10.08.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Wenn der Wurm zum Giftschlag ausholt
Schnurwürmer (Nemertinen) halten einen Weltrekord: Die Lange Nemertine (Lineus longissimus) gilt mit bis zu 60 Metern Gesamtlänge als das längste Tier der Welt. Weitere Besonderheiten der überwiegend im Meer lebenden Schnurwürmer sind ihr Rüssel, den sie für die Jagd oder zur Erkundung der Umgebung ausstülpen können, und ihre Eigenschaft, Gifte zu produzieren. Diesen Giftcocktail haben Forscher*innen nun in einem Verbundprojekt des LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG) detailliert untersucht. Ihre Ergebnisse publizierte das Team kürzlich in der Fachzeitschrift „Marine Drugs“.
Seine Gifte gibt der Schnurwurm einerseits passiv über die Haut ab, vermutlich um sich vor Fressfeinden zu schützen; andererseits setzt er sie auch aktiv ein, um Beutetiere zu lähmen und zu töten. Dabei unterscheiden sich die Arten unter anderem in der Ausstattung ihres Rüssels. „Der in Deutschland heimische Milchweiße Schnurwurm hat eine Spitze an seinem Rüssel, die wie ein Stilett aussieht. Stülpt der Schnurwurm seinen Rüssel aus, durchschlägt die Spitze regelrecht die Haut seines Beutetiers, und das Gift dringt ein“, erläutert Dr. Maria Nilsson-Janke, Wissenschaftlerin am LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik und am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum. Anhand der Genome erforscht sie die Evolution dieser bisher wenig untersuchten Wurmgruppe, den so genannten Hoplonemertinen.
„Andere Arten besitzen hingegen nur einen unbewaffneten Rüssel – das bedeutet aber nicht, dass sie ungefährlich sind“, betont Projektleiter Dr. Björn von Reumont vom Institut für Insektenbiotechnologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. „Für diese Arten sind bisher nur einzelne Giftbestandteile, sogenannte Toxine, aus dem Hautschleim bekannt; diese zeigen jedoch eine große Wirkung auf Insekten und Krebse. Eines dieser Toxine wird sogar als mögliches Bioinsektizid weiter erforscht – also als Pflanzenschutzmittel, das wirksam ist gegen Schädlinge, aber nützliche Insekten schont.“
Beim Vergleich der jeweiligen Anatomie und Beschaffenheit der Gifte stießen die Forscher*innen auf weitere Unterschiede, die auf voneinander abweichende evolutionäre Entwicklungen hindeuten. „Der stärker ausgeklügelte Giftapparat – also Einsatz eines panzerbrechenden Rüssels beim Jagen – beim Milchweißen Schnurwurm weist eine andere Zusammensetzung des Giftcocktails auf als bei den anderen Arten“, berichtet Tim Lüddecke, Doktorand des Fraunhofer Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie in Gießen. „Offensichtlich gab es also im Laufe der Evolution eine eigenständige Entwicklung, die entweder durch Herausbildung des bewaffneten Rüssels oder Giftanpassung an die Beutetiere erfolgte.“ Vergleichende molekularbiologische und biochemische Analysen sowohl des Rüsselgewebes als auch des Schleims dieser Schnurwurmart mit dem lateinischen Namen Amphiporus lactifloreus zeigten Ähnlichkeiten zu Toxinen aus erdgeschichtlich altertümlichen Tiergruppen wie Dornkronenseesternen und Nesseltieren, die ebenfalls über Stacheln oder Nesselfäden hochgiftige Stoffe in ihre Opfer injizieren.
Die Forschungsergebnisse weisen darüber hinaus darauf hin, dass in den verschiedenen Arten der Schnurwürmer vermutlich bisher nicht erfasste Toxine aus der Gruppe der sogenannten Knottine vorkommen. „Dies sind kleine Proteine, die sich sehr stabil zusammenfalten können und damit in der Lage sind, mit Ionenkanälen zu interagieren. Dadurch können sie als Nervengifte wirken. Solche Toxine kommen in vielen Tiergruppen vor, die von uns zum Teil auch erforscht werden, darunter Spinnen, Raubwanzen, Raubfliegen und giftige Krebstiere. Daher können wir diese Toxinfamilie gut vergleichen“, so von Reumont. „Unser Ziel ist es, die Evolution der Giftproteine in Schnurwürmern umfassend nachzuvollziehen. Dafür wollen wir unsere bisherigen Ergebnisse mit der Analyse der Genomdaten mehrerer Arten verknüpfen. Parallel arbeiten wir daran, die Wirkungsweise und auch das Potenzial für mögliche pharmakologische und agrochemische Anwendungen einzelner Toxine der Schnurwürmer zu untersuchen.“
Originalpublikation:
Björn Marcus von Reumont et al. (2020):
Proteo-Transcriptomic Analysis Identifies Potential Novel Toxins Secreted by the Predatory, Prey-Piercing Ribbon Worm Amphiporus lactifloreus
https://www.mdpi.com/1660-3397/18/8/407
10.08.2020, Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit
Verfolgung neuer Vogelgrippeviren wird durch moderne Analysen der Genomdaten möglich
Im Rahmen eines internationalen Konsortiums gelang durch mathematische Analysen die Nachverfolgung der Entstehung und Verbreitung neuer Varianten der Vogelgrippe. Diese groß angelegte internationale Studie wurde nun in der Fachzeitschrift PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America) veröffentlicht. Die Arbeit führte das Friedrich-Loeffler-Institut (FLI), gemeinsam mit dem Erasmus University Medical Center und der Universität Edinburgh im „Global Consortium for H5N8 and Related Influenza Viruses“ durch.
Das Team interpretierte eine große Zahl Genomsequenzen aus Virusproben, die während des bisher größten Ausbruchs der hochpathogenen Vogelgrippe in den Jahren 2016/2017 in der ganzen Welt gesammelt wurden. Dabei konnten die Wissenschaftler zahlreiche neue Virusvarianten beschreiben, die durch den Austausch einzelner Abschnitte des Virusgenoms entstanden sind. Sie benutzten dabei mathematische Methoden, mit denen sie abschätzen konnten, wann und wo das Virus bei Wild- oder Hausvögeln genetisches Material mit anderen Viren ausgetauscht hatte. So konnten die Forscher Aussagen darüber treffen, in welcher Vogelgruppe die neuen Varianten entstanden sind und anhand der Genomsequenzen verfolgen, wie sich die Virusstämme von infiziertem Hausgeflügel in Asien über wilde Zugvögel bis nach Europa ausbreiteten.
Untersuchung der kompletten Genomsequenz von zunehmender Bedeutung
Die Studie stützt sich dabei auf vollständige Genomsequenzen, die Mitglieder des Konsortiums in öffentlichen Datenbanken geteilt haben. „Die Aufklärung der Genomsequenzen von Viren ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden.“ so Prof. Martin Beer, Leiter des Instituts für Virusdiagnostik am FLI, das maßgeblich an der Studie beteiligt war. „Durch modernste Sequenziermethoden und neue Auswerteverfahren können wir nicht nur die Entstehung neuer Virusstämme verfolgen, sondern auch Verbreitungswege nachvollziehen und erste Aussagen zur Gefährlichkeit machen.“ Der Ausbruch der hochpathogenen Vogelgrippe 2016/2017 war der bisher größte jemals beschriebene und führte zu hohen Verlusten in der Wildvogelpopulation und großen wirtschaftlichen Schäden bei Hausgeflügel. Die Studie lieferte nun wichtige Erkenntnisse zur Verbesserung der Überwachung möglicher Eintragswege für neue Viren und dient damit dem Schutz von Haus- und Wildvögeln.
Internationale Zusammenarbeit gestärkt
Die Studie unterstreicht die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit bei Virusausbrüchen. Es ist bereits die zweite Studie dieser Art (1. Studie „Role for migratory wild birds in the global spread of avian influenza H5N8“: https://doi.org/10.1126/science.aaf8852), die das Konsortium vorlegt, in dem über 30 Wissenschaftler aus allen Ländern und Regionen zusammenarbeiten. Sie wurde durch Mittel der Europäischen Kommission im Rahmen des EU Horizon 2020 Program (COMPARE, grant number 643476; DELTA-FLU, grant number 727922) unterstützt.
Originalpublikation:
„Genesis and spread of multiple reassortants during the 2016/2017 H5 avian influenza epidemic in Eurasia“
Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS):
DOI: 10.1073/pnas.2001813117
10.08.2020, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart
Forscher entdecken eine neue Art von süßwasserlebenden Krebsen am heißesten Ort der Erde – der Wüste Lut
Bei einer Expedition zum heißesten Ort der Welt, der Wüste Lut im Iran, wurde eine neue Art von süßwasserlebenden Krebsen entdeckt. Sie bekam den wissenschaftlichen Namen Phallocryptus fahimii. Die gemeinsame Forschungsarbeit wurde nun in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Zoology in the Middle East“ publiziert.
Bei einer Expedition in die Wüste Lut im Jahr 2017 entdeckten Dr. Hossein Rajaei vom Naturkundemuseum in Stuttgart und Dr. Alexander V. Rudov von der Universität Teheran dort – am heißesten Punkt der Erde – Krebse. Gemeinsam mit dem Krebstierspezialisten Dr. Martin Schwentner vom Naturhistorischen Museum Wien fanden sie nach wissenschaftlichen Untersuchungen der Tiere heraus, dass es sich um eine neue Art von süßwasserlebenden Krebsen handelt. Die Biologen gaben ihr den wissenschaftlichen Namen Phallocryptus fahimii. Ihre gemeinsame Forschungsarbeit wurde nun in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift „Zoology in the Middle East“ publiziert.
Expeditionen zum heißesten Punkt der Erde
Die Wüste Lut – auch bekannt als Dasht-e Lut – ist die zweitgrößte iranische Wüste und mit ihren 51.800 km2 größer als die Schweiz. Sie liegt im Südwesten Irans zwischen dem 33° und 28° Breitengrad. Hier wurde auch die bisher höchste je gemessene Oberflächentemperatur nachgewiesen. Basierend auf Satellitenmessungen der NASA wurde ein Rekordwert von 80,8°C registriert. Diese enormen Temperaturen sind unter anderem auf sehr dunkles Geröll zurückzuführen, welches sich besonders stark aufheizt. Die täglichen Durchschnittstemperaturen schwanken zwischen -2,6°C im Winter und 50,4°C im Sommer und der durchschnittliche Niederschlag beträgt nur 30 mm pro Jahr
Um die Ökologie, Biodiversität, Geomorphologie und Paläontologie dieser einmaligen Wüste besser zu erforschen, führte eine Gruppe Wissenschaftler zwischen 2015 und 2017 insgesamt drei Expeditionen in die Wüste Lut durch. An zwei dieser Expeditionen nahm auch der Insektenforscher Dr. Hossein Rajaei vom Naturkundemuseum Stuttgart teil.
Gewässer sind absolute Mangelware
Trotz der nur spärlichen Vegetation gibt es in der Wüste Lut zwar eine diverse Fauna, Gewässer sind jedoch sehr selten. Außer dem ganzjährig wasserführenden Rud-e Shur, einem Fluss mit extrem hohem Salzgehalt, gibt es keine permanente Wasserquelle. Nach stärkeren Regenfällen können sich aber vereinzelt temporäre Gewässer bilden. Dieses Glück hatten die Forscher bei ihrer Expedition im Jahr 2017. Und obwohl aquatisches Leben am heißesten Punkt der Erde kaum vorhanden ist, fing Dr. Hossein Rajaei in einem kleinen, temporären See im Süden der Wüste Lut 2017 mehrere Exemplare sogenannter Feenkrebse. Die Krebse sind auch als „Urzeitkrebse“ bekannt. Sie vermehren sich mit Hilfe von „Dauereiern“. „Diese sogenannten Dauereier sind auch von anderen Arten bekannt und man weiß, dass sie Jahrzehnte im ausgetrockneten Boden überleben können. Die Larven schlüpfen, sobald sich die Gewässer nach Regenfällen wieder füllen. Sie sind somit bestens an das Leben in Wüsten angepasst. Dass sie auch in der Wüste Lut überleben können, zeigt noch mal wie widerstandsfähig diese Dauereier sind“, berichtet Dr. Martin Schwentner, der bereits an ähnlichen Krebsen aus den australischen Wüsten gearbeitet hat.
Für die Wissenschaftler eine Sensation
„Bei einer Expedition in einen so extremen Lebensraum wie die Wüste Lut sind die Antennen überall – besonders, wenn man auf Wasser trifft. Die Entdeckung der Krebstiere in der sonst sehr heißen und trockenen Umgebung war für uns Wissenschaftler wirklich eine Sensation“, freut sich Dr. Hossein Rajaei, der eigentlich Schmetterlingsexperte ist.
Die in der Wüste Lut entdeckte und neu beschriebene Art Phallocryptus fahimii gehört zur Gattung Phallocryptus von der bisher vier andere Arten bekannt waren. Phallocryptus fahimii unterscheidet sich sowohl in ihrem Aussehen wie auch genetisch von den bisher bekannten Arten. Benannt wurde die Art nach dem iranischen Biologen und Umweltschützer Hadi Fahimi. Hadi Fahimi war ein Teilnehmer der 2017er Expedition in die Wüste Lut und kam tragischerweise beim Absturz des Fluges 3704 am 18.02.2018 ums Leben.
Originalpublikation:
Schwentner, M., Rudov, A. V. & Rajaei, H. 2020. Some like it hot: Phallocryptus fahimii n.sp. (Crustacean: Branchiopoda: Anostraca: Thamnocephalidae) from the hottest place on planet Earth. Zoology in the Middle East, DOI: https://doi.org/10.1080/09397140.2020.1805139
11.08.2020, Universität Hamburg
Umweltbedingungen beeinflussen Nachwuchsformen – CeNak-Studie zur Fortpflanzung bei Meeresschnecken
In manchen Gegenden bringt die Meeresschnecke Planaxis sulcatus Larven zur Welt, in anderen dagegen bereits weiter entwickelte Jungtiere. Ein Forschungsteam um Benedikt Wiggering und Prof. Dr. Matthias Glaubrecht vom Centrum für Naturkunde der Universität Hamburg weist nun in einer Studie im Fachjournal „BMC Evolutionary Biology“ erstmals nach, dass es sich bei den Tieren tatsächlich um ein und dieselbe Art handelt – und damit um eine besonders gute evolutionäre Anpassung an die Lebensbedingungen.
Poecilogonie bezeichnet das Phänomen, dass Tiere, die ausgewachsen kaum voneinander zu unterscheiden sind, eine ganz unterschiedliche Entwicklung durchlaufen haben. Es kommt nur bei wenigen wirbellosen Meerestieren vor. Die lebendgebärende Meeresschnecke Planaxis sulcatus ist eines der raren Beispiele: Während einige Nachkommen bereits als weit entwickelte Jungtiere geboren werden und sogar über ein jugendliches Schneckenhaus verfügen, werden andere noch als schwimmende Larven in die Meeresströmung entlassen, wo sie sich von Plankton ernähren.
In früheren Studien konnten diese unterschiedlichen Fortpflanzungsweisen bei weit voneinander entfernten Populationen im Persischen Golf sowie in Neuseeland beobachtet werden. Ein Team um Prof. Dr. Matthias Glaubrecht, Direktor des Centrums für Naturkunde (CeNak), und Benedikt Wiggering, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Abteilung „Biodiversität der Tiere“ des CeNak, hat nun die Brutstrategien der Schneckenart untersucht.
Die Forschenden untersuchten die Brutbeutel von insgesamt 365 Schnecken, um die Größe der darin enthaltenen Larven bzw. Jungtiere zu messen. Hierbei stellten sie fest, dass sich die Entwicklungsstadien der heranwachsenden Tiere je nach Region stark voneinander unterscheiden: Während im Westen bis zu 1,5 Millimeter große Nachkommen zu finden waren, befanden sich sämtliche Nachkommen im Osten der Stichprobe in einer frühen Entwicklungsphase.
Um sicherzustellen, dass es sich bei den Tieren nicht um unterschiedliche Arten oder gar eine Gruppe kryptischer Arten handelt, die sich äußerlich also nicht unterscheiden, aber keine Nachkommen zeugen können, nahmen die CeNak-Forschenden DNA-Proben einzelner Individuen. Bei der Untersuchung kam heraus, dass sich zwar drei Gruppen molekulargenetisch unterscheiden lassen. „Doch unsere Daten legen nahe, dass es sich um innerartliche Unterschiede und nicht um zwischenartliche handelt“, erläutert Wiggering. Damit sprechen die Befunde dafür, dass bei Planaxis sulcatus tatsächlich Poecilogonie vorliegt.
Für die Untersuchung wurden Tiere aus insgesamt 71 Populationen analysiert, die aus fünf verschiedenen Regionen des Indischen Ozeans und westlichen Pazifiks stammen und damit erstmals die gesamte Verbreitung der Art abdecken. Das Team selbst hat über Jahre hinweg Schnecken bei Expeditionen, etwa an der ostafrikanischen Küste, in Thailand, Indonesien und Australien gesammelt; die übrigen Proben stammen aus naturkundlichen Sammlungen großer Museen der ganzen Welt.
Das abweichende Heranwachsen der Tiere dürfte auf die unterschiedlichen Umweltbedingungen der jeweiligen Regionen zurückzuführen sein, vermutet Benedikt Wiggering: „Es ist gut möglich, dass beispielweise der höhere Salzgehalt des Meeres im Westindischen Ozean dazu geführt hat, dass die Nachkommen dort von ihren Müttern länger im Brutbeutel geschützt werden. Hingegen können Larven durch die geringere Salinität im Indo-Pazifik schon früher eigenständig überleben.“ Weitere Aufschlüsse sollen nun experimentelle Untersuchungen an lebenden Schnecken bringen. Bereits jetzt steht laut CeNak-Direktor Matthias Glaubrecht fest: „Wie viele andere Organismen leben auch diese Schnecken von der Vielfalt. Diversität ist gleichsam das Geheimrezept der Evolution. Und unsere Schnecken machen das geradezu lehrbuchhaft“.
Originalpublikation:
Wiggering B, Neiber M T, Gebauer K, Glaubrecht M. 2020. One species, two developmental modes: a case of geographic poecilogony in marine gastropods. BMC Evolutionary Biology 20: Article Number 76. https://doi.org/10.1186/s12862-020-01644-1
11.08.2020, Max-Planck-Institut für Ornithologie
Stammbaum der Vögel besser aufgelöst
Forscher*innen um Manfred Gahr vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen haben die Verwandtschaftsverhältnisse der Vogelfamilien auf der Erde untersucht und konnten erstmals die Verwandtschaftsbeziehungen aller Familien der Nicht-Sperlingsvögel und fast aller Familien der Sperlingsvögel aufklären. Der neue Stammbaum basiert auf Genabschnitten, die nicht für Proteine kodieren, aber Sequenzen enthalten, die jeweils spezifisch sind für die Familien und deren Gattungen.
Die ersten Stammbäume im Tierreich basierten auf Vergleichen des Körperbaus. Inzwischen analysieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Verwandtschaftsbeziehungen anhand von DNA-Sequenzen. Mit aufwändigen Verfahren werden Erbgutabschnitte verschiedener Arten untersucht und miteinander verglichen.
Die Artenvielfalt der Vögel nahm zum ersten Mal nach dem Aussterben der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren rasant zu. Vor 35 bis 33 Millionen Jahren stieg die Zahl der Vogelordnungen und -familien im Oligozän ein weiteres Mal stark an. Der neue Stammbaum zeigt auch, dass der bislang letzte Zuwachs im Miozän vor 23 bis zirka 15 Millionen Jahren beinahe ausschließlich die Ordnung der Sperlingsvögel (Passeriformes) betrifft, zu der die arten-, gattungs-, und familienreichen Singvögel gehören. In den anderen Vogelordnungen sind seither dagegen kaum noch neue Familien entstanden. Manfred Gahr, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie, hält die Erfindung des Gesangslernens für die treibende Kraft hinter der großen Artenvielfalt der Singvögel: „Bei vielen Singvögeln entscheidet der Gesang der Männchen über die Paarungsbereitschaft der Weibchen. Neue Gesänge könnten so zur Entstehung neuer Arten geführt haben.“
Das Max-Planck-Team hat entdeckt, dass mit einer molekularbiologischen Methode die verschiedenen Vogelgruppen klar untereinander abgegrenzt werden können. Sie beruht auf der Analyse aller aktiven Gene in einer Zelle, des sogenannten Transkriptoms. Neben den Sequenzen, die in Proteine übersetzt werden, enthalten die Gene auch verschiedene nicht-kodierende Sequenzen. „Diese werden normalerweise eher vernachlässigt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die nicht-kodierenden Sequenzen den Stammbaum der Vögel gut auflösen können“, sagt Heiner Kuhl, Erstautor der Studie, der mittlerweile am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) forscht. „Die nicht-kodierenden Abschnitte enthalten für eine ganze Vogelfamilie typische Sequenzen, anhand derer sich genau feststellen lässt, zu welcher Familie ein Vogel gehört. Darüber hinaus fanden wir auch Sequenzen, die für die Gattungen innerhalb der Familie spezifisch waren“ betont Carolina Frankl, Co-Autorin der Studie.
Die Forscher*innen konnten damit die Verwandtschaftsbeziehungen aller 106 Vogelfamilien der Nicht-Sperlingsvögel und 115 der zirka 130 Familien der Sperlingsvögel aufklären. Letzteres ist besonders kompliziert, da in den letzten Jahren laufend neue Gattungen zu Familien erhoben wurden, die teils nur eine oder wenige Arten enthalten und dadurch schwer zu untersuchen sind.
Im Stammbaum trennen sich recht früh die Paleognathen (u.a. Strauße) ab. Die Neognathen teilen sich dann in die Galloanserae (Hühner und Enten) und die Neoaves (Neuvögel) auf. Innerhalb der Neuvögel wurden jetzt die Mirandornithes (die Flamingos und Haubentaucher) als die Schwestergruppe aller anderen Ordnungen entdeckt. „Der bizarre Hoatzin, den man lange nicht einordnen konnte, hatte vor etwa 64 Millionen Jahren einen letzten gemeinsamen Vorfahren mit den Caprimulgiformes (Ziegenmelker, Segler, Kolibris)“, sagt Carolina Frankl. Am oberen Ende des Stammbaums finden sich die Australaves, zu denen die Sperlingsvögel, die Papageien und die Falkenartigen gehören, was bereits bekannt war.
Der Vorteil der auf dem Transkriptom basierenden Methode besteht darin, dass sich mit ihr Verwandtschaftsbeziehungen anhand einer Vielzahl von Genen effizient analysieren lassen, welche in allen Vogelarten vorkommen. „Wir müssen nicht das gesamte Erbgut aufwendig entschlüsseln und wieder zusammensetzen. Auch reicht für die Analyse ein kleiner Blutstropfen oder eine kleines Stückchen Haut. Frühere Studien, die auf den Sequenzen kompletter Genome basieren, benötigten Supercomputer für die Stammbaumberechnung, mit unserer Methodik ist dagegen ein leistungsstarker Server ausreichend“, sagt Heiner Kuhl.
Originalpublikation:
Kuhl H., Frankl-Vilches C., Bakker A., Mayr G., Nikolaus G., Boerno S.T., Klages S., Timmermann B., Gahr M (2020). An unbiased molecular approach using 3’-UTRs resolves the avian family-level tree of life. Molecular Biology and Evolution
DOI der Publikation: 10.1093/molbev/msaa191
13.08.2020, BUND
Nächtliche Tierstimmen: Das Murmeln der Gartenschläfer
In warmen Sommernächten ist es mancherorts nicht zu überhören: ein eigentümliches Schnattern, Murmeln und Fiepen, das die ganze Nacht andauern kann. Dahinterstecken könnte der Gartenschläfer, ein kleiner Verwandter des Siebenschläfers. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die Justus-Liebig-Universität Gießen und die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung haben in ihrem Projekt „Spurensuche Gartenschläfer“ herausgefunden, dass die Laute der kleinen Nager unverwechselbar sind. „Die ‚Sprache‘ der Gartenschläfer ist so typisch für seine Art, dass man sie mit ein bisschen Übung leicht erkennen und zuordnen kann“, erklärt Mechthild Klocke, Leiterin des Projekts.
Der Gartenschläfer ist vor allem in Mittel- und Südwestdeutschland heimisch. Doch seine Bestände sinken seit einigen Jahren dramatisch. Um die Ursachen herauszufinden und ihn zu schützen, taten sich Forschende und Naturschützende zusammen. Gefördert wird das Projekt im Bundesprogramm Biologische Vielfalt durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesumweltministeriums. Deutschland trägt eine besondere Verantwortung für den Schutz des Gartenschläfers, weil ein Großteil seines Verbreitungsgebiets hier liegt.
„Bei der Erforschung der aktuellen Verbreitung der Gartenschläfer sind uns die Tierstimmen immer deutlicher aufgefallen“, erklärt Mechthild Klocke. „Anhand der Laute können wir mittlerweile die lokale Verbreitung der Tierart hervorragend untersuchen.“ Die Tierstimmen der Gartenschläfer sind vielfältig, so Klocke: „Was die einzelnen Laute aber bedeuten, wann und warum sie eingesetzt werden, wissen wir noch nicht.“
Hinweis: Wenn Sie einen Gartenschläfer hören oder sehen, melden Sie dem BUND Ihren Hinweis – gerne mit Foto oder Audioaufnahme des Handys – auf www.gartenschlaefer.de.
Die Laute der Gartenschläfer zum Nachhören: www.gartenschlaefer.de/geraeusche
14.08.2020, Universität zu Köln
400 Millionen Jahre alter Trilobit besaß ähnliche Facettenaugen wie heutige Bienen
Prinzip des Sehens vieler heutiger Insekten und Krebstiere ist laut einer neuen Studie mindestens mehrere hundert Millionen Jahre alt / Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Scientific Reports – Nature
Trilobiten sind ausgestorbene Gliedertiere, verwandt mit heutigen Spinnentieren, Insekten und Krebsen. Sie waren die häufigsten Tiere in den Meeren des Erdaltertums. Die Privatdozentin Dr. Brigitte Schoenemann, Vertretungsprofessorin für Zoologie am Institut für Biologiedidaktik der Universität zu Köln, und ihr Kollege Euan Clarkson von der University of Edinburgh haben mit Hilfe digitaler Lichtmikroskopie die Facettenaugen des fossilen Trilobiten Aulacopleura koninckii untersucht. Sie kommen insgesamt zu dem Schluss, dass die Struktur und Funktion der Facettenaugen vieler tagaktiver Insekten und Krebstiere seit dem Erdaltertum (Palaeozoikum, vor 542 – 251 Millionen Jahren) unverändert geblieben ist.
Der Trilobit, der in der Tschechischen Republik gefunden und 1826 erstmals von dem Ingenieur Joachim Barrande beschrieben wurde, ist ein kleines, etwa 1cm langes und ungefähr 2 mm hohes Tier mit einem sehr dünnen Gliederpanzer. Auf dem Kopf sitzen halb-ovale Augen, die im Fossil meistens abgebrochen sind. „Das von uns untersuchte Tier lag in ausgezeichneter Erhaltung vor. Ein Auge war komplett erhalten, das andere war zur Hälfte aufgebrochen, was uns Einblicke in das Innere erlaubte“, sagt Dr. Schoenemann, und weiter: „Normalerweise sind zelluläre Strukturen in Fossilien nicht erhalten. Hier jedoch zeigten sich die Relikte von Sinneszellen, die den Strukturen von Facettenaugen vieler tagaktiver Insekten und Krebstiere von heute entsprechen.“
Ein Facettenauge, sowohl bei Bienen als auch bei dem hier untersuchten Trilobiten, setzt sich aus vielen identischen Untereinheiten zusammen, den sogenannten Ommatidien, die von außen als Facetten zu erkennen sind. Bei Aulacopleura sind es etwa zweihundert pro Auge. Jedes Ommatidium besteht aus etwa acht Sinneszellen, die sich um ein zentrales Stäbchen, das Rhabdom gruppieren, welches als ein Lichtleiter arbeitet. Es ist Teil der Sinneszellen und übersetzt das Lichtsignal in elektrische Impulse, die vom Nervensystem des Tieres verarbeitet werden können.
„Jedes Ommatidium verfügt zudem über eine Linse, die das Licht auf das Rhabdom bündelt. Da die modernen Ommatidien durch Pigmente, die wie Vorhänge wirken, voneinander getrennt sind, entsteht im Facettenauge, anders als bei unserem menschlichen Auge, ein mosaikartiges Sehen“, erläutert Schoenemann. Im Gegensatz zu den heutigen Insekten und Krebstieren besteht bei den alten Trilobiten diese Abtrennung meist aus optisch dichtem Panzermaterial. „Da hier bei Aulacopleura aber die Evolution offensichtlich ‚keine Kosten und Mühen gescheut hat‘, ebenfalls solche Vorhangs-Pigmente zu bilden, muss man wohl davon ausgehen, dass der dünne Panzer von Aulacopleura koninckii durchsichtig war. Dies kennen wir von vielen heutigen Garnelen und anderen kleinen marinen Krebsen. Ein Prinzip, das wohl auch dem zierlichen Trilobiten zu guter Tarnung auf dem Meeresboden verholfen hat“, schlussfolgert Schoenemann.
Die geringe Größe der Facetten des Trilobiten zeigt an, dass Aulacopleura koninckii wohl tagaktiv war und in seichten, lichtdurchfluteten Bereichen des Meeres gelebt hat. Kleine Linsen können nämlich weniger Licht einfangen als große und daher nur bei hellem Licht gut arbeiten.
Zur Publikation:
„Insights into a 429-million-year-old compound eye“,
https://doi.org/10.1038/s41598-020-69219-0
14.08.2020, Veterinärmedizinische Universität Wien
Spiel mit Menschen verbessert Lernerfolg von Hunden langfristig
Erregende und emotionale Situationen – wie das Spiel des Menschen mit dem Hund – verbessern die kognitive Leistung und die Einprägsamkeit von Erlerntem. Das konnte kürzlich eine Studie der Vetmeduni Vienna in Kollaboration mit der University of Lincoln (UK) zeigen. Eine soeben in der renommierten Fachzeitschrift „Animals“ erschienene Nachfolgestudie der Vetmeduni Vienna belegt nun, dass dieser verbesserte Trainingseffekt auch nach einem Jahr deutlich nachweisbar ist. Eine neue Erkenntnis, die insbesondere für die Schulung und das Training von Begleit- und Diensthunden von großer Bedeutung ist.
In einer ersten Studie konnte bereits gezeigt werden, dass sich der Trainingserfolg bei Labrador Retriever-Hunden nach einem 30-minütigen Spiel mit einem Menschen deutlich verbessert. Demnach wirkt das Spiel mit einem Menschen unmittelbar nach dem Erlernen einer neuen Aufgabe im Vergleich zu einer Ruhephase deutlich besser, wenn die erlernte Aufgabe 24 Stunden später erneut gelöst werden muss.
Erster Beweis für langfristigen Trainingserfolg durch zusätzliches Spielen
In der nun veröffentlichten Folgestudie von Nadja Affenzeller von der Universitätsklinik für Kleintiere und Pferde der Vetmeduni Vienna wurden dieselben Hunde nach einem Zeitraum von einem Jahr erneut getestet. Zu den analysierten Faktoren gehörten das Alter der Hunde, die Auswirkung der Traineridentität, die Trainingsleistung in der vorherigen Studie, die Herzfrequenz und die Anzahl der Versuche und Fehler, um das Schulungskriterium zu erfüllen. „Die Ergebnisse zeigen, dass alle Hunde die Aufgabe erneut gelernt haben. Hunde aus der Hund-Mensch-Spielgruppe benötigten jedoch signifikant weniger Versuche und machten im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant weniger Fehler“, so Studienleiterin Nadja Affenzeller. Laut der Wissenschafterin ist dies der erste Beweis dafür, dass Aktivitäten nach dem Training das Gedächtnis von Hunden auch ein Jahr nach dem ersten Erlernen einer Aufgabe positiv beeinflussen können.
Weitere Studien zur Optimierung der Trainingsleistung dringend erforderlich
„Bei der Interpretation der Gesamtergebnisse muss jedoch die geringe Stichprobengröße berücksichtigt werden. Folgestudien sind deshalb dringend erforderlich, um weiter zu untersuchen, wie die Erinnerung und die Trainingsleistung bei Hunden optimiert werden kann“, so Affenzeller. Laut der nun vorliegenden Studie scheinen das Spiel zwischen Hund und Mensch und strukturierte lang andauernde Schlafphasen die vielversprechendsten Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung des Trainingserfolgs zu sein. Ein besseres Verständnis wirksamer Interventionen – aber auch schädlicher Auswirkungen – wäre sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich der Hundeausbildung von großem praktischem Nutzen. Zukünftige Studien sollten die möglichen Synergieeffekte des Hund-Mensch-Spiels – und anderer Formen positiver affektiver Zustände – untersuchen, wie z.b. wenn eine längere Schlafdauer folgt. Darüber hinaus sollten der Faktor Alter auf Lernen und Gedächtnis durch die Rekrutierung ausgewogener Altersgruppen sowie komplexere Trainingsaufgaben genauer erforscht werden.
Originalpublikation:
Der Artikel „Dog-Human Play, but Not Resting Post-Learning Improve Re-Training Performance up to One Year after Initial Task Acquisition in Labrador Retriever Dogs: A Follow-On Study“ von Nadja Affenzeller wurde in Animals veröffentlicht.
https://www.mdpi.com/2076-2615/10/7/1235
17.08.2020, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Massenaussterben – Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen
Eine neue Publikation in Nature Geoscience beschreibt die Kausalketten zwischen Umweltveränderungen und Massenaussterben an der Perm-Trias-Grenze vor etwa 250 Millionen Jahren. Aus dieser Studie können Forschende aller Fachrichtungen und die Gesellschaft einen Eindruck gewinnen, was mit der biologischen Vielfalt unter der vorhergesagten globalen Erwärmung in nächster Zukunft geschehen könnte.
Das Massenaussterben am Ende des Permzeitalters ist die katastrophalste Krise in der Geschichte des Lebens auf der Erde, das Ereignis wurde deshalb „Das große Sterben“ genannt. Forschende haben in den letzten Jahrzehnten ein Puzzle zusammengesetzt, das massiven Vulkanismus, Klimaerwärmung und Sauerstoffmangel in den Ozeanen als eine gekoppelte Abfolge von Ereignissen verbindet, die zum Aussterben führten. Der genaue Mechanismus, der eine Eruption an Land mit dem Untergang des Lebens im Meer verbindet, ist jedoch nach wie vor umstritten.
„Es ist bekannt, dass der Untergang der Dinosaurier wahrscheinlich durch die augenblickliche Umweltzerstörung verursacht wurde, als die Erde von einem Asteroiden getroffen wurde. Im Gegensatz zu diesem ‚Vorschlaghammer‘-Effekt hatte das endpermische Massenaussterben vor ca. 251,9 Millionen Jahren wahrscheinlich einen längeren Vorlauf der Veränderung, der schließlich eine kritische Schwelle erreichte. Das Überschreiten dieser Schwelle führte zu einem raschen weltweiten Aussterben, das mehr als 80% aller Arten auslöschte“, so der Erstautor Martin Schobben.
In dieser neuen Studie nimmt das Element Phosphor eine zentrale Rolle bei der Verknüpfung dieser Ereignisse ein. Die Autoren vermuten, dass Vulkanismus und der damit verbundene erhöhte Phosphoreintrag vom Land dem Auslöschungsereignis vorausging. Ein komplizierter chemischer Prozess entfernte zunächst wirksam Phosphor aus dem Meerwasser. Die eigentliche Katastrophe wurde verzögert und trat erst ein, als ein kritischer Schwellenwert erreicht wurde, so dass die vorherige effiziente Entfernung von Phosphor aus dem Meerwasser zum Stillstand kam. Das System geriet außer Kontrolle, der Sauerstoffverbrauch und die Ansammlung von tödlichem Schwefelwasserstoff nahm zu. Diese neue Sicht auf die kaskadenförmige Umweltzerstörung am Ende des Perm ist eine langwierige Abfolge von Ereignissen – zunächst mit nur schwachen Veränderungen, die sich aber schließlich bis zur endgültigen Katastrophe aufbauten.
Die Erkenntnisse bieten auch eine Möglichkeit zur Beantwortung der Frage, warum bestimmte Organismen während des Aussterbeereignisses besser überlebt haben als andere. Da sich die sauerstoffarmen Regionen vom Kontinent bis in den offenen Ozean erstreckten, boten die Tiefwasserstandorte möglicherweise geeignete Lebensräume für Organismen, die sich leichter als andere ausbreiten konnten.
„Diese Forschung hat gezeigt, dass eine extreme Klimaerwärmung große Umweltzerstörungen verursachen kann, wenn sie über einen Schwellenwert hinausgeht, und dass die schädlichen Auswirkungen auf das Meeresleben für die prognostizierte Klimaerwärmung vorhergesagt werden können“, so Zweitautor Will Foster.
Veröffentlichung: Martin Schobben, Will Foster et.al. A nutrient control on marine anoxia during the end-Permian mass extinction, Nature Geoscience.
Erstautor Martin Schobben arbeitete als Wissenschaftler am Museum für Naturkunde Berlin und forscht nun an der Universität in Utrecht.
17.08.2020, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Babysprache bei Tieren
Babysprache oder „motherese“ ist ein außergewöhnlicher Fall von sozialer Interaktion zwischen Eltern und Kind und spielt eine entscheidende Rolle beim Spracherwerb von Kleinkindern. Eine neue Studie, die in der Fachzeitschrift Frontiers in Ecology and Evolution veröffentlicht wurde, beschreibt zum ersten Mal ein Phänomen in Fledermausrufen, welches der Babysprache beim Menschen ähnelt. Forscherinnen des Museums für Naturkunde Berlin entdeckten, dass die Weibchen der Großen Sackflügelfledermaus Saccopteryx bilineata die Klangfarbe der Stimme veränderten, je nachdem, ob sie ihre Lautäußerungen an ihre Jungtiere oder einen erwachsenen Artgenossen richteten.
Wenn Eltern mit ihren Babys sprechen, verwenden sie eine hohe Stimmlage, ein langsameres Sprechtempo und sprechen die Wörter klarer aus; sie sprechen in der sogenannten Babysprache, auch „motherese“ genannt. Interessanterweise verändert sich auch konsequent die Klangfarbe der elterlichen Stimme, je nachdem ob Eltern mit ihrem Kind oder einem anderen Erwachsenen sprechen. Diese spezielle Form von sozialem Feedback spielt für die Sprachentwicklung des Kindes eine wichtige Rolle. Durch die akustischen Merkmale von „motherese“ können Kleinkinder beispielsweise einfacher erkennen, wo ein Wort anfängt und wo es aufhört. Außerdem führt die spezielle Klangfarbe und Tonlage von „motherese“ zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit beim Kind.
Allerdings gibt es bisher nur zwei Berichte zu einem vergleichbaren Phänomen im Tierreich, nämlich bei Zebrafinken und bei Totenkopfäffchen. Bei Fledermäusen gab es bisher noch keine Studien zu diesem Thema.
Zwei Wissenschaftlerinnen des Museums für Naturkunde Berlin, Ahana A. Fernandez und Mirjam Knörnschild, untersuchten an Jungtiere gerichtete Lautäußerungen von Weibchen der Großen Sackflügelfledermaus Saccopteryx bilineata. Fernandez beobachtete wilde Fledermauskolonien in Costa Rica und Panama und nahm Lautäußerungen von erwachsenen Weibchen auf. Diese waren entweder an ihre eigenen Jungtiere oder an andere erwachsene Artgenossen gerichtet. Sie verwendete eine analytische Methode, die ursprünglich für menschliche Stimmerkennung entwickelt wurde, um sogenannte „akustische Merkmale“ einer Stimme zu extrahieren. Diese Merkmale erfassen sowohl gängige akustische Parameter wie zum Beispiel die Tonhöhe, aber auch die Klangfarbe einer Stimme.
Die Analyse zeigte, dass sich – genau wie beim Menschen – der Klang der Stimme der Fledermausweibchen konsequent veränderte, je nachdem, ob sie sich an ihre Jungtiere oder an erwachsene Artgenossen richteten. Es ist noch ungeklärt, was die genaue Funktion dieser Jungtier-gerichteten Lautäußerungen ist: Einerseits treten sie auf, wenn Mutter und Jungtier sich nach einer Trennung wieder vereinen. Andererseits werden sie auch produziert, während die Jungtiere damit beschäftigt sind, Lautäußerungen zu üben – ein Verhalten welches dem kanonischen Babbeln von Kleinkindern sehr ähnlich ist. „Es wäre denkbar, dass diese Jungtier-gerichteten Lautäußerungen eine ähnliche Funktion haben wie motherese bei Kleinkindern: ein allgemeines positives Feedback für Jungtiere während ihrer Babbel-Übungen“, erklärt Fernandez.
Die Publikation finden Sie hier:
https://doi.org/10.3389/fevo.2020.00265
17.08.2020, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Macht das Stadtleben Hummeln größer?
Treiben Städte die Evolution von Hummeln voran? Einen ersten Hinweis dafür liefern Befunde einer neuen Studie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig: Demnach sind die Insekten in Städten größer und dadurch sogar produktiver als Vertreterinnen derselben Art auf dem Land. Die Unterschiede in der Körpergröße könnten eine Folge der zunehmend zerstückelten Lebensräume in Städten sein, wie das Forschungsteam in der Fachzeitschrift „Evolutionary Applications“ schreibt.
In den letzten 200 Jahren hat sich der Lebensraum von Hummeln und anderen Insekten stark verändert: Sie leben seltener in ländlichen Regionen und auf Wiesen, sondern häufig umringt von Straßen und Betonwänden. „Städte haben für Hummeln Vor- und Nachteile: Einerseits gibt es durch private und botanische Gärten, Stadtparks und mit Blumen bestückte Balkone ein reichhaltiges Nahrungsangebot. Andererseits ist es in Städten deutlich wärmer als im Umland. Zudem entstehen durch Straßen und große Gebäude deutlich kleinere, voneinander mehr oder weniger stark getrennte Lebensräume“, sagt Dr. Panagiotis Theodorou vom Institut für Biologie der MLU, der die Studie als Wissenschaftler an der MLU und bei iDiv geleitet hat.
Das Team von Biologinnen und Biologen der MLU wollte herausfinden, ob die Verstädterung Folgen für die Evolution von Hummeln haben könnte und ob sich diese möglicherweise daran anpassen können. Dafür sammelten sie mehr als 1.800 Hummeln in neun Großstädten und deren ländlicher Umgebung. Die Arbeit konzentrierte sich auf drei in Deutschland häufig vorkommende Arten: die Steinhummel (Bombus lapidarius), die Ackerhummel (Bombus pascuorum) und die Dunkle Erdhummel (Bombus terrestris). Jede gefangene Hummel wurde vermessen. Außerdem beobachteten die Forscherinnen und Forscher an jedem der insgesamt 18 Standorte, wie oft Hummeln eigens gezüchtete und vor Ort ausgesetzte Rotkleepflanzen besuchten. Daraus wurde im Anschluss die Bestäubungsleistung berechnet. Dabei zeigte sich: „Tatsächlich waren die Hummeln aus urbanen, stärker fragmentierten Gebieten im Durchschnitt deutlich größer als ihre Artgenossinnen auf dem Land, um etwa vier Prozent“, sagt die Biologin Dr. Antonella Soro von der MLU. Die Ergebnisse waren für alle drei Hummelarten gleich.
Die Körpergröße steht im Zusammenhang mit dem Stoffwechsel eines Organismus und ist auch ein Indikator für Lebensdauer und Leistungsfähigkeit von Lebewesen. „Größere Hummeln können besser sehen, besser lernen und haben ein größeres Erinnerungsvermögen. Sie werden auch seltener von Fressfeinden attackiert und können weitere Distanzen zurücklegen. Das bedeutet, dass sie pro Flug mehr Blumen anfliegen können, mehr Pollen transportieren und so bessere Bestäuber sind“, sagt Soro. Das haben auch die weiteren Analysen der Forscherinnen und Forscher bestätigt. Die Studie gebe einen ersten Hinweis darauf, dass vor allem der Grad der Fragmentierung des Lebensraums einen Einfluss auf die Körpergröße und damit auch indirekt auf die Bestäubungsleistung von Hummeln haben könnte. Generell wisse man aber noch zu wenig über die Auswirkungen von Umweltveränderungen in Städten auf individuelle Hummel- und Bienenarten und ihre Bestäubungsleistung, so die Wissenschaftlerin. Das Team plädiert deshalb dafür, die evolutionären Anpassungen von Tieren an ihr städtisches Umfeld noch besser zu erforschen. Das könne auch eine bessere Stadtplanung ermöglichen, die die Natur stärker berücksichtigt.
Die Arbeit wurde über iDiv von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Originalpublikation:
Theodorou P., Baltz L. M., Paxton R. J. & Soro A. Urbanisation is associated with shifts in bumblebee body size, with cascading effects on pollination. Evolutionary Applications (2020). https://doi.org/10.1111/eva.13087
18.08.2020, Stiftung Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig, Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere
Natur in Gold: eine ehrbar gefärbte Klappenweichschildkröte aus Nepal
Ein Team von Forschenden aus Deutschland und Nepal weist nach, dass die Indische Klappenweichschildkröte aufgrund einer Genmutation golden gefärbt ist. Die auffälligen Tiere sind in der Natur selten und damit schwer zu finden.
Nachdem am 21. Juli dieses Jahres die Meldung über eine goldfarbige Indische Klappenweichschildkröte (Lissemys punctata) lauffeuerartig durchs Internet schoss und sogar von großen Nachrichtenagenturen (z.B. CNN) aufgegriffen wurde, kann man Berichte über goldene Schildkröten nicht mehr als Legendenmaterial abwinken. Das wussten Prof. Dr. Hinrich Kaiser, Gastwissenschaftler am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig Koenig in Bonn (ZFMK), und seine nepalesischen Koautoren Kamal Devkota and Dev Narayan Mandal allerdings schon seit 2018, als ihnen ein solches Tier von einem Dorfbewohner präsentiert wurde. Kurzberichte bleiben leider manchmal etwas länger im Planungsstadium, wenn größere Projekte Vorrang haben, aber durch die COVID-19 Pandemie konnten Kaiser und Kollegen sich freischaufeln und den Bericht schreiben. Hinter dem Phänomen der Goldfarbe steht eine Defekt-Mutation, die man als chromatischen Leuzismus bezeichnen kann. Diese Mutation ist dem Albinismus ähnlich, aber die Augen sind dunkel statt rosa und die markante gelbe Pigmentation kommt durch die Abwesenheit des Melanins zum Vorschein. Solche Tiere sind in der Natur sehr selten, und es ist einfach Glück, sie zu finden.
Originalpublikation:
Quelle: Devkota K, Narayan Mandal D, Kaiser H. 2020. A golden turtle in Nepal: first country record of chromatic leucism in the Spotted Northern Indian Flapshell Turtle, Lissemys punctata andersoni. Herpetology Notes 13:671–674.
19.08.2020, Deutsche Wildtier Stiftung
Nachtfalter – Schmetterlinge der Dunkelheit
Deutsche Wildtier Stiftung startet ein Monitoring, um mehr über die Lebensweise der unscheinbaren Nachtschwärmer zu erfahren
Wenn die Dämmerung einsetzt, werden Nachtfalter aktiv. Sie heißen Weinschwärmer, Blaukopf und Kätzcheneule und kommen in der Regel in schlichtem Grau-Braun mit verwaschenen Farbmustern dahergeflogen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man die Schönheiten der Schattenwelt. Während die farbenprächtigen Schmetterlinge am Tag zu den beliebtesten Insekten überhaupt zählen, sind ihre engsten Verwandten oft als lästige „Motten“ verschrien. „Das ist schade“, sagt Sebastian Brackhane, Projektleiter bei der Deutschen Wildtier Stiftung. „Denn die Gruppe der Nachtfalter ist nicht nur besonders artenreich, viele der Nachtschwärmer sind leider auch bedroht.“ Von den über 3.600 heimischen Falterarten sind 95 Prozent nacht- und dämmerungsaktive Nachtfalter.
Deshalb startet die Deutsche Wildtier Stiftung jetzt ein Projekt, das Aufschluss darüber geben soll, welche heimischen Arten nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs sind. Nachtfalter sind nicht nur wichtige Bestäuber von Pflanzen, sondern haben im Nahrungsnetz auch eine wichtige Rolle als Beutetiere. „Die Deutsche Wildtier Stiftung will die Räuber-Beute-Beziehung zwischen Nachtfaltern und den ebenfalls bedrohten Fledermäusen erforschen, um Rückschlüsse für Schutzmaßnahmen ziehen zu können“, sagt Brackhane. Geforscht wird auf den stiftungseigenen Naturerbeflächen in Mecklenburg-Vorpommern.
Mit vier Flügeln flattern die gut getarnten Nachtschwärmer durch die Dunkelheit; stets auf der Suche nach süßem Nektar. Sie naschen unter anderem am Seifenkraut – einer Pflanze, die ihre Blütenkelche nur nachts öffnet. Damit haben Nachtfalter ein perfektes Zeitfenster für die Nahrungsaufnahme, denn die Konkurrenz schläft. Doch wie für alle Nachtschwärmer lauern in der Dunkelheit auch Gefahren: ein Problem für die Falter ist die Lichtverschmutzung. Unter den Straßenlaternen fliegen sie bis zur Erschöpfung oder verbrennen. „Die Intensivierung der Landwirtschaft und der Einsatz von Pestiziden zerstören obendrein ihren Lebensraum“, erläutert Brackhane. Wer im Garten etwas für Nachtfalter tun möchte, kann Geißblatt, Nachtkerze, Nachtlichtnelke und das Nickende Leimkraut anpflanzen.
19.08.2020, Universität Konstanz
Lungenfischflossen zeigen, wie sich Gliedmaßen entwickelten
Neue Untersuchungen zur Flossenentwicklung des Australischen Lungenfischs durch eine internationale Forschungsgruppe mit Beteiligung der Universität Konstanz, der Macquarie University in Sydney und der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel verdeutlichen, wie sich Flossen zu Gliedmaßen mit Händen und Fingern beziehungsweise Füßen und Zehen entwickelten. Die Haupterkenntnis ist, dass beim Lungenfisch bereits eine primitive Hand vorhanden ist, funktionsfähige Finger und Zehen sich bei Landwirbeltieren aber erst aufgrund von Veränderungen in der Embryonalentwicklung herausbildeten.
Die Entwicklung von Gliedmaßen mit funktionellen Fingern und Zehen aus Fischflossen fand vor etwa 400 Millionen Jahren, im Devon, statt. Dieser morphologische Wandel ermöglichte es Wirbeltieren, das Land zu erobern, und brachte alle vierbeinigen Tiere oder Tetrapoden hervor – die evolutionäre Stammlinie, die alle Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere (einschließlich des Menschen) umfasst. Seit dem 19. Jahrhundert wurden verschiedene Theorien aufgestellt, die mit Blick sowohl auf Fossilien also auch auf Embryonen zu erklären versuchen, wie sich dieser Wandel vollzog. Wie genau Hände mit Fingern aus Fischflossen entstanden blieb jedoch ungeklärt.
Eine internationale Arbeitsgruppe aus Biologen der Universität Konstanz (Deutschland), der Macquarie University in Sydney (Australien) und der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel (Italien) hat anhand von Embryonen des Australischen Lungenfisches (Neoceratodus forsteri) untersucht, wie sich Gliedmaßen aus Flossen entwickelt haben. Der Australische Lungenfisch ist der mit den Tetrapoden nächstverwandte heute noch lebende Fisch und wird oft als „lebendes Fossil“ betrachtet, da er immer noch den Fischen ähnelt, die es zu der Zeit gab, als die ersten viergliedrigen Wirbeltiere begannen, an Land zu gehen. Aus diesen Gründen bieten die Flossen von Lungenfischen einen besseren Bezugspunkt für die Untersuchung des evolutionären Übergangs von Flossen zu Gliedmaßen als die jeder anderen heute lebenden Fischart.
Die Forschungen der Arbeitsgruppe, die in der neuesten Ausgabe von Science Advances erscheinen, zeigen, dass in den Lungenfischflossen eine primitive Hand vorhanden ist, lassen aber gleichzeitig vermuten, dass die einzigartige Anatomie der Gliedmaßen mit Fingern/Zehen erst während der Entstehung der Tetrapoden durch Veränderungen bei der Embryonalentwicklung aufkam.
Erkenntnisse aus der Embryonalentwicklung: „Architekten“-Gene der Gliedmaßen
Um das Rätsel zu lösen, wie Gliedmaßen während der Evolution aus Flossen entstanden, hat sich die Forschung auf die Embryonalentwicklung konzentriert. „Während der Embryogenese formt ein Satz von ‚Architekten’-Genen eine amorphe Gruppe von Vorläuferzellen zu voll ausgebildeten Gliedmaßen“, erklärt Dr. Joost Woltering, Erstautor der Studie und Dozent sowie Forscher in der von Prof. Dr. Axel Meyer geleiteten Arbeitsgruppe für Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz. Dieselben „Architekten“-Gene treiben auch die Flossenentwicklung an. Da jedoch evolutionäre Veränderungen in der Aktivität dieser Gene stattgefunden haben, entstehen während des Entwicklungsprozesses Flossen bei Fischen und Gliedmaßen bei Tetrapoden.
Um diese Prozesse zu vergleichen, untersuchte die Arbeitsgruppe solche „Architekten“-Gene in den Embryonen der Australischen Lungenfische. „Erstaunlicherweise sahen wir, dass das Gen, das die Hand in Gliedmaßen spezifiziert – hoxa13 –, in einer ähnlichen Skelettregion in Lungenfischflossen aktiviert ist“, erklärt Woltering. Ein wesentlicher Punkt ist, dass diese Domäne in den Flossen anderer Fische, die weniger nah mit Tetrapoden verwandt sind, nie beobachtet wurde. „Diese Entdeckung zeigt deutlich, dass eine primitive Hand bereits bei den Vorfahren der Landwirbeltiere vorhanden war“.
Entwicklungsmuster: Unterschiede und Gemeinsamkeiten
Die „Hand“ des Lungenfischs ähnelt jedoch trotz dieser modernen genetischen Signatur nur teilweise der Anatomie von Tetrapodenhänden, denn Finger oder Zehen fehlen. Um die genetische Grundlage für diesen Unterschied nachzuvollziehen, analysierte das Team weitere Gene, die mit der Bildung von Fingern und Zehen in Zusammenhang gebracht werden. Dabei stellte sich heraus, dass ein Gen, das für die Bildung von Fingern und Zehen wichtig ist (hoxd13 – ein „Schwestergen“ des oben erwähnten hoxa13), in Flossen offenbar anders aktiviert wird.
Während der Entwicklung der Tetrapodengliedmaßen wird das Gen hoxd13 dynamisch eingeschaltet. Es wird zunächst im sich entwickelnden kleinen Finger aktiviert, dann breitet sich die Aktivität in Daumenrichtung über die gesamte zukünftige Hand aus. Dieser Prozess koordiniert die korrekte Ausbildung aller fünf Finger. Während die Arbeitsgruppe von Joost Woltering ein ähnliches Aktivierungsmuster dieses Gens in Lungenfischflossen beobachtete, zeigte es diese Ausbreitung nicht, sondern blieb nur in einer Hälfte der Flosse aktiviert. Zusätzliche Unterschiede wurden für Gene gefunden, die in Fingern und Zehen normalerweise abgeschaltet werden. In Lungenfischflossen bleiben diese Gene aktiv, aber auf der gegenüberliegenden Seite der Domäne, in der hoxd13 aktiviert wird.
Alte Hypothesen – zukünftige Richtungen
„All dies zeigt, dass zwar Lungenfischflossen unerwartet eine primitive Hand mit Tetrapoden gemeinsam haben, die Flossen unserer Vorfahren jedoch noch einen evolutionären ‚letzten Schliff’ benötigten, um Gliedmaßen zu bilden. In diesem Sinne sieht es so aus, als ob die Hand zuerst da gewesen sei und erst später im Laufe der Evolution um Finger ergänzt wurde“, sagt Woltering. Eine einflussreiche Hypothese zur Entwicklung von Gliedmaßen, die zuerst von den Paläontologen Thomas Westoll und William Gregory zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt und in den 1980er Jahren von Neil Shubin weiterentwickelt wurde, nimmt an, dass Finger und Zehen durch eine Ausdehnung der Skelettelemente auf einer Seite der Flossen des Tetrapodenvorfahren entstanden. Diese angenommene Ausdehnung der Flossenelemente entspricht genau den Unterschieden, die das Forschungsteam bei der Ausbreitung der Fingergene zwischen Lungenfischflossen und Tetrapodengliedmaßen gefunden hat. Die Beobachtungen der Arbeitsgruppe zur Aktivierung und Deaktivierung von Gliedmaßen-“Architekten“-Genen in Lungenfischflossen liefern somit Belege für dieses klassische Umwandlungsmodell.
Für die Zukunft planen die Forscher weitere Analysen zur Entwicklung von Flossen und Gliedmaßen, um vollständig zu verstehen, was die Ausdehnung dieser Domäne bewirkt und somit dazu führt, dass sich unsere Gliedmaßen so sehr von Fischflossen unterscheiden. Hierbei sollen Lungenfische, aber auch modernere Fischarten wie Buntbarsche verwendet werden, da ihre Embryonen sich mit Techniken wie CRISPR leichter untersuchen lassen. „Um das Bild zu vervollständigen, was in unseren fischartigen Vorfahren geschah, die vor Hunderten von Jahrmillionen an Land krochen, sind wir wirklich auf heute lebende Arten angewiesen, um zu sehen, wie ihre Embryonen Flossen und Gliedmaßen so unterschiedlich bilden“, schließt Woltering.
Faktenübersicht:
– Eine neue Studie einer internationalen Forschungsgruppe mit Beteiligung der Universität Konstanz, der Macquarie University in Sydney und der Stazione Zoologica Anton Dohrn in Neapel liefert ein evolutionäres Modell dafür, wie Hände mit Fingern aus Fischflossen entstanden sind.
– Bei der Untersuchung von Embryonen des Australischen Lungenfischs (Neoceratodus forsteri), des mit den Tetrapoden nächstverwandten heute noch lebenden Fischs, stellten die Forscher Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Art und Weise fest, wie sich Lungenfischflossen und Tetrapodengliedmaßen während der Embryonalentwicklung bilden.
– Das Vorhandensein einer Flossen und Gliedmaßen gemeinsamen primitiven Handdomäne wird durch die Expression eines Gens erkennbar, das für die Spezifikation der Hand in Gliedmaßen verantwortlich ist (hoxa13). Dieses Gen wird in ähnlichen Skelettdomänen bei Tetrapoden und Lungenfischen aktiviert.
– Einer der wichtigsten morphologischen Unterschiede zwischen Flossen und Gliedmaßen, nämlich das Fehlen von Fingern bzw. Zehen, lässt sich durch Unterschiede in der Aktivierung (hoxd13) und Deaktivierung (alx4, pax9) von Genen erklären, die an der Entwicklung von Fingern bzw. Zehen beteiligt sind. Dies deutet darauf hin, dass sich Gliedmaßen mit Fingern bzw. Zehen durch Veränderungen bei der Aktivierung von finger- bzw. zehenspezifischen Genen innerhalb einer primitiven Handdomäne aus Fischflossen entwickelten.
– Originalveröffentlichtung: Joost M. Woltering, Iker Irisarri, Rolf Ericsson, Jean M. P. Joss, Paolo Sordino & Axel Meyer, Sarcopterygian fin ontogeny elucidates the origin of hands with digits, Science Advances, 19. August 2020. DOI: 10.1126/sciadv.abc3510. URL: https://advances.sciencemag.org/lookup/doi/10.1126/sciadv.abc3510