, Datenwissenschaftler am Leibniz-IZW. „Patrouillen wirken längerfristig abschreckend und sind daher eine wichtige Maßnahme, um der Wilderei-Krise in Südostasien entgegenzuwirken.“
Die Zahl der Schlingen in abgelegeneren Teilen des Waldes sank jedoch weniger stark als in den leichter zugänglichen Teilen. „Die räumliche Analyse der Patrouillendaten ist für unser tägliches Management von großer Bedeutung“, ergänzt Hung Luong Viet, Projektleiter des WWF Vietnam. „Die Karten, die die Verteilung der Schlingen in den Schutzgebieten zeigen, helfen uns, unsere Patrouillenaktivitäten auf die Teile der Reservate zu konzentrieren, die am meisten Aufmerksamkeit benötigen.“ Die Wissenschaftler*innen stellten außerdem fest, dass der messbarere Rückgang der gefundenen Schlingfallen hauptsächlich in den ersten sechs Jahren der Patrouillen erreicht wurde. Danach blieb die Anzahl der Schlingen trotz kontinuierlicher Anstrengungen stabil und konnte nicht weiter gesenkt werden „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Beseitigung von Schlingen allein wahrscheinlich nicht ausreicht, um Wildtiere in Naturschutzgebieten in Südostasien vollständig zu schützen“, sagt Andrew Tilker, Wissenschaftler am Leibniz-IZW und Artenschutzkoordinator für Asien bei Re:wild. „Das gilt vor allem für seltene und mittels Schlingen leicht zu fangende Arten, von denen viele in Vietnam vom Aussterben bedroht sind.“
Die Ergebnisse zeigen, dass es wichtig ist, die Beseitigung von Schlingen als Teil eines umfassenderen Schutzkonzepts zu betrachten, welches sich auch mit den Ursachen der Wilderei befasst, so das Team. „Sich allein auf das Entfernen von Schlingen zu verlassen, wird nicht ausreichen, um die Bedrohung in großem Umfang zu bekämpfen“, sagt Tin Nguyen Van Tri, Wildlife Practice Lead des WWF Vietnam. „In Zusammenarbeit mit anderen Naturschutzpartnern engagieren wir uns jetzt in größeren multidisziplinären Naturschutzinitiativen wie der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des illegalen Wildtierhandels, der Verbesserung der Lebensbedingungen, der Bewusstseinsbildung und der Programme zur Verhaltensänderung als Ergänzung zur Beseitigung von Schlingen, um zu verhindern, dass Schlingen überhaupt erst gelegt werden. Mit diesen zusätzlichen Anstrengungen können wir das Problem an der Wurzel packen und die Wälder des zentralen Truong-Son-Gebirges und anderer Regionen in Vietnam hoffentlich wieder sicher für Wildtiere machen.“ Eine dieser Initiativen ist das Projekt „CarBi II“, welches über fünf Jahre (2019-2024) von WWF Vietnam und WWF Laos implementiert und von der KfW Entwicklungsbank und der Internationalen Klimaschutzinitiative (IKI) finanziert wird.
Obwohl die Wildtiere Südostasiens einer noch nie dagewesenen Bedrohung durch Wilderei ausgesetzt sind, besteht die Hoffnung, dass die konsequente Beseitigung von Fallen im Zusammenspiel mit weiteren Maßnahmen zu einer messbaren Erholung der Bestände beitragen kann, so das Autorenteam. Die Verringerung der Schlingfallen-Wildere in Naturschutzgebieten in Südostasien werde erhebliche Ressourcen binden und ein großes politisches Engagement der Regierungen in der Region erfordern ¬– aber diese Zukunft sei in greifbarer Nähe, so das Team.
Wilderei mit Schlingfallen im Truong-Son-Gebirge
Eine der Hauptursachen für den Rückgang von Wildtieren in tropischen Wäldern ist der Einsatz von nicht-selektiven Drahtschlingen. Schlingen sind preiswert, lassen sich leicht in großer Zahl auslegen und sind sehr effektiv beim Fang von Landwirbeltieren. Sie werden als nicht-selektiv bezeichnet, da jedes am Boden lebende Tier in eine Drahtschlinge geraten und gefangen werden kann – unabhängig davon, ob es erwünschte Beute ist oder nicht. In Südostasien ist die Wilderei mit Drahtschlingen besonders schwerwiegend und dezimiert Wildtierbestände in vielen Schutzgebieten stark, bis zum heutigen Tag. Eine kürzlich durchgeführte wissenschaftliche Untersuchung ergab, dass die Jagd mit Schlingfallen in einigen Gebieten Südostasiens eine schwerwiegendere Bedrohung für die Tierwelt darstellt als die Abholzung der Wälder. Sie führt dazu, dass viele Wälder mittlerweile nahezu frei von Wildtieren sind. Im Truong-Son-Gebirge, einer Gebirgskette entlang der Grenze zwischen Vietnam und Laos, brachte das Fallenstellen viele endemische Tierarten an den Rand des Aussterbens; die Saola (Pseudoryx nghetinhensis), den Riesenmuntjak (Muntiacus vuquangensis), das Annamitische Streifenkaninchen (Nesolagus timminsi) und den Vietnam-Kantschil (Tragulus versicolor).
Originalpublikation:
Tilker A, Niedballa J, Viet HL, Abrams JF, Marescot L, Wilkinson N, Rawson BM, Sollmann R, Wilting A (2024): Addressing the Southeast Asian snaring crisis: impact of 11 years of snare removal in a biodiversity hotspot. Conservation Letters. DOI: 10.1111/conl.13021

04.06.2024, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Männlein oder Weiblein? Geschlechtsdetermination bei Ameisen
Forschende der JGU und der Universität Lausanne führen die Geschlechtsdetermination bei Argentinischen Ameisen auf ein nichtcodierendes Gen zurück
Wie wird festgelegt, ob eine Ameise männlich oder weiblich wird? Während dies beim Menschen auf X- und Y-Chromosomen zurückzuführen ist – Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer jeweils ein X- und ein Y-Chromosom – kommt bei Ameisen, Bienen und Wespen ein anderer Faktor zum Tragen: Die Haplodiploidie. Dabei wird das Geschlecht dadurch bestimmt, dass Männchen nur einen Chromosomensatz tragen (haploid), Weibchen dagegen den doppelten Chromosomensatz (diploid). Das heißt aus unbefruchteten Eiern, die somit nur einen Chromosomensatz enthalten, schlüpfen Männchen, aus befruchteten Exemplaren mit zwei Chromosomensätzen Weibchen.
Die Argentinische Ameise
Wie, fragten sich Forschende der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und der Universität Lausanne, wird bei Ameisen bestimmt, ob Männlein oder Weiblein schlüpfen? Also welche molekularen Mechanismen liegen der Geschlechtsdetermination der Ameise zugrunde? Schließlich besteht der Großteil der Ameisenpopulation aus weiblichen Arbeiterinnen, die wenigen Männchen jedoch sind unerlässlich für das Überleben der Spezies. Um diesen Mechanismen auf die Spur zu kommen, setzten die Forschenden auf diploide Männchen der Argentinischen Ameise. In dieser Spezies können bei Inzucht auch aus befruchteten Eiern sterile Männchen entstehen, wenn die Allele des geschlechtsbestimmenden DNA-Abschnitts identisch sind. „Auf diese Weise konnten wir die beiden Chromosomensätze, die jeweils in Weibchen und diploiden Männchen auftreten, miteinander vergleichen – während haploide Männchen dagegen ja nur einen einzelnen Chromosomensatz besitzen“, erläutert Dr. Qiaowei Pan, Wissenschaftlerin am Institut für Molekulare Biologie (IMB) in Mainz und der Universität Lausanne. Das Ergebnis: Über fast die gesamte Länge waren die beiden Chromosomensätze sowohl in diploiden Männchen als auch in Weibchen identisch – außer an einer Stelle. „Wir konnten eine 5kB-Region mit sieben verschiedenen Versionen ausmachen. Alle Weibchen tragen zwei unterschiedliche Versionen, Allele genannt, während alle Männchen zweimal die gleichen Allele tragen. Diese Stelle scheint daher für die Geschlechtsdetermination elementar zu sein“, sagt Pan. Die Ergebnisse veröffentlichte das Team in der renommierten Zeitschrift Science Advances.
Erstes nichtcodierendes Gen in der genetischen Geschlechtsdetermination
Einen ähnlichen Mechanismus zur Geschlechtsbestimmung konnte eine Arbeitsgruppe der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf kürzlich in der Honigbiene aufdecken. Auch hier weisen die Männchen im Gegensatz zu den Weibchen zwei identische Allele im geschlechtsbestimmenden DNA-Abschnitt auf. Im Fall der Honigbiene ist dieser Abschnitt ein proteincodierendes Gen. Das heißt: Liegen wie bei den weiblichen Bienen zwei verschiedene Genversionen (Allele) vor, werden dementsprechend zwei Proteine gebildet, die miteinander interagieren. Anders jedoch bei den Ameisen. „Zu unserer Überraschung fanden wir bei den Ameisen, dass die geschlechtsbestimmende Genstelle kein Protein codiert – also keine Information für den Bau eines Proteins trägt. Man spricht dabei von einer nichtcodierenden Ribonukleinsäure“, fasst Pan zusammen. Allerdings produziert das Gen RNA, die anders als die erbguttragende DNA als Einzelstrang vorliegt.
Beim Bau der RNA aus der geschlechtsbestimmenden Genomstelle trat ein weiterer Unterschied zwischen Weibchen und diploiden Männchen zutage: Bei Weibchen, die zwei verschiedene Genome tragen, ist die RNA-Expression höher als bei diploiden Männchen mit zwei Kopien des gleichen Gens – es wird also verstärkt RNA produziert. Bei Männchen ist die RNA-Expression von der Larve über die Puppe bis zur Ameise niedrig, während sie bei Weibchen stets hoch bleibt. Doch nimmt dies tatsächlich Einfluss auf die Geschlechtsdetermination? Um diese Annahme zu überprüfen, schalteten die Forschenden die Expression dieser nichtcodierenden RNA bei einem weiblichen Embryo aus: Sie schaltete dann auf die männliche Entwicklung um. „Auf diese Weise konnten wir nachweisen, dass es tatsächlich die RNA-Expression ist, die das Geschlecht bestimmt“, sagt Pan.
Doch wie kommt es dazu, dass zwei verschiedene Allele an der geschlechtsbestimmenden Stelle im Gen dazu führen, dass mehr RNA exprimiert wird? Dies ist bislang noch nicht klar. Qiaowei Pan und Dr. Hugo Darras, Forschungsgruppenleiter am Institut für Organismische und Molekulare Evolutionsbiologie der JGU, arbeiten daher derzeit mit der Gruppe von Dr. Claudia Keller Valsecchi am Institut für Molekulare Biologie zusammen, um die Mechanismen aufzuklären, die dieser neuartigen Art der Geschlechtsbestimmung zugrunde liegen.
Originalpublikation:
Qiaowei Pan, Hugo Darras, Laurent Keller
LncRNA gene ANTSR coordinates complementary sex determination in the Argentine ant
Science Advances, 31. Mai 2024
DOI: 10.1126/sciadv.adp1532
https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adp1532

06.06.2024, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Genort für Geschlechtsbestimmung bei Wechselkröten identifiziert
Forscherinnen und Forscher des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und der Universität Singapur haben einen Genort für die Geschlechtsbestimmung bei Wechselkröten identifiziert. Dies ist erst der zweite bekannte genetische Mechanismus für die Geschlechtsdifferenzierung bei Amphibien. Die Studie ist in der Fachzeitschrift Nature Communications erschienen.
Bei den meisten Wirbeltieren entwickeln sich zwei getrennte biologische Geschlechter, die bis auf wenige Ausnahmen durch Geschlechtschromosomen bestimmt werden. Amphibien besitzen jedoch häufig mikroskopisch nicht unterscheidbare Geschlechtschromosomen, wobei entweder Männchen (XY) oder Weibchen (ZW) jeweils unterschiedliche Geschlechtschromosomen aufweisen.
Das Genom von Amphibien ist in der Regel deutlich größer als das des Menschen. So ist es nicht verwunderlich, dass bisher nur ein einziges geschlechtsbestimmendes Gen bei einer häufig untersuchten Modellart, dem Afrikanischen Krallenfrosch, identifiziert werden konnte. Ob bei den insgesamt über 8600 Amphibienarten noch weitere Gene für die Geschlechtsdifferenzierung wichtig sind, war bislang unbekannt.
Ein Forschungsteam unter Leitung des IGB hat nun bei der Wechselkröte einen Genabschnitt identifiziert, der das Geschlecht bestimmt. „Die genetische Geschlechtsbestimmung bei Amphibien ist noch eine große Wissenslücke. Es ist aber sehr wichtig, die genetische Regulation der Fortpflanzung bei Amphibien zu verstehen, da sie als semiaquatische Lebewesen vor und nach der Metamorphose sehr empfindlich auf hormonell wirksame Umweltgifte in Gewässern, so genannte endokrine Disruptoren, reagieren“, sagt Studienleiter PD Dr. Matthias Stöck.
Durch die Sequenzierung und Analyse der kompletten Genome einer weiblichen und einer männlichen Wechselkröte konnten nun erstmals strukturelle Unterschiede zwischen den ansonsten sehr ähnlichen X- und Y-Chromosomen identifiziert werden. Dieser geschlechtsbestimmende Genort besteht aus einer langen nicht-kodierenden RNA (lncRNA) und befindet sich in der 5′-regulatorischen Region des bod1l-Gens. „Die Y-spezifische nicht-kodierende RNA, die nur bei Männchen exprimiert wird, deutet darauf hin, dass dieser Genort die männliche Geschlechtsdifferenzierung auslösen könnte“, sagt Dr. Heiner Kuhl, Erstautor der Studie.
Der identifizierte geschlechtsbestimmende Genort konnte auch bei mehreren nahe verwandten Erdkrötenarten nachgewiesen werden. Im nächsten Schritt wollen die Forschenden das Ergebnis mit Hilfe der CRISPR/Cas9-Technik – der sogenannten Genschere – validieren, indem sie die Expression des identifizierten bod1I-Gens gezielt steuern.
„Weitere Untersuchungen zur Funktion des neu identifizierten Genorts werden wichtige Erkenntnisse zur epigenetischen Kontrolle der Geschlechtsdifferenzierung liefern, die möglicherweise auch für andere Tierarten relevant sind“, sagt Prof. Christoph Winkler von der National University of Singapore, der derzeit als Gastwissenschaftler am IGB forscht und an der Studie beteiligt war.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1038/s41467-024-49025-2

07.06.2024, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Wann entstand braunes Fett als Heizungsorgan bei Säugetieren?
Vor etwa 100 Millionen Jahren ermöglichte ein bemerkenswerter evolutionärer Wandel den plazentalen Säugetieren, sich divers zu entwickeln und viele kalte Regionen unseres Planeten zu erobern. Neue Forschungsarbeiten der Universität Stockholm unter Beteiligung des Museums für Naturkunde Berlin zeigen, dass sich das für Säugetiere typische „Heizungsorgan“, das braune Fett, ausschließlich bei modernen Plazentasäugetieren entwickelt hat. Die Studie wurde im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht.
In Zusammenarbeit mit dem Helmholtz-Zentrum München und dem Museum für Naturkunde Berlin in Deutschland sowie der University of East Anglia in Großbritannien wies das Forscherteam der Universität Stockholm nach, dass Beuteltiere, unsere entfernten Verwandten, eine nicht voll entwickelte Form des braunen Fettes besitzen. Sie entdeckten, dass das zentrale wärmeproduzierende Protein namens UCP1 erst nach der Divergenz von plazentalen Säugetieren und Beuteltieren, die auch zu den Säugetieren gehören, aktiv wurde. Beide Gruppen haben sich vor etwa 120-180 Millionen Jahren aufgespalten. Diese Erkenntnis ist entscheidend für das Verständnis der Rolle des braunen Fettes in der Evolution der Säugetiere, des Wärmehaushaltes und des Stoffwechsels. „Unsere Studie ist ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Entstehung und Regulierung von braunem Fett“, sagt Susanne Keipert, Co-Erstautorin der Studie. „Die energieverbrauchende Funktion des braunen Fettes steht im Mittelpunkt der medizinischen Forschung, da braunes Fett das Potenzial hat, Adipositas, Diabetes und kardiometabolische Erkrankungen zu verbessern, die alle ein pandemisches Ausmaß erreicht haben und zu den größten Bedrohungen für unser Gesundheitssystem gehören.“
Diese Arbeit ist der jüngste Meilenstein des Jastroch-Labors an der Universität Stockholm, das Pionierarbeit bei der Erforschung der Evolution der Wärmeproduktion bei Säugetieren geleistet und diese evolutionären Erkenntnisse in das Verständnis menschlicher Stoffwechselkrankheiten integriert hat. Das Museum für Naturkunde Berlin arbeitet seit mehreren Jahren mit dem Jastroch-Labor zusammen, um diesen Aspekt der Säugetierevolution zu erforschen.
Mithilfe von Bioinformatik-Tools für UCP1-Sequenzinformationen von vielen Tieren rekonstruierten die Forschenden das ursprüngliche UCP1 Stammplazentalia, wie es vor etwa 110 Millionen Jahren bestanden haben könnte. Sie fanden heraus, dass dieses alte Protein Wärme produzieren konnte, was auf das Vorhandensein von wärmeproduzierendem braunem Fett beim Vorfahren der Plazentasäugetiere hindeutet. Diese Innovation ermöglichte es den plazentalen Säugetieren wahrscheinlich, in den neuen kalten Umgebungen zu gedeihen. Bei Beuteltieren hingegen produziert UCP1 trotz vieler Gemeinsamkeiten mit den placentalen Säugetieren nach diesen neuen Erkenntnissen keine Wärme.
Find the study “Two-stage evolution of mammalian adipose tissue thermogenesis” published in Science at: DOI: 10.1126/science.adg1947

06.06.2024, Universität Basel
Fisch auf dem Trockenen: Wie Killifisch-Embryonen ihre Entwicklung angepasst haben
Einige Killifische überleben in Gegenden mit extremer Trockenheit. Eine Forschungsgruppe der Universität Basel berichtet im Fachjournal Science, dass sich die frühe Embryonalentwicklung dieser Fische von der anderer Arten unterscheidet. Im Gegensatz zu anderen Fischen ist beim Killifisch-Embryo die Körperstruktur noch nicht von Anfang an festgelegt. Dies könnte der Art ermöglichen, Trockenzeiten unbeschadet zu überstehen.
Der Türkise Prachtgrundkärpfling gehört zu den Killifischen. Diese Fischart lebt unter extremen Umweltbedingungen: Die Spezies, die in Afrika vorkommt, kann mit ihrem aussergewöhnlichen Lebenszyklus lange Trockenphasen überstehen. Ihre befruchteten Eier legen sie dazu in den Zeiten mit ausreichend Wasser in den Schlamm. Trocknen die Gewässer dann aus, sterben die ausgewachsenen Fische, während die Embryonen in einem Ruhezustand überdauern bis eine neue Regenperiode einsetzt.
Im Gegensatz zu anderen Tieren lösen diese Fische den frühen Embryo in Einzelzellen auf. Diese verstreuten Zellen kommen später wieder zusammen und bilden einen Embryo. Damit haben Killifische der Art Nothobranchius furzeri ihren Lebenszyklus und ihre Embryonalentwicklung an die Gegebenheiten ihrer Umwelt angepasst.
Rücken-Bauch-Achse anders festgelegt
Das Team von Prof. Dr. Alex Schier am Biozentrum der Universität Basel und Forschende der Harvard University sowie der University of Washington in Seattle haben entdeckt, dass sich Killifische auch molekular in ihrer frühen embryonalen Entwicklung von anderen Fischarten unterscheiden. «Normalerweise ist die ventrale-dorsale Körperachse, also die Bauch- und Rückenseite beim Fischembryo bereits durch die Mutter angelegt», erklärt Schier. «Wir haben nun herausgefunden, dass die embryonalen Zellen nicht mütterlicherseits vorgeprägt sind, sondern sich selbst organisieren.» Wie die Rücken-Bauch-Achse beim Killifisch festgelegt wird, beschreiben die Forschenden im Fachjournal «Science».
Im frühen Embryo spielt der sogenannte Huluwa-Faktor eine entscheidende Rolle. Er wird von der Mutter an den Embryo weitergegeben und bestimmt die Rücken-Bauch-Achse. Dies ist für den Körperbau und die korrekte Organ-Entwicklung wichtig.
«Bislang dachte man, der Huluwa-Faktor sei unverzichtbar, da er die Rücken-Bauch-Achse definiert», sagt Schier «Wir konnten jedoch zeigen, dass dieser Faktor beim Killifisch nicht aktiv ist. Die Zellen finden von alleine den richtigen Platz, sie organisieren sich vollkommen eigenständig.» Die Festlegung der Rücken-Bauch-Achse findet beim Killifisch im Gegensatz zu anderen Fischen erst zu einem späteren Zeitpunkt statt und wird von Faktoren des Embryos gesteuert. «Fast auf magische Weise entsteht so der Embryo», sagt Schier. «Wie das genau passiert, ist allerdings noch völlig unklar.»
An extreme Umweltbedingungen angepasst
«Diese Art der embryonalen Entwicklung ist völlig untypisch, widerspricht sie doch den gängigen Vorstellungen», so Schier. Dass es beim Killifisch keine mütterliche Vorprägung der Zellen gibt, ist vermutlich ein entscheidender Überlebensvorteil dieser Fischart. Denn so wird verhindert, dass sich in der Trockenphase frühzeitig Zellschäden ansammeln oder Informationen über den Körperbau und Achse verloren gehen. «Unsere Studie zeigt, dass die Evolution bei entsprechendem Selektionsdruck durch extreme Umweltbedingungen alternative Entwicklungswege findet», sagt Schier.
Originalpublikation:
Philip B. Abitua, Laura M. Stump, Deniz C. Aksel, and Alexander F. Schier
Axis formation in annual killifish: Nodal and β-catenin regulate morphogenesis without Huluwa prepatterning.
Science (2024), doi: 10.1126/science.ado7604

07.06.2024, Deutsche Wildtier Stiftung
Winni ist zurück!
Kinderpodcast der Deutschen Wildtier Stiftung geht in die zweite Staffel
Endlich ist es so weit: Winni ist zurück! Das wissensdurstige Eichhörnchen empfängt in der zweiten Staffel von „Winnis wilde Nachbarn“ wieder spannenden Besuch in seinem Baumhaus in der schiefen Eiche. Reporterin Anna berichtet von ihrer aufregenden Wildtiersuche und Gastkinder erzählen, was sie selbst in der Natur erlebt haben, genauer gesagt im Wald. Denn während sich in der ersten Staffel des Kinderpodcasts der Deutschen Wildtier Stiftung alles um wilde Tiere in der Stadt drehte, geht es in der zweiten Staffel um Waldbewohner. Den Anfang macht der Dachs mit seinen uralten Burgen und Plumpsklos vor der Haustür sowie seiner Vorliebe für saftige Regenwürmer. Jeden Mittwoch folgt eine weitere der insgesamt sechs Episoden. Dann pirscht sich Reporterin Anna mit einem Experten der Stiftung an einen Rothirsch heran, lauscht dem unheimlichen Ruf des Waldkauzes, sieht Waldameisen krabbeln und begibt sich auf die Suche nach dem Hämmern des Schwarzspechts und nach Totholzkäfern in abgestorbenen Bäumen. Auch die „Boogle“-Maschine kommt im Baumhaus wieder zum Einsatz. Das schlaue Gerät ist der ganze Stolz von Winni, die wieder mit viel Witz und Humor gesprochen wird von der Schauspielerin Annette Frier.
„Winnis wilde Nachbarn“ ist eine Produktion von studiodrei und schall.ultras im Auftrag der Deutschen Wildtier Stiftung. Die erste Staffel erreichte ein großes Publikum, kam in Schulen zum Einsatz und wurde von den OMR-Podstars zu einem der zehn besten Kinderpodcasts des Jahres 2023 gekürt. Die jeweils rund 20-minütigen Folgen sind auf allen Podcast-Kanälen verfügbar.

11.06.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Unbekannte Helfer des Bodens: Wie wirbellose Tiere den Zersetzungsprozess von Pflanzen unterstützen
Wenn Pflanzen oder Teile von ihnen absterben, tragen Milliarden kleiner Lebewesen dazu bei, dieses organische Material abzubauen. Doch nicht nur Mikroorganismen wie Bakterien und Pilze sind am Zersetzungsprozess beteiligt, sondern auch einige wirbellose Tiere. Welche Voraussetzungen ihr Erbgut dafür bereithält, untersuchte nun ein Team von Forscher*innen des hessischen LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG) und weiterer Institutionen. Ihre Erkenntnisse tragen dazu bei, bessere Vorhersagen über den Kohlenstoff- und Nährstoffkreislauf im Boden zu treffen.
Wenn Pflanzen oder Teile von ihnen absterben, tragen Milliarden kleiner Lebewesen dazu bei, dieses organische Material abzubauen. Doch nicht nur Mikroorganismen wie Bakterien und Pilze sind am Zersetzungsprozess beteiligt, sondern auch einige wirbellose Tiere. Welche Voraussetzungen ihr Erbgut dafür bereithält, untersuchte nun ein Team von Forscher*innen des hessischen LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG) und weiterer Institutionen. Ihre Erkenntnisse tragen dazu bei, bessere Vorhersagen über den Kohlenstoff- und Nährstoffkreislauf im Boden zu treffen.
Sie leben in Heerscharen im Erdboden und sind durch eine Vielzahl von Arten vertreten: mikroskopisch kleine, wirbellose Bodentiere wie zum Beispiel Springschwänze und Hornmilben. Sie bauen organische Substanzen ab und setzen Nährstoffe für die Pflanzen frei. In einer Studie, die im Fachjournal „Molecular Ecology“ veröffentlicht wurde, haben Forscher*innen nun entdeckt, dass ein weit größerer als bisher angenommener Anteil ihrer Arten auch direkt am Abbau von abgestorbenem Pflanzenmaterial beteiligt sein könnte. Diese Fähigkeit wurde bislang vor allem Bakterien und Pilzen zugeschrieben. Denn um Zellulose, den Hauptbestandteil pflanzlicher Zellwände, zu zersetzen, müssen die Organismen bestimmte Enzyme herstellen können.
Bei detaillierten Genomanalysen unterschiedlicher Arten von Springschwänzen (Collembola) und Hornmilben (Oribatida) wiesen die Forscher*innen in den meisten Arten exemplarisch ein Gen nach, das ihnen die Herstellung eines dieser speziellen Enzyme ermöglicht. Es gehört zu den sogenannten Glycosidhydrolasen, die für den Abbau komplexer Zuckermoleküle in einfachere Bestandteile verwendet werden. Auch Zellulose ist solch ein Vielfachzucker. Für ihre Studie untersuchten die Wissenschaftler*innen 232 Arten von wirbellosen Bodentieren. Eine umfangreiche Ressource bot dafür das am LOEWE-Zentrum TBG angesiedelte Projekt „Metagenomic monitoring of soil communities (MetaInvert)“, das genomische Daten zu diesen bisher wenig erforschten Organismen bereitstellt.
„Neue genomische Analysemethoden verhelfen uns zu wichtigen Erkenntnissen über diese artenreiche Tiergruppe, die aufgrund ihrer kleinen Größe und enormen Vielfalt schwer zu erfassen ist”, berichtet Co-Studienleiter Ingo Ebersberger, Professor für Angewandte Bioinformatik am Fachbereich Biowissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt und Mitglied des LOEWE-Zentrums TBG. „Mithilfe bioinformatischer Analysen konnten wir alle Proben auf das gesuchte Gen prüfen, das die Tiere zur Zellulose-Aufspaltung befähigt.“ Zum Erfolg der Studie hat maßgeblich eine neue Software beigetragen, die von Ebersbergers Doktorandin und Studien-Erstautorin Hannah Mülbaier entwickelt wurde und es ermöglicht, gezielt und sehr präzise nach bestimmten Genen in Genomen zu suchen. „Neu ist dabei, dass mit dieser Software ein sehr komplexer sowie zeit- und arbeitsintensiver Schritt entbehrlich wird: die Vorhersage aller Gene in einem Genom. Stattdessen können wir nun direkt in einer Genomsequenz nach unseren Kandidatengenen suchen“, so Ebersberger.
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit des Autor*innen-Teams der Studie ermöglicht dabei weitreichende Schlussfolgerungen. „Bei unseren Vergleichen der Genome haben wir auch herausgefunden, dass die Fähigkeit zur Zersetzung von Zellulose bereits früh in der Stammesgeschichte der Arten erworben wurde. Die wirbellosen Bodentiere helfen daher vermutlich bereits seit langer Zeit entweder allein oder in Zusammenarbeit mit Pilzen oder Bakterien, die in ihrem Darm leben, beim Abbau der Pflanzenreste“, erklärt Co-Studienleiter Miklós Bálint, Professor für Funktionale Umweltgenomik am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, der Justus-Liebig-Universität Gießen und Co-Sprecher des LOEWE-Zentrums TBG. „Bisher war über den Beitrag von Tieren zu diesem Zersetzungsprozess – über die rein mechanische Zerkleinerung hinaus – wenig bekannt. Unsere Ergebnisse geben nun einen Hinweis darauf, dass wirbellose Bodenlebewesen wie Springschwänze und Hornmilben angesichts ihres weltweit häufigen Vorkommens eine wichtige, bisher übersehene Rolle im Kohlenstoffkreislauf von Böden spielen“, so Bálint weiter. Denn der größte Teil des Kohlenstoffs, der auf dem Land bei der Photosynthese gebunden wird, ist in Pflanzen als Zellulose enthalten. Ihre Zersetzung findet überwiegend in Böden statt, wodurch der Kohlenstoff wieder in die Atmosphäre gelangt.
Die neuen Erkenntnisse wirken sich entsprechend auf das Verständnis der Nahrungsnetze und des Kohlenstoffkreislaufs im Boden aus. Daher plädieren die Studienautoren dafür, wirbellose Bodentiere neben Bakterien und Pilzen als eine dritte evolutionär und ökologisch eigenständige Gruppe mit der Fähigkeit zur Spaltung von Zellulose zu betrachten. Besonders wichtig sei dies, da diese Tiere anders auf Umweltveränderungen reagieren als Mikroorganismen und sich dadurch die Prozesse der Zersetzung verändern könnten. Daher seien die Daten auch für die Berechnung von Modellen von großer Bedeutung, die Vorhersagen zur Entwicklung von Ökosystemen sowie Kohlenstoff- und Nährstoffkreisläufen treffen.
Originalpublikation:
Publikation in Molecular Ecology:
Hannah Muelbaier, Freya Arthen, Gemma Collins, Thomas Hickler, Karin Hohberg, Ricarda Lehmitz, Yannick Pauchet, Markus Pfenninger, Anton Potapov, Juliane Romahn, Ina Schaefer, Stefan Scheu, Clément Schneider, Ingo Ebersberger, Miklós Bálint
“Genomic evidence for the widespread presence of GH45 cellulases among soil invertebrates”
https://doi.org/10.1111/mec.17351

12.06.2024, Universität Koblenz
Fünf neue Chamäleonarten in Zentralafrika entdeckt – Forscher der Uni Koblenz beteiligt
Gemeinsam mit internationalen Kollegen hat PD Dr. Maximilian Dehling aus der Abteilung Biologie der Universität Koblenz fünf neue Stummelschwanzchamäleons der Gattung Rhampholeon in Zentralafrika entdeckt. Die neuen Chamäleonarten wurden bislang als eine einzelne weitverbreitete Art betrachtet. Dies konnte das Forscherteam nun widerlegen.
Ein internationales Team von Forschern aus Deutschland, den USA, Uganda, dem Vereinigten Königreich, Südafrika und der Demokratischen Republik Kongo hat fünf neue Stummelschwanzchamäleons der Gattung Rhampholeon in Regenwäldern entlang des zentralafrikanischen Grabenbruchs entdeckt und wissenschaftlich beschrieben. An der Studie war auch PD Dr. Maximilian Dehling aus der Abteilung Biologie der Universität Koblenz beteiligt.
Dehling führt seit 14 Jahren Untersuchungen zur Diversität der Amphibien und Reptilien in Zentralafrika durch. Die neuen Chamäleonarten sind äußerlich kaum voneinander zu unterscheiden und wurden deshalb bislang als eine einzelne weitverbreitete Art (Rhampholeon boulengeri) betrachtet. DNS-Analysen und detaillierte morphologische Vergleiche zeigten, dass es sich bei verschiedenen Populationen tatsächlich um eigenständige Arten handelt.
Die neuen Arten, Rhampholeon plumptrei, R. nalubaale, R. bombayi, R. msitugrabensis und R. monteslunae, kommen auf unterschiedlichen Höhenstufen und in verschiedenen Regenwaldgebieten vom Osten der Demokratischen Republik Kongo über Burundi, Ruanda und Uganda bis ins westliche Kenia vor. Die nun sechs verschiedenen Arten haben nur kleine Verbreitungsgebiete und könnten deshalb in ihrem Bestand stärker bedroht sein als bisher angenommen.
Dies unterstreicht die Notwendigkeit von Biodiversitätsstudien in den kaum untersuchten Regenwäldern in Zentralafrika. Stummelschwanzchamäleons ahmen mit ihrer hellbraunen bis graubraunen Färbung und ihrer Körperform Laub auf dem Waldboden nach. Sie sind zu schwachen Helligkeitswechseln, aber nicht wie andere Chamäleons zu Farbwechseln fähig.
Die Studie über die neuen Chamäleonarten wurde in der internationalen Fachzeitschrift „Zootaxa“ veröffentlicht: Hughes, D. F., Behangana, M., Lukwago, W., Menegon, M., Dehling, J. M., Wagner, P., Tilbury, C. R., South T., Kusamba, C. & Greenbaum, E. (2024) Taxonomy of the Rhampholeon boulengeri complex (Sauria: Chamaeleonidae): Five new species from Central Africa’s Albertine Rift. – Zootaxa 5458: 451–494.
Originalpublikation:
Hughes, D. F., Behangana, M., Lukwago, W., Menegon, M., Dehling, J. M., Wagner, P., Tilbury, C. R., South T., Kusamba, C. & Greenbaum, E. (2024) Taxonomy of the Rhampholeon boulengeri complex (Sauria: Chamaeleonidae): Five new species from Central Africa’s Albertine Rift. – Zootaxa 5458: 451–494

13.06.2024, Ludwig-Maximilians-Universität München
Paläontologie: Neue fossile Fischgattung entdeckt
LMU-Paläontologen haben eine neue Gattung fossiler Süßwassergrundeln identifiziert und evolutionäre Geheimnisse einer Millionen Jahre alten Linie enthüllt.
Grundeln gehören zu den artenreichsten Gruppen der Meeres- und Süßwasserfische Europas. Sie halten sich überwiegend am Boden der Gewässer auf und tragen erheblich zur Funktionalität vieler Ökosysteme bei. Mit der Identifizierung einer neuen Gattung fossiler Süßwassergrundeln haben Studierende des internationalen LMU-Masterstudiengangs ‚Geobiology and Paleobiology‘ und LMU-Paläontologin Bettina Reichenbacher, Professorin am Department für Geo- und Umweltwissenschaften, eine Entdeckung gemacht, die wichtige Einblicke in die Evolutionsgeschichte dieser Fische ermöglicht.
Die kleinen, nur bis 34 mm großen Fische der neuen Gattung †Simpsonigobius wurden in 18 Millionen Jahre alten Gesteinen in der Türkei entdeckt und zeichnen sich durch eine einmalige Kombination morphologischer Merkmale aus, unter anderem besitzen sie einzigartig geformte Otolithen („Gehörsteine“) im Innenohr.
Moderne Forschungstechniken klären Verwandtschaft
Wie †Simpsonigobius im Stammbaum der Grundeln einzuordnen ist, klärten die Forschenden mithilfe eines phylogenetischen „total-evidence“-Datensatzes, den sie so erweiterten, dass für 48 heutige und zehn fossile Arten insgesamt 48 morphologische Merkmale mit genetischen Daten von fünf Genen kombiniert wurden. Zudem setzte das Team erstmals für fossile Grundeln das sogenannte „Tip-dating“ ein. Darunter versteht man eine phylogenetische Analyse, bei der aus dem Alter der im Stammbaum enthaltenen Fossilien (= Tips) Rückschlüsse auf den zeitlichen Verlauf der Evolutionsgeschichte der gesamten Gruppe gezogen werden.
Die Ergebnisse zeigen: Die neue Gattung ist das älteste skelettbasierte Mitglied der Familie der „Oxudercidae“, welche zu den „modernen“ Grundeln (Familien Gobiidae + Oxudercidae) zählen, und die älteste Süßwasserart innerhalb dieser modernen Gruppe. Die Methode des Tip-dating kalkuliert die Entstehung der Gobiidae auf 34.1 Millionen Jahre und die der Oxudercidae auf 34.8 Millionen Jahre, was gut mit früheren Datierungen unter Verwendung anderer Methoden übereinstimmt. Eine stochastische Lebensraumkartierung, in die die Forschenden erstmals auch fossile Grundeln einbezogen, zeigte zudem, dass Grundeln am Anfang ihrer Evolutionsgeschichte wahrscheinlich eine breite Salztoleranz besaßen, was frühere Annahmen in Frage stellt.
„Die Entdeckung von †Simpsonigobius fügt den Grundeln nicht nur eine neue Gattung hinzu, sondern liefert auch wichtige Hinweise auf den evolutionären Zeitrahmen und die Lebensraumanpassungen dieser vielfältigen Fische. Unsere Forschung unterstreicht, wie wichtig es ist, Fossilien mit modernen Methoden zu analysieren, um genauere Aussagen zu den evolutionären Abläufen zu treffen“ sagt Reichenbacher. Erstautor Moritz Dirnberger, derzeit Doktorand an der Universität Montpellier, fügt hinzu: „Unsere Ergebnisse werden den Weg für weitere Studien zur Evolution der Grundeln und der Rolle von Umweltfaktoren bei der Entstehung ihrer Vielfalt ebnen.“
Originalpublikation:
Dirnberger M., Bauer E., Reichenbacher B. (2024): A new freshwater gobioid from the Lower Miocene of Turkey in a significantly amended total evidence phylogenetic framework. Journal of Systematic Paleontology 2024
https://doi.org/10.1080/14772019.2024.2340498

13.06.2024, Universität Ulm
Verbreitete Pestizide gefährden Amphibien – Schädliche Wirkung von Neonikotinoiden auf Froschembryonen nachgewiesen
Neonikotinoide wirken nicht nur als Insektengift, sondern stören auch die Embryonalentwicklung von Fröschen. Das hat ein Forschungsteam am Institut für Biochemie und Molekulare Biologie (iBMB) der Universität Ulm in mehreren Studien dokumentiert. Kaulquappen, die in Laborexperimenten verschiedenen Neonikotinoiden in jeweils unvermischter Form ausgesetzt waren, hatten kleinere Körper und Augen, missgebildete Hirnnerven und veränderte Herzstrukturen. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass auch in der EU zugelassene Insektengifte eine schädliche Wirkung auf Amphibien haben und liefern Hinweise auf einen möglichen Zusammenhang der Gifte mit dem weltweiten Amphibiensterben.
Verbreitete Pestizide gefährden Amphibien
Ulmer Forschende belegen schädliche Wirkung von Neonikotinoiden auf Froschembryonen
Neonikotinoide kommen weltweit als Pestizide zum Einsatz. Die Wirkstoffe greifen das Nervensystem von Insekten an und werden in der Landwirtschaft zur Schädlingsbekämpfung versprüht. Auch frei verkäufliche Produkte wie Anti-Insektensprays und Halsbänder gegen Flöhe und Zecken für Haustiere können Neonikotinoide enthalten. In drei aufeinander aufbauenden Studien, deren jüngste nun das Fachmagazin Current Research in Toxicology veröffentlichte, untersuchten die Ulmer Forschenden, inwieweit die Wirkstoffe negative Effekte auf Amphibien haben.
In Laborexperimenten setzten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Embryonen des südafrikanischen Krallenfroschs in einem frühen Entwicklungsstadium fünf Neonikotinoiden aus: Acetamiprid, Thiacloprid, Imidacloprid, Thiamethoxam und Clothianidin. Die Neonikotinoide wurden jeweils als Einzelstoff verwendet und unterschiedlich konzentriert. Niedrige Konzentrationen entsprachen denen, die in natürlichen Gewässern bereits gemessen wurden; hohe Konzentrationen simulierten extreme Fälle, wie sie etwa durch eine illegale Einleitung in Flüsse entstehen könnten. Nach mehreren Tagen überprüften die Forschenden die Embryonen auf Schäden an Gewebe und Organen und analysierten Mobilität und Herzschlag sowie bestimmte Gene, um die molekularen Ursachen von Defekten aufzuschlüsseln.
Vielfältige negative Effekte
„Im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigen alle fünf Neonikotinoide negative Effekte, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung“, berichtet eine der Erstautorinnen, Dr. Hannah Flach vom iBMB. Alle Neonikotinoide verursachten kleinere Augen und veränderte Kopfknorpel. In Lösungen mit Acetamiprid und Thiacloprid wiesen die Kaulquappen eine reduzierte Körperlänge sowie Kopfödeme auf. Eine hohe Thiacloprid-Konzentration führte zu kleineren Gehirnen und veränderten Hirnnerven; letztere waren ebenso bei einer hohen Imidaclopdrid- und Clothianidin-Konzentration zu beobachten. Herzödeme und veränderte Herzfrequenzen waren ebenfalls häufig. Zudem kam es zu Veränderungen in der Mobilität, bis hin zu kompletter Immobilität der Kaulquappen. Auch zeigten die Embryonen schon sehr früh in ihrer Entwicklung eine gestörte Genaktivität.
„Wir haben damit nachgewiesen, dass die betrachteten Neonikotinoide nicht nur Insekten, sondern auch Embryonen von Amphibien deutlich schaden können. Vor allem Schäden im Bereich der Augen sind schon bei relativ niedrigen Konzentrationen aufgetreten, wie sie bereits in der Natur gemessen wurden“, so Professorin Susanne Kühl. Die Studienleiterin weist darauf hin, dass für die typischen Tümpel, in denen Amphibien aufwachsen, nur wenige Messwerte existieren. „Um die möglichen Risiken von Neonikotinoiden in der Natur real einschätzen zu können, wären noch viel mehr Messungen in Kleingewässern nahe landwirtschaftlich bewirtschafteter Felder nötig.“
Die Arbeit des Forschungsteams hebt sich in ihrer Detailgenauigkeit von anderen Studien zu Auswirkungen von Pestiziden ab. „Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass nicht nur die Pestizide selbst, sondern auch deren Abbauprodukte Schädigungen verursachen können. Wir beobachten sehr komplexe Prozesse, die in den Zulassungsverfahren besser berücksichtigt werden sollten“, so Kühl.
Risiken auch für andere Wirbeltiere möglich
„Durch unseren Fokus auf die Embryonen des Krallenfroschs, einem etablierten Modellorganismus in der Entwicklungsbiologie, können wir die beobachteten Effekte auch in einen Zusammenhang mit dem weltweiten Amphibiensterben stellen“, betont die Studienleiterin. In der EU ist Thiacloprid nicht mehr zugelassen; Imidacloprid, Thiamethoxam und Clothianidin dürfen in geschlossenen Gewächshäusern zum Einsatz kommen, wobei weiterhin Notfallzulassungen auch im Freigelände innerhalb der EU möglich sind. Acetamprid hingegen hat eine EU-Zulassung bis 2033 und ist als Wirkstoff in Produkten wie Sprays für Zimmerpflanzen und Rosen sowie in Mitteln gegen Fliegen, Ameisen oder Flöhe verbreitet. Neonikotinoide wurden bereits in Lebensmitteln wie Honig und Obst sowie im menschlichen Körper, beispielsweise in Sperma, nachgewiesen. „Angesichts der nachgewiesenen schädlichen Wirkung können Risiken auch für andere Wirbeltiere nicht ausgeschlossen werden“, unterstreicht Kühl, die dafür plädiert, das Problem global zu betrachten, da außerhalb der EU der Einsatz von Neonikotinoiden nicht beschränkt ist. „Pestizide gefährden durch ihren weltweiten Einsatz die Artenvielfalt. Das Amphibiensterben ist das größte Artensterben im Bereich der Wirbeltiere.“
In früheren Studien hatte das Forschungsteam bereits ähnliche Effekte des Herbizids Glyphosat nachgewiesen.
Originalpublikation:
Flach, H. et al. (2024). Comparing the effects of three neonicotinoids on embryogenesis of the South African clawed frog Xenopus laevis. Current Research in Toxicology 6/2024
Kerner, M. et al. (2023). The impact of the insecticide acetamiprid on the embryogenesis of the aquatic model organism Xenopus laevis. Environmental Toxicology and Pharmacology Vol 103, October 2023
Flach, H. et al. (2023). The neonicotinoid thiacloprid leads to multiple defects during early embryogenesis of the South African clawed frog (Xenopus laevis). Food and Chemical Toxicology, Vol. 176, June 2023

14.06.2024, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Schifffahrt schadet der Biodiversität in Europas Flüssen
Anhand umfangreicher Langzeitdaten zeigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter Beteiligung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), dass die Binnenschifffahrt in den letzten Jahrzehnten zu einem deutlichen Verlust der biologischen Vielfalt von Fischen, Muscheln, Schnecken und Kleinkrebsen in europäischen Flüssen beigetragen hat – und dazu, dass die verbliebenen Tiergemeinschaften immer einheitlicher werden und flusstypische Arten verloren gehen. Invasive Arten hingegen nehmen deutlich zu. Die Forschenden zeigen auch, wie diese Effekte durch ein besseres Ufer- und Landmanagement abgemildert werden könnten.
Das internationale Forschungsteam mit Prof. Sonja Jähnig und Dr. Christian Wolter vom IGB hat Datensätze zur Biodiversität in europäischen Flüssen zusammengetragen und modelliert, wie sich Belastungen durch Schiffsverkehr, Hafendichte und Schleusen auf die Artenvielfalt im Wasser auswirken. Die ausgewerteten Zeitreihen von Fischen und größeren wirbellosen Tieren, wie Insektenlarven, Kleinkrebse, Muscheln und Schnecken, umfassten mehr als 19.500 Beobachtungen von über 4.000 Probestellen aus den letzten 32 Jahren.
Bestände flusstypischer Fischarten wie Barbe, Nase oder Zährte gehen zurück:
Wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrer Studie zeigen, geht die Binnenschifffahrt mit einem Rückgang der biologischen Vielfalt in den befahrenen Flüssen einher. Das betrifft sowohl den Reichtum und die Häufigkeit von Arten, als auch die Vielfalt der ökologischen Gilden, also der Gruppen von Arten mit gleichen Ansprüchen an bestimmte Umweltfaktoren, wie zum Beispiel die Strömung. Bei den Fischen gingen so in den letzten Jahrzehnten viele flusstypische Fischarten wie Barbe, Nase oder Zährte zurück und invasive Arten wie die Schwarzmundgrundel breiten sich aus.
„Wir haben festgestellt, dass die Artengemeinschaften in den Flüssen immer homogener werden. Auch in den europäischen Flüssen gibt es keine typischen Unterschiede in der Fauna mehr. Das Problem ist, dass sich dadurch die Nahrungsnetze verschieben können und auch die Widerstandsfähigkeit der Gewässer abnimmt“, sagt Prof. Sonja Jähnig.
Wellen und Rückströmungen von Schiffen: Verringerte Geschwindigkeit und Flachwasserzonen würden helfen:
Schiffe selbst beeinträchtigen die Artenvielfalt und die funktionelle Biodiversität von Fischen und großen wirbellosen, bodenlebenden und strömungsempfindlichen Arten, denn die von Schiffen verursachten Wellen und Rückströmungen üben einen Selektionsdruck aus: Fische, die ihre Eier in Gelegen an Substrate wie Steine oder Pflanzen heften, haben bessere Vermehrungschancen als Arten, deren frei schwimmende Eier weggespült werden. Schiffswellen erodieren die Ufer und setzen Sedimente frei, was die Lebensräume sowohl für Fische als auch für Wirbellose verschlechtert.
„Lebensräume mit unterschiedlichen Strömungen sind für die Artenvielfalt essentiell. Eine Verringerung der Schiffsgeschwindigkeit und die Schaffung von flachen Lebensräumen, die vor Schiffswellen geschützt sind, könnten einige dieser negativen Auswirkungen der Wellen mildern“, sagt Prof. Sonja Jähnig.
Nicht nur die Schiffe selbst, sondern auch der Gewässerausbau mit Häfen, Schleusen, Kanälen und Deckwerken schadet:
Negative Auswirkungen auf das Leben in unseren Flüssen hat neben den Schiffen oft auch die begleitende Infrastruktur: Schwere Deckwerke aus Beton oder Steinen, häufig eingesetzt, um die Ufererosion zu verhindern, beeinträchtigen beispielsweise die Lebensräume im Uferbereich und führen nachweislich zu einer geringeren Fischvielfalt.
Außerdem wird die Fahrrinne vieler Wasserstraßen regelmäßig ausgebaggert, um die Tiefe zu erhalten, was Lebensräume und Tiere am Gewässergrund schädigt.
Mehrere Stressoren können zusammenwirken: Renaturierung von Uferzonen würde Biodiversität besser schützen:
Das Forschungsteam untersuchte auch, wie die Schifffahrt mit anderen Stressoren zusammenwirkt. Wie stark der Einfluss des Schiffsverkehrs war, hängt von der lokalen Landnutzung und der zusätzlichen Degradation der Uferbereiche ab. Für Fische sind die negativen Auswirkungen in Flussabschnitten, die in städtischen oder stark landwirtschaftlich genutzten Gebieten liegen, am stärksten, da hier Belastungen durch hohe Nähr- und Schadstoffeinträge hinzukommen.
Auf Muscheln, Schnecken und Krebse wirkt sich der Ausbau von Fließgewässern zu Wasserstraßen vor allem dann negativ aus, wenn auch die Ufer stark degradiert sind. Bei starker Uferdegradation geht die Kanalisierung zudem mit einer Zunahme invasiver Arten einher.
„Diese verstärkenden Effekte zeigen uns, dass die Wiederherstellung von Uferlebensräumen sehr sinnvoll sein kann. Breite, nicht landwirtschaftlich genutzte Uferzonen können als Puffer gegen Nährstoffeinträge wirken. Die Ufervegetation ist ein natürlicher Erosionsschutz und bietet vielen Tierarten Lebensraum, Struktur, Schatten, Nahrung und Verbindung zum Umland. So können die negativen Auswirkungen der Kanalisierung reduziert werden“, sagt Dr. Christian Wolter.
Ökologisch wichtige Flüsse wie die Oder weitgehend von der Schifffahrt ausnehmen:
„Der Branchenverband Inland Navigation Europe (INE) beschreibt in seinem Post-COVID-Programm, dass die Binnenschifffahrt in Europa in den nächsten 25 Jahren um 50 Prozent wachsen soll. Es gäbe nicht nur mehr und größere Schiffe, auch die Infrastruktur würde ausgebaut. Das bedeutet mehr Wehre, größere Schleusen und Häfen sowie zusätzliche Wasserstraßen. Angesichts der Schäden für die biologische Vielfalt muss jedoch für jeden Fluss sorgfältig abgewogen werden, ob der Nutzen als Wasserstraße die hohen ökologischen Kosten wirklich rechtfertigt. So ist beispielsweise der geplante Ausbau der Oder ernsthaft zu hinterfragen“, so Dr. Christian Wolter.
Originalpublikation:
Sexton, A.N., Beisel, JN., Staentzel, C. et al. Inland navigation and land use interact to impact European freshwater biodiversity. Nat Ecol Evol 8, 1098–1108 (2024). https://doi.org/10.1038/s41559-024-02414-8

18.06.2024, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Düfte werden im Gehirn von Wanderheuschrecken ringförmig kodiert
In der Fachzeitschrift Cell beschreibt ein Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena erstmals, wie Gerüche im Antennallobus, dem Riechzentrum im Gehirn von Wanderheuschrecken kodiert werden. Mit Hilfe von transgenen Heuschrecken und bildgebenden Verfahren konnten die Forscherinnen und Forscher eine ringförmige Repräsentation von Düften im Gehirn nachweisen. Das Muster der Geruchskodierung im Antennallobus ist in allen Entwicklungsstadien der Wanderheuschrecke gleich. Ein besseres Verständnis der Duftkodierung im Heuschreckengehirn soll dazu beitragen, mehr über die Steuerung des Verhaltens dieser Insekten, insbesondere des Schwarmverhaltens, zu erfahren.
Die Europäische Wanderheuschrecke Locusta migratoria ist ein ökonomisch bedeutsamer Ernteschädling, der schon im Alten Testament als achte der zehn biblischen Plagen über Ägypten gekommen sein soll, „um alle Grün aufzufressen, was wächst“. Trotz ihres Namens kommt die Wanderheuschrecke in Europa kaum vor, während sie in Afrika und Asien nicht nur Schäden in Millionenhöhe anrichtet, sondern auch fatale Folgen für die dort lebenden Menschen hat, weil sie deren Nahrungs- und Existenzgrundlage bedroht. Die Wanderheuschrecken kommen in zwei Phasen vor: als ortsgebundene Tiere und in der Schwarmphase. Gefürchtet werden die Insekten vor allem dann, wenn sie in großen Schwärmen auftreten und ganze Ernten vernichten.
Wanderheuschrecken unterscheiden sich von anderen Insekten im anatomischen Aufbau ihres Riechhirns, dem Antennallobus, der Geruchsinformationen von der Antenne empfängt und verarbeitet. Der Antennallobus der Heuschrecken hat eine einzigartige und unkonventionelle neuronale Architektur mit mehr als 2000 kugelförmigen funktionellen Riecheinheiten, den Glomeruli, während sich bei den meisten Insekten nur zwischen 20 und 300 Glomeruli im Antennallobus befinden.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie interessieren sich dafür, wie Insekten Düfte wahrnehmen und diese in ihrem Gehirn verarbeiten. Vor allem aber möchten sie wissen, wie sich die Geruchswahrnehmung auf ihr Verhalten auswirkt.
„Unser Ziel war es, das seit langem bestehende Rätsel zu lösen, wie Gerüche in der extrem großen Population von Glomeruli, den strukturellen und funktionellen Einheiten im Antennallobus von Wanderheuschrecken, kodiert werden. Diese hochkomplexe Architektur des Heuschrecken-Antennallobus wird seit Jahrzehnten beobachtet, aber die zugrundeliegenden Mechanismen der Duftkodierung blieben ein Rätsel, weil bisher geeignete Methoden fehlten“, sagt Xingcong Jiang, Erstautor der Studie.
Die Einführung der CRISPR/Cas9-Methode stellte für die Forschenden einen methodischen Durchbruch dar, denn sie ermöglichte die Etablierung der ersten transgenen Wanderheuschrecken, die den genetisch kodierten Calciumsensor GCaMP in olfaktorischen sensorischen Neuronen exprimieren. GCaMP ist ein Protein, das fluoresziert, wenn es Calcium bindet, das in Zellen freigesetzt wird, wenn diese aktiv sind. Mit Hilfe der funktionellen 2-Photonen-Calcium-Bildgebung konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die räumlichen Aktivierungsmuster für ein breites Spektrum ökologisch relevanter Düfte in allen sechs Entwicklungsstadien der Wanderheuschrecke messen und kartieren.
„Unsere Ergebnisse zeigen eine ungewöhnliche funktionelle ringförmige Organisation des Antennallobus, die aus spezifischen glomerulären Clustern besteht. Diese glomeruläre Anordnung, die wir durch die gezielte genetische Expression eines gut charakterisierten Geruchsrezeptors bestätigen konnten, ist während der gesamten Entwicklung vorhanden, und das Muster der Geruchskodierung innerhalb der glomerulären Population ist in allen Entwicklungsstadien, von ersten Nymphenstadium bis zur adulten Heuschrecke, konsistent“, resümiert Silke Sachse, Leiterin der Forschungsgruppe Olfaktorische Kodierung am Max-Planck-Institut und eine Hauptautorin.
Die Wanderheuschrecke ist kein Modellorganismus wie die Taufliege Drosophila melanogaster. Die Gentransformation stellte für die Forschenden daher eine große Herausforderung dar. Viele Parameter müssen untersucht werden, was das Verfahren sehr zeitaufwändig macht. Das außergewöhnlich große Gehirnvolumen der Heuschrecke erschwert zudem die Erfassung und Auswertung von Bilddaten. „Wir sind weltweit die erste Gruppe, die das ortsspezifische Knock-in-Verfahren bei Heuschrecken erfolgreich angewendet hat. Aus der Literatur ist bekannt, dass die Erfolgsrate bei dieser Art der Transgenese sehr gering ist, trotzdem haben wir es geschafft“, freut sich Xingcong Jiang.
Interessanterweise spiegelt die räumliche Duftkodierung im Antennallobus von Heuschrecken eher die chemische Struktur der Düfte als ihre Wertigkeit – ob angenehm oder abstoßend – wider, anders als z.B. bei Fliegen, wo die Wertigkeit der Düfte bereits im Antennallobus repräsentiert ist, indem angenehme Düfte andere Strukturen aktivieren als unangenehme. „Wir haben beobachtet, dass Düfte bestimmter chemischer Klassen ein bestimmtes Muster hervorrufen: Zum Beispiel rufen aromatische Verbindungen mit ähnlicher chemischer Struktur, aber entgegengesetzter Verhaltensbedeutung, stärkere Reaktionen in den Randbereichen des Antennallobus hervor. Wir schließen daraus, dass die Repräsentation der Geruchswertigkeit nicht im Antennallobus, sondern in höheren Gehirnzentren wie dem Pilzkörper und dem lateralen Horn kodiert wird“, sagt Bill Hansson, Direktor der Abteilung Evolutionäre Neuroethologie und einer der Hauptautoren.
Die Ringstruktur des olfaktorischen Codes ist ein einzigartiges anatomisches Merkmal der Wanderheuschrecke. Dieser Kodierungsmechanismus ist allerdings nicht unbedingt auf andere Heuschreckenarten übertragbar. „Wir fragen uns, ob diese ringförmige Struktur eine schlechtere Alternative oder eine bessere Lösung mit Vorteilen gegenüber der glomerulären Anordnung darstellt, die wir bei Fliegen gefunden haben. Zukünftige Studien, die die Regeln der Duftkodierung bei anderen Insektenarten untersuchen, werden zeigen, ob andere Heuschreckenarten ein ähnliches Kodierungsmuster entwickelt haben“, meint Silke Sachse und hat bereits weiterführende Studien im Blick.
Wie Insekten Gerüche wahrnehmen und verarbeiten und wie sich die Geruchswahrnehmung letztlich auf ihr Verhalten auswirkt, ist wichtig für ein tieferes Verständnis der ökologischen Wechselwirkungen von Insekten mit ihrer Umwelt. Dies kann beispielsweise helfen, die Bekämpfung von Ernteschädlingen wie den Wanderheuschrecken zu optimieren. „Wir glauben, dass ein besseres Verständnis der Geruchsverarbeitung im Riechhirn unser Wissen über die neuronale Modulation, die zum Beispiel auch der Schwarmbildung bei Heuschrecken zugrunde liegt, erheblich erweitern wird,“ ist sich Bill Hansson, sicher.
Originalpublikation:
Jiang, X., Dimitriou, E., Grabe, V., Chang, H., Zhang, Y., Gershenzon, J., Rybak, J., Hansson, B. S., Sachse, S. (2024). Ring-shaped odor coding in the antennal lobe of migratory locusts. Cell, doi: 10.1016.j.cell.2024.05.036
https://doi.org/10.1016/j.cell.2024.05.036

18.06.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Unterschätzte Gefahr: Schäden durch invasive Arten werden unterbewertet
In einer breit angelegten Befragung haben Forschende der Goethe-Universität und des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums in Frankfurt die Sichtweise und Wahrnehmung von Interessenvertreter*innen in Deutschland zum Thema invasive Arten untersucht. Die Ergebnisse der im Fachjournal „Biological Invasions“ erschienenen Studie zeigen, dass alle befragten Interessengruppen die Verbreitung von invasiven Arten als Problem wahrnehmen und ein hohes Interesse an der Thematik haben. Der wirtschaftliche Schaden, den invasive Arten jährlich in Deutschland verursachen, sowie deren Vielfalt wurden aber in allen Gruppen deutlich unterschätzt.
Nilgans, Nutria, Waschbär – diese großen Tiere werden besonders häufig genannt, wenn man nach invasiven Arten fragt. Bei den Pflanzen stehen der Riesen-Bärenklau, das Drüsige Springkraut und der Japanische Staudenknöterich vorne auf der Bekanntheitsskala. „Wir haben in einer umfassenden Befragung die Kenntnisse zu invasiven Arten verschiedener Interessengruppen untersucht“, erklärt Dr. Matthias Kleespies, Erstautor der Studie von der Goethe-Universität und fährt fort: „In der Auswertung zeigt sich, dass vor allem große Säugetiere wie Nutria, Waschbär oder Marderhund wahrgenommen wurden, während kleinere Tiere und Pflanzen weniger oft bedacht wurden.“
Gemeinsam mit weiteren Forschenden der Goethe-Universität und des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums in Frankfurt hat Kleespies mittels einer nach sozialwissenschaftlichen Gütekriterien erstellten quantitativen Studie mehr als 2000 Personen aus neun unterschiedlichen Interessengruppen – Mitglieder von Umweltschutzorganisationen, Mitarbeitende des Ordnungsamts, Tierschützer*innen, Jäger*innen, Landwirt*innen, Mitglieder von Kleingartenvereinen, Taucher*innen, Mitarbeitende in zoologischen Gärten sowie Höhlenforschende – in Deutschland befragt. Die Studie analysiert die Schätzungen zur Anzahl invasiver Arten und den durch sie verursachten wirtschaftlichen Schäden. Außerdem wurde ermittelt, ob invasive Arten als Problem wahrgenommen werden, wie groß das Interesse an der Thematik ist und welche Arten am häufigsten genannt werden.
„Wir konnten anhand der von uns erhobenen Daten feststellen, dass innerhalb der Interessengruppen ein gutes Verständnis für die ungefähre Anzahl gebietsfremder Arten in Deutschland vorlag. Zudem war das Interesse an der Thematik groß und invasive Arten wurden als wichtiges Umweltproblem wahrgenommen,“ fasst Kleespies die Auswertung zusammen.
„Offenbar gibt es eine hohe Sensibilität für das Thema innerhalb der Interessengruppen und auch ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Verbreitung invasiver Arten. Der wirtschaftliche Schaden, den sie jährlich in Deutschland anrichten – ein dreistelliger Millionenbetrag –, wurde allerdings in allen Gruppen deutlich unterschätzt,“ fügt Prof. Dr. Sven Klimpel von der Goethe-Universität Frankfurt und dem Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum hinzu und erläutert: „Diese Unterbewertung deutet darauf hin, dass vielen der Befragten die tatsächlichen Auswirkungen invasiver Arten nicht vollständig bewusst sind. Das könnte zur Folge haben, das Präventions- und Managementmaßnahmen nicht rechtzeitig oder nicht in ausreichendem Maße ergriffen und unterstützt werden.“
Für den Umgang mit invasiven Arten und ihr Management kommt Interessengruppen und Entscheidungsträger*innen, der direkte Kontakt zu den Tieren oder Pflanzen haben, eine besondere Bedeutung zu. Darunter fallen beispielsweise Mitglieder von Jagverbänden, Landwirt*innen oder Umweltorganisationen, aber auch Personen in Behörden und der Verwaltung. „Diese Gruppen haben einen direkten Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung und den Umgang mit invasiven Arten oder sind sogar unmittelbar an Prävention oder Management beteiligt. Maßgeschneiderte Bildungsprogramme und gezielte Aufklärung könnten in Zukunft dazu beitragen, ein Bewusstsein für die ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen von invasiven Arten zu schärfen und mögliche Wissenslücken der Interessengruppen zu schließen. Zusätzlich bietet unsere Studie einen Anknüpfungspunkt für zukünftige Untersuchungen: So wäre es beispielsweise sinnvoll, die Sichtweise weiterer Interessengruppen und die der allgemeinen Bevölkerung miteinzubeziehen“, resümiert Klimpel.
Originalpublikation:
Kleespies, M.W., Dörge, D.D., Peter, N. et al. Identifying opportunities for invasive species management: an empirical study of stakeholder perceptions and interest in invasive species. Biol Invasions (2024). https://doi.org/10.1007/s10530-024-03328-z

19.06.2024, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Wie Fische stereo hören können
Charité-Forschende lösen Rätsel des Richtungshörens unter Wasser
Woher ein Geräusch kommt, können Menschen unter Wasser nicht ausmachen. Schall ist dort rund fünfmal schneller als an Land. Das macht ein Richtungshören nahezu unmöglich, denn das menschliche Gehirn berechnet die Herkunft von Klängen aus dem Zeitunterschied, mit dem sie beide Ohren erreichen. Fische hingegen können Schallquellen wie Beute oder Feinde orten, belegen Verhaltensstudien. Nur wie gelingt ihnen das? Neurowissenschaftler:innen der Charité – Universitätsmedizin Berlin haben das Rätsel gelöst und beschreiben den Hörmechanismus eines winzigen Fisches im Fachmagazin Nature*.
Er trägt den klangvollen Namen Danionella cerebrum – ein etwa 12 Millimeter kleiner Fisch, Zeit seines Lebens fast vollkommen transparent, beheimatet in Flussläufen des südlichen Myanmar. Zwar hat Danionella das kleinste bekannte Wirbeltiergehirn, dennoch zeigt der Fisch eine Vielzahl komplexer Verhaltensweisen, einschließlich der Kommunikation durch Laute. Diese Tatsache und sein direkt einsehbares Gehirn – das Schädeldach fehlt, Kopf und Körper sind nahezu durchsichtig – machen ihn für die Hirnforschung interessant.
Der Neurobiologe Prof. Benjamin Judkewitz, Wissenschaftler des Exzellenzclusters NeuroCure an der Charité, nutzt mit seinem Team die Eigenschaften des Winzlings, um grundlegende Fragen zu klären, beispielsweise wie Nervenzellen miteinander kommunizieren. Die jüngste Arbeit widmet sich dem Hörsinn und der jahrzehntelang ungeklärten Frage, auf welche Weise Fische unter Wasser eine Schallquelle lokalisieren können. Bisherige Lehrbuchmodelle für das Richtungshören versagen, wenn sie auf Unterwasserumgebungen angewendet werden.
Die akustische Welt über und unter Wasser
Sei es der Gesang eines Wals, das Zwitschern eines Vogels oder das Heranschleichen eines Raubtieres: Wenn Schall von einer Quelle ausgeht, breitet er sich als Bewegungs- und als Druckschwingung im umgebenden Medium aus. Legt man die Hand an eine Lautsprechermembran, kann man das sogar spüren. Da ist die Vibration von Teilchen, die angrenzende Luft wird bewegt – man bezeichnet dies als Schallschnelle. Zusätzlich ändert sich die Teilchendichte, die Luft wird komprimiert, was man als Schalldruck messen kann.
Wirbeltiere an Land, so auch der Mensch, nehmen die Richtung von Schall vor allem wahr, indem sie die Lautstärke und die Ankunftszeit von Schalldruck an beiden Ohren vergleichen. Ein Geräusch ist lauter und früher an dem Ohr, das der Quelle näher ist. Unter Wasser funktioniert diese Strategie nicht. Schall breitet sich deutlich schneller aus und er wird nicht durch den Schädel abgeschirmt. Demnach dürfte auch Fischen ein Richtungshören nicht möglich sein, denn Lautstärke- und Ankunftszeitunterschiede zwischen den Ohren gibt es nahezu nicht. Dennoch ist räumliches Hören in Vershaltensstudien bei unterschiedlichen Arten beobachtet worden. Wie kann das sein?
„Um herauszufinden, ob und vor allem wie ein Fisch die Richtung von Schall erkennt, haben wir spezielle Unterwasserlautsprecher gebaut und in einem Studiensetting kurze, laute Töne abgespielt“, erklärt Johannes Veith, einer der beiden Erstautoren der aktuellen Arbeit. „Anschließend haben wir ausgewertet, wie häufig Danionella den Lautsprecher meidet, also die Richtung, aus der der Schall kommt, erkennt.“ Für die Analysen wurde jeder Fisch im Aquarium mit einer Kamera von oben aufgenommen und dessen exakte Position markiert und nachverfolgt. Dieses Live-Tracking führte zu einem entscheidenden Vorteil: Während die Erforschung des Unterwasserhörens bislang durch Echos in Aquarien erschwert wurde, konnte das Team nun gezielt Echos unterdrücken.
Fische hören völlig anders
Menschen nehmen über das Trommelfell nur Schalldruck wahr, nicht aber Schallschnelle. Ganz anders der Hörmechanismus bei Fischen: Sie können auch die Schallschnelle wahrnehmen. Wie genau das bei Danionella funktioniert, haben Aufnahmen mit einem eigens für diesen Zweck gebauten Laser-Scanning-Mikroskop, das die Strukturen des Fischohrs während einer Tonwiedergabe stroboskopartig abtastet, gezeigt.
In der Nähe eines Unterwasserlautsprechers bewegen sich Wasserteilchen auf einer Achse auf den Lautsprecher zu und von ihm weg. Die Schallschnelle bewegt sich entlang der Ausbreitungsrichtung des Schalls. Ein Fisch in der Nähe des Lautsprechers bewegt sich ebenfalls mit dem Wasser, doch Ohrsteine – kleine kristalline Strukturen im Innenohr – bewegen sich aufgrund der Trägheit nur langsamer mit. Eine geringfügige Bewegung entsteht, die von Sinneszellen im Ohr detektiert wird. Das Problem: Damit kann der Fisch lediglich die Achse bestimmen, entlang derer sich der Schall bewegt – nicht aber die Richtung, aus der er kommt. Denn Schall ist eine Oszillation, eine ständige Vor- und Zurückbewegung.
Dieses Problem lässt sich lösen, indem Schallschnelle in Abhängigkeit vom momentanen Schalldruck ausgewertet wird – eine von vielen Hypothesen, die den Mechanismus des Richtungshörens in der Vergangenheit zu erklären suchten. Und die einzige Theorie, die zu den Forschungsergebnissen passte: „Schalldruck setzt die komprimierbare Schwimmblase in Bewegung, was wiederum von Haarzellen im Innenohr erkannt wird. Über diesen zweiten indirekten Hörweg liefert Schalldruck dem Fisch die notwendige Referenz für das Richtungshören. Ein Modell für das Richtungshören aus den 1970er Jahren sagte genau das voraus – wir konnten es nun erstmalig experimentell bestätigen“, sagt Prof. Judkewitz. Auch die Tatsache, dass sich das Richtungshören überlisten lässt, indem man den Schalldruck umkehrt, konnte das Team belegen. Die Fische schwammen in die entgegengesetzte Richtung, also zur Schallquelle hin.
Wie Micro-CT-Aufnahmen des Hörapparats von Danionella zeigen, ähnelt dieser dem Sinnesorgan von etwa zwei Dritteln der lebenden Süßwasserfische und somit rund 15 Prozent aller Wirbeltierarten. Die nun bestätigte Strategie des Richtungshörens, das kombinierte Auswerten von Schalldruck und Schallschnelle, könnte demnach weit verbreitet sein. Welche Nervenzellen im Einzelnen aktiv werden, wenn Töne unter Wasser abgespielt werden, dem wollen die Forschenden in weiteren Schritten auf die Spur kommen.
Originalpublikation:
*Veith, J et al. The mechanism for directional hearing in fish. Nature 2024. Jun 19. doi: 10.1038/s41586-024-07507-9

19.06.2024, Universität Zürich
Insekten beschleunigen die Evolution von Pflanzen
Ein Forscherteam der Universität Zürich hat herausgefunden, dass Pflanzen von verschiedenen Interaktionen mit Bestäubern und Pflanzenfressern profitieren. So sind Pflanzen, die von Insekten bestäubt werden und sich gegen Fressfeinde wehren müssen, evolutionär besser an verschiedene Bodentypen angepasst.
Pflanzen beziehen Nährstoffe und Wasser aus dem Boden. Da sich verschiedene Bodentypen in ihren chemischen und physikalischen Parametern unterscheiden, ist eine physiologische Anpassung der Pflanzen notwendig, um diesen Prozess auf verschiedenen Bodentypen zu optimieren.
Dieser evolutionäre Anpassungsprozess führt zur Bildung von Ökotypen, d.h. lokal angepassten «Pflanzenrassen», die sich im Aussehen leicht unterscheiden und sich unter Umständen nicht mehr so leicht miteinander kreuzen lassen. Letzteres wird als erster Schritt zur Bildung getrennter Arten angesehen. Die Anpassung von Nutzpflanzen an lokale Bodentypen ist auch für die landwirtschaftliche Produktivität von grosser Bedeutung.
Experiment mit Hummeln und Blattläusen
Ein Forscherteam um den Biologen Florian Schiestl vom Institut für Systematische und Evolutionäre Botanik der Universität Zürich hat nun herausgefunden, dass die Interaktion von Pflanzen mit Bestäubern und Pflanzensaugern die Anpassung an Bodentypen und damit die Bildung von Ökotypen beeinflusst. In einem zweijährigen Experiment wurden rund 800 Kohlrübenpflanzen über 10 Generationen auf verschiedenen Bodentypen im Gewächshaus angebaut. Eine Gruppe wurde von Hummeln bestäubt, eine andere von Hand; zusätzlich wurden die Pflanzen mit und ohne Blattläuse (als Herbivoren) kultiviert.
Am Ende des Evolutionsexperiments wurde untersucht, inwieweit sich die Pflanzen der beiden Bodentypen in Form und Inhaltsstoffen unterschieden und wie gut sie sich an die Bodentypen angepasst hatten. Bei der Gestalt zeigte sich, dass nur bei den hummelbestäubten Pflanzen deutliche Unterschiede zwischen den Bodentypen sichtbar waren, während die handbestäubten Pflanzengruppen sich nicht signifikant unterschieden.
Hummelbestäubte Pflanzen passen sich am besten an
Bei der Anpassung an die Bodentypen fanden die Forscher sogar nur bei hummelbestäubten Pflanzen mit Blattläusen signifikante Anpassung nach der zweijährigen experimentellen Evolution, während bei den anderen Gruppen keine signifikante Anpassung an die Bodentypen erkennbar war.
Die Studie identifizierte auch eine Reihe von Genen, die bei diesem Anpassungsprozess eine entscheidende Rolle spielen könnten. Die Ergebnisse zeigen, dass biotische Interaktionen einen starken Einfluss auf die Anpassung von Pflanzen an abiotische Faktoren haben können und dass die Anpassung am effizientesten funktioniert, wenn Pflanzen mit verschiedenen Arten von Interaktionen konfrontiert werden.
Originalpublikation:
Dorey, Thomas and Schiestl, Florian P. Bee-pollination promotes rapid divergent evolution in plants growing in different soils. Nature Communications. 27. März 2024. DOI: 10.1038/s41467-024-46841-4
Dorey, T., Frachon, L., Rieseberg, L.H., Kreiner, J., Schiestl, F.P. Biotic interactions promote local adaptation to soil in plants. Nature Communications, 18. Juni 2024. DOI: 10.1038/s41467-024-49383-x

20.06.2024, Hochschule Neubrandenburg
Neue Studie: Schimpansen nutzen Heilpflanzen gezielt zur Behandlung von Krankheiten und Verletzungen
Eine neue Studie unter Leitung der Hochschule Neubrandenburg und der Universität Oxford zeigt, dass wilde Schimpansen gezielt Pflanzen mit medizinischen Eigenschaften fressen, um sich selbst zu heilen. Das Forscherteam um Dr. Fabien Schultz und Dr. Elodie Freymann beobachtete 51 Schimpansen im Budongo Regenwald und testete 17 Pflanzenarten auf ihre entzündungshemmenden und antibakteriellen Eigenschaften. Die Ergebnisse: 88% der Pflanzen hemmen Bakterien, 33% wirken entzündungshemmend. Aus den Erkenntnissen der Studie können Menschen lernen, neue Medikamente zu entwickeln.
Schimpansen scheinen Pflanzen mit medizinischen Eigenschaften zu verzehren, um ihre Beschwerden zu behandeln, so eine neue Studie der Hochschule Neubrandenburg und der Universität Oxford.
Viele Pflanzen enthalten Wirkstoffe, die eine medizinische Wirkung auf Menschen und andere Tiere haben. Wildlebende Schimpansen fressen viele verschiedene Pflanzen, darunter auch solche, die zwar nährstoffarm sind, aber die Symptome von Krankheiten behandeln oder lindern können. Bisher war es jedoch schwierig festzustellen, ob Schimpansen sich selbst behandeln, indem sie absichtlich nach Pflanzen mit Eigenschaften suchen, die ihnen bei ihren spezifischen Beschwerden helfen, oder ob sie Pflanzen, die zufällig medizinisch wirken, passiv konsumieren.
Um dies zu untersuchen, kombinierte das Forscherteam um Dr. Fabien Schultz und Dr. Elodie Freymann Verhaltensbeobachtungen an wild lebenden Schimpansen (Pan troglodytes) mit pharmakologischen Tests der potenziell medizinischen Pflanzen, die sie in ungewöhnlichen Situationen konsumieren. Sie beobachteten das Verhalten und die Gesundheit von 51 Schimpansen aus zwei Gemeinschaften im tropischen Budongo Regenwald in Uganda.
Anschließend sammelten sie 17 Proben von 13 Baum- und Kräuterarten aus dem Regenwald, von denen sie annahmen, dass die Schimpansen sie zur Selbstmedikation verwenden könnten. Dazu gehörten Pflanzen, die zuvor von kranken oder verletzten Schimpansen eingenommen oder aufgetragen wurden, die aber nicht zu ihrer normalen Ernährung gehörten.
Die Pflanzenproben wurden dann an der Hochschule Neubrandenburg unter der Leitung von Dr. Fabien Schultz und Prof. Leif-Alexander Garbe auf ihre entzündungshemmenden und antibiotischen Eigenschaften getestet, u.a. gegen klinische Isolate antibiotikaresistenter Bakterienstämme. Insgesamt wurden 53 Extrakte hergestellt und in vitro auf eine pharmakologische Wirkung untersucht.
Das Forscherteam fand heraus, dass 88 % der Pflanzenextrakte das Bakterienwachstum hemmten, während 33 % entzündungshemmende Eigenschaften aufwiesen. Das tote Holz eines Baumes aus der Familie der Hundsgiftgewächse (Alstonia boonei) zeigte die stärkste antibakterielle Wirkung und hatte auch entzündungshemmende Eigenschaften, was darauf hindeutet, dass die Schimpansen es zur Behandlung von Wunden nutzen könnten. Interessanterweise wird Alstonia boonei auch in einigen ländlichen ostafrikanischen Dörfern als Heilpflanze zur Behandlung einer Vielzahl von krankhaften Zuständen verwendet, darunter bakterielle Infektionen, Magen-Darm-Probleme, Schlangenbisse und Asthma.
Die Rinde und das Harz des ostafrikanischen Mahagonibaums (Khaya anthotheca) und Blätter eines Farns (Christella parasitica) zeigten starke entzündungshemmende Effekte. Das Forscherteam beobachtete, wie ein männlicher Schimpanse mit einer verletzten Hand die Blätter des Farns suchte und aß, was möglicherweise zur Linderung von Schmerzen und Schwellungen beitrug. Sie beobachteten auch, dass ein Individuum mit einer parasitären Infektion die Rinde des Katzendornbaums (Scutia myrtina) fraß, was bei den Schimpansen dieser Gruppe noch nie beobachtet worden war. Die Laboruntersuchungen ergaben, dass diese Rinde sowohl entzündungshemmende als auch antimikrobielle Eigenschaften hat.
Die Ergebnisse sind ein überzeugender Beweis dafür, dass Schimpansen bestimmte Pflanzen aufgrund ihrer medizinischen Wirkung aufsuchen. Die Studie ist die bisher gründlichste Analyse, die sowohl verhaltensbiologische als auch pharmakologische Belege für den medizinischen Nutzen des Verzehrs von Rinde und Totholz für wildlebende Schimpansen kombiniert.
Dr. Elodie Freymann von der School of Anthropology & Museum Ethnography der Universität Oxford sagte: „Um die Selbstmedikation wild lebender Schimpansen zu untersuchen, muss man wie ein Detektiv vorgehen – man muss multidisziplinäre Beweise sammeln, um einen Fall zusammenzusetzen. Nachdem wir Monate im Feld verbracht und Verhaltenshinweise gesammelt hatten, die uns zu bestimmten Pflanzenarten führten, war es aufregend, die pharmakologischen Ergebnisse zu analysieren und zu entdecken, dass viele dieser Pflanzen ein hohes Maß an Bioaktivität aufwiesen.“
Angesichts der Tatsache, dass sowohl antibiotikaresistente Bakterienstämme als auch chronische Entzündungskrankheiten schon heute eine große Bedrohung für die globale Gesundheit darstellen, stellt das Forscherteam fest, dass die im Budongo Regenwald wachsenden Heilpflanzen die Wirkstofffindung und die Entwicklung wertvoller neuer Medikamente unterstützen könnten.
Forschungsgruppenleiter Dr. Fabien Schultz sagte: „Es ist durchaus vorstellbar, dass mithilfe moderner Technologien in der Medikamentenforschung zukünftig aufbauend auf unseren Untersuchungen im Frühstadium neuartige Wirkstoff-Leitstrukturen identifiziert werden können. Somit stellen sich die Fragen: Was wäre, wenn wir Menschen von den Schimpansen lernen könnten? Können eines Tages Menschenleben gerettet werden, indem wir dem Beispiel unserer engsten tierischen Verwandten folgen?“
Dr. Freymann fügte hinzu: „Unsere Studie zeigt, welches medizinische Wissen aus der Beobachtung von Tieren in freier Wildbahn gewonnen werden kann, und unterstreicht die dringende Notwendigkeit, diese Waldapotheken für künftige Generationen zu erhalten.“
Die Studie „Pharmacological and behavioral investigation of putative self-medicative plants in Budongo Chimpanzee diets“ wird in der Open-Access-Zeitschrift PLOS ONE am Donnerstag, den 20. Juni 2024 um 20:00 Uhr unter
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0305219 veröffentlicht.

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