Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

11.06.2025, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Fuchsbandwurm: Wiederentdeckung eines verschollen geglaubten Parasiten
Der Fuchsbandwurm gilt seit Jahrzehnten als gut beschrieben und bekannt. Dennoch fehlte bislang eine genetisch abgesicherte Referenz des humanmedizinisch relevanten Parasiten, da das ursprüngliche Typusmaterial als verschollen galt. Überraschend wurde dieses historische Material in den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden wiederentdeckt. In einer neu veröffentlichten Studie ordnen die Forschenden mit moderner Genomsequenzierung den Fuchsbandwurm ein und klären seine Verwandtschaft mit anderen Bandwurmarten. Die Wiederentdeckung veranschaulicht, welche wichtige Rolle wissenschaftliche Sammlungen haben und wie diese eine Grundlage für verlässliche Diagnostik und Forschung schaffen.
Der Fuchsbandwurm (Echinococcus multilocularis) ist ein nur wenige Millimeter langer Parasit mit großer Wirkung. Der vor allem im Darm von Füchsen lebende Bandwurm kann für den Menschen zur Bedrohung werden – etwa durch den Verzehr von Beeren oder ungewaschenem Gemüse, das mit Eiern des Parasiten verunreinigt ist. In diesem Fall kann sich in der Leber eine sogenannte „alveoläre Echinokokkose“ entwickeln, eine seltene, aber ernsthafte Erkrankung, die einem Tumor ähnelt und unbehandelt lebensbedrohlich sein kann.
„Echinococcus multilocularis zählt in der nördlichen Hemisphäre zu den gefährlichsten Parasiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden können. Entsprechend groß ist das Interesse an dem Tier, sowohl in der Forschung als auch in der Öffentlichkeit“, erläutert Dr. Thomas Romig, Parasitologe und Fuchsbandwurmexperte der Universität Hohenheim und fährt fort: „Seit über 70 Jahren gilt die Einordnung dieser Art – basierend auf ihrem Aussehen und ihrem Lebenszyklus – zwar als wissenschaftlich gesichert und weitgehend unumstritten. Eine gründliche Bewertung der ‚wahren Identität‘ des Fuchsbandwurms – die eine erneute, auch genetische Untersuchung der namensgebenden Typusexemplare erfordern würde – wurde aber nie durchgeführt.“ Der Grund hierfür ist einfach: Die ursprünglich vom deutschen Zoologen Karl Georg Friedrich Rudolf Leuckart im Jahr 1863 beschriebene Typusreihe galt als verschollen und stand daher für eine systematische Einordnung des Parasiten nicht zur Verfügung. „Umso überraschter waren wir, als wir feststellten, dass sich genau dieses Typusmaterial – sozusagen der ‚Urmeter‘ dieses Parasiten – in unseren Sammlungen befindet“, erzählt PD Dr. Raffael Ernst von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden.
Zu der Entdeckung kam es während einer „Taxonomy summer school“ sowie einer darauffolgenden, mehrwöchigen und durch die Paul Ungerer-Stiftung geförderten Recherchearbeit, die zeigte, dass mehrere nachweislich aus Leuckarts Gießener Sammlung stammende Exponate über Leipzig nach Dresden gelangten.
Bei dem in Alkohol eingelegten Präparat handelt es sich um Larven und Zysten in einem menschlichen Leber¬tumor. „Diese verblüffende Entdeckung haben wir nun in unserer aktuellen Studie genutzt, um die Systematik der Gattung Echinococcus und die systematische Stellung des humanme¬dizinisch relevanten Fuchsbandwurms zu klären“, fügt Ernst hinzu. Durch den Einsatz von Next-Generation-Sequencing-Technologien gelang es dem Forschungsteam, das mitochondriale Genom von Echinococcus multilocularis vollständig zu entschlüsseln. Es umfasst 13.738 Basenpaare und enthält 12 Gene für Proteine, sowie je 2 rRNA- und 22 tRNA-Gene. Die Untersuchung zeigte zudem, dass der Fuchsbandwurm eng mit Echinococcus shiquicus verwandt ist. Dieser parasitische Bandwurm nutzt als Endwirt den ausschließlich auf dem tibetanischen Hochplateau beheimateten Tibetfuchs. Die genetische Linie, der das wiedergefundene Typusexemplar von Echinococcus multilocularis angehört, bestehe seit mehr als 200 Jahren, heißt es in der Studie.
Ernst fasst zusammen: „Unsere Ergebnisse tragen nicht nur zur Stabilisierung der Nomenklatur von Echinococcus multilocularis bei, sondern liefern auch einen wertvollen Beitrag zum Verständnis seiner epidemiologischen Bedeutung für uns Menschen. Die Wiederentdeckung des Typusmaterials des Parasiten zeigt erneut: Naturkundliche Sammlungen sind von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Dank unserer Sammlung und moderner Analysen konnten wir erstmals genetische Referenzdaten des Fuchsbandwurms bereitstellen – ein bedeutender Fortschritt für die Parasitologie.“
Originalpublikation:
Thomas Romig, Christian Kehlmaier, Andreas Weck-Heimann, Sven Mecke, Anke Dinkel, Marion Wassermann, Raffael Ernst (2025): Rediscovery of a name-bearing type of Echinococcus multilocularis (Leuckart, 1863) by museum forensics: A cold case revisited. International Journal for Parasitology, https://doi.org/10.1016/j.ijpara.2025.05.006

12.06.2025, Universität Konstanz
Ein neues Fenster zum geheimen Leben der Tiere
Das Verhalten von Tieren in ihrem natürlichen Lebensraum detailgetreu beobachten? Forschende des Konstanzer Exzellenzclusters „Kollektives Verhalten“ haben ein einzigartiges Outdoor-Kamerasystem entwickelt, um die dreidimensionalen Bewegungen und Körperhaltungen von Wildvögeln zu erfassen. Das mobile, feldtaugliche System kann an eine Vielzahl von Experimenten und Tierarten angepasst werden.
Um das Leben von Tieren besser zu verstehen – zum Beispiel ihre sozialen Netzwerke, ihr Wanderverhalten oder ihre Interaktionen mit der Umwelt – benötigt die Forschung detaillierte Daten darüber, wie sie sich in ihrem natürlichen Lebensraum verhalten. Doch wie können diese Daten im Freiland, also fernab von den technischen Möglichkeiten eines voll ausgestatteten Verhaltenslabors, erhoben werden? Forschende des Konstanzer Exzellenzclusters „Kollektives Verhalten“ haben für diesen Zweck das mobile Kamerasystem „3D-SOCS“ (kurz für „3D Synchronized Outdoor Camera System“) entwickelt und zur Erforschung wildlebender Meisen eingesetzt.
Das hochmoderne System zur Erfassung von Verhaltensdaten wurde gerade in der Fachzeitschrift Methods in Ecology and Evolution veröffentlicht. Mithilfe von zwei oder mehr synchronisierten Kameras ermöglicht es die präzise und markerlose 3D-Nachverfolgung der Körperhaltungen und Bewegungen von mehreren Vögeln gleichzeitig. „3D-SOCS ist eines der ersten Freiland-Systeme, mit denen das möglich ist. Bisher wurde eine vollständige dreidimensionale Nachverfolgung der Körperhaltung mehrerer Individuen fast ausschließlich in Innenräumen und bei in Gefangenschaft lebenden Tieren durchgeführt“, sagt Alex Hoi Hang Chan, der die Studie gemeinsam mit Michael Chimento geleitet hat.
„3D-SOCS ist ein großer Fortschritt für die Erforschung des Verhaltens wildlebender Tiere“, so Chimento. „Unsere Methode eröffnet neue Möglichkeiten für die Untersuchung von Kognition und Sozialverhalten unter ökologisch validen Bedingungen.“
Die Reaktionen von Wildvögeln im Blick
Um die Möglichkeiten zu veranschaulichen, die 3D-SOCS bietet, setzte das Forschungsteam das System in einem Wald nahe dem Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Möggingen ein, wo Populationen von Kohl- und Blaumeisen leben. In einem Freilandversuch vor Ort präsentierten die Forschenden den Vögeln visuelle Reize – von Mehlwürmern bis hin zu einem ausgestopften Vogel. Sie verwendeten 3D-SOCS, um zu erfassen, wie die Vögel als Reaktion auf diese Objekte ihre Kopfposition veränderten. Die gewonnenen Daten erlaubten Rückschlüsse auf die Nutzung des Sehfeldes der einzelnen Vögel und sogar auf deren Lateralisation – die Bevorzugung eines Auges gegenüber dem anderen. So konnten mit dem System feine Unterschiede in der visuellen Aufmerksamkeit zwischen einzelnen Vögeln aufgedeckt werden.
Über die Messung von Verhalten hinaus bietet 3D-SOCS auch leistungsstarke Tools für ein ökologisches Monitoring. Mithilfe der vom System gelieferten Daten zur Körperhaltung ermittelten die Forschenden beispielsweise das Körpervolumen der Vögel als Näherungswert für deren Gewicht und erzielten eine sehr hohe Übereinstimmung mit per Waage erhobenen Daten. Der Vorteil einer Schätzung solcher Körperparameter über das Kamerasystem liegt auf der Hand: Die Datenerhebung ist nicht-invasiv, sprich die Tiere müssen für die Messung nicht jedes Mal eingefangen werden.
Das Verfahren ebnet dadurch den Weg für die vollautomatische Beobachtung des Körper- oder Gesundheitszustands von Wildtieren und sogar für eine automatische Artenklassifizierung im Feld. Hinzu kommt: 3D-SOCS ist eine offene Plattform. Alle Hardware-Pläne und Software-Pipelines stehen im Sinne von Open Science frei zur Verfügung. Dadurch ist eine einfache Anpassung an verschiedene Untersuchungssysteme und Tierarten möglich.
Ein Schritt nach vorn für die Freiland-Verhaltensforschung
Insgesamt eröffnet 3D-SOCS neue Wege für Synergien zwischen Labor- und Feldforschung. Durch eine detaillierte Verhaltensnachverfolgung in freier Wildbahn, wie sie bisher nur in Laborumgebungen möglich war, schließt das System die Lücke zwischen kontrollierten, hochauflösenden Laborstudien und ökologisch validen, aber oft weniger detaillierten Freilandbeobachtungen. „Dies gestattet einen integrierten Ansatz, bei dem die Stärken beider Welten kombiniert werden können, sodass hier potentiell ein neues interdisziplinäres Feld in der Verhaltens- und kognitiven Ökologie entsteht“, sagt Fumihiro Kano, Letztautor der Studie.
Zu Zeiten, in denen der Bedarf an hochdetaillierten Verhaltensdaten in der Ökologie und der Forschung zum Naturschutz wächst, bietet 3D-SOCS eine durchdachte und leicht zugängliche Lösung. „Dieses neue Fenster in das geheime Leben der Tiere ist im Begriff, grundlegend die Art und Weise zu verändern, wie wir Verhalten erforschen – vom Waldboden bis in die Baumwipfel“, so Kano.
Originalpublikation: Michael Chimento, Alex Hoi Hang Chan, Lucy M. Aplin, Fumihiro Kano. 2025. Peering into the world of wild passerines with 3D-SOCS: synchronized video capture and posture estimation. Methods in Ecology Evolution; DOI: 10.1111/2041-210x.70051

12.06.2025 11:11
Rote Liste der Meeresfische: Hundshai in deutschen Meeresgewässern vom Aussterben bedroht
Petra Richter Öffentlichkeitsarbeit
Rote-Liste-Zentrum
Fast ein Viertel der Meeresfische Deutschlands ist bestandsgefährdet, extrem selten oder bereits ausgestorben. Das zeigt die neue Rote Liste, die das Bundesamt für Naturschutz und das Rote-Liste-Zentrum jetzt vorgestellt haben. Es gibt jedoch auch einige positive Entwicklungen. Dabei zeigt sich, dass gefährdungsarme Rückzugsgebiete eine wichtige Schutzmaßnahme sind. Die Rote Liste weist außerdem darauf hin, dass der Klimawandel die Verbreitung von Meeresfischen verändert und sich auf die Bestandsgrößen auswirkt. In der Roten Liste werden alle 105 Arten, die in den deutschen Meeresgebieten von Nord- und Ostsee etabliert sind, bewertet.

Die neue Rote Liste der Meeresfische, die das Bundesamt für Naturschutz (BfN) und das Rote-Liste-Zentrum (RLZ) jetzt veröffentlicht haben, zeigt, dass 23,8 % der Arten ausgestorben, bestandsgefährdet (Rote-Liste-Kategorien 1, 2, 3, G) oder extrem selten (Rote-Liste-Kategorie R) sind. Der Stechrochen gilt jetzt erstmals in Deutschland als ausgestorben: Er wurde seit 1980 nicht mehr in den deutschen Meeresgebieten nachgewiesen. Auch die Gefährdung des Hundshais hat zugenommen, er ist aktuell vom Aussterben bedroht. Das einzige in deutschen Meeresgebieten vorkommende Seepferdchen, das sehr seltene Kurzschnäuzige Seepferdchen, wird seit 2020 an der deutschen Nordseeküste öfter beobachtet als zuvor. Weil die Kenntnislage zur Bestandsentwicklung allerdings insgesamt ungenügend ist, wird die Art in der Roten Liste in der Kategorie „Daten unzureichend“ geführt.

Für einige Arten gibt es aber auch positive Nachrichten: Die Anzahl ausgestorbener oder bestandsgefährdeter Arten der Meeresfische Deutschlands ist mit insgesamt 12 Arten geringer als in der vorherigen Roten Liste. So konnten sich beispielsweise die Bestände des Nagelrochens erholen – der ehemals vom Aussterben bedrohte Fisch wird jetzt auf der Vorwarnliste geführt.

In der Roten Liste werden alle 105 Arten, die in den deutschen Meeresgebieten von Nord- und Ostsee etabliert sind, bewertet. Insgesamt sind 10 Arten als bestandsgefährdet eingestuft, darunter sind 2 Arten vom Aussterben bedroht (Hundshai, Kleiner Scheibenbauch) und 6 Arten (Dornhai, Europäischer Aal, Finte, Heringskönig, Seehecht, Zwergdorsch) stark gefährdet. Insgesamt gelten derzeit 67 Arten (63,8 %) als ungefährdet.

BfN-Präsidentin Sabine Riewenherm: „Es ist erfreulich, dass die Anzahl bestandsgefährdeter Arten in der neuen Roten Liste der Meeresfische leicht zurückgegangen ist. Trotzdem zeigen die umfassenden Analysen, dass die starke Nutzung von Nord- und Ostsee weiterhin kritisch auf die Fischpopulationen einwirkt. So ist zum Beispiel der Hundshai mittlerweile vom Aussterben bedroht, der Europäische Aal ist noch immer stark gefährdet. Darum sind wirksame Schutzgebiete und die Wiederherstellung von Lebensräumen in der Nord- und Ostsee, aber auch in den Flusseinzugsgebieten von großer Bedeutung. Die Meeresnatur braucht dringender denn je Rückzugsräume, damit sich Fischpopulationen und bedrohte Arten erholen können. Das BfN setzt sich darum weiter dafür ein, bestehende Schutzgebiete zu stärken und streng geschützte Bereiche einzurichten.“

Prof. Dr. Ralf Thiel, Hauptautor der Roten Liste, ergänzt: „Die Erhöhung der Wassertemperaturen infolge des Klimawandels trägt zu gravierenden Veränderungen in der Verbreitung bestimmter Meeresfischarten und dadurch zu Veränderungen ihrer Bestandsgrößen bei. So nahm in den letzten 20 Jahren in den deutschen Nordseegebieten beispielsweise der Bestand des Kabeljaus, bei dem es sich um eine nördliche, kälteliebende Art handelt, stark ab, während der Bestand des Wolfsbarsches, der eine südliche und wärmeliebende Art ist, deutlich zunahm.“

In der Roten Liste wurde außerdem eine erhöhte Verantwortlichkeit Deutschlands für die weltweite Erhaltung von 7 Arten ermittelt, darunter der Europäische Aal und die Holzmakrele.

Neben einem nachhaltigen und ökosystemverträglichen Fischereimanagement sind gefährdungsarme Rückzugsgebiete eine besonders wichtige Schutzmaßnahme für die in den deutschen Meeresgebieten etablierten Fischarten. Dazu gehören vor allem die von Deutschland gemeldeten marinen Natura 2000-Gebiete in der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) und in den Küstengebieten der Nord- und Ostsee. In diesen wurden bereits erste Fischerei-Managementmaßnahmen zum Schutz der marinen Lebensgemeinschaften umgesetzt.

Die bundesweiten Roten Listen werden vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) herausgegeben und in dessen Auftrag vom Rote-Liste-Zentrum (RLZ) koordiniert. Erstellt haben die Rote Liste der Meeresfische erfahrene Expertinnen und Experten der Ichthyologie und der Meeresbiologie unter Federführung des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB).

In den bundesweiten Roten Listen wird der Gefährdungsstatus von Tier-, Pflanzen- und Pilzarten für den Bezugsraum Deutschland dargestellt. Die Roten Listen sind zugleich Inventarlisten für einzelne Artengruppen und bieten Informationen nicht nur zu den gefährdeten, sondern zu allen in Deutschland vorkommenden Arten der untersuchten Organismengruppen. Die Autorinnen und Autoren bewerten die Gefährdungssituation insbesondere anhand der Bestandssituation und der Bestandsentwicklung. Die Grundlagen für die Gefährdungsanalysen werden von einer großen Zahl von ehrenamtlichen Artenkennerinnen und Artenkennern ermittelt. Die Roten Listen selbst werden von den Autorinnen und Autoren ebenfalls in weiten Teilen ehrenamtlich erstellt.
Für den Schutz der Artenvielfalt in Deutschland stellen Rote Listen eine entscheidende Grundlage dar. Sie dokumentieren den Zustand von Arten und mittelbar die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Natur. Damit sind sie Frühwarnsysteme für die Entwicklung der biologischen Vielfalt.
Das Rote-Liste-Zentrum koordiniert seit Dezember 2018 im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz die Erstellung der bundesweiten Roten Listen. Das Bundesumweltministerium fördert das Zentrum mit jährlich 3,1 Millionen Euro. Es ist am Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Bonn angesiedelt und wird fachlich vom BfN betreut. Das Rote-Liste-Zentrum unterstützt die Autoren und Autorinnen sowie weitere beteiligte Fachleute der Roten Listen, indem es sie bei der Erstellung fachwissenschaftlich begleitet und Kosten für die Koordination, die Arbeitstreffen der Fachleute und andere vorbereitende Arbeiten übernimmt.
Originalpublikation:
Thiel, R.; Winkler, H.M.; Sarrazin, V.; Böttcher, U.; Dänhardt, A.; Dorow, M.; Dureuil, M.; George, M.; Kuhs, V.N.; Oesterwind, D.; Probst, W.N.; Schaarschmidt, T. & Vorberg, R. (2025): Rote Liste und Gesamtartenliste der Fische und Neunaugen (Elasmobranchii, Actinopterygii & Petromyzontida) der marinen Gewässer Deutschlands. – Naturschutz und Biologische Vielfalt 170 (9): 119 S.

13.06.2025, Deutsche Wildtier Stiftung
Vogelküken gefunden – helfen oder nicht?
Wer zwischen Ästlingen und Nestlingen unterscheiden kann, weiß, wann Hilfe nötig ist.
Im Juni schlüpfen viele Vogeljunge: Amseln, Stare und Sperlinge brüten zum zweiten Mal im Jahr. Umso häufiger begegnet man jetzt scheinbar hilflosen Küken. Dann stellt sich schnell die Frage: Muss man dem kleinen Vogel helfen? „Nicht unbedingt“, sagt Lea-Carina Hinrichs von der Deutschen Wildtier Stiftung. „Ob ein Jungvogel wirklich Hilfe braucht, hängt häufig davon ab, ob es sich um einen Nestling oder einen Ästling handelt.“ Genaues Hinschauen genügt, um richtig zu entscheiden, was Sie tun können – und vor allem was Sie lassen sollten. Denn Jungvögel werden sehr häufig unnötig aus ihrem Lebensraum gerissen. Nach dem Bundesnaturschutzgesetz ist es sogar verboten, wildlebende Tiere ohne vernünftigen Grund der Natur zu entnehmen (§ 39 BNatSchG – Bundesnaturschutzgesetz).
Ästlinge – neugierig unterwegs
Amsel, Drossel, Sperling, Meise, Rotkehlchen, Rotschwanz – viele Singvögel, aber auch Greifvögel und Eulen verlassen ihr Nest, kurz bevor sie richtig fliegen können. Die Ästlinge hüpfen in Nestnähe herum, schlagen mit den Flügeln, piepen und unternehmen erste Flugversuche – auch auf dem Boden zu ihren Füßen. „Das ist ganz normal und kein Grund zur Sorge“, sagt Hinrichs. „Lassen Sie den jungen Vogel in Ruhe lernen. Seine Eltern sind in der Regel ohnehin in der Nähe und kümmern sich.“ Nur in Ausnahmefällen ist Eingreifen nötig – zum Beispiel, wenn der Ästling gefährlich nah an einer Straße sitzt oder eine Katze in der Nähe herumstreift. Dann gilt: Den Ästling vorsichtig aufnehmen und entweder in das Nest zurück oder in Fundortnähe in eine dichte Hecke setzen. Dort ist er besser geschützt – und die Eltern finden ihn.
Nestlinge – schnell zurück ins Nest!
Nestlinge sind dagegen viel jünger. Man erkennt sie daran, dass sie noch kaum befiedert sind und die Augen möglicherweise noch geschlossen haben. Sie können nicht allein außerhalb des Nests überleben. Wer so ein Küken findet, sollte schnell handeln. „Der Glaube, dass Vogeleltern ihre Jungen nach menschlichem Kontakt verstoßen, ist längst widerlegt. Setzen Sie das Küken also behutsam zurück ins Nest“, sagt Hinrichs. Manchmal werfen Vogeleltern allerdings ein krankes oder schwaches Küken gezielt aus dem Nest. „Das ist für uns Menschen oft schwer zu verstehen, ist aber ein natürliches Verhalten, das die Evolution hervorgebracht hat, um den langfristigen Fortpflanzungserfolg der Elterntiere zu sichern“, sagt Hinrichs. In diesen Fällen hat auch der Mensch meist keine Chance mehr, das Tier zu retten.
Wichtig für das Überleben eines jeden Jungvogels ist auch, Gefahrenquellen zu entschärfen. Ein Risiko sind beispielsweise offene Regentonnen. Die unerfahrenen Vögel fliegen zum Trinken heran, fallen hinein und kommen an den glatten Wänden nicht mehr hoch. Dann ertrinken sie. Daher der Appell: Regentonnen unbedingt abdecken, und auch bei Gartenteichen daran denken, eine Ausstiegshilfe, etwa ein langes Brett oder einen Stock, in das Wasser zu legen. Hauskatzen sollten möglichst bis Ende Juni im Haus gehalten werden, damit sie keine Jungvögel erbeuten.

13.06.2025, Universität Wien
„Bodybuilding“ in der Urzeit: Wie die Seeanemone ihren Rücken bekam
Neue Einblicke in die Evolution der Rücken-Bauch-Achse
Eine neue Studie der Universität Wien zeigt, dass Seeanemonen einen molekularen Mechanismus nutzen, der auch bei Tieren mit zwei symmetrischen Körperhälften („Bilateria“) zur Ausbildung der Rücken-Bauch-Achse dient. Dieser Mechanismus („BMP shuttling“) erzeugt ein differenziertes Verteilungsmuster von Signalen, das es den Zellen ermöglicht, sich während der Entwicklung räumlich zu organisieren. Die in Science Advances publizierten Ergebnisse deuten darauf hin, dass dieses System deutlich früher entstanden ist als bisher gedacht – nämlich bereits im letzten gemeinsamen Vorfahren von Nesseltieren und Tieren mit bilateraler Symmetrie.
Die allermeisten Tiere sind bilateralsymmetrisch – ihrem Körper unterliegt ein Bauplan mit Kopf-Schwanz-Achse, Rücken-Bauch-Achse, sowie einer linken und rechten Seite. Dieser Körperbauplan ist charakteristisch für die große Gruppe der Bilateria, welche morphologisch sehr unterschiedliche Tiere wie Wirbeltiere, Insekten, Weichtiere und Würmer umfasst. Im Gegensatz hierzu werden Nesseltiere, wie z.B. Quallen und Seeanemonen, traditionell als radiärsymmetrisch beschrieben, und Quallen sind das auch in der Tat. Allerdings ist die Lage bei Seeanemonen anders: Trotz oberflächlicher Radiärsymmetrie sind die Tiere bilateral symmetrisch – zuerst auf Ebene der Genexpression im Embryo und später auch auf Ebene der Anatomie im erwachsenen Tier. Dies wirft eine fundamentale evolutionsbiologische Frage auf: Ist der bilateralsymmetrische Körperbauplan im gemeinsamen Vorfahren der Bilateria und Nesseltiere entstanden, oder ist er unabhängig in mehreren Tiergruppen evolviert? Forscher*innen der Universität Wien sind dieser Frage nachgegangen, indem sie untersucht haben, ob ein entwicklungsbiologisch entscheidender Mechanismus, genannt „BMP shuttling“, auch in Nesseltieren vorliegt.
BMP shuttling in der Embryonalentwicklung
In Bilateria basiert die Rücken-Bauch-Achse auf einem Signalsystem bestehend aus BMPs (bone morphogenetic proteins) und ihrem Inhibitor Chordin. BMPs sind Botenstoffe, welche den embryonalen Zellen vermitteln, wo sie sich befinden und welches Gewebe sie werden sollen. In Bilateria-Embryos bindet Chordin an BMPs und blockiert dadurch deren Signalfunktion in einem Prozess, der als „lokale Inhibition“ bezeichnet wird. Gleichzeitig kann Chordin in manchen, aber nicht allen Bilateria-Embryos gebundene BMPs in andere Teile des Embryos transportieren, wo diese dann wieder freigesetzt werden – ein Mechanismus der „BMP shuttling“ genannt wird. So evolutionär entfernt verwandte Tiere wie Seeigel, Fliegen und Frösche verwenden BMP shuttling, allerdings war bis jetzt unbekannt, ob sie alle den Shuttling-Mechanismus unabhängig evolviert haben, oder ihn von ihrem letzten Gemeinsamen Vorfahren vor ca. 600 Millionen Jahren geerbt haben. Sowohl lokale Inhibition als auch BMP shuttling erzeugen einen Gradienten der BMP Signalaktivität im Embryo. Die Zellen im Embryo detektieren diesen Gradienten und entwickeln sich, abhängig von der BMP Signalstärke, in unterschiedliche Zelltypen. Beispielsweise bildet sich in Wirbeltieren das zentrale Nervensystem dort, wo die BMP-Signalaktivität am niedrigsten ist, Nieren bilden sich bei mittlerer BMP Signalstärke, und die Haut des Bauches entsteht im Bereich maximaler BMP Signalaktivität. Hierdurch wird die Struktur des Körpers entlang der Rücken-Bauch-Achse festgelegt. Um herauszufinden, ob Chordin-abhängiges BMP shuttling ein evolutionär urtümlicher Mechanismus zur Bildung der Rücken-Bauch-Achse ist, mussten die Forscher*innen bilateralsymmetrische Tiere außerhalb der Gruppe der Bilateria untersuchen – die Seeanemonen.
Eine urzeitliche Blaupause
Um zu testen, ob Seeanemonen Chordin als lokalen Inhibitor oder als Shuttle verwenden, blockierten die Forscher*innen zunächst die Chordin-Produktion in Embryos der Modell-Seeanemone Nematostella vectensis. Anders als in Bilateria, erfordert die BMP Signalübertragung in Nematostella die Anwesenheit von Chordin, sodass ohne Chordin die BMP Signalübertragung ausblieb und die Bildung der zweiten Körperachse scheiterte. Dann wurde Chordin in einen kleinen Teil des Embryos wieder eingeführt, um zu testen, ob dies die Körperachsenbildung wiederherstellt. Daraufhin entstand ein BMP Signalgradient, allerdings blieb unklar, ob Chordin hierfür BMPs einfach lokal blockierte und den Gradient mit Hilfe vorhandener BMP-Quellen entstehen ließ, oder ob es als Shuttle BMPs in entfernte Teile des Embryos transportierte und somit eine aktive Rolle bei der Bildung des Gradienten spielte. Um zwischen diesen zwei Möglichkeiten zu unterscheiden, wurden zwei Versionen von Chordin getestet – ein membrangebundenes und somit unbewegliches Chordin, und ein normal sezerniertes, also diffusionsfähiges Chordin. Wenn Chordin als lokaler Inhibitor fungieren würde, sollten sowohl das membrangebundene, als auch das diffusionsfähige Chordin die BMP Signalübertragung auf der Seite des Embryos gegenüber den Chordin produzierenden Zellen aktivieren. Sollte Chordin aber als Shuttle wirken, müsste es mit BMPs diffundieren können. Die Ergebnisse waren eindeutig: Nur die diffusionsfähige Version von Chordin konnte die BMP Signalübertragung gegenüber der Chordin-Quelle aktivieren, was zeigt, dass Chordin in Seeanemonen als Shuttle fungiert – genau wie in Fliegen und Fröschen.
Eine gemeinsame Strategie seit mehr als 600 Millionen Jahren?
Die Tatsache, dass BMP shuttling sowohl in Nesseltieren als auch in Bilateria zu finden ist, deutet darauf hin, dass dieser molekulare Mechanismus bereits vor ihrer evolutionären Trennung vor 600-700 Millionen Jahren entstanden ist. „Nicht alle Bilateria verwenden Chordin-abhängiges BMP shuttling – Frösche tun es zum Beispiel, Fische aber nicht – aber es scheint immer wieder aufzutauchen, auch bei sehr entfernt verwandten Tieren, was es zu einem guten Kandidaten für den ursprünglichen Mechanismus der Musterbildung macht. Die Tatsache, dass nicht nur Bilateria, sondern auch Seeanemonen BMP shuttling nutzen, um ihre Körperachsen zu bilden, zeigt uns, dass dieser Mechanismus unglaublich alt ist“, sagt David Mörsdorf, Erstautor der Studie und Postdoktorand am Department für Neurowissenschaften und Entwicklungsbiologie der Universität Wien. „Es eröffnet spannende Möglichkeiten, neu darüber nachzudenken, wie Körperbaupläne in frühen Tieren entstanden sind.“
Grigory Genikhovich, Seniorautor und Gruppenleiter am selben Institut, ergänzt: „Wir werden vielleicht nie die Möglichkeit ausschließen können, dass Bilateria und bilateral symmetrische Nesseltiere ihre bilateralsymmetrischen Körperbaupläne unabhängig voneinander evolviert haben. Doch wenn der letzte gemeinsame Vorfahre von Nesseltieren und Bilateria ein bilateral symmetrisches Tier war, stehen die Chancen gut, dass er Chordin nutzte, um BMPs zu shuttlen und seine Rücken-Bauch-Achse zu bilden. Unsere neue Studie hat das gezeigt.“
(Diese Studie wurde durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert, Grants P32705 and M3291.)
Originalpublikation:
David Mörsdorf, Maria Mandela Prünster, Paul Knabl, Grigory Genikhovich. Chordin-mediated BMP shuttling patterns the secondary body axis in a cnidarian. In Science Advances (2025).
DOI: 10.1126/sciadv.adu6347
https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adu6347

16.06.2025, Universität Trier
Arten bestimmen leicht gemacht
Ein Forschungsteam der Biogeographie hat eine neue Methode zur Untersuchung der Artenvielfalt direkt vor Ort entwickelt. Das Verfahren wurde bereits erfolgreich getestet.
Ein Forschungsteam der Universität Trier um Prof. Dr. Henrik Krehenwinkel hat ein neuartiges Verfahren entwickelt, mit dem sich Arten in Flüssen, Seen oder anderen Lebensräumen direkt vor Ort bestimmen lassen – schnell, kostengünstig und ohne aufwändige Labortechnik. Die Methode wurde schon erfolgreich bei einem ersten Praxistest in der Ruwer, einem Fluss in der Nähe von Trier, erprobt.
Hintergrund der Entwicklung ist der weltweite Rückgang der biologischen Vielfalt. Um dem besser begegnen zu können, braucht es Methoden, mit denen sich Veränderungen in der Natur schnell und zuverlässig erfassen lassen – und zwar dort, wo sie geschehen: im Gelände. Bisher waren solche Analysen sind in der Regel langwierig, teuer und erfordern das Fangen oder teilweise sogar Töten von Tieren.
Ergebnisse in Laborqualität
Die Trierer Forschenden zeigen mit ihrer neuen Methode, dass dies auch einfacher möglich ist. In ihrer kürzlich veröffentlichten Studie stimmen die Ergebnisse der neuen Vorgehensweise mit denen klassischer Methoden sehr gut überein.
Das Verfahren kommt ohne die sonst üblichen, komplizierten Laborschritte aus. Stattdessen setzen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf tragbare Geräte und ein neu entwickeltes Testprotokoll.
„Wir entnehmen Wasser aus einem Fluss, filtern es in der von uns entwickelten Pumpe und ziehen Umwelt-DNA aus dem Filter“, erklärt Amadeus Plewnia, der federführend an der Entwicklung mitgewirkt hat, das Vorgehen. „Die DNA vervielfältigen wir dann mit weiteren von uns für den mobilen Außeneinsatz umgerüsteten Geräten und analysieren sie mit einem modernen Sequenzierer – kaum größer als ein Smartphone.“
So lassen sich beispielsweise Fischarten in einem Gewässer erkennen, ohne dass Tiere gefangen oder verletzt werden müssen.
Damit liefert die Universität Trier einen wichtigen Beitrag für den Natur- und Artenschutz und zeigt, wie moderne Technik dabei helfen kann, unsere Umwelt besser zu verstehen und zu bewahren.
Die Studie: https://besjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/2041-210X.70069

16.06.2025, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Miteinander, oder nur nebeneinander her? Wie sich Tiere in der Landschaft bewegen
Bewegungsökologen untersuchen, wie sich Tiere in Ökosystemen in Wechselwirkung mit anderen Individuen der gleichen oder anderer Arten bewegen. Ökologen nehmen häufig an, dass Tiere bei gemeinsamer Bewegung auch direkt miteinander interagieren, etwa wenn ein Raubtier seiner Beute folgt oder soziale Tiere einander folgen. Eine neue Studie zeigt jedoch, dass dies nicht zwangsläufig der Fall ist: Durch Computersimulationen von Bewegungen in verschiedenen modellierten Landschaften fand das Team heraus, dass Tiere nicht immer miteinander interagieren, sondern unabhängig voneinander auf dieselbe physische Umgebung reagieren könnten.
Die Studie von Forschenden des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW), der Technischen Universität Berlin und der Universität Potsdam, die in der Fachzeitschrift „Movement Ecology“ veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Berücksichtigung von Landschaftsmerkmalen für die korrekte Bewertung der gemeinsamen Bewegung von Tieren von großer Bedeutung ist. Das Forschungsteam unter der Leitung von Thibault Fronville, Viktoriia Radchuk und Stephanie Kramer-Schadt vom Leibniz-IZW zeigte, wie eine Vernachlässigung der physischen Umgebung in der Bewegungsökologie zu falschen Schlussfolgerungen über die Interaktionen zwischen Tieren führen kann. Sie prüften drei statistische Methoden, die in der Bewegungsökologie häufig verwendet werden, um auf Interaktionen zwischen sich bewegenden Tieren zu schließen. Dafür verwendete das Team simulierte Bewegungsabläufe in verschiedenen modellierten Umgebungen. In einigen Fällen wurde die Bewegung der Tiere ausschließlich von modellierten Umgebungsparametern beeinflusst, während ihre Bewegung in anderen Fällen nur von einem anderen Individuum beeinflusst wurde. Im Rahmen der Studie wurde geprüft, ob die weit verbreiteten Methoden die Auswirkungen der physischen Umgebung und der Interaktionen zwischen den Individuen auf den resultierenden Bewegungspfad des verfolgten Individuums zuverlässig unterscheiden können.
Die Ergebnisse der Modellierungsszenarien des Teams zeigen: Wenn der Landschaftskontext ignoriert wurde, zeigten die Modelle häufig interindividuelle Interaktionen an, obwohl es keine gab. „Viele Studien interpretieren gemeinsame Bewegung als Indiz für direkte Interaktion zwischen Individuen, etwa wenn ein Raubtier auf Jagd geht“, sagt Thibault Fronville, Doktorand am Leibniz-IZW in der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Graduiertenschule „BioMove“, die von Florian Jeltsch an der Universität Potsdam geleitet wird. „Wenn aber die Landschaft durch ihre physischen Eigenschaften die Tiere dazu ‚zwingt‘, ähnliche Wege zu gehen, können falsche Schlüsse gezogen werden. Unsere Arbeit zeigt, dass Forschende durch die Vernachlässigung landschaftlicher Gegebenheiten Gefahr laufen, gemeinsame, landschaftlich determinierte Lebensraumnutzung der Tiere mit inter-individuellen Interaktionen zu verwechseln.“ Die Einbeziehung der physischen Umwelt oder die Verwendung einer statistischen Methode, die den Einfluss anderer Störvariablen berücksichtigt, trugen jedoch erheblich dazu bei, echte Interaktionen von zufälligen gemeinsamen Bewegungen zu unterscheiden.
„Zu verstehen, wie Tiere mit ihrer Umgebung interagieren, ist für den Natur- und Artenschutz von entscheidender Bedeutung, insbesondere in einer fragmentierten oder vom Menschen veränderten Landschaft“, sagt Viktoriia Radchuk, Wissenschaftlerin in der Abteilung für Ökologische Dynamik am Leibniz-IZW. „Unsere Ergebnisse zeigen das Risiko auf, dass bei Vernachlässigung der physischen Umgebung in bewegungsökologischen Untersuchungen besteht und schlagen eine Lösung vor, um zuverlässigere Ergebnisse bei der Analyse von Tierbewegungen zu erhalten.“ Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hoffen, dass ihre Ergebnisse dazu beitragen, die Eigenschaften der Landschaft in Studien zu Interaktionen zwischen Tieren zukünftig stärker zu berücksichtigen. Dies werde zu einer besseren Bewertung der Ursachen für Tierbewegungen beitragen und damit potenziell zu besseren Schutzstrategien für Tiergemeinschaften und Ökosysteme beitragen.
Originalpublikation:
Fronville T, Blaum N, Jeltsch F, Kramer-Schadt S, Radchuk V (2025): Considering landscape heterogeneity improves the inference of inter-individual interactions from movement data. Movement Ecology 13, 41 (2025). DOI: 10.1186/s40462-025-00567-0

16.06.2025, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Wenn Käfer Rot sehen
Kaum ein Insekt kann die Farbe Rot sehen. Doch zwei Käferarten aus dem Mittelmeergebiet machen eine Ausnahme, wie ein internationales Forschungsteam herausgefunden hat.
Die Augen der Insekten sind in der Regel empfindlich für ultraviolettes, blaues und grünes Licht. Die Farbe Rot können sie – mit Ausnahme einiger Schmetterlinge – nicht sehen. Trotzdem fliegen Biene & Co. auch auf rote Blüten wie die des Klatschmohns. Angelockt werden sie in diesem Fall aber nicht von der roten Farbe, sondern weil sie das von der Mohnblüte reflektierte UV-Licht erkennen.
Doch zwei Käferarten aus dem östlichen Mittelmeergebiet können die Farbe Rot durchaus erkennen, wie ein internationales Forschungsteam nachgewiesen hat. Es handelt sich um die Glaphyridenkäfer Pygopleurus chrysonotus und Pygopleurus syriacus, für die keine deutschen Namen etabliert sind. Sie ernähren sich hauptsächlich von Pollen und besuchen am liebsten Pflanzen mit roten Blüten, etwa Mohn, Anemonen oder Hahnenfuß.
Käfer besitzen Lichtrezeptoren für langwelliges Rot
„Nach unserem Wissen sind wir die ersten, die experimentell gezeigt haben, dass Käfer die Farbe Rot tatsächlich wahrnehmen können“, sagt Dr. Johannes Spaethe vom Lehrstuhl für Zoologie II am Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg. Er hat die neuen Erkenntnisse gemeinsam mit Dr. Elena Bencúrová aus der Würzburger Bioinformatik sowie mit Forschenden der Universitäten Ljubljana (Slowenien) und Groningen (Niederlande) erarbeitet. Publiziert ist die Studie im Journal of Experimental Biology.
Das Forschungsteam setzte Elektrophysiologie, Verhaltensexperimente und Farbfallen ein. Dabei zeigte sich unter anderem, dass die beiden mediterranen Käferarten in ihrer Netzhaut vier Typen von Lichtrezeptoren besitzen: Sie sprechen auf UV-Licht an sowie auf Blau-, Grün- und langwelliges Rotlicht. Bei Experimenten im Freiland wurde zudem klar, dass die Tiere das Farbensehen zur Erkennung roter Ziele nutzen und dass sie eine klare Vorliebe für rote Farben haben.
Neues Modellsystem für ökologische und evolutionäre Fragen
Das Forschungsteam stuft die Familie der Glaphyridenkäfer als vielversprechendes neues Modellsystem ein, um die visuelle Ökologie von Käfern und die Evolution der Blütensignale und der Blütenerkennung durch Bestäuber zu untersuchen.
„Die vorherrschende Meinung in der Wissenschaft ist, dass sich die Blütenfarben im Lauf der Evolution an die visuellen Systeme der Bestäuber angepasst haben“, sagt Johannes Spaethe. Aufgrund der neuen Erkenntnisse könne man aber nun darüber spekulieren, ob dieses evolutionäre Szenario auch auf die Glaphyridenkäfer und die von ihnen besuchten Blüten zutrifft.
Warum die Forschenden das denken? Bei den drei Gattungen dieser Käferfamilie (Eulasia, Glaphyrus und Pygopleurus) gibt es beträchtliche Unterschiede bei den Vorlieben für die Blütenfarbe: Die Farbpräferenzen der Käfer variieren zwischen rot, violett, weiß und gelb. Das deute darauf hin, dass die physiologische und/oder verhaltensbedingte Grundlage für das Sehen von Rot und anderer Farben relativ labil ist.
Die große Vielfalt der Blütenfarben im Mittelmeerraum und die beträchtliche Variation bei der Farbpräferenz der Käfer machten es plausibel, dass sich die visuellen Systeme dieser Bestäuber stärker an die Blütenfarben anpassen als gemeinhin angenommen.
Originalpublikation:
Gregor Belušič, Sander B. de Hoop, Elena Bencúrová, Domen Lazar, Johannes Spaethe, Casper J. van der Kooi: Remarkable red colour vision in two Mediterranean beetle pollinators. Journal of Experimental Biology, 9. Juni 2025, DOI: 10.1242/jeb.250181

17.06.2025, Georg-August-Universität Göttingen
Lebenswerte Landschaften für Wildbienen
Forschende untersuchen Potenzial kombinierter Agrarumweltmaßnahmen für den Artenschutz
Der weltweite Rückgang von Wildbienen ist alarmierend. Besonders von der intensiven Landwirtschaft geprägte Landschaften bieten ihnen kaum geeignete Lebensräume. Um dem Verlust entgegenzuwirken, reichen vereinzelte lokale Maßnahmen oft nicht aus. Wirkungsvoller ist es für den Schutz der Wildbienen, wenn bestimmte Agrarumweltmaßnahmen auf Landschaftsebene zusammenwirken, wie Forschende der Universitäten Göttingen und Halle in einer neuen Studie zeigen.
Dabei ist eine Kombination aus Ökolandbau und mehrjährigen naturnahen Lebensräumen am besten geeignet. Gemeinsam beherbergen diese beiden Lebensräume mehr Wildbienen als jeder Lebensraum für sich. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Journal of Applied Ecology erschienen.
In 32 landwirtschaftlich geprägten Landschaften analysierten die Forschenden die Wirkung dreier großflächiger Agrarumweltmaßnahmen: die Anlage ökologischer Anbauflächen, einjähriger Blühflächen und mehrjähriger naturnaher Lebensräume. Dazu ermittelten sie die Anzahl und Artenvielfalt der Wildbienen auf den verschieden gestalteten Flächen.
So stellten sie fest, dass nicht jede Kombination von Agrarumweltmaßnahmen gleich erfolgreich ist. Viele Wildbienen profitieren den Ergebnissen zufolge am meisten aus der Kombination von Ökolandbau und mehrjährigen naturnahen Lebensräumen. Das gilt insbesondere für jene Arten, die nicht zu den Hummeln zählen. Der Grund: Die Flächen ergänzen sich durch unterschiedliche Nahrungsangebote und Nistplätze über längere Zeiträume hinweg. Hummeln profitieren hingegen sowohl von ökologischen Anbauflächen als auch von naturnahen Lebensräumen, unabhängig davon, ob beides gemeinsam in der Landschaft vorkommt oder nicht. Weniger erfolgreich ist dagegen die Kombination von ökologischen Anbauflächen mit einjährigen Blühflächen. Diese Lebensräume bieten zur gleichen Zeit ähnliche Blüten als Nahrungsquelle, aber keine zusätzliche Vielfalt an Strukturen. Dadurch verringern sich die Maßnahmen in ihrer Wirkung gegenseitig.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass eine durchdachte Kombination von Maßnahmen entscheidend ist. Wenn Lebensräume sich in ihren Blüh- und Nistressourcen gegenseitig ergänzen, werden sie den Bedürfnissen verschiedener Wildbienenarten gerecht“, erklärt Kathrin Czechofsky, Doktorandin in der Abteilung Funktionelle Agrobiodiversität und Agrarökologie der Universität Göttingen. Dr. Annika Hass aus dem Leitungsteam des „ComBee“-Projekts, in dessen Rahmen die Untersuchung durchgeführt wurde, fügt hinzu: „Die Studie liefert wertvolle Hinweise für die zukünftige Gestaltung von Agrarumweltmaßnahmen und zeigt, dass eine landschaftsweite Planung empfehlenswert ist.“
Die Studie ist Teil des Projekts „ComBee“ der Georg-August-Universität Göttingen und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Mehr Informationen zum Projekt sind hier zu finden: http://www.uni-goettingen.de/de/projekt/646422.html. Die Forschung wurde durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert.
Originalpublikation:
Kathrin Czechofsky, Catrin Westphal, Robert Paxton, Annika Hass. Landscape-level synergistic and antagonistic effects among conservation measures drive wild bee densities and species richness. Journal of Applied Ecology (2025). https://besjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1365-2664.70074

17.06.2025, Universität Leipzig
System adaptiert: Forschende können Gesichtsausdrücke von Bonobo-Affen genau analysieren
Forschende haben ein bestehendes Kodiersystem für menschliche Mimik so angepasst, dass sich auch die Gesichtsausdrücke von Bonobos systematisch analysieren lassen. Ihre gerade im „PeerJ“-Journal veröffentlichten Forschungsergebnisse bestätigen, dass diese Affen über ein Repertoire von 28 verschiedenen Gesichtsbewegungen verfügen, die durch 22 spezifische Muskelbewegungen verursacht werden. Diese Erkenntnis liefert der Forschung neue Möglichkeiten, besser zu verstehen, wie diese vom Aussterben bedrohten Menschenaffen miteinander kommunizieren und wie sich deren Mimik von der des Menschen unterscheidet.
Die Studie wurde von einem internationalen Team von Wissenschaftler:innen mehrerer Institutionen aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Großbritannien unter der Leitung von Dr. Catia Correia-Caeiro vom Institut für Biologie der Universität Leipzig und Forschenden des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie erarbeitet.
Eines der Ergebnisse: Bonobos zeigen zwar weniger Gesichtsbewegungen als Menschen, aber sie teilen ein ähnliches Repertoire mit einer anderen nah verwandten Art, den Schimpansen. Diese Ähnlichkeit deutet auf die Bedeutung der mimischen Kommunikation in sozialen Interaktionen beider Arten hin, so die Forschenden. Sie erweiterten das bereits bestehende Chimpanzee Facial Action Coding System (ChimpFACS) für Bonobos. „Diese Anpassung von ChimpFACS für Bonobos füllt eine wichtige Lücke in unseren Möglichkeiten, die Mimik verschiedener Primatenarten zu untersuchen“, erklärt Correia-Caeiro. „Wir können nun systematisch Gesichtsbewegungen zwischen Menschen, Schimpansen und Bonobos vergleichen und so Einblicke in die Evolution der mimischen Kommunikation gewinnen.“
Das neue Kodierungssystem, das ursprünglich für Menschen entwickelt und zuvor für neun andere Tierarten angepasst wurde, kann laut Correia-Caeiro nicht nur in der akademischen Forschung eingesetzt werden. „Dieses Instrument wird besonders wertvoll sein, um das Wohlergehen von Bonobos in menschlicher Obhut zu beurteilen. Indem wir ihre Mimik besser verstehen, können wir ihren emotionalen Zustand und ihr Wohlbefinden genauer einschätzen“, sagt die Biologin. Facial Action Coding Systems (FACS) sind Instrumente zur detaillierten und objektiven Messung des Gesichtsverhaltens von Tieren durch die Kodierung unabhängiger Muskelbewegungen (Action Units, AUs). Die Anwendung des FACS hat zu mehreren neuen Erkenntnissen im Bereich der Tierkommunikation beigetragen, wie zum Beispiel, dass Orang-Utans und Gibbons ihre Gesichter während des Spiels mit anderen Individuen flexibel und absichtlich einsetzen, um das Spielgeschehen zu modulieren.
Bonobos und Schimpansen haben eine vergleichbare Gesichtsmuskulatur, aber unterscheiden sich in ihrer Gesichtsmorphologie, wie zum Beispiel typische artspezifische Unterschiede in der Lippen- und Augenlidfärbung oder der Größe des Stirnbeins. Diese können sich auf die Art und Weise auswirken, wie die einzelnen Muskelbewegungen identifiziert und gemessen werden. „Diese Unterschiede müssen bei der Untersuchung der Mimik bei beiden Arten berücksichtigt werden, was mit FACS möglich ist“, erläutert Correia-Caeiro.
Das menschliche FACS wird seit über 40 Jahren in der Forschung, aber auch zur Erzeugung realistischer Gesichtsausdrücke in Animationsfilmen oder im klinischen Bereich zur Diagnose psychiatrischer und psychologischer Erkrankungen eingesetzt.
Die Forschenden haben auch kurze Videoclips der unabhängigen Muskelbewegungen bei Bonobos aufgenommen und damit die morphologischen Unterschiede in der Mimik der beiden Arten beschrieben. Künftige Nutzer:innen dieses Instruments können nun darin geschult werden, wie sie diese Muskelbewegungen bei Bonobos erkennen und deren Gesichtsverhalten untersuchen können. „Dieses Tool wird online und kostenlos für alle verfügbar sein, die mehr über die Mimik von Bonobos erfahren möchten, auch wenn sie keine Erfahrung mit dieser Tierart oder diesem Tool haben“, erläutert Dr. Correia-Caeiro. Es könne von Forschenden verwendet werden, um empirische Fragen aus dem Bereich der Evolution menschlicher Kommunikation und Emotionen zu beantworten, aber auch von Tierärzt:innen und Tierpfleger:innen, um das Wohlergehen von Tieren zu beurteilen.
Originalpublikation:
https://peerj.com/articles/19484/
„Adapting the facial action coding system for chimpanzees (Pan troglodytes) to bonobos (Pan paniscus): the ChimpFACS extension for bonobos“

16.06.2025, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Krillfischerei in der Antarktis: Aufeinandertreffen mit Folgen
Antarktischer Krill ist eine bedeutende Nahrungsquelle für viele Arten, wie Wale, Robben und Pinguine. Die kleinen Krebstiere rücken jedoch immer mehr in den Fokus der Fischerei und das kann erhebliche Folgen für das gesamte Ökosystem. Ein Forschungsteam des AWI und des Norwegian Institute of Marine Research in Bergen konnte nun anhand akustischer Daten, Gebiete und Zeiträume identifizieren, in denen es zu einer erhöhten Überschneidung von Fischerei und Krillräubern kommt. Die Ergebnisse können dazu beitragen, Managementstrategien zu entwickeln, um das Ökosystem in der Antarktis zu schützen. Die Studie erscheint in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences.
„Für unsere Studie haben wir gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus Norwegen mehr als 30.000 Stunden Echolotaufzeichnungen ausgewertet, die drei Krillfischereischiffe über sechs Jahre im Südlichen Ozean gesammelt haben“, sagt Dominik Bahlburg vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Mit einem Segmentierungsmodell und Künstlicher Intelligenz konnten die Forschenden Signale herausfiltern, die Wale, Pinguine und Robben auslösen, wenn sie unter den Fischereischiffen tauchen. „Schiffe und die Krillräuber stellen bei solchen Aufeinandertreffen den gleichen Krillschwärmen nach. So konnten wir die räumliche und zeitliche Dynamik dieser Konkurrenz systematisch untersuchen, um Orte und Zeiträume zu ermitteln, an denen beide Gruppen besonders intensiv miteinander interagieren.“
Dabei zeigten sich ausgeprägte saisonale Muster, die spezifisch für die verschiedenen Krillräuber waren. Beispielsweise traf die Fischerei im Sommer und Winter vor allem an den Südlichen Orkneyinseln sowie in Südgeorgien auf Pinguine und Pelzrobben und nur selten auf Wale. „Die Südlichen Orkneyinseln scheinen ein regelrechter Hotspot für das Aufeinandertreffen mit Pinguinen zu sein“, sagt Dominik Bahlburg. „Sie haben im Vergleich zur Antarktischen Halbinsel bisher weit weniger Aufmerksamkeit in der Debatte über die Auswirkungen der Krillfischerei erhalten und viele der dort betroffenen Kolonien werden momentan nicht regelmäßig überwacht.“ Das wäre aber von ökologischer Bedeutung, denn im Sommer treffen die Fischereischiffe hier auf Pinguine während ihrer Hauptbrutzeit, in unmittelbarer Nähe ihrer Brutkolonien. Das deutet zudem darauf hin, dass von der Fischerei freiwillig eingerichtete Sperrzonen an der Antarktischen Halbinsel das Aufeinandertreffen von Pinguinen und Schiffen, und damit die unmittelbare Konkurrenz um Krill, während der Brutzeit nicht wirklich wirksam reduziert, sondern vielmehr auf die Südlichen Orkneyinseln verlagert haben.
Ein weiterer Aspekt hat die Autoren überrascht: „Wir konnten zeigen, dass Fischerei und Pinguine sowie Pelzrobben im Winter genauso häufig wie im Sommer aufeinandertreffen.“ Da die Tiere zu dieser Zeit nicht an ihre Kolonien gebunden sind und sich oft weit verteilen, wurde es bisher als positiv bewertet, dass sich die Krillfischerei zunehmend auf den Winter ausgerichtet hat. „Dass die Tiere nun aber auch zu dieser Zeit so häufig mit den Schiffen aufeinandertreffen, verlangt möglicherweise eine Neubewertung dieser Entwicklung.“ Im Vergleich zu den Südlichen Orkneyinseln waren an der Antarktischen Halbinsel hingegen nur selten Robben und Pinguine in den Echolotdaten zu finden. Vor allem im Herbst konkurriert die Fischerei hier intensiv mit Walen um den Krill. Zu dieser Zeit fressen sich Wale ihre Fettreserven für ihre anschließenden Wanderungen zu ihren Brutgebieten Richtung Äquator an.
Zuverlässige Daten, um das Ökosystem des Antarktischen Ozeans besser zu schützen
„Bemerkenswerterweise waren diese Muster für Robben, Pinguine und Wale über einen Zeitraum von sechs Jahren recht stabil“, sagt Sebastian Menze vom Norwegian Institute of Marine Research. „Unsere Ergebnisse zeigen also, dass akustische Daten von Fischereischiffen und maschinelles Lernen eine zuverlässige Grundlage sein können, für schnelle und einfache Bewertungen der Interaktion der Fischerei mit dem Ökosystem.“ Sie bieten eine enorme zeitliche und räumliche Abdeckung, da die Schiffe fast ganzjährig an verschiedenen Orten im Südozean unterwegs sind. Zudem ist es besonders kosteneffektiv, die Daten zu erheben, da dies quasi als „Nebenprodukt“ der Fischerei erfolgen kann. Die in der Studie verwendeten Daten des größten Krillfischereiunternehmens (Aker Biomarine) sind sogar über eine öffentliche Datenplattform (HUBOcean) zugänglich.
Bisher wurden Echolotdaten aus der Krillfischerei nur sporadisch für wissenschaftliche Zwecke genutzt, etwa um die Biomasse von Krill zu schätzen. „Wir erweitern mit unserem Ansatz die Nutzungsmöglichkeiten für ökologische Fragestellungen und zeigen neue, kostengünstige Wege auf, wie Fischereischiffe aktiv zum Management der Krillfischerei beitragen können“, betont Bettina Meyer, Wissenschaftlerin am AWI und deutsche wissenschaftliche Repräsentantin in der Kommission für die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis (CCAMLR). „Akustische Daten ermöglichen es, schnell ein erstes Bild zu zeichnen, wie sich Veränderungen im Fischereimanagement oder Flottenverhalten auf die Interaktionen mit dem antarktischen Ökosystem auswirken. Das ist besonders wichtig für Zeiträume oder Gebiete, die durch bestehende Forschungsprogramme nicht gut abgedeckt sind.“
Die Studie wurde vom Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung gefördert, um die gewonnenen Erkenntnisse effektiv in die Bemühungen von CCAMLR einzubringen, das Management der Krillfischerei zu verbessern. Solche Analysen können zudem in Zukunft dazu beitragen, die Wirksamkeit bestehender und zukünftiger Managementmaßnahmen zu bewerten und diese bei Bedarf zu optimieren.
Originalpublikation:
Bahlburg D., Menze S., Krafft B.A., Lowther A.D., Meyer B.: Mapping encounters between Antarctic krill fishing vessels and air-breathing krill predators using acoustic data from the fishery, Proceedings of the National Academy of Sciences

18.06.2025, Landesbund für Vogel- und Naturschutz in Bayern (LBV) e. V.
Bartgeier Vinzenz auf spektakulärer Deutschlandreise
Zum ersten Mal fliegt einer der in Berchtesgaden ausgewilderten Vögel bis an die Nordseeküste
Zwischenstopp in den Niederlanden
Der 2024 in den bayerischen Alpen ausgewilderte Bartgeier Vinzenz hat einen spektakulären Ausflug hinter sich: Nach einem über 1.600Kilometer langen Flug durch Bayern, ganz Westdeutschland und die Niederlande konnte er gestern Abend in der Nähe von Oldenburg eingefangen werden. Die Projektverantwortlichen des bayerischen Naturschutzverbands LBV (Landesbund für Vogel- und Naturschutz) und des Nationalparks Berchtesgaden zeigten sich über den sicheren Ausgang der außergewöhnlichen Deutschlandreise erleichtert. Da der eigentliche Lebensraum der Bartgeier das Hochgebirge ist, verirren sich die majestätischen Greifvögel nur äußert selten in flachere Regionen. Vinzenz hat bei seinem ausgedehnten Streifzug rund zehn Prozent seines Körpergewichts verloren, befindet sich aber in stabiler Verfassung und wird nun erst mal in einer auf Greifvögel spezialisierten Auffangstation versorgt, um dann wieder in die Alpen zurückkehren zu können.
Von den bisher zehn im Zuge des Projekts im Nationalpark Berchtesgaden ausgewilderten jungen Bartgeiern ist es das Projektteam eher gewöhnt, dass die Greifvögel teils ausgedehnte Ausflüge in andere Alpenregionen wie die Schweiz, Italien oder Österreich unternehmen. „Dass ein kleiner Teil der jungen Bartgeier gelegentlich weite Ausflüge nach Norden unternimmt, ist zwar bekannt, aber natürlich wird man schon leicht nervös, wenn man plötzlich zum ersten Mal solche GPS-Daten eines besenderten Vogels aus dem eigenen Projekt erhält“, berichtet LBV-Projektleiter Toni Wegscheider.
Projektleiter Ulrich Brendel vom Nationalpark Berchtesgaden erklärt: „Solche Suchflüge nach potenziellen Lebensräumen sind für junge Bartgeier nicht ungewöhnlich – es gibt bereits Nachweise darüber aus Polen, Großbritannien und den Niederlanden. Aber sie sind immer riskant.“ Besonders die dichte Verteilung von Windkraftanlagen stellt lokal und vor allem an den Küsten eine ernsthafte Gefahr dar. In einem sehr ähnlichen Fall wurde in den Niederlanden vor wenigen Jahren ein junger Bartgeier tödlich verletzt, ein anderer von einem Zug erfasst.
Nachdem Vinzenz am Freitag von der Bergregion um Garmisch zunächst bis in die Oberpfalz geflogen war, drehte er zunächst wieder nach Süden um, um dann aber bei München nach Westen abzubiegen und in der Folge weite Teile Westdeutschlands zu überfliegen. So führt die Route seiner Deutschlandreise über Heilbronn, Mannheim, Mainz und Dortmund, bis er schließlich nördlich von Nordhorn die Niederlande erreichte. „In Holland wurde seine Anwesenheit von der lokalen Ornithologen-Szene mit immensem Interesse verfolgt. Zahlreiche Vogelkundler dokumentierten dort seine Rastplätze und teils versammelten sich dutzende Birdwatcher gleichzeitig an den Bäumen, in denen Vinzenz seine Pausen auf dem Weg über Groningen bis an die Nordseeküste einlegte. Er wurde vielfach auf niederländischen Plattformen für Vogelsichtungen gemeldet und schaffte es sogar in die dortigen Nachrichten“, berichtet Toni Wegscheider.
Von den Niederlanden aus überquerte Vinzenz bei Emden die Grenze zurück nach Deutschland und landete bei Oldenburg unerwartet direkt an einer Landstraße. Da seine Position über den GPS-Tracker genau bekannt war und der Vogel bereits seit Tagen von ehrenamtlichen Helfern des Bartgeierprojekts im Auto verfolgt wurde, konnte die günstige Gelegenheit genutzt werden, um den nach seiner langen Reise etwas entkräftet wirkenden Vogel problemlos einzufangen. „Aufgrund unserer intensiven nationalen und internationalen Vernetzung hatten wir glücklicherweise auf fast jeder Station von Vinzenz‘ Flug engagierte Fachleute, die wir, ausgestattet mit den jeweils neuesten GPS-Daten, gezielt zu den aktuellen Aufenthaltsorten losten konnten“, zeigt sich Toni Wegscheider erleichtert. „So konnte der Geier bei Oldenburg durch den beherzten Einsatz zweier Greifvogelspezialisten in einem dichten Gebüsch neben der Straße ohne Risiko eingefangen werden.“
Anschließend wurde Vinzenz tierärztlichen versorgt, wobei erste Untersuchungen keinen Hinweis auf Verletzungen, aber einen deutlichen Gewichtsverlust ergaben. Neben der Fütterung werden nun gezielte medizinische Checks durchgeführt, insbesondere eine Blutuntersuchung auf Blei. Da die Aufnahme bleihaltiger Munitionsreste in Überresten von Jagdwild flächendeckend zu den größten Gefahren für Greifvögel gehört, setzt sich der LBV schon lange für ein allgemeines Verbot bleihaltiger Jagdmunition ein.
„Sobald Vinzenz sein Normalgewicht wieder erreicht und alle medizinischen Werte stabil sind, ist eine Rückführung in die Alpen vorgesehen. Über Ort und Zeitpunkt wird in enger Abstimmung mit den zuständigen Fachstellen entschieden“, kündigt Ulrich Brendel an.
Zum Projekt:
Der Bartgeier (Gypaetus barbatus) zählt mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,90 Metern zu den größten, flugfähigen Vögeln der Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts war der majestätische Greifvogel in den Alpen ausgerottet. Im Rahmen eines großangelegten Zuchtprojekts werden seit 1986 im Alpenraum in enger Zusammenarbeit mit dem in den 1970er Jahren gegründeten EEP (Europäisches Erhaltungszuchtprogramm) der Zoos junge Bartgeier ausgewildert. Das europäische Bartgeier-Zuchtnetzwerk wird von der Vulture Conservation Foundation (VCF) mit Sitz in Zürich geleitet. Während sich die Vögel in den West- und Zentralalpen seit 1997 auch durch Freilandbruten wieder selbstständig vermehren, kommt die natürliche Reproduktion in den Ostalpen nur schleppend voran. Ein vom bayerischen Naturschutzverband LBV (Landesbund für Vogel- und Naturschutz) und dem Nationalpark Berchtesgaden gemeinsam initiiertes und betreutes Projekt zur Auswilderung von jungen Bartgeiern im bayerischen Teil der deutschen Alpen greift dies auf und unterstützt in Kooperation mit dem Tiergarten Nürnberg die alpenweite Wiederansiedelung. Dafür werden in den kommenden Jahren im Klausbachtal junge Bartgeier ausgewildert – im Jahr 2021 erstmals in Deutschland. Der Nationalpark Berchtesgaden eignet sich aufgrund einer Vielzahl von Faktoren als idealer Auswilderungsort in den Ostalpen. Mehr Informationen zum Projekt unter www.lbv.de/bartgeier-auswilderung.

20.06.2025, Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT)
Die Schönheit von Fischgemeinschaften in Riffen der Welt schützen
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der University of North Carolina Wilmington (UNCW) und mit Beteiligung des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) hat weltweit Riffe untersucht, um herauszufinden, wo die für das menschliche Auge schönsten Fischgemeinschaften zu finden sind und was diese Muster erklärt – ein wichtiges Thema, da die Schönheit der Fische ein nicht-materieller Beitrag von Riffen zum menschlichen Wohlergehen ist, der sich direkt auf die Bereitschaft von Menschen auswirkt, diese empfindlichen Ökosysteme zu erhalten. Die Ergebnisse der Studie wurden im renommierten Fachjournal Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht.
Die Schönheit der Natur beeinflusst unsere emotionale Verbundenheit mit Ökosystemen und unsere Bereitschaft, sie zu schützen. Dies gilt insbesondere für Riffe, die zu den farbenprächtigsten und lebendigsten Lebensräumen der Welt zählen. Ihre Schönheit zieht jedes Jahr Millionen von Menschen an und birgt großen wirtschaftlichen Nutzen, vor allem in tropischen Ländern des Globalen Südens.
Angesichts der starken Gefährdung und des rapiden Rückgangs dieser einzigartigen Ökosysteme ist ihr Schutz von entscheidender Bedeutung. Die Ergebnisse der neuen Studie zeigen, dass Riffschutz nicht nur die Fischerei und den Tourismus unterstützt, sondern auch das menschliche Wohlergehen.
Erstautoren Matthew McLean (UNCW) und Nicolas Mouquet (Centre National de la Recherche Scientifique – CNRS) sowie Co-Autorin Sonia Bejarano (ZMT) analysierten die wahrgenommene Schönheit von mehr als 3.500 Rifffischgruppen weltweit. Das Team kombinierte Daten aus einem globalen Riffüberwachungsprogramm mit Ergebnissen aus öffentlichen Umfragen, in denen die Ästhetik von Fischarten in Riffen bewertet wurde.
Sie fanden heraus, dass Rifffische in sehr artenreichen tropischen Meeresschutzgebieten als besonders schön wahrgenommen wurden und dies durch die Erhaltung von Riffen in einem korallendominierten Zustand noch gesteigert werden kann. Der Studie zufolge hängt diese Schönheit nicht nur stark mit der Anzahl der Arten zusammen, sondern auch mit dem Vorhandensein besonders farbenprächtiger oder einzigartig geformter Fische.
„Riffe spielen eine wichtige ökologische Rolle, verbinden Menschen mit der Natur und unterstützen den lokalen Tourismus, daher sollte die Erhaltung ihrer Schönheit ein zentrales Ziel des Naturschutzes sein“, so Matthew McLean.
„Meeresschutzgebiete tragen dazu bei, diese Verbindung zu bewahren und gleichzeitig einen nachhaltigen Tourismus zu fördern, der in vielen Ländern des Globalen Südens für die lokale Wirtschaft unerlässlich ist“, ergänzt Sonia Bejarano vom ZMT.
Derzeit sind weniger als 7 % der Riffe wirksam geschützt. Die Studienergebnisse zeigen, dass größere Schutzbemühungen nötig sind, um den materiellen und immateriellen Beitrag von Riffen zum Leben und Wohlergehen der Menschen zu erhalten.
Originalpublikation:
M. McLean, D. Mouillot, J. Langlois, S. Arif, S. Bejarano, N. Casajus, G.J. Edgar, U. Flandrin, F. Guilhaumon, A.B. Judah, N. Loiseau, M.A. MacNeil, E. Maire, R.D. Stuart-Smith, & N. Mouquet (2025) Conserving the beauty of the world’s reef fish assemblages, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 122 (25) e2415931122, DOI: 10.1073/pnas.2415931122

19.06.2025, Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz
Vögel mögen es sauer!
Säugetiere meiden Saures, viele Vögel hingegen fressen gerne saure Früchte.
Eine neue Studie zeigt, dass die Säurerezeptoren der Vögel unterdrückt werden, wenn sie stark Saures fressen. Dies hemmt die Übertragung von Säure-Signalen und erhöht somit die Toleranz. Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass die molekulare Evolution der Säurerezeptoren bei Vögeln eine Schlüsselrolle in ihrer Evolutionsgeschichte und Diversifizierung spielte. Interessanterweise verlief diese Entwicklung bei Singvögeln parallel zur Evolution der Süßwahrnehmung, was auf eine Koevolution von saurem und süßem Geschmacksinn hindeutet.
Vögel sind besonders vielfältige Landwirbeltiere. Ein Schlüsselfaktor in ihrer Evolutionsgeschichte ist ihre flexible Anpassungsfähigkeit an Nahrung und die Erschließung neuer Futterquellen. Vor allem Früchte sind für die meisten Vogelarten eine wichtige Energiequelle, insbesondere während des Vogelzugs oder in Zeiten von Nahrungsknappheit.
In einer neuen Studie haben Forschende aus Maude Baldwins Abteilung des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz in Kollaboration mit dem Kunming Institute of Zoology der Chinesischen Akademie der Wissenschaften herausgefunden, dass Vögel durch evolutionäre Veränderungen eine starke Toleranz gegenüber saurer Nahrung entwickelt haben. Diese Fähigkeit, extrem Saures zu fressen, hat ihnen geholfen, vielseitige ökologische Nische zu erschließen. Die Studie liefert damit spannende neue Erkenntnisse über die Evolution tierischer Sinne und ökologischer Anpassungen.
Säugetiere meiden säurehaltige Nahrungsquellen. Viele Vogelarten hingegen können sich problemlos von sauren Früchten ernähren. Das Forschungsteam identifizierte einen Schlüsselfaktor für diese Toleranz: Der Rezeptor für sauren Geschmack, Otopetrin 1 (OTOP1), wird bei einigen Vogelarten in stark säurehaltiger Umgebung unterdrückt. Dadurch wird die Übertragung von Säure-Signalen reduziert. Die Vögel nehmen Säure so schwächer wahr und tolerieren sie besser.
Mithilfe von Genom-Editierung fügten die Forschenden das OTOP1-Gen eines Kanarienvogels in Mäuse ein. Diese genveränderten Mäuse zeigten eine signifikante Verringerung neuronaler Reaktionen auf saure Reize. Bei verschiedenen Vogelarten zeigte sich: Wenn ihr OTOP1-Rezeptor beim Fressen saurer Früchte nicht abgeschaltet wird, ist auch ihre Säuretoleranz deutlich geringer. Dies bestätigt die Schlüsselfunktion des Rezeptors für die Wahrnehmung und Toleranz von Säure. Weitere Analysen konnten vier spezifische Aminosäurestellen identifizieren, die zu den säureunterdrückenden Eigenschaften des OTOP1-Rezeptors beitragen (H239, L306, H314 und G378). Nur Singvögel haben die Mutation an der letzten Stelle G378, was ihnen eine noch höhere Säuretoleranz ermöglicht.
Einblicke in die Evolution der Geschmacksrezeptoren
Durch die Rekonstruktion der Geschmacksrezeptoren von Vorfahren an verschiedenen Stellen des Singvogel-Stammbaums fanden die Forschenden außerdem heraus: Die Evolution der erhöhten Säuretoleranz bei Singvögeln verlief parallel zur Entwicklung der Fähigkeit, Süßes zu schmecken. Das deutet auf eine mögliche Koevolution von saurem und süßem Geschmackssinn hin. Dieses Zusammenspiel ermöglichte es den Vögeln, ihre Nahrungspräferenzen zu erweitern und nicht nur sehr saure Früchte zu fressen, sondern auch zuckerhaltige Ressourcen wie Nektar. Dies könnte die Entwicklung der Singvögel beeinflusst haben, einer Vogelgruppe, die fast die Hälfte aller heute lebenden Vogelarten ausmacht.
Zusammenfassend legt diese neue Studie nahe, dass die funktionelle Entwicklung des Säure-Rezeptors maßgeblich die Evolutionsgeschichte der Vögel prägte und liefert damit neue Einblicke in die molekularen Mechanismen, mit denen Tiere ihre sensorische Wahrnehmung an die Umwelt anpassen.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung des Kunming Institute of Zoology der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.
Originalpublikation:
Molecular evolution of sour tolerance in birds
Hao Zhang †, Lei Luo†, Qiaoyi Liang †, Lifeng Tian †, Yong Shao †, Xiuping Zhang, Kaixun Cao, Anna Luo, Chengsan Wang, Peter Muiruri Kamau, Dong-Dong Wu, Maude W. Baldwin, Ren Lai
† Diese Autoren haben zu gleichen Teilen zur Studie beigetragen.
Science, online June 19, 2025

20.06.2025, Deutsche Wildtier Stiftung
Kitze im Stress: Junge Gämsen leiden unter Hitze und menschlichen Störungen
Wer im Sommer in die Berge reist, entdeckt dort mit etwas Glück die Kinderstube junger Gämsen. Anfang Juni bringen die Geißen ihre Jungen zur Welt und ziehen mit ihnen durch die felsigen Hochlagen. Die Kitze werden etwa sechs Monate gesäugt und bleiben bis zu einem Jahr bei der Mutter. Doch der Start ins Leben wird für sie immer schwieriger. Klimawandel und das Eindringen von Menschen in ihren Lebensraum belasten sie.
Gämsen sind an die jahreszeitlichen Bedingungen ihrer Umgebung angepasst: Im Sommer leben sie in felsigen Hochlagen, Latschen- und Geröllfeldern sowie alpinen Matten. Im Winter ziehen sie in die Bergwälder, wo sie mehr Nahrung finden. Der Klimawandel, der in den Alpen besonders deutlich zu beobachten ist, stört dieses Muster zunehmend.
„Steigende Sommertemperaturen zwingen Gämsen oft, sich in kühle Bergwälder zurückzuziehen und tagsüber weniger aktiv zu sein, um Hitzestress zu vermeiden“, erklärt Prof. Dr. Klaus Hackländer, Wildtierbiologe und Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung. Vor allem die Geißen reagieren empfindlich auf Hitze: In warmen Jahren produzieren sie weniger Milch. Dadurch werden die Kitze schlechter versorgt und ihr Wachstum verlangsamt sich. „Das beeinflusst die Entwicklung der Gämsenbestände, denn nur starke Nachkommen überleben und vermehren sich“, so Hackländer.
Das Ausweichen in Bergwälder erhöht das Konfliktpotenzial mit der Forstwirtschaft, insbesondere in Wäldern mit geringer Naturnähe. Gleichzeitig birgt diese Lebensraumverschiebung in die Wälder neue Gefahren: Beutegreifer können sich besser anschleichen, und Erholungssuchende stören die dringend benötigte Ruhe der Tiere. Mountainbiker und Spaziergänger sollten daher auf den Wegen bleiben und sich respektvoll und ruhig verhalten. Die Deutsche Wildtier Stiftung fordert seit langem Wildruhegebiete, in denen keine Nutzung durch Menschen stattfindet – auch keine Jagd. In vielen europäischen Nachbarländern existieren diese Schutzgebiete bereits.

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