Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

08.09.2025, Universität Osnabrück
Uni Osnabrück: Schimpansen in Ost-Afrika behandeln Wunden mit Insekten
Schimpansen im Kibale-Nationalpark in Uganda verblüffen Forschende der Uni Osnabrück mit einem Verhalten, das bisher kaum dokumentiert wurde: Sie fangen fliegende Insekten und tragen sie gezielt auf eigene und Wunden von Gruppenmitgliedern auf. Diese Beobachtung könnte wichtige Hinweise auf die Verhaltensvielfalt von Schimpansen, ihre Kognition und die Ursprünge menschlicher Heilpraktiken liefern.
Im Fachjournal „Nature Springer Reports“ berichten Prof. Simone Pika, Dr. Kayla Kolff und Alessandra Mascaro von der Uni Osnabrück gemeinsam mit Daniela Acosta Flórez von der Yale University über das faszinierende Verhalten wildlebender ostafrikanischer Schimpansen im Kibale-Nationalpark (Uganda).
Bislang war ein derartiges Verhalten nur bei einer einzigen Schimpansengemeinschaft in Zentralafrika beobachtet worden. Zwischen November 2021 und Juli 2022 konnten die Wissenschaftlerinnen jedoch auch sechs Tiere in Uganda dabei beobachten, wie sie sowohl bei sich selbst als auch bei Artgenossen fliegende Insekten auf offene Wunden auftrugen. „Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Anwendung von Insekten viel weiterverbreitet ist als bislang angenommen“, sagt Dr. Kayla Kolff von der Uni Osnabrück und Erstautorin der Studie.
Die Forschenden formulieren drei Hypothesen, die nun in weiteren Studien überprüft werden sollen: Wählen die Schimpansen gezielt bestimmte Insektenarten mit möglicherweise heilenden Substanzen? Wird das Verhalten kulturell weitergegeben und erlernt? Und steckt dahinter neben Selbstfürsorge auch das Verständnis, anderen zu helfen und ihre Schmerzen zu lindern?
Unabhängig davon, ob die Insekten tatsächlich medizinische Eigenschaften besitzen, liefern die Beobachtungen wertvolle Einblicke in die Verhaltensplastizität und Kognition von Schimpansen sowie die Evolution von Heilverhalten. Die Kombination aus Selbstmedikation und potentieller Fürsorge für Artgenossen könnte ein Vorläufer menschlicher Praktiken der Wundversorgung sein.
„In den 1980er Jahren waren es Beobachtungen an Schimpansen, die das Feld von Tierselbstmedikation begründeten, und nun rückt sie wieder einmal ins Zentrum der Diskussion über medizinische und kognitive Fähigkeiten sowie kulturelle Traditionen im Tierreich – und eröffnen somit ein neues spannendes Forschungsfeld, das wichtige Brücken zur Geschichte menschlicher Medizin schlägt“, sagt Prof. Simone Pika, Leiterin der Arbeitsgruppe Vergleichende Kognitionsbiologie an der Uni Osnabrück.

09.09.2025, Ludwig-Maximilians-Universität München
Biomineralisation: Wie Schwämme ihre Kalknadeln bilden
LMU-Forschende identifizieren Schlüsselproteine für die Biomineralisation bei Kalkschwämmen und finden Hinweise auf eine konvergente Evolution von Schwämmen und Korallen.
Viele Korallen und Schwämme bilden Skelette oder Skelettnadeln (Spicula), die den Tieren Struktur geben. Während die Biomineralisation – also die Bildung dieser Skelette – bei Korallen bereits intensiv untersucht wurde, waren die molekularen Mechanismen des Prozesses in Meeresschwämmen bislang noch ungeklärt. Ein Team um den LMU-Geobiologen Professor Gert Wörheide hat nun die genetische Basis der Nadelbildung bei Kalkschwämmen untersucht und eine Gruppe von Proteinen identifiziert, die dabei eine wichtige Rolle spielen.
„Schwämme gehören zu den ältesten Tieren mit mineralisierten Strukturen, deshalb ermöglichen sie wertvolle Einblicke in die frühe Evolution der Biomineralisation“, sagt PD Dr. Oliver Voigt, Erstautor der Studie. Kalkschwämme haben die Besonderheit, dass ihre Nadeln verschiedene Formen haben und von nur wenigen spezialisierten Zellen – manchmal nur zwei – gebildet werden. Im Gegensatz dazu ist die Skelettbildung bei anderen Tieren komplizierter – so ist bei Steinkorallen beispielsweise eine ganze Zellschicht beteiligt. Daher stellen Schwämme ein besonders interessantes Modell dar, um die zellulären Grundlagen der Biomineralisation zu untersuchen.
In einem integrativen Ansatz kombinierten die Forschenden verschiedene genetische Methoden mit Proteom-Analysen und konnten so erstmals den Kalknadelbildungsprozess in der Schwammart Sycon ciliatum auf zellulärer und molekularer Ebene lückenlos entschlüsseln. Dabei identifizierten sie mit den sogenannten Calcarinen eine Gruppe von Proteinen, die bei der Kalkbildung eine wichtige Rolle spielen. Calcarine haben strukturelle und funktionelle Ähnlichkeiten mit Galaxinen – den Proteinen, die bei Steinkorallen am Aufbau des Kalkskeletts beteiligt sind. „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Schwämme und Korallen unabhängig voneinander vergleichbare genetische Werkzeuge zur Biomineralisation entwickelt haben – ein anschauliches Beispiel für konvergente Evolution“, erklärt Voigt.
Originalpublikation:
O. Voigt et al.: Genetic parallels in biomineralization of the calcareous sponge Sycon ciliatum and stony corals. eLife 2025
https://doi.org/10.7554/eLife.106239.2

09.09.2025, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Mehr als Echoortung: Fledermäuse nutzen akustische und visuelle Informationen bei der Jagd in heller Umgebung
Fledermäuse wie der Große Abendsegler sind nachtaktiv und orientieren sich durch Echoortung, indem sie in schneller Folge hochfrequente Ultraschalllaute aussenden und deren Reflektionen auswerten. Dennoch verfügen sie über einen Sehsinn für Licht im auch für Menschen sichtbaren Spektrum. Forschende zeigten nun mit Hilfe von Licht-, Ultraschall- und Bewegungssensoren, dass Große Abendsegler bei der Jagd auf Insekten in hellen Umgebungen weniger Echoortungsrufe aussenden, zugleich aber ihre Beute 50 Prozent schneller fangen als in dunklen Umgebungen. Dies lege nahe, dass die Fledermäuse akustische und visuelle Informationen in Sekundenbruchteilen bei der Jagd kombinieren.
In seinem Beitrag in den „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ (PNAS) beschreibt das Forschungsteam um Laura Stidsholt von der Universität Aarhus in Dänemark und Christian Voigt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) ihre Untersuchung an 21 Großen Abendseglern (Nyctalus noctule), die mit High-Tech-Miniatursensoren ausgestattet wurden. Die Sensoren zeichneten hochaufgelöste Daten zu den Lichtverhältnissen, den Ultraschallrufen sowie den Bewegungen der Fledermäuse auf. So konnten die Forschenden analysieren, ob und wie sich das Bewegungsverhalten der Fledermäuse während der Dämmerung und der Nacht sowie während des Streckenflugs sowie bei der Jagd nach Insekten unterscheidet. Hierzu analysierten sie die Helligkeit, die Häufigkeit und die Tonhöhe der Ultraschallrufe, die Frequenz und Stärke der Flügelschläge sowie die Fluggeschwindigkeit der Fledermäuse.
Abendsegler reduzieren Echoortung bei der Jagd in hellen Umgebungen
Während die Analysen zeigen, dass die Fledermäuse beim Streckenflug zwischen zwei Standorten ihre Echoortung und ihr Flugverhalten auch bei sich ändernder Umgebungshelligkeit nicht veränderten, stellten die Forschenden starke Unterschiede bei der Jagd in hellen und dunklen Umgebungen fest. In hellen Umgebungen reduzierten die Großen Abendsegler die Häufigkeit ihrer Ortungsrufe im Vergleich zu dunklen Umgebungen um die Hälfte. Zugleich waren diese Rufe um bis zu 7 Dezibel lauter. „Wir zeigen damit, dass die Fledermäuse weniger akustische Sinneseindrücke bei der Jagd einsetzen, wenn ausreichend Licht zur visuellen Umgebungswahrnehmung zur Verfügung steht“, sagt Erstautorin Laura Stidsholt, ehemalige Postdoktorandin in der Abteilung für Evolutionäre Ökologie des Leibniz-IZW und jetzt Assistenzprofessorin an der Universität Aarhus. „Zugleich konnten wir aufzeigen, dass dies nicht auf Kosten des Jagderfolges geht, denn die Fledermäuse schlugen in hellen Umgebungen kräftiger mit den Flügeln und flogen die Insekten erheblich schneller an als in dunklen Umgebungen.“ In der Dunkelheit betrug die Geschwindigkeit bei der Jagd im Schnitt 5,2 Meter pro Sekunde, in hellen Umgebungen hingegen 7,9 Meter pro Sekunde.
Halb so viele Echoortungsrufe bei um fast 50 Prozent erhöhter Fluggeschwindigkeit sprechen den Forschenden zur Folge dafür, dass in helleren Umgebungen zusätzliche Information für die Jagd nutzbar gemacht werden. „Wir beobachten, dass insektenfressende Fledermäuse in den ersten Stunden der Nacht, also in der Dämmerung, sehr aktiv sind und dann mutmaßlich die Kombination von Echoortung und Sehsinn am effizientesten einsetzen können“, schließt Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie des Leibniz-IZW. Diese Befunde lassen Zweifel an der bisher vorherrschenden Meinung der Experten aufkommen, dass der Sehsinn – vor allem in der Dämmerung – nicht ausreichend genaue Informationen liefert, um bei der Jagd nach Insekten wirklich nützlich zu sein. „Unsere Studie stellt den ersten direkten Beweis dafür dar, dass Fledermäuse auch bei der Jagd auf mehrere Sinne setzen“, so Voigt. Mit der Untersuchung dokumentieren die Forschenden zudem erstmals wissenschaftlich, dass Fledermäuse im Bruchteil von Sekunden Informationen unterschiedlicher sensorischer Systeme kombinieren und zu ihrem Vorteil nutzen.
Originalpublikation:
Stidsholt L, Zebele M, Scholz C, Voigt CC (2025): Wild bats hunt insects faster under lit conditions by integrating acoustic and visual information. PNAS 122 (37) e251508712. DOI: 10.1073/pnas.2515087122

10.09.2025, Eberhard Karls Universität Tübingen
Rabenkrähen können lernen, Werkzeug zielgerichtet einzusetzen
Forschungsteam der Universität Tübingen zeigt im Experiment, wie Krähen lernen, ein Stäbchen präzise im Schnabel zu führen, um damit an Futter zu gelangen
Durch gezieltes Training können heimische Rabenkrähen lernen, ein Stäbchen zum Heranholen von Futter einzusetzen. Mit zunehmender Übung beweisen sie dabei einerseits großes Geschick und kommen mit wenigen Schritten an ihr Ziel; andererseits reagieren sie flexibel auf abweichende Bedingungen im Experiment. Das haben Dr. Felix Moll, Julius Würzler und Professor Andreas Nieder vom Institut für Neurobiologie der Universität Tübingen in Verhaltensversuchen mit zahmen Vögeln festgestellt. In der freien Wildbahn ist der Werkzeuggebrauch bei Rabenkrähen nicht bekannt. Die Forscher gehen allerdings davon aus, dass bereits ein geringer Evolutionsdruck ausreichen würde, dass sie solche Fähigkeiten auch ohne spezielles Training entwickelten. Ihre Studie wurde in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht.
„Der Gebrauch von Werkzeugen kommt im Tierreich insgesamt recht selten vor, am häufigsten ist er bei geschickten Generalisten wie Primaten, Papageien und Krähenvögeln zu beobachten“, berichtet Felix Moll. Nur bei zwei von den rund 40 Krähenarten passiert das regelmäßig: bei der Neukaledonienkrähe und der Hawaiikrähe. Krähen sind Singvögel mit einem ungewöhnlich großen Gehirn und komplexen Verhaltensmustern. Der instinktive Werkzeugeinsatz der Neukaledonienkrähe, auch Geradschnabelkrähe genannt, habe Forscher schon lange fasziniert, sagt er. „Die motorisch-kognitiven Fähigkeiten hinter diesem Verhalten wie die Verständnisebene von Ursache und Wirkung sowie die präzise, aber flexible Bewegungskontrolle wurden bisher aber nicht näher untersucht.“ Das Forschungsteam wollte erkunden, ob eine andere Krähenart den Werkzeuggebrauch prinzipiell ebenso gut erlernen kann – und wie das Lernen die nötigen Fähigkeiten formt.
Hohe Anforderungen
In der Studie brachten die Forscher drei Rabenkrähen mithilfe von Belohnungen zunächst bei, ein Stäbchen mit dem Schnabel aufzunehmen. Im nächsten Schritt lernten diese durch Versuch und Irrtum, mit dem Stäbchen Futterpellets aus einer durchsichtigen Plexiglasbox herauszuholen, in die sie mit dem Schnabel nicht direkt hineinkamen. Wenn das Futter zu schnell herausgeschoben wurde, konnte es vom Tisch fallen und war dann für den Vogel nicht mehr erreichbar. Die Übungsdurchgänge der Vögel wurden durch Bewegungsaufzeichnungen der Stabspitze dokumentiert. „Die Krähen holten zunächst den Stab aus einer Halterung, justierten nach, bis sie den Stab in geradliniger Verlängerung des Schnabels hielten und schoben damit das Pellet in Reichweite ihres Schnabels. Dabei beobachten sie ganz genau wie sich die Bewegungen der Stabspitze auf das Pellet auswirk-ten, um mögliche Fehler sofort zu korrigieren“, beschreibt Moll, wie die trainierten Rabenkrähen vorgingen. Erst wenn sie den Stab zurück in die Halterung gesteckt hatten, fraßen sie das Futter.
Die Aufzeichnungen früher Trainingseinheiten zeigen, wie die Vögel anfänglich mit weit ausholenden ungezielten Bewegungen des Stäbchens das Futterpellet häufig nur hin- und herschoben und viele Versuche benötigten, bis sie drankamen. „Im Vergleich dazu zeigen die Aufzeichnungen späterer Trainingseinheiten hochpräzise Bewegungsabläufe. Die Bewegungen des Stäbchens sind in den jeweiligen Standardsituationen wenig variiert, die Krähe schiebt das Futterpellet zielstrebig an eine Seite der Box und holt es heraus“, berichtet Julius Würzler. Allerdings reagierten die Vögel durchaus flexibel, wenn ihnen zum Beispiel das Stäbchen herunterfiel.
„Um den Werkzeuggebrauch zu erlernen, müssen mehrere Faktoren zusammenkommen“, meint Andreas Nieder: „Die Motivation, das konzeptionelle Wissen und große kognitive Fähigkeiten sowie die feinmotorische Kontrolle.“ Die Rabenkrähen brächten viele Voraussetzungen mit und konnten im Experiment aus einem breiten Bewegungsspektrum die effektiven Strategien auswählen und das Werkzeug als Verlängerung ihres Körpers einsetzen. „Wenn bei uns nicht die Spechte – mit ihrer hochspezialisierten langen Zunge – Totholz bewohnende Käferlarven aus ihren Gängen fischen würden, könnte diese nahrhafte Proteinquelle vielleicht irgendwann durch Werkzeug gebrauchende Rabenkrähen erschlossen werden“, fügt Moll hinzu.
Originalpublikation:
Felix W. Moll, Julius Würzler, and Andreas Nieder: Learned precision tool use in carrion crows. Current Biology, https://doi.org/10.1016/j.cub.2025.08.033

10.09.2025, Deutsches Zentrum für Infektionsforschung
Von Miami nach Berlin: Tierischer blinder Passagier deckt versteckte globale Gesundheitsrisiken auf
2017 nahm ein Flug von Miami nach Berlin eine überraschende Wendung: An Bord entdeckten Passagiere eine Ratte. Nach der Landung eingefangen, wurde sie dem Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) übergeben. Dort sah man in ihr nicht nur ein Ärgernis, sondern auch die Chance, sie als mögliche Überträgerin von Krankheitserregern zu untersuchen. Forschende des DZIF und des Netzwerks „Nagetier-übertragene Pathogene (NaÜPa-net)“ fanden nur wenige zoonotische und nicht-zoonotische Erreger. Der Vorfall machte jedoch deutlich, wie leicht Krankheitserreger über Kontinente verbreitet werden können – und wie wichtig standardisierte Untersuchungen tierischer blinder Passagiere sind.
Ratten – insbesondere die Arten Hausratte Rattus rattus und Wanderratte Rattus norvegicus – gehören zu den erfolgreichsten Co-Reisenden der Menschheitsgeschichte. Seit Jahrhunderten reisen sie auf Schiffen, Zügen und Lastwagen mit und verbreiten sich so. Mit Millionen von Flügen jährlich steigt auch ihre Chance, als „blinde Passagiere“ ungebeten Kontinente zu überqueren. Ratten können gefährliche Zoonoseerreger wie Leptospira interrogans (Leptospirose), Streptobacillus moniliformis (Rattenbissfieber), Seoul-Orthohantavirus oder das Ratten-Hepatitis-E-Virus übertragen. Diese Infektionen können beim Menschen schwere Krankheiten auslösen.
In diesem Fall wurde die Ratte von Passagieren zwar auf dem Flug von Miami nach Berlin beobachtet, befand sich aber möglicherweise schon seit dem Abflug der Passagiermaschine aus Dubai im Flugzeug. „Ratten sind wahre Weltenbummler. Wo immer Menschen reisen oder Waren transportieren, können Ratten folgen – und ihre Mikroben gleich mitbringen“, erklärt Prof. Rainer Ulrich, DZIF-Wissenschaftler am FLI und Seniorautor der Studie, die kürzlich im Journal Scientific Reports veröffentlicht wurde.
Ergebnisse eines umfassenden Erreger-Screenings
In den Hochsicherheitslaboren des FLI wurde die Ratte seziert und Proben verschiedener Gewebe und Blutproben am FLI und bei den zahlreichen Netzwerkpartnern untersucht. Dabei kam eine mehrschichtige Screening-Strategie zum Einsatz, die Bakterienkulturen und -charakterisierung, Hochdurchsatz-Sequenzierung sowie spezifische Methoden wie PCR, RT-PCR und Multiplex-Serologie umfasste. Dieser „All-Tools-on-Deck“-Ansatz führte zu einem umfassenden Workflow, der künftig als Modell für ähnliche Fälle im Luft- und Seeverkehr dienen kann.
Die Ergebnisse waren beruhigend und aufschlussreich zugleich: Gefürchtete Erreger wie Hantaviren, Leptospiren oder das Ratten-Hepatitis-E-Virus wurden nicht gefunden – das Infektionsrisiko für Passagiere und Crew war also sehr gering. Allerdings wurde ein Methicillin-sensibler Staphylococcus aureus (MSSA)-Keim in Nase und Darm der Ratte entdeckt. Genomanalysen zeigten, dass dieser fast identisch mit in Europa und Nordamerika verbreiteten Stämmen ist und menschenspezifische Gene zur Immunabwehr trägt – ein Hinweis auf Übertragungen zwischen Mensch und Ratte.
„Das Überraschende war nicht, was wir nicht gefunden haben, sondern was wir fanden: einen Staphylococcus aureus-Stamm, der fast identisch mit menschlichen Varianten ist. Das zeigt, dass Ratten unsere Erreger aufnehmen – und möglicherweise zurückgeben können“, so Prof. Ulrich, der im DZIF-Forschungsbereich „Neu auftretende Infektionskrankheiten“ tätig war.
Zudem wurden zahlreiche weitere Bakterien- und Pilzgattungen entdeckt, darunter meist harmlose Kommensalen wie Darmbakterien der Gattungen Lactobacillus oder Ligilactobacillus sowie opportunistische Erreger wie Enterobacter cloacae und Klebsiella aerogenes. Außerdem identifizierte das Team vier neue Virus-Genomsegmente der wenig erforschten Picobirnaviridae-Familie.
Globale Verbreitung, unsichtbare Risiken
Die Studie macht deutlich, dass das Risiko nicht nur in den gefundenen Erregern, sondern auch in dem liegt, was künftig auftreten könnte. Während Ratten früher vor allem per Schiff von Kontinent zu Kontinent gelangten, können sie heute dank des globalen Flugverkehrs in weniger als 24 Stunden von Dubai über Miami nach Berlin reisen und dabei Viren über drei Kontinente hinweg mitbringen.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Ratten nicht nur städtische Schädlinge sind. Sie sollten als aktive Akteure im globalen Netzwerk der Erregerverbreitung angesehen werden“, betont Prof. Ulrich.
Vom Vorfall zur Vorbereitung
Die Studie liefert erstmals eine Blaupause für den Umgang mit Tieren, die an Bord eines Flugzeugs entdeckt werden. Die Empfehlungen umfassen das sofortige Einfangen und Isolieren der Tiere, im Einklang mit Vorgaben von WHO und IATA, sowie einen standardisierten Labor-Workflow für ein umfassendes Erreger-Screening. Damit könnten im Ernstfall – etwa bei einem Hantavirus-Befund – sofort Kontaktverfolgung, Desinfektion und weitere Maßnahmen eingeleitet werden.
Ausblick: Ratten als One Health-Indikatoren
Die Forschenden sehen Ratten als künftig wichtige Indikatoren für die Gesundheit von Ökosystemen. Geplant ist, die Herkunft solcher Tiere durch genetische Analysen nachzuvollziehen. Im vorliegenden Fall zeigte die mitochondriale DNA, dass die Ratte einer weltweiten Linie der Hausratte angehört. Ob sie in Miami oder Dubai zugestiegen war, blieb jedoch unklar.
„Dies war ein Weckruf“, resümiert Prof. Ulrich. „Er zeigte, wie verletzlich unsere vernetzte Welt gegenüber versteckten Erregern ist, aber auch, dass die Wissenschaft praktische Lösungen bereitstellen kann.“
Die Untersuchung wurde von einem Konsortium, an dem das FLI, das Robert Koch-Institut, die Universitätsmedizin Greifswald, die Universität Leipzig, die Universitätsmedizin Göttingen und weitere Partner beteiligt waren, durchgeführt und vom DZIF unterstützt.
Originalpublikation:
Heuser E, Ebinger A, Holtfreter S, Wolf SA, Zautner AE, Ryll R, Drewes S, Matzkeit B, Hoffmann B, Höper D, Keller M, Groseth A, Wilharm G, Mrochen DM, Obiegala A, Doss F, Mehl C, Eisenberg T, Niendorf S, Böttcher S, Karger A, Schröder C, Ehrke-Schulz E, Schmidt K, Beer M, Groschup MH, Semmler T, Heckel G, Pfeffer M, Wylezich C, Ulrich RG. Application of a comprehensive approach to pathogen screening in a stowaway rat on an airplane. Sci Rep. 2025 Aug 30;15(1):31963. doi: 10.1038/s41598-025-13199-6. https://www.nature.com/articles/s41598-025-13199-6

10.09.2025, Universität Ulm
Vom Risikofaktor zum Überlebensvorteil: Tuberkulose beeinflusst Immun-Genetik bei Erdmännchen
Erdmännchen passen sich genetisch an eine artspezifische Form der Tuberkulose an. Das hat ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Universität Ulm in einer Langzeitstudie erstmals nachgewiesen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigen auch, dass der Klimawandel in der Kalahari-Wüste einen zusätzlichen Selektionsdruck auf die Tiere ausübt. Durch das Zusammenspiel von Infektionsdruck und Klimawandel geraten die Erdmännchen zunehmend unter evolutionären Stress. Die Ergebnisse der Studie sind in Nature Ecology Evolution erschienen.
Wie wirken sich Wildtierkrankheiten langfristig auf die Genetik ihrer Wirte aus – und welche Rolle spielt dabei der Klimawandel? Das hat ein Team von Forschenden aus Deutschland, der Schweiz, dem Vereinigten Königreich und Australien unter der Leitung von Professorin Simone Sommer vom Institut für Evolutionsökologie und Naturschutzgenomik der Uni Ulm in einer Langzeitstudie untersucht. Grundlage der Studie waren über zwei Jahrzehnte hinweg gesammelte genetische Daten von mehr als 1500 Erdmännchen, zusammen mit Daten zur Tuberkulose-Verbreitung. Die Forschenden konnten erstmals zeigen, dass die Krankheit die immun-genetische Vielfalt der Tiere verändert. Die Tuberkulose-Infektion, die durch das Bakterium Mycobacterium suricattae verursacht wird, verkürzt die Lebenserwartung der Erdmännchen stark und erschwert ihre Fortpflanzung.
Im Zentrum der Untersuchung stehen die sogenannten MHC-Gene (Major Histocompatibility Complex), die bei der Erkennung von Krankheitserregern und Immunabwehr aller Wirbeltiere eine wichtige Rolle spielen. Die Forschenden machten eine überraschende Entdeckung: Eine bestimmte Genvariante entwickelte sich im Verlauf der Studie vom vermeintlichen Risikofaktor zum Überlebensvorteil. Während diese Variante zunächst häufiger bei infizierten Tieren vorkam, führten Anpassungsprozesse der Wildtiere später zu einem längeren Leben und mehr Nachwuchs – ein deutlicher Hinweis auf dynamische, durch Krankheitserreger ausgelöste Selektionsprozesse. „Unsere Daten zeigen eindrucksvoll, wie Infektionskrankheiten in Echtzeit evolutionäre Veränderungen in Wildtierpopulationen anstoßen können“, erklärt Dr. Nadine Müller-Klein, Erstautorin der Studie und Wissenschaftlerin am Institut für Evolutionsökologie und Naturschutzgenomik. Bisher waren solche Anpassungen vor allem aufgrund von Laborstudien vermutet worden.
Besonders alarmierend: Klimatische Veränderungen, insbesondere steigende Temperaturen und veränderte Regenfälle, verbunden mit Hitzewellen, verstärken die Ausbreitung und das Fortschreiten der Tuberkulose deutlich. Die Ergebnisse unterstreichen die wachsende Bedeutung von Wildtierkrankheiten im Kontext der globalen Klimaerwärmung. „Der Klimawandel verändert nicht nur Lebensräume, sondern auch die Art und Weise, wie Infektionskrankheiten die Gesundheit von Wildtieren beeinflussen“, erklärt der Ulmer Co-Autor Dr. Dominik Melville. „Nahrungsmangel und Hitzestress zehren an den Energiereserven – besonders kritisch wird es, wenn ein Tier bereits geschwächt oder infiziert ist“.
Professorin Simone Sommer ergänzt: „Bereits vor zwanzig Jahren war uns bewusst, dass der Erhalt genetischer Vielfalt für den Artenschutz entscheidend sein wird. Nun erkennen wir, wie besonders die immungenetische Vielfalt eine zentrale Rolle spielt – sie kann die Krankheitsresilienz von Wildtieren im Angesicht des Klimawandels erheblich stärken.“ Für sie zeigt die Studie auch positive Perspektiven. Gleichzeitig warnt die Wildtierökologin: „Die Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit, genetische Vielfalt als integralen Bestandteil moderner Artenschutzstrategien zu berücksichtigen.“
Die Erkenntnisse dieser Studie betreffen nicht nur Erdmännchen. Sie leisten einen bedeutenden Beitrag zur Grundlagenforschung in der Evolutionsbiologie und liefern zugleich wichtige Impulse für Wildtiergesundheits- und Naturschutzstrategien im Zeichen des Klimawandels. Möglich wurde die Untersuchung durch die umfangreiche Datensammlung aus einer der weltweit am besten dokumentierten Wildtierpopulationen im Kuruman River Reservat in der Kalahari und jahrzehntelange Forschung, geleitet von Professorin Marta Manser von der Universität Zürich und Professor Tim Clutton-Brock von der Universität Cambridge.
Die Studie wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (SO 428/15-1, Simone Sommer): „Einfluss von immungenetischer Vielfalt, Darmmikrobiota und sozialen Netzwerken auf die Suszeptibilität und Epidemiologie von Tuberkulosis bei wildlebenden Erdmännchen“.
Originalpublikation:
Müller-Klein N, Risely A, Wilhelm K, Riegel V, Manser M, Clutton-Brock T, Silver L, Santos PSC, Melville DW, Sommer S (2025): Twenty-years of Tuberculosis-driven selection shaped the evolution of meerkat MHC. Nature Ecology & Evolution.
DOI: https://doi.org/10.1038/s41559-025-02837-x

11.09.2025, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Aussterben großer Tiere verändert Pflanzensamen und Wälder
Die Samen, die von Bäumen in den Wäldern Madagaskars hervorgebracht werden, werden kleiner. Neue Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass der Mensch eine nicht unwesentliche Rolle bei dieser Veränderung spielen könnte. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Universität Leipzig haben Daten von mehr als 2.800 Pflanzenarten, 48 lebenden und 15 ausgestorbenen Samenverbreitern zusammengetragen. Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl das in der Vergangenheit vom Menschen verursachte Aussterben fruchtfressender Tiere als auch der heutige anthropogene Druck Spuren an den Pflanzensamen auf der ganzen Insel hinterlassen.
Die Forschenden fanden heraus, dass ein erhöhter menschlicher Fußabdruck (ein kumulativer Index für den Einfluss des Menschen in einem Gebiet) mit kleineren maximalen Samengrößen in Pflanzengemeinschaften verbunden ist. Dieser Einfluss ist sowohl direkt – beispielsweise durch selektive Abholzung von Bäumen mit großen Samen – als auch indirekt, indem große Fruchtfresser (Frugivoren) immer weiter abnehmen, die diese Samen sonst verbreiten würden.
Wenn Frugivoren kleiner werden, bleiben ökologische Geister zurück
Da die Körpergröße fruchtfressender Tiere und die Samengröße zusammenhängen – große Tiere können größere Samen vertilgen und später verbreiten –, kann ein Rückgang großer Tiere auch zu einem Rückgang großer Samen führen und die Samen werden kleiner. „In Madagaskar sehen wir einen sehr starken Rückgang der Körpergröße von Frugivoren. Etwa in den letzten 1000 Jahren sind dort alle Tiere mit einer Körpergröße über 10 kg (die Megafauna) ausgestorben“, sagt Erstautorin Yuanshu Pu, Doktorandin bei iDiv und an der Universität Leipzig. „Wenn es keine großen Frugivoren mehr gibt, kann das zum sekundären Aussterben von Pflanzenarten mit großen Samen führen. Oder die Pflanzen passen sich an die verbleibende Tiergemeinschaft an und bilden kleinere Samen.“
Die Studie zeigt jedoch auch, dass mehrere Pflanzenarten in Madagaskar Samen bilden, die zu groß für alle heute existierenden Frugivoren auf der Insel sind – etwa die madagassische Palmenart Borassus madagascariensis oder Tsebona macrantha, eine Pflanzenart aus der Familie der Sapotengewächse. Diese „ökologischen Geister“ zeugen von Interaktionen mit längst ausgestorbenen Riesenlemuren oder anderen großen Pflanzenfressern. „Bis heute ist nicht klar, wie diese Pflanzen fortbestehen konnten. Möglicherweise haben sie alternative Möglichkeiten zur Verbreitung gefunden, etwa über heute in Madagaskar verbreitete Zebus, Buschschweine, Menschen oder auch das Wasser“, so Yuanshu Pu.
Die Größe der Samen ist entscheidend
Große Samen gehören oft zu Baumarten, die langsam wachsen, lange leben und manchmal eine wichtige Rolle bei der Kohlenstoffspeicherung spielen. Große Bäume fallen jedoch auch besonders häufig dem Menschen zum Opfer, etwa durch Holzeinschlag. Aufgrund des langsamen Wachstums und der langsamen Verjüngungsrate erholen sich die Bestände nur schwer.
Die Samengröße hängt mit vielen Pflanzenmerkmalen zusammen, darunter die Baumgröße, Holzdichte und auch die Lebensdauer – Merkmale, die eng verknüpft sind mit der Waldstruktur und wichtigen Ökosystemfunktionen wie der Kohlenstoffspeicherung. Kleinere Samen könnten daher auch die Veränderung der Waldstruktur und wichtiger Ökosystemleistungen vorantreiben.
„Die Zukunft der Pflanzen und der Tiere, die sie verbreiten, ist eng miteinander verbunden. Der Schutz der Lemuren in Madagaskar – von denen viele Früchte fressen und die Samen von Pflanzen verbreiten – ist daher nicht nur für den Artenschutz wichtig, sondern auch für den Erhalt großsamiger Pflanzen und der wichtigen ökologischen Funktionen, die sie erfüllen“, sagt Seniorautorin Dr. Renske Onstein, Juniorforschungsgruppenleiterin bei iDiv und Leiterin der Forschungsgruppe „Biodiversity Hotspots“ am Naturalis Biodiversity Center.
Originalpublikation:
Yuanshu Pu, Alexander Zizka, Renske E. Onstein (2025). Legacy of the lost and pressure of the present: Malagasy plant seeds retain megafauna dispersal signatures but downsize under human pressure. Ecology Letters, DOI: https://doi.org/10.1111/ele.70205

16.09.2025, Universität Trier
Artenvielfalt in Deutschland nur lokal stabil
Dank eines riesigen Datenschatzes konnten Forschende der Universität Trier neue Erkenntnisse zur Biodiversität in Deutschland gewinnen.
Klimawandel, Umweltverschmutzung und Zerstörung von Lebensräumen setzen der Natur auch in Deutschland schwer zu. Das geht zu Kosten der Artenvielfalt – sollte man meinen. Doch Forschende der Universität Trier kommen nun zu einem differenzierteren Bild, das aber keine Entwarnung bedeutet.
Eine umfassende Analyse von Proben der letzten 40 Jahre ergab, dass die Biodiversität auf lokaler Ebene stabil geblieben ist. Alles in Ordnung also? Leider nein. „Es sind viele Arten aus ihren Ökosystemen verdrängt worden oder regional ausgestorben. Doch sie wurden von neuen, eingewanderten ersetzt, die besser an die Umweltbedingungen angepasst sind“, erläutert Prof. Dr. Henrik Krehenwinkel aus den Umweltbiowissenschaften.
Die Problematik wird beim überregionalen Blick über die Lebensräume sichtbar. Auf dieser größeren Ebene hat die Biodiversität nämlich abgenommen. Die verschiedenen Lebensräume werden sich in der Artenzusammensetzung immer ähnlicher. Bedeutet: Es gibt in Deutschland immer weniger, aber dafür weiter verbreitete Arten.
Einzigartige Umweltprobenbank ermöglicht Erkenntnisse
Zunächst erscheint es erstaunlich, dass diese Erkenntnisse bisher unentdeckt blieben. Die Ursache liegt darin, dass oft nur prominentere Arten wie Pflanzen und Wirbeltiere untersucht werden. Die Trierer Forschenden weiteten das Spektrum aber auf deutlich kleinere Ebenen wie Pilze, Plankton, Algen oder Gliederfüßer aus, von denen sie zehntausende Arten untersucht haben. Diese spielen in der Nahrungskette eine unverzichtbare Rolle.
Möglich machte das eine innovative Verwendung der Umweltprobenbank des Bundes, die vom Umweltbundesamt koordiniert wird. Die Probenbank wurde 1985 zur Erfassung des Zustandes und der Schadstoffbelastung der Umwelt und des Menschen in ganz Deutschland konzipiert. Für die Sammlung der Biotaproben aus Schlüsselregionen in ganz Deutschland ist seit Beginn eine Trierer Projektgruppe zuständig. Dementsprechend viel Erfahrung ist am Standort im Umgang mit den Daten vorhanden.
Die neue Studie untersuchte die tiefgefrorenen Proben nun nicht auf Schadstoffe, sondern machte sich zunutze, dass auf ihnen Rückstände von Umwelt-DNA zu finden sind. Von zwei Muschelarten, drei Baumarten sowie einer Braunalge wurde die sogenannte eDNA, also kleinste Spuren aller möglicher Arten, genommen.
Es entstand eine einzigartige, lückenlose Datenserie, mit der die Forschenden 40 Jahre in die Vergangenheit blicken konnten. So kann die Entwicklung der Biodiversität, beispielswiese auch konkret des Insektensterbens in Deutschland, erstmals überhaupt richtig verstanden werden.
Zukünftige Forschung sollte sich nun vor allem auf die Rolle der gefundenen Arten in ihren jeweiligen Ökosystemen und Nahrungsketten konzentrieren, so Krehenwinkel. Außerdem könnten die Umweltproben als Frühwarnsystem fungieren, um etwa den Rückgang lokaler oder das Aufkommen problematischer invasiver Arten festzustellen.
Originalpublikation:
https://www.nature.com/articles/s41559-025-02812-6

17.09.2025, Deutsche Wildtier Stiftung
Am 22. September ist Herbstanfang: Schlafmäuse sagen jetzt Gute Nacht
Am 22. September ist kalendarischer Herbstanfang. Während wir Menschen uns dann auf bunte Blätter und kühlere Tage mit einer Tasse Tee freuen, haben sich die Schlafmäuse im Wildtierreich schon ordentlich Speck angefuttert. Insekten und fettreiche Baumfrüchte wie Haselnüsse, Bucheckern und Eicheln, aber auch zuckerhaltige Himbeeren und Brombeeren standen für sie ganz oben auf dem Speiseplan. Nun sind die heimischen Bilche – dazu gehören Siebenschläfer, Gartenschläfer, Baumschläfer und Haselmaus – bereit, „Gute Nacht“ zu sagen. Bis zu sieben Monate verbringen sie eingerollt in geschützten Verstecken wie Erdhöhlen, Felsspalten oder Baumstümpfen, manchmal auch in verlassenen Vogelnistkästen.
Alle Bilche sind Meister im Energiesparen: Für sie ist der Winterschlaf eine Überlebensstrategie, denn in der kalten Jahreszeit gibt es schlicht nicht genug Nahrung, um aktiv zu bleiben. Im Energiesparmodus fahren sie ihre Körperfunktionen drastisch herunter, Atmung und Herzschlag verlangsamen sich auf ein Minimum. Gartenschläfer beispielsweise können ihre Körpertemperatur bis auf -1 Grad senken, ihr Herz schlägt dann nur noch zweimal pro Minute. So überstehen die Tiere selbst strenge Wintermonate. „Für die Winterschläfer ist ein ungestörter, sicherer Rückzugsort überlebenswichtig“, sagt Julia-Marie Battermann, Artenschützerin bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Immerhin können Bilche in der freien Wildbahn theoretisch bis zu neun Jahre alt werden. Einige wenige Exemplare des Siebenschläfers erreichen sogar rekordverdächtige 13 Jahre – ein hohes Alter für so ein kleines Nagetier!
Verstecke auf alten Streuobstwiesen, in Reisighaufen oder in Hecken in naturnahen Gärten werden von den Schlafmäusen gern als Unterschlupf genutzt. Wer Laubhaufen oder Reisig liegen lässt und auch die dichte Brombeerhecke nicht beschneidet, schafft wichtige Quartiere für sie. „Bei Gartenarbeiten sollten Gärtnerinnen und Gärtner jetzt Rücksicht nehmen, damit Nester nicht zerstört oder die Tiere geweckt werden. Auch Hunde sollten dringend davon abgehalten werden, unter Hecken oder an Baumwurzeln nach den schlafenden Bilchen zu stöbern“, sagt Battermann. Werden Nester zerstört und die Tiere geweckt, müssen sie den Stoffwechsel mühsam wieder hochfahren – ein Kraftakt, der wertvolle Energiereserven kostet und ihr Überleben während des langen Herbstes und Winters gefährden kann.
Übrigens sind die Bilche (Gliridae) eine der ältesten noch lebenden Nagetierfamilien. Fossile Funde belegen ihr Alter von mehr als 40 Millionen Jahren. „Bilche kletterten also bereits mindestens 30 Millionen Jahre durch die Vegetation, bevor es unsere Vorfahren, die Menschenaffen, gab“, sagt Battermann. Ihre Strategie, den Winter in diesem besonderen Zustand zu verbringen und die lange nahrungslose Zeit so zu überbrücken, hat sie sehr erfolgreich gemacht. Heute jedoch setzen ihnen andere Faktoren zu: Die Zerschneidung der Landschaft, das Insektensterben, der Einsatz von Umweltgiften und forstliche Monokulturen haben dazu geführt, dass beispielsweise der Gartenschläfer auf der Roten Liste der Säugetiere Deutschlands in der Kategorie „stark gefährdet“ eingestuft ist. Die Deutsche Wildtier Stiftung engagiert sich deshalb für den Gartenschläfer im Harz in Sachsen-Anhalt, indem sie mithilfe von Wildkameras das Vorkommen des seltenen Bilchs untersucht. „Ziel ist, im kommenden Jahr den Lebensraum für die Gartenschläfer punktuell so aufzuwerten, dass sie reichlich Nahrung und Unterschlupf finden und sich entlang der gepflanzten Waldränder sicher in weitere Habitate bewegen können“, erklärt Battermann.

17.09.2025, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Vogelgrippe in der Antarktis breitet sich aus
Irena Walinda Abteilung Hochschulkommunikation/Bereich Presse und Information
Forschende der Universität Jena befürchten erhebliche Auswirkungen auf die Vogelpopulationen
Ein Forschungsteam der Universität Jena bestätigt jetzt einen befürchteten Trend: Nachdem im Oktober 2023 das Vogelgrippevirus H5N1 auf der subantarktischen Insel Südgeorgien und nachfolgend im Februar 2024 in der Antarktis, auf James Ross Island, nachgewiesen wurde, dokumentierten die Forschenden um Christina Braun bei ihrer jüngsten Expedition 2025 erstmalig Anzeichen für das Auftreten der hochpathogenen Variante auch auf der Fildes-Halbinsel auf King George Island. Die Forschenden beobachteten eine erhöhte Sterblichkeit bei verschiedenen Seevogelarten.
Einzigartiges Langzeitprojekt seit 1979
Unter Anleitung von Christina Braun, die bereits 15 Forschungsreisen in die Antarktis unternommen hat, führten die Studentinnen Julia Engelhardt und Katharina Engl von Anfang Januar bis Ende Februar 2025 auf der uruguayischen Forschungsstation „Base Cientica Antárctica Artigas“ das Monitoring durch. Seit 1979/80 beobachten deutsche Biologen, und ab 1983 die Arbeitsgruppe Polar- und Ornitho-Ökologie der Universität Jena die Entwicklung von 14 Brutvogelarten in einem 35 km² großen Gebiet. Dazu zählen Zügel-, Adélie- und Eselspinguine sowie Skuas und Riesensturmvögel. Das vom Umweltbundesamt geförderte Projekt gilt weltweit als einzigartige Langzeitstudie. Neben den Populationsdaten von Vögeln und Robben erfassen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch angeschwemmte Abfälle – darunter verbranntes Plastik, Verpackungen oder Fischereireste. In diesem Jahr lag die Dichte bei rund einem Objekt pro Meter Küstenlinie. Das ist ein vergleichsweise hoher Wert für einen Ort, der praktisch nicht von Menschen bewohnt ist.
52 tote Tiere in nur einer Saison
Normalerweise finden die Forschenden nur wenige sogenannte frischtote Tiere im Zeitraum ihrer zwei- bis dreimonatigen Expedition, aber während des letzten Monitorings waren es 52 tote Tiere, mehrheitlich Skuas (Raubmöwen), die Tage beziehungsweise einige Wochen vor ihrem Fund gestorben waren. Forschende vom Alfred-Wegner-Institut in Potsdam und chilenische Kollegen entnahmen und analysierten die Proben teilweise vor Ort und bestätigten den Verdacht auf H5N1.
Das Forschungsteam befürchtet, dass sich das Virus weiter ausbreiten wird, denn die Vögel brüten auf sehr beengtem Gebiet – nur etwa 2 % der antarktischen Fläche sind eisfrei. „Das Gebiet, das wir beobachten, ist sehr klein und vogelreich. Außerdem brüten die antarktischen Vögel typischerweise in Kolonien. Deshalb ist die Ansteckungsgefahr sehr groß. Ist die Mortalitätsrate sehr hoch in einer Population, kann es sein, dass sie komplett zusammenbricht“, so Markus Bernhardt-Römermann vom Institut für Biodiversität, Ökologie und Evolution. Die Forschenden mussten besondere Schutzkleidung tragen, denn die Gefahr einer Übertragung des Virus auf den Menschen besteht. In Chile, Peru und Argentinien sprang H5N1 bereits auf Säugetiere wie Robben, Seelöwen und Seeelefanten über, was 2023 zu einem Massensterben an den dortigen Küsten führte. „Einzelne Infektionen bei Menschen nach direktem Kontakt mit infizierten Vögeln sind ebenfalls dokumentiert. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen also sehr vorsichtig sein und sich selbst schützen,“ erklärt Braun die Situation vor Ort.
Klimawandel verändert Artenzusammensetzung
Die Vogelarten der Antarktis reagieren zudem empfindlich auf die Klimaerwärmung. „Die Artenzusammensetzung verschiebt sich rasant“, erklären die Forschenden. So sind die Kapsturmvögel, die noch vor wenigen Jahren zu Hunderten im Untersuchungsgebiet brüteten, inzwischen praktisch verschwunden. In der aktuellen Saison konnte kein einziges Brutpaar festgestellt werden. Dagegen profitieren Riesensturmvögel sowie Eselspinguine, die ursprünglich subantarktische Regionen bevorzugten, von den veränderten Bedingungen.
Adélie- und Zügelpinguine hingegen gehen stark zurück.
„Wir wissen nicht, ob die Vögel andere Brutgebiete aufsuchen oder tatsächlich verschwinden – es fehlt an vergleichbaren Langzeitdaten anderer Forschungsgruppen“, betont Braun. „Genau deshalb sind kontinuierliche Projekte wie unseres so wichtig.“
Forschung mit Studierenden
Seit Jahren besteht das Team der Polarökologie u. a. aus Studierenden des englischsprachigen Masterstudiengangs Evolution, Ecology and Systematics der Fakultät für Biowissenschaften. Die Studierenden unterstützen zwei bis drei Monate lang die Arbeit vor Ort. Das Team legt täglich rund 15 Kilometer zu Fuß zurück, dokumentiert Vogel- und Robbenbestände und sammelt Müll. „Mit der Arbeit hier auf King George Island bekommen wir Studierenden die einzigartige Möglichkeit verantwortungsvoll Daten und Proben von Tieren aufzunehmen, die kaum in Kontakt mit Menschen kommen und durch die internationale Zusammenarbeit lernen wir mehr über effektive Kommunikation und Koordination in wissenschaftlichen Teams“, berichtet Julia Engelhardt.
Ausblick
Wie sich die Vogelgrippe langfristig auf die antarktische Tierwelt auswirkt, das werden die Jenaer Forschenden und Studierenden auch weiterhin dokumentieren. Bereits im November bricht erneut ein Team aus Jena in die Antarktis auf – das Monitoring wird fortgesetzt.

17.09.2025, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Frühe Bären waren Allesfresser: Dreidimensionale Kieferanalysen enthüllen ihren Speiseplan
Spezielle 3D Formanalysen seiner Kieferknochen zeigen: Der ausgestorbene Bär Ursus minimus, eine der ältesten Bärenarten Europas, hatte ein breites Nahrungsspektrum ohne eine Spezialisierung auf Insekten – anders als bisher angenommen. Er war damit besonders anpassungsfähig an ein wechselndes Nahrungsangebot. SNSB Zoologin Anneke van Heteren veröffentlichte die Ergebnisse ihrer Studie nun in der Fachzeitschrift Boreas.
Ursus minimus – vermutlich der gemeinsame Vorfahr der meisten modernen Bärenarten – lebte vor 4,9 bis ungefähr 1,8 Millionen Jahren, zur Zeit des Pliozäns möglicherweise bis ins frühe Pleistozän, in Europa. Er ist der erste Schwarzbär Europas und damit der älteste bisher bekannte Vertreter der Gattung Ursus, zu der auch heutige Braun- und Eisbären gehören. Bisher gingen Forschende davon aus, dass sich der Ur-Bär hauptsächlich von Insekten ernährte. Eine neue Studie der SNSB-Zoologin Anneke van Heteren zeigt nun ein anderes Bild: Ursus minimus, der sogenannte Auvergne-Bär, war höchstwahrscheinlich ein typischer Allesfresser – ganz ohne spezielle Vorliebe für Insekten. Die Säugetierexpertin verglich für ihre Forschungsarbeit Kiefer von Ursus minimus mit denen anderer moderner sowie früherer Bärenarten mit ganz unterschiedlichen Nahrungsspektren – darunter Spezialisten wie der insektenfressende Malaienbär, der fleischfressende Eisbär oder der rein vegetarisch lebende Panda. Die Kiefer der Bären unterscheiden sich insbesondere in ihrer Biomechanik beim Kauen der Nahrung. Unterschiedliche Öffnungswinkel der Kiefer sowie die Lage der Kaumuskulatur offenbaren die Ernährungsgewohnheiten der Tiere. Die Forscherin aus München nutzte für ihre Studie die sogenannte geometrische Morphometrie. Das ist die Vermessung von Skeletteilen mit Hilfe digitaler Messpunkte, sogenannten Landmarks. Diese 3D-Formanalyse erlaubt es, die Kieferknochen der Bären dreidimensional zu visualisieren und über statistische Verfahren zu vergleichen.
„Als echter Allesfresser war Ursus minimus besonders flexibel und anpassungsfähig und konnte sich leicht auf ein wechselndes Nahrungsangebot einstellen. Diese allgemeine Anpassungsstrategie könnte die Grundlage für die spätere Entwicklung spezialisierter Ernährungsformen bei den Bären sein. Die Erkenntnisse über die Ernährungsgewohnheiten so ursprünglicher Arten wie Ursus minimus liefert neue Zusammenhänge für unser Verständnis der evolutionären Entwicklung der Bären und ihrer Anpassungen an sich verändernde Umweltbedingungen“, erläutert Anneke van Heteren, Kuratorin an der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM) und Autorin der Studie.
Die meisten heute noch lebenden sowie inzwischen ausgestorbenen Bärenarten – mit ihrer gesamten Bandbreite an unterschiedlichen Ernährungsformen – gehen auf den sehr ursprünglichen Ursus minimus zurück.
Originalpublikation:
van Heteren, A.H. (2025), Exploring dietary adaptations in Ursus minimus: a 3D geometric morphometric analysis of the mandible. Boreas. https://doi.org/10.1111/bor.70036

18.09.2025, Georg-August-Universität Göttingen
Artenvielfalt braucht mehr als Blühstreifen
Forschende plädieren für Agrarmaßnahmen und Kooperation auf Landschaftsebene
Blühstreifen zwischen Ackerflächen sind die beliebteste Agrarumweltmaßnahme. Sie locken Blütenbesucher wie Schmetterlinge und Wildbienen an, verschönern das Landschaftsbild und sind schnell angelegt. Das Ziel einer strukturell vielfältigen und damit auch besonders artenreichen Agrarlandschaft wird jedoch verfehlt, wenn es bei Blühstreifen bleibt und weitere Maßnahmen ausbleiben, die verschiedene Lebensräume über die gesamte Landschaft hinweg schaffen und erhalten.
Wie Agrarlandschaften gestaltet sein müssen, sodass sie viele Arten beherbergen und andere sozial-ökologische Funktionen wie Erholung und Klimaschutz gewährleisten, haben Forschende der Abteilung Funktionelle Agrobiodiversität & Agrarökologie der Universität Göttingen in der Fachzeitschrift Biological Conservation beschrieben.
Die landwirtschaftliche Nutzung und Expansion ist die wichtigste Ursache für den globalen Artenschwund. Für mehr Biodiversität in Agrarlandschaften muss es außerhalb der Anbauflächen Lebensräume geben, die zusätzliche Ressourcen bereitstellen. In der Europäischen Union sind einjährige Blühstreifen verbreitet. Sie unterstützen aber nur ein begrenztes Spektrum an Pflanzen- und Tierarten, so die Forschenden.
Der Erhalt von Biodiversität erfordert den Expertinnen und Experten zufolge vielfältige Maßnahmen auf Landschaftsebene: Es braucht unterschiedliche Lebensraumtypen, zum Beispiel Ackerflächen mit einer Vielfalt an Feldfrüchten zusammen mit einjährigen und mehrjährigen Lebensräumen an Land sowie fließenden und stehenden Gewässern. Indem Ackerflächen verkleinert werden, entstehen außerdem mehr Randstrukturen, die Tieren Nahrung, Nistplätze und Rückzugsräume bieten. Unterschiedlich strukturierte Lebensräume können sich im Laufe des Jahres in der Verfügbarkeit von Ressourcen ergänzen, sodass Arten zwischen ihnen wechseln können. So entstehen vielfältige Lebensraumtypen und Lebensgemeinschaften, die weniger vom Aussterben bedroht sind und wichtige Ökosystemleistungen fördern, beispielsweise die Bestäubung von Nutzpflanzen und die biologische Schädlingsbekämpfung.
Agrarumweltprogramme sollten zudem mehr auf Zusammenarbeit innerhalb der Landwirtschaft und mit anderen Akteuren setzen. „Wir brauchen eine stärkere Kooperation aller Interessensgruppen für biodiversitätsfreundliche Agrarlandschaften mit unterschiedlichen Lebensräumen, damit der Artenreichtum unserer Kulturlandschaften wiederhergestellt und erhalten werden kann“, betont Erstautor Prof. Dr. Teja Tscharntke.
Originalpublikation:
Teja Tscharntke et al. Beyond flower strips – restoring biodiversity needs more landscape heterogeneity. Biological Conservation (2025). https://doi.org/10.1016/j.biocon.2025.111474

18.09.2025, Universität Hohenheim
Bienen und andere Bestäuber: So hilft künstliche Intelligenz beim Artenschutz
Forschende der Uni Hohenheim entwickeln ein Kamerasystem, das Bestäuber anhand ihres Flugmusters erkennt. Das Gerät soll Informationen für den Artenschutz liefern.
Sie werden immer seltener: Hummeln, andere Wildbienen und weitere Bestäuber. Bisher mangelt es jedoch an Daten dazu, wie es um die Insektenvielfalt auf unterschiedlichen Flächen steht. Diese Informationen sind allerdings erforderlich, um passende Maßnahmen für den Insektenschutz ergreifen zu können. Ein Grund für diese Daten-Lücken: Gängige Methoden zur Insekten-Erfassung schaden den Tieren häufig nicht nur, sie sind auch mit einem großen Zeit- und Arbeitsaufwand verbunden. Ein Forschungsprojekt der Landesanstalt für Bienenkunde an der Universität Hohenheim in Stuttgart sowie der Hochschulen Niederrhein und Karlsruhe und dem Start-up apic.ai könnte bald ein einfaches Vorabmonitoring ermöglichen: Das interdisziplinäre Team entwickelt derzeit eine Kamera, die Bestäuber mithilfe von KI automatisch über ihr Flugmuster erfassen und klassifizieren kann. Das langfristige Ziel: Die intelligenten Kameras sollen in Zukunft auch über mehrere Tage platziert werden können und so z. B. Informationen über die vorhandene Insektenvielfalt auf städtischen Flächen liefern.
„Von Nistmöglichkeiten bis hin zu speziellen Blühmischungen – die Maßnahmen zum Insektenschutz sind vielfältig. Urbane Räume können ein herrliches Refugium für Wildbienen sein“, sagt Dr. Kirsten Traynor, Leiterin der Landesanstalt für Bienenkunde an der Universität Hohenheim. „Aber um passende Schutzkonzepte zu entwickeln und dem Insektensterben entgegenzuwirken, brauchen wir erst einmal Informationen darüber, wo und wie häufig unterschiedliche Bestäubergruppen noch vorkommen.“
Dabei sei vor allem der Schutz bestäubender Insekten essentiell, ergänzt Leland Gehlen, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Landesanstalt für Bienenkunde der Universität Hohenheim: „Bestäuber wie Hummeln, zahlreiche andere Wildbienenarten, aber auch viele weitere Insektengruppen, wie Schmetterlinge und Schwebfliegen sind essentiell für den Erhalt der Biodiversität – aber auch für die Lebensmittelproduktion.“
„Bisher ist es jedoch sehr zeit- und arbeitsaufwendig, das Insektenvorkommen zu untersuchen, weshalb es an Zahlen und Daten mangelt“, fügt Doktorand Michael Glück hinzu. Die Überwachung einzelner Flächen – das sogenannte Monitoring – erfordere in der Regel den Einsatz mehrerer Insektenkundlerinnen und Insektenkundlern. So würden neben fachkundlichen Beobachtungen auch Fallen zu den gängigen Monitoring-Methoden zählen: „Etabliert haben sich zum Beispiel zeltartige Malaise-Fallen und sogenannte Farbschalen“, sagt der Biologe.
Künstliche Intelligenz erfasst Bestäuber automatisch
Im Projekt BeeVision feilt Dr. Traynors Team deshalb seit über einem Jahr an einer voll automatisierten und insektenschonenden Methode zur Erfassung von Bestäubern. Die Idee: „Statt eines Menschen übernimmt ein KI-System das Monitoring. Dieses erkennt anhand des Flugmusters, welche Bestäubergruppen zu sehen sind“, erklärt Michael Glück.
Hierfür nutzen die Forschenden sogenannte Event-Kameras, die die Bewegungen und Flügelschläge der Insekten aufzeichnen. „Die Kamera nimmt alle Bewegung im Kamerasichtfeld von vier Metern auf. Über diese Aufnahmen läuft anschließend unsere KI. Anhand des Flugmusters ordnet diese das Insekt einer von sechs Bestäuber-Großgruppen zu und klassifiziert es zum Beispiel als eine Hummel oder Schwebfliege.“ Eine genaue Bestimmung sei mit dem System bei vielen Arten nicht möglich. „Hierfür sind übliche Methoden wie Fallen weiterhin unerlässlich.“
BeeVision vereint Expertise aus Data Science, KI und Insektenkunde
Eine besondere Herausforderung sei das Training der KI: „Wir mussten ihr nicht nur beibringen, Bewegungen im Hintergrund auszublenden, wie zum Beispiel im Wind wehende Blätter, sondern auch, einzelne Flugbahnen und Bestäubergruppen voneinander zu unterscheiden“, sagt Leland Gehlen.
Hierfür haben die beiden Mitarbeiter der Bienenkunde zahlreiche Aufnahmen unterschiedlicher Bestäuber angefertigt – vor einem neutralen Hintergrund: „Zunächst haben wir unterschiedliche Bestäuber mit dem Kescher eingefangen. Unsere Kamera haben wir dann mit Blick auf eine Hauswand platziert, vor der wir die Insekten einzeln freigelassen haben. So konnten wir sichergehen, dass nur die Flugbahn und die Flügelschläge des Insekts aufgezeichnet werden“, erklärt Michael Glück.
Inzwischen ist das BeeVision-System sogar in der Lage, die Flugbahnen mehrerer Insekten im Bild zu identifizieren. „Möglich wird all das erst durch unsere Projektpartner: Die Hochschulen Niederrhein und Karlsruhe kümmern sich um die technische Umsetzung – z. B. die Entwicklung der Kameratechnik und das Programmieren der KI“, ergänzt Leland Gehlen.
Kamerasystem könnte langfristiges Monitoring ermöglichen
An einigen Stellen sei ihr System noch nicht ganz ausgereift, sagt Michael Glück: „Unsere BeeVision-Kamera ist z. B. noch nicht in der Lage, die Bestäuber richtig zu zählen.“ Seit dem Start des Projekts im Januar 2024 habe sich jedoch einiges getan: „Diese Kameras werden immer leichter und kompakter. Vor einem Jahr mussten wir noch sehr viel Equipment mit ins Feld nehmen, um Aufnahmen zu machen. Nun benötigen wir lediglich unsere Kamera und ein Notebook.“
Die Entomologen sind zuversichtlich, dass die Kameratechnik in Zukunft zudem erschwinglicher werden und z. B. das mehrtägige Monitoring auf städtischen Flächen ermöglichen könnte: „Viele der bisherigen Monitoring-Methoden bieten Fachleuten lediglich eine Momentaufnahme. Wenn sich die BeeVision-Kameras künftig in größeren Mengen produzieren ließen, könnte man sie über mehrere Tage hinweg von Sonnenaufgang bis -untergang auf einer Fläche aufstellen. So ließe sich zum Beispiel nachvollziehen, welchen Effekt ein Blühstreifen auf die Bestäubervielfalt hat oder ob neue Vertikalflächen im städtischen Bereich die Bestäuberpopulationen anlocken“, sagt Dr. Kirsten Traynor. „Für die Biologie und den Artenschutz wäre das auf jeden Fall ein großer Gewinn.“
HINTERGRUND: Zum Projekt „BeeVision“
Das Projekt BeeVision ist im Januar 2024 in Kooperation mit dem Unternehmen apic.ai, der Hochschule Niederrhein und der Hochschule Karlsruhe mit einer Laufzeit von zwei Jahren gestartet. Gefördert wird das interdisziplinäre Projekt durch die Carl-Zeiss-Stiftung.
Weitere Informationen:
https://bienenkunde.uni-hohenheim.de/beevision

18.09.2025, Veterinärmedizinische Universität Wien
Verhaltensforschung: Riechen Hunde menschliche Angst?
Hunde sind bekannt für ihre Fähigkeit, menschliche Emotionen zu spüren. Aber wie reagieren sie auf den Geruch von Angst? Eine soeben erschienene Studie der Veterinärmedizinischen Universität Wien beleuchtet diese Frage und zeigt, dass Hunde menschliche Angst-Chemosignale wahrnehmen und darauf individuell reagieren – was die bisherige Annahme eines einheitlichen Vermeidungsverhaltens in Frage stellt.
Die von Wissenschafter:innen des Domestication Lab des Konrad-Lorenz-Instituts für Vergleichende Verhaltensforschung (KLIVV) der Vetmeduni durchgeführte Studie untersuchte, wie Hunde in einer kontrollierten Umgebung auf menschliche Angstgerüche reagieren. An der Studie nahmen 61 Hunde teil, die in zwei Gruppen aufgeteilt wurden. Die Versuchsgruppe wurde zwei Zielobjekten ausgesetzt, von denen eines mit menschlichem Angstschweiß und das andere mit einem neutralen menschlichen Geruch versehen war. Die Kontrollgruppe wurde hingegen zwei Zielobjekten mit neutralem menschlichem Geruch ausgesetzt.
Keine einheitliche Vermeidungsreaktion, sondern individuelles Verhalten
Hunde, die dem Angstgeruch ausgesetzt waren, zeigten Verhaltensweisen, die auf Unbehagen oder Zögern hindeuteten, bespielsweise verbrachten sie mehr Zeit in der Nähe des Versuchsleiters, senkten ihre Schwänze und brauchten länger, um sich den Zielen zu nähern. Das auffälligste Ergebnis war jedoch die Variabilität der individuellen Reaktionen. Während einige Hunde zögerten, sich dem Angstgeruch zu nähern, näherten sich andere ihm schneller als dem neutralen Geruch. Dies stellt die gängige Annahme in Frage, dass Hunde eine angeborene Tendenz haben, menschliche Angstgerüche zu vermeiden.
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Hunde von menschlichen Angstgerüchen beeinflusst werden, ihre Reaktionen jedoch alles andere als einheitlich sind“, sagt Studien-Erstautorin Svenja Capitain vom KLIVV der Vetmeduni. „Diese Variabilität könnte durch Faktoren wie Lebenserfahrung, Training oder sogar Rasse beeinflusst werden, allerdings sind weitere Untersuchungen erforderlich, um diese Einflüsse zu bestätigen.“ Interessanterweise fand die Studie keine signifikanten Auswirkungen von Alter oder Geschlecht auf die Reaktionen der Hunde, was mit früheren Untersuchungen übereinstimmt.
Wichtige Erkenntnisse für Therapiehunde, menschliche Interaktion und die Ausbildung von Hunden
Die Ergebnisse der Studie könnten praktische Auswirkungen auf die Hundeausbildung, die Auswahl von Therapiehunden und die Verbesserung der Interaktion zwischen Mensch und Hund haben. Das Verständnis, warum manche Hunde sich Angstgerüchen nähern, während andere sie meiden, könnte dazu beitragen, das Wohlbefinden von Hunden zu verbessern, Stress zu reduzieren und sogar potenzielle Sicherheitsprobleme zu vermeiden, wie z. B. aggressive Reaktionen auf ängstliche Personen.
„Unsere Forschungsarbeit unterstreicht, wie wichtig es ist, individuelle Unterschiede im Verhalten von Hunden zu betrachten“, betont Svenja Capitain. „Indem wir uns von der Annahme der Gleichförmigkeit lösen, können wir unsere vierbeinigen Begleiter besser verstehen und dabei unterstützen, sich in der Welt der Menschen zurechtzufinden.“ Die Forscherinnen hoffen, dass zukünftige Studien die Rolle von Lebenserfahrungen, Training und Rasse bei der Prägung der Reaktionen von Hunden auf menschliche Angst-Chemosignale untersuchen werden. Sie schlagen außerdem vor, der Frage nachzugehen, wie Umweltfaktoren – beispielsweise vertraute gegenüber unbekannten Orten – diese Reaktionen beeinflussen könnten.
Originalpublikation:
Der Artikel „Not just avoidance: Dogs show subtle individual differences in reacting to human fear chemosignals“ von Svenja Capitain, Friederike Range und Sarah Marshall-Pescini wurde in „Frontiers in Veterinary Science“ veröffentlicht.
https://www.frontiersin.org/journals/veterinary-science/articles/10.3389/fvets.2…

22.09.2025, Universität Wien
Hummeln bestäuben Lindenblüten seit 24 Millionen Jahren
Fossilien belegen uralte Bestäuber-Pflanzen-Interaktion
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung des Departments für Botanik und Biodiversitätsforschung an der Universität Wien, hat eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht: In 24 Millionen Jahre alten Sedimenten der Fossil-Lagerstätte Enspel (Rheinland-Pfalz, Deutschland) wurden sowohl fossile Lindenblüten als auch fossile Hummeln gefunden – samt Nachweis ihrer Interaktion durch erhaltene Pollenkörner. Diese Erkenntnisse zeigen, dass Hummeln bereits vor Millionen Jahren zu den wichtigsten Bestäubern der Linde gehörten – so wie auch heute noch. Angesichts des aktuellen globalen Insektensterbens und des Rückgangs von Bestäubern wie Wildbienen wird es immer wichtiger, die Ursprünge und die Entwicklung der Blütenbestäubung zu verstehen. Die Ergebnisse der Studie erscheinen im Fachjournal New Phytologist.
„Wir haben Hunderte, gar Tausende, fossile Blüten und Insekten auf Pollen untersucht, in der Hoffnung einen Einblick in die Evolution von Blüten, Blütenbesucher und Bestäubung zu gewinnen“, erklärt Friðgeir Grímsson, Projektleiter und Letztautor in der Abteilung für Strukturelle und Funktionelle Botanik der Universität Wien.
Alte Fossilien – neue Methoden
Diese mikroskopisch kleinen Pollenkörner wurden mithilfe von UV- und Blaulicht sichtbar gemacht und anschließend mit einer sehr kleinen und feinen Nadel minimalinvasiv, einzeln oder in Klumpen, aus Blüten oder dem Haarkleid der Insekten entnommen. Nach der vorsichtigen Reinigung der Pollenkörner erfolgte die Analyse mittels hochauflösender Licht- und Elektronenmikroskopie. Das Ergebnis der Pollenstudie: Einige der untersuchten Blüten stammen von der Linde, und zahlreiche Hummeln hatten Lindenblüten besucht, bevor sie in einem ehemaligen Vulkankratersee ein Ende gefunden hatten und zu Fossilien wurden.
Drei neue Arten beschrieben
„Die neu entdeckten Lindenblüten wurden auf den Namen Tilia magnasepala getauft, also die Linde mit den großen Kelchblättern,“ erklärt Christian Geier, Erstautor und Doktorand von der Abteilung für Strukturelle und Funktionelle Botanik der Universität Wien. Auch zwei neue Hummelarten wurden benannt: Bombus (Kronobombus) messegus und Bombus (Timebombus) paleocrater. Ihre Namen verweisen auf deren hohes Alter, deren morphologischen Merkmalen und auf den Fundort. Gefunden wurden die Fossilien im Rahmen von Ausgrabungen in den Seesedimenten des ehemaligen Vulkansees bei Enspel in Rheinland-Pfalz.
Erstmals fossile Blüten und ihre Bestäuber aus denselben Sedimenten beschrieben
Die beschriebenen Lindenblüten sind die ersten ihrer Art vom Europäischen Kontinent, die nach palynologischen Kriterien – also der Wissenschaft des Pollens – erfasst und beschrieben wurden. Die fossilen Hummeln gehören zu den ältesten Vertretern ihrer Gattung, nur eine Art aus Colorado (USA) ist älter. „Dies ist das weltweit erste Mal, dass eine fossile Blüte und ihre bestäubenden Bienen aus denselben Sedimenten beschrieben und mithilfe von Pollen direkt miteinander verknüpft werden konnten. Diese Art der Forschung hat großes Potential unser Wissen über Bestäuber der Vergangenheit zu beleuchten“, fasst Geier zusammen.
Von der Vergangenheit für die Zukunft lernen
Der Fossilbericht liefert Einblicke in dynamische Entwicklungen der Vergangenheit: Veränderungen durch Klimawechsel, Artensterben und evolutionäre Anpassungen.
Die Analyse fossiler Tier- und Pflanzengruppen erlaubt Rückschlüsse auf ihr Verhalten und ihrer Reaktionen auf Umweltveränderungen. „In unserer Studie konnten wir bei den untersuchten Hummeln eine gewisse Blütentreu erkennen. Das heißt, dass sie innerhalb eines Fluges nur eine Art von Pflanze besuchen“, erklärt Geier. „Erkenntnisse wie diese sind wichtig, um das feine Zusammenspiel und die Widerstandsfähigkeit heutiger Ökosysteme besser zu verstehen.“
Die Studie wurde unter Leitung der Universität Wien in Zusammenarbeit mit Expert*innen aus Deutschland (Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum und Hessisches Landesmuseum Darmstadt) und den USA (American Museum of Natural History) durchgeführt und erfolgte im Rahmen des FWF-Projektes „Korreliert in-situ Pollen fossiler Blüten mit Insekten?/Flower Power: can in-situ pollen link fossil plants to floral visitors? (FWF-Projekt P 34303-B)“.
Originalpublikation:
Christian Geier, Michael S. Engel, Johannes M. Bouchal, Silvia Ulrich, Jürg Schönenberger, Dieter Uhl, Torsten Wappler, Sonja Wedmann, Loup Boudet, Friðgeir Grímsson: 24 million years of pollination interaction between European linden flowers and bumble bees. In New Phytologist, 2025.
DOI: 10.1111/nph.70531
https://nph.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/nph.70531

23.09.2025, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ
Grünlandschmetterlinge – wichtige Indikatoren für den Zustand der Natur
Ein Ziel der 2024 in Kraft getretene EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur ist es, den Artenschwund zu stoppen und wichtige Ökosystemleistungen von Agrarlandschaften zu erhalten. Unter Federführung des UFZ wurde nun ein Index der Grünlandschmetterlinge für Deutschland berechnet – ein in der EU-Verordnung vorgeschlagener Indikator für den Zustand der Biodiversität. Die in Nature Conservation veröffentlichten Ergebnisse zeigen vor allem für die letzten Jahre einen negativen Trend. Für ihre Berechnungen konnten die Forschenden auf die 4 Millionen Beobachtungsdaten zurückgreifen, die in den letzten 20 Jahren im Rahmen des „Tagfalter-Monitoring Deutschland“ am UFZ gesammelt wurden.
Landwirtschaftlich genutzte Landschaften gehören zu den weltweit am stärksten degradierten Lebensräumen. Ihre Wiederherstellung gehört zu den zentralen Maßnahmen, um den weltweiten Verlust der Artenvielfalt zu stoppen und wichtige Ökosystemleistungen zu erhalten. „Die im Jahr 2024 in Kraft getretene Verordnung zur Wiederherstellung der Natur (WVO) ist ein wesentliches Instrument, um die für die Europäische Union formulierten Wiederherstellungsziele zu erreichen“, sagt Prof. Josef Settele, Agrarökologe am UFZ. Die Ziele beinhalten auch, die biologische Vielfalt in landwirtschaftlichen Ökosystemen zu erhöhen (Artikel 11 der WVO) und dabei dem Klimawandel, den Bedürfnissen ländlicher Gebiete und der nachhaltigen landwirtschaftlichen Produktion Rechnung zu tragen. Zur Umsetzung der Ziele insgesamt sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, nationale Wiederherstellungspläne zu entwickeln und konkrete Maßnahmen in terrestrischen, Süßwasser-, Küsten- und Meereslebensräumen zu realisieren.
Inwieweit die konkreten Maßnahmen dann greifen und sich die Ökosysteme positiv entwickeln, soll anhand sogenannter Indikatoren ermittelt werden. Diese sind für die Agrarlandschaften (a) der Index der Grünlandschmetterlinge, (b) der Vorrat an organischem Kohlenstoff in Ackerböden und (c) der Anteil landwirtschaftlicher Flächen mit Landschaftselementen mit großer Vielfalt. Für mindestens zwei von drei dieser Indikatoren fordert die EU-Verordnung bis 2030 einen Aufwärtstrend hin zu einem zufriedenstellenden Niveau. Da sich die natürlichen Gegebenheiten in den EU-Ländern unterscheiden und es ein breites Spektrum unterschiedlicher Landbewirtschaftung gibt, plädiert Josef Settele dafür, dass alle EU-Länder mit der Erfassung aller drei Indikatoren starten und nicht einer davon verfrüht unter den Tisch fällt.
Mit dem „Index der Grünlandschmetterlinge“ hat jetzt ein Forschungsteam unter Leitung des UFZ erstmalig einen der drei Indikatoren für Deutschland berechnet und die Ergebnisse im Fachmagazin Nature Conservation veröffentlicht. Dazu griffen die Forscher:innen auf Daten des Tagfalter-Monitoring Deutschland (TMD) zurück. Das TMD ist ein langfristig angelegtes Programm, das vom UFZ und der Gesellschaft für Schmetterlingsschutz (GfS) koordiniert wird. Jede Woche im Sommer zählen Ehrenamtliche nach einer europaweit standardisierten Methode Tagfalter an fixen Orten. „Auf diese Weise sind seit dem Start des TMD im Jahr 2005 circa vier Millionen Datensätze zusammengekommen, die Aufschluss über die Entwicklung der Tagfalterbestände in Deutschland geben“, erläutert eine der Mitautor:innen der Publikation, Biologin Elisabeth Kühn, die das Tagfalter-Monitoring Deutschland am UFZ koordiniert.
Was zeigt der Index für Deutschland?
Der „Index der Grünlandschmetterlinge“ bildet von 2006 bis 2023 die Entwicklung der Bestände von 15 Tagfalterarten ab, die als typische Bewohner verschiedener Grünlandbiotope gelten. „Vier Arten haben zugenommen, fünf Arten weisen einen abnehmenden Trend auf. Für sechs Arten ist der Trend unsicher, was wahrscheinlich auf zu wenige Daten und große Unterschiede zwischen den Fundorten zurückzuführen ist“, sagt der Erstautor der Studie, Bioinformatiker Alexander Harpke.
Im ersten Jahrzehnt des analysierten Zeitraums (2006 bis 2016) zeigt der Index für Deutschland insgesamt einen leicht positiven Trend – was nicht ausschließt, dass dieser für einzelne Arten sehr unterschiedlich ist.
Betrachtet man hingegen nur die letzten Jahre (2016 bis 2023), so zeigt der Index insgesamt einen deutlichen Rückgang. Der betrifft vor allem spezialisierte, anspruchsvolle Arten, wie z.B. den Zwergbläuling (Cupido minimus) oder den Dunklen Dickkopffalter (Erynnis tages); Generalisten wie der Kleine Feuerfalter (Lycaena phlaeas) oder das Große Ochsenauge (Maniola jurtina) sind dagegen kaum betroffen.
Diese Ergebnisse zeigen, dass der Trend der Grünlandschmetterlinge in Deutschland im Vergleichszeitraum dem Trend auf europäischer Ebene entspricht, der von der Organisation Butterfly Conservation Europe zuletzt 2025 für alle 27 Mitgliedsstaaten ermittelt wurde.
Tagfalter als Indikatoren
Tagfalter sind dafür bekannt, dass sie empfindlich auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren. Dabei spielt die Landnutzung eine entscheidende Rolle. „Der Verlust und die Zerschneidung von Lebensräumen haben einen nachweislich negativen Effekt auf das langfristige Überleben von Tagfalter-Populationen. Intensive Mahd, Stickstoffeinträge und Pestizide tragen zu einer Verschlechterung der Lebensraumqualität oder einer erhöhten Mortalität bei. Arten, die auf spezielle Lebensräume des Offenlandes, z. B. Magerrasen, angewiesen sind, leiden zudem unter ausbleibender Nutzung, z. B. durch Beweidung oder Mahd“ erklärt Prof. Thomas Schmitt vom Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut (SDEI) in Müncheberg und ebenso Co-Autor der Studie. Neben der Landnutzung trägt der Klimawandel immer stärker zu einer Veränderung der Tagfalterfauna bei. Höhere Temperaturen begünstigen die Ausbreitung wärmeliebender Arten, während an kühlere Bedingungen angepasste Arten rückläufig sind.
Diese Abhängigkeiten der Tagfalter von Landnutzung und Klimawandel machen sie zu hervorragenden Gradmessern für den Zustand unserer Ökosysteme. Hinzu kommt ihre gute Erfassbarkeit – insbesondere auch durch qualifizierte Ehrenamtliche. Beides zusammen hat im Falle des Tagfalter-Monitoring Deutschland eine unschätzbare Datenbasis geliefert, die die Wissenschaftler:innen jetzt auswerten und Trends und Indikatoren für die Berichterstattung im Rahmen der europäischen Umweltgesetzgebung berechnen. „Dabei ließe sich sowohl die Aussagekraft als auch die Repräsentativität des Indikators noch steigern, wenn staatliche Programme, wie das FFH-Monitoring oder das bundesweite Insektenmonitoring in die Analyse integriert würden“, sagt UFZ-Biologe und Mitautor der Publikation Dr. Martin Musche. Das Gleiche gelte, wenn Daten aus Nachbarländern einbezogen würden.
Die Arbeiten zu dieser Publikation wurden durch das UFZ und die GfS sowie im Rahmen des Projektes FAMos durch das Nationale Monitoringzentrum zur Biodiversität bzw. durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Klimaschutz, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMUKN) gefördert.
Originalpublikation:
Harpke A, Kühn E, Schmitt T, Settele J, Musche M (2025) The Grassland Butterfly Index for Germany. Nature Conservation 59: 315–334. https://doi.org/10.3897/natureconservation.59.162812

23.09.2025, Universität Greifswald
Schwarze Witwen locken Männchen mit „Käsefuß“-Geruch
Schwarze Witwen (Latrodectus hesperus) setzen bei der Partnersuche auf eine einzigartige Duftstrategie, so eine neue Forschungsstudie von Greifswalder und kanadischen Forscher*innen. Ein chemisches Pheromon zerfällt langsam auf dem Netz der Weibchen zu einem wochenlang wirkenden Lockstoff, der Männchen anzieht und ihr Balzverhalten steuert.
Die Studie, die im Journal of Chemical Ecology https://link.springer.com/article/10.1007/s10886-025-01590-6 2025 erschien, zeigt einen mehrstufigen und strategisch aufgebauten Spinnenflirt. Anders als viele Insekten, die ihre Pheromone nur zu bestimmten Zeiten abgeben, nutzen die Witwenspinnenweibchen ihr Netz als einen Langzeit-Duftsender. Die Pheromon-Komponenten auf dem Netz haben dabei eine Doppelfunktion: Bei direktem Kontakt lösen sie bei den Männchen ein charakteristisches Werbeverhalten aus. Gleichzeitig zerfallen diese Geschmackstoffe langsam und setzen dabei einen Duftlockstoff frei, der uns Menschen an „Käsesocken“ erinnert. Doch Spinnenmännchen finden den Duft höchst anziehend und fühlen sich aus der Distanz angelockt. Erstautor Dr. Andreas Fischer von der Universität Greifswald sagt: „Besonders spannend fand ich an den Ergebnissen, dass die Weibchen die Intensität der Duftsignale an die Jahreszeit anpassen. Sie sind zwar das ganze Jahr attraktiv, doch am meisten, wenn die meisten Männchen auf der Suche nach einer Partnerin sind.“ Bevor Fischer in Greifswald forschte, war er in Kanada an der Simon Fraser University tätig.
Im Labor analysierte das Team die Netze der Schwarzen Witwe chemisch und identifizierte die Botenstoffe. Ergänzend führten die Forschenden Verhaltensversuche mit männlichen Spinnen auf speziellen Testapparaturen durch. An einem Strand konnte in Feldexperimenten belegt werden, dass der synthetische Duftstoff die Männchen auch in der Natur anlockt. Die monatlichen Messungen einer einjährigen Feldstudie zeigten deutlich auf, dass Weibchen ihre Attraktivität an die Jahreszeiten anpassen und wahrscheinlich die Tageslänge sie über die bevorstehende Paarungszeit informiert.
„Die Schwarzen Witwen beweisen erstaunliche Raffinesse in der Kommunikation: Mit einem komplexen chemischen Zusammenspiel von Geschmack- und Geruchsstoffen erhöhen die Weibchen ihre Chancen auf eine erfolgreiche Paarung erheblich“, sagt der Biologe Andreas Fischer.
Weitere Informationen
Publikation: Fischer, A., Fischer, A.J., Gries, R. et al. Identification and Seasonal Abundance of Web- and Air-Borne Sex Pheromone Components of Western Black Widow Spiders, Latrodectus hesperus. J Chem Ecol 51, 36 (2025). https://doi.org/10.1007/s10886-025-01590-6

22.09.2025, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Ein Rezept aus zwei Epochen: Wie Nadelbäume Borkenkäfer abwehren
Nadelbäume schützen sich mit Harz. Dieses enthält Diterpene als Abwehrstoffe gegen Schädlinge. Forschende am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie und der Iowa State University zeigen, dass einige dieser Diterpene bereits vor der Evolution der Nadelbäume existierten, während sich andere erst später in verschiedenen Baumarten unabhängig voneinander entwickelten – vermutlich zum Schutz vor Borkenkäfern. Ein wichtiger Faktor dafür ist der als „Epistase” bezeichnete Mechanismus, demzufolge frühere genetische Veränderungen den Weg für neue Merkmale ebnen. Die Erkenntnisse vertiefen das Verständnis der pflanzlichen Abwehr und können zu einem nachhaltigeren Pflanzenschutz beitragen.
Auf den Punkt:
• Nadelbäume schützen sich mit Harz gegen Fraßschädlinge. Dieses enthält unter anderem Diterpene als Abwehrstoffe.
• Ein Teil dieser Diterpene entstand bereits vor über 300 Millionen Jahren, also lange bevor sich die Nadelbäume entwickelten. Andere Diterpene entwickelten sich erst viel später unabhängig voneinander in verschiedenen Baumarten, vermutlich zum Schutz vor Borkenkäfern.
• Diese wiederholte Evolution war nur möglich, weil Enzyme, die Diterpene produzieren, zuvor Veränderungen durchlaufen hatten, die den Weg für die Evolution bestimmter Substanzen freimachten. Dies basiert auf einem Mechanismus mit der Bezeichnung „Epistase”, der in bestimmten Fällen die Entwicklung neuer Eigenschaften ermöglicht, sobald vorbereitende Veränderungen bereits stattgefunden haben.
• Die Erkenntnisse geben Einblick in die Mechanismen der Evolution der Abwehr von Nadelbäumen und könnten helfen, den natürlichen Pflanzenschutz besser zu verstehen und zu nutzen.
Nadelbäume wie Kiefern, Fichten und Tannen produzieren ein klebriges Harz, das den Baum vor Insekten und Krankheitserregern schützt. Wichtige Bestandteile dieses Harzes sind Diterpene – spezielle natürliche Substanzen, die Borkenkäfer und Pilze abwehren können. Die Enzyme, die diese Verbindungen herstellen, heißen Diterpensynthasen.
Ein Forschungsteam vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena und der Iowa State University in Ames, Iowa, USA, wollte herausfinden, ob diese Enzyme in der fernen Vergangenheit einmal entstanden sind oder sich in jüngerer Zeit mehrfach unabhängig voneinander in verschiedenen Nadelbäumen entwickelt haben.
„Diterpensynthasen sind spannende Enzyme, weil schon kleine Veränderungen in ihrer
Bauweise dazu führen, dass sie unterschiedliche chemische Produkte erzeugen. Sie eignen sich deshalb hervorragend, um zu untersuchen, wie Pflanzen im Laufe der Evolution diese enorme Vielfalt an Abwehrstoffen hervorbringen konnten“, erklärt Erstautor Andrew O’Donnell aus der Abteilung Biochemie den Ausgangspunkt der Untersuchungen.
Reise in die Vergangenheit der Enzyme
Um die Entwicklungsgeschichte dieser Enzyme zu entschlüsseln, rekonstruierte das Team mithilfe genetischer Analysen die wahrscheinlichen Vorfahren der Diterpensynthasen und untersuchte sie im Labor. Diese rekonstruierten Enzyme wurden gezielt verändert, um zu sehen, wie sich ihre Produkte dadurch änderten. „Um herauszufinden, welche Produkte ein Enzym herstellt, haben wir dessen genetischen Bauplan in Bakterien eingebracht. Die Bakterien produzierten dann das Enzym für uns. Dieses Enzym haben wir isoliert, passende Ausgangsstoffe hinzugegeben und die entstehenden Produkte mithilfe moderner Analysemethoden genau analysiert“, erläutert Axel Schmidt, Leiter der Projektgruppe Abwehr von Nadelbäumen, die Vorgehensweise.
Zur Bestimmung des Alters bestimmter Ur-Enzyme mussten die Forscher die Sequenzen zahlreicher Diterpensynthasen sowie die evolutionären Beziehungen zwischen Nadelbaumarten berücksichtigen. Das Ergebnis: Einige Diterpene im Harz heutiger Nadelbäume entstanden bereits vor 300 Millionen Jahren – lange bevor es Kiefern, Fichten oder Tannen in ihrer heutigen Form gab. Andere wichtige Diterpene entwickelten sich dagegen erst in jüngerer Zeit – und dann gleich mehrfach unabhängig in verschiedenen Baumarten.
Warum Evolution manchmal lange dauert
Das weckte die Frage, warum sich manche dieser Verbindungen erst so spät entwickeln konnten – und dabei in unterschiedlichen Baumarten dennoch zu ähnlichen Ergebnissen führten. Eine zentrale Rolle spielte dabei ein genetischer Mechanismus namens Epistase: Neue Eigenschaften können oft nur entstehen, wenn andere Veränderungen zuvor bereits aufgetreten sind. „Das Potential der Pflanzen, bestimmte Stoffe zu entwickeln, nahm über Millionen Jahre zunächst nur langsam zu – und stieg dann sprunghaft an, nachdem sich die Nadelbäume von anderen Pflanzen abgespalten hatten. Das könnte erklären, warum manche Pflanzengruppen dieselben Eigenschaften immer wieder neu entwickeln können“, so Andrew O’Donnell.
Schutz vor Borkenkäfern
Heute ist das Harz von Nadelbäumen eine Mischung aus uralten und jüngeren Diterpenen. Die jüngeren Abwehrstoffe könnten in einer Zeit entstanden sein, als Borkenkäfer bereits existierten – fossile Funde stützen diese Vermutung. Kiefern, Fichten und Tannen entwickelten vermutlich unabhängig voneinander die gleichen Diterpene als Abwehr gegen diese Schädlinge, auch wenn sie dabei unterschiedliche evolutionäre Wege gingen.
Diese besondere Mischung aus uralten und jüngeren Abwehrstoffen könnte eine wichtige Rolle dabei spielen, wie gut Bäume heutigen Schädlingen widerstehen – etwa den Borkenkäfern. „Wie schnell sich ein Baum an neue Herausforderungen wie den Angriff von Borkenkäfern anpassen kann, hängt auch davon ab, welche Veränderungen im Stoffwechsel bereits im Laufe der Evolution stattgefunden haben. Diese Vorgeschichte bestimmt mit, welche neuen Eigenschaften überhaupt entstehen können – und damit, wie gut sich die Pflanze anpasst“, erklärt Jonathan Gershenzon, Leiter der Abteilung Biochemie.
Die Forschenden wollen nun genauer untersuchen, wie die Evolution von Diterpenen und Diterpensynthasen Einfluss auf die Fähigkeit von Bäumen genommen hat, sich heute sowohl gegen Borkenkäfer als auch gegen die mit ihnen assoziierten Pilzarten zu verteidigen. Vermutlich kommt es gerade auf die Kombination verschiedener Stoffe an, um die effektivste Abwehr gegen die doppelte Bedrohung von Käfer und Pilz zu erreichen.
Originalpublikation:
O’Donnell, A. J., Pellatz, P. J., Nichols, C. S., Gershenzon, J., Peters, R. J., Schmidt, A. (2025). Favorable epistasis in ancestral diterpene synthases promoted convergent evolution of a resin acid precursor in conifers. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (122), e2510962122, doi: 10.1073/pnas.2510962122
https://doi.org/10.1073/pnas.2510962122

24.09.2025, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Sind wir einzigartig? Neues Konzept beleuchtet, wie Lebewesen die Erde formen – von der Urzeit bis heute
Ein internationales Team um Senckenberg-Forscher Prof. Dr. Simon Darroch hat einen neuen Ansatz vorgestellt, um zu verstehen, wie Lebewesen ihre Umwelt grundlegend verändern – und was sich daraus für die Rolle des heutigen Menschen ableiten lässt. Das Konzept des „Earth System Engineering“ umfasst biologische Prozesse, die nicht nur lokal Lebensräume verändern, sondern zentrale Teile des Erdsystems – etwa die Atmosphäre, Ozeane und Böden – nachhaltig beeinflussen und Spuren über Millionen Jahre hinterlassen. Mit dem neuen Ansatz lassen sich heutige Entwicklungen mit Belegen aus der Fossilüberlieferung verknüpfen, um so die „Großfolgen“ des Lebens systematisch zu untersuchen.
Unser Planet ist ständig in Veränderung. Seit der Entstehung des Lebens vor etwa 3,5 Milliarden Jahren wird die Erde von verschiedensten Lebewesen beeinflusst und gestaltet – lokal und zeitlich begrenzt wie beim Dammbau eines Biebers oder in großem Maßstab und mit Auswirkungen über lange Zeiträume hinweg. Mit den Eingriffen des modernen Menschen scheint die Umgestaltung einen nie dagewesenen Höhepunkt erreicht zu haben. Aber stimmt das? Um dieser Frage systematisch auf den Grund zu gehen, hat ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Simon Darroch vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt einen neuen Ansatz entwickelt, um verschiedene Arten des „Bio-Engineerings“ im Laufe der gesamten Erdgeschichte zu untersuchen.
Die neu erschienene Studie unterscheidet zwischen klassischem „Ecosystem Engineering“ (EE) – hierbei verändern einzelne Arten lokal die Verteilung wichtiger Ressourcen und schaffen damit Lebensräume – und dem neuen Konzept des „Earth System Engineering“ (ESE), dessen Effekte global wirken und sehr lange anhalten.
„Wir schlagen den Begriff ‚Earth System Engineering‘ vor, um biologische Prozesse zu fassen, die die Funktionsweise der Erde als Ganzes verändern – chemisch, physikalisch oder klimatisch“, erklärt Paläontologe Darroch. „Solche Entwicklungen hat es in der Erdgeschichte immer wieder gegeben. Durch die Fotosynthese erhöhte sich beispielsweise vor 2,4 Milliarden Jahren der Sauerstoffgehalt der Luft und schuf damit Voraussetzungen für komplexes Leben. Riffe speichern Kohlendioxid und wirken so auf den globalen Kohlenstoffkreislauf. Und die Ausbreitung dichter Wälder veränderte durch ihren Einfluss auf die Rückstrahlung von Sonnenlicht – den sogenannten Albedo-Effekt – nachhaltig das Klima des Planeten. Solche Prozesse reichen über die Lebenszeit der jeweiligen Organismen hinaus und können weit entfernte Ökosysteme betreffen.“
Der neue Ansatz erlaubt es den Forschenden, Beobachtungen aus der Gegenwart mit Belegen aus der Fossilüberlieferung zu verbinden und so die gesamte Erdgeschichte in den Blick zu nehmen. „Wir möchten das Konzept nutzen, um etwa die Frage zu klären, ob solche einschneidenden Umgestaltungen in Clustern auftreten und ob sich ihre Folgen voraussagen lassen,“ berichtet Prof. Dr. S. Kathleen Lyons von der University of Nebraska-Lincoln (USA), Letztautorin der Studie.
Besonders im Fokus steht dabei die Rolle des modernen Menschen. „Viele menschliche Eingriffe – von der Nutzung fossiler Energieträger bis zur industriellen Landwirtschaft – haben globale und langfristige Auswirkungen. Die Klimaerwärmung und das weltweite Artensterben sind offensichtliche und gravierende Folgen unseres ‚Earth System Engineering‘,“ ergänzt Co-Autorin Prof. Dr. Alycia L. Stigall von der University of Tennessee, Knoxville (USA).
„Die zentrale Frage ist: Sind die heutigen vom Menschen ausgelösten Effekte wirklich einzigartig – oder gibt es Parallelen in der Erdgeschichte? Und was können wir aus ihnen lernen?,“ so Darroch und schließt: „Im Fossilbefund finden wir zum Beispiel Hinweise auf Phasen, in denen ESE-Prozesse geschwächt oder unterbrochen wurden, etwa nach Massenaussterben. Solche Erkenntnisse sind angesichts der aktuellen Biodiversitätskrise natürlich besonders relevant. Die Beantwortung dieser Fragen kann helfen, die langfristigen Folgen unseres Handelns im Anthropozän besser zu verstehen.“
Originalpublikation:
Darroch, Simon A.F. et al., Earth system engineers’ and the cumulative impact of organisms in deep time, Trends in Ecology & Evolution
https://doi.org/10.1016/j.tree.2025.08.005

24.09.2025, Universität Bielefeld
Stadt-Eidechsen sind überraschend gesellig
Studie der Universität zeigt, wie Urbanisierung Mauereidechsen verändert.
Straßen, Mauern, Beton, die Stadt wirkt wie ein unwirtlicher Lebensraum. Doch manche Tiere kommen erstaunlich gut mit ihr zurecht. Die neue Studie „City lizards are more social“ (Stadt-Eidechsen sind geselliger) im Fachmagazin Biology Letters zeigt: Mauereidechsen (Podarcis muralis) verhalten sich in Städten deutlich geselliger als auf dem Land. Das Forschungsteam um Erstautorin Avery Maune von der Universität Bielefeld untersuchte Populationen in Kroatien, mit überraschendem Ergebnis.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Mauereidechsen in Städten deutlich mehr Kontakte pflegen und stabilere Bindungen aufbauen als ihre Artgenossen in naturnahen Gebieten“, sagt Maune, Doktorandin in der Arbeitsgruppe von Professorin Barbara Caspers an der Fakultät für Biologie. „Das ist bemerkenswert, weil diese Eidechsen normalerweise sehr territorial sind und sich eher aus dem Weg gehen.“
Stadtstrukturen fördern Nähe
Um die sozialen Muster sichtbar zu machen, nutzte das Team eine Sozialnetzwerkanalyse, ein Verfahren, das normalerweise in der Verhaltensforschung zum Einsatz kommt. Die Daten zeigten: In urbanen Lebensräumen bildeten die Tiere mehr Verbindungen, hielten engeren Kontakt und wurden häufiger in Gruppen beobachtet.
Die Forschenden führen das auf die besondere Struktur von Städten zurück. Versiegelte Flächen, wenig Verstecke und ungleich verteilte Ressourcen wie Nahrung oder Sonnenplätze drängen die Tiere näher zusammen. Die Folge: mehr Toleranz gegenüber Nachbarn, ein Verhalten, das in freier Natur so nicht vorkommt.
Anpassung an das Leben zwischen Mauern
Für die Forschenden ist das mehr als nur eine Momentaufnahme. „Die Fähigkeit, neue soziale Strategien zu entwickeln, könnte entscheidend sein, damit Arten in urbanen Lebensräumen bestehen“, betont Maune.
Beteiligt an der Studie sind neben Maune auch Tobias Wittenbreder und Professorin Barbara Caspers von der Universität Bielefeld, Professor Dr. Duje Lisičić von der Universität Zagreb, Dr. Ettore Camerlenghi vom Collegium Hellveticum in Zürich sowie Dr. Isabel Damas-Moreira, ebenfalls von der Universität Bielefeld, als Letztautorin.
Die Arbeit ist zudem eng mit dem Sonderforschungsbereich NC³ (Niche Choice, Niche Conformance, Niche Construction) verknüpft. Dieser Forschungsverbund untersucht, wie Tiere ihre ökologische Nische formen und sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen.
Originalpublikation:
Maune Avery L., Wittenbreder Tobias, Lisičić Duje, Caspers Barbara A., Camerlenghi Ettore and Damas-Moreira Isabel: City lizards are more social. Biology Letters. http://doi.org/10.1098/rsbl.2025.0326. Veröffentlicht am 24.09.2025.

25.09.2025, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Biodiversität stärkt Bestäuber und sichert stabile Erträge
Biologische Vielfalt verbessern und gleichzeitig Erträge erhalten? Für viele klingt das wie ein Widerspruch. Eine neue Studie der Universität Würzburg zeigt jedoch: Unter den richtigen Voraussetzungen ist beides möglich.
Für ihre Studie haben Forschende der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) gemeinsam mit der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft und Bioland 29 Sonnenblumenfelder in Nordbayern analysiert – 15 ökologisch und 14 konventionell bewirtschaftet. Sie wollten wissen, welche Faktoren wildlebende Bestäuber beeinflussen und wie sich das auf die landwirtschaftlichen Erträge auswirkt. Dabei berücksichtigten sie sowohl die Bedingungen in einzelnen Feldern als auch die Struktur der umliegenden Landschaft.
Um den Beitrag der Insekten zu ermitteln, setzten sie ein einfaches Experiment ein: Einige Sonnenblumenköpfe wurden mit feinen Netzen vor Bestäubern geschützt, andere blieben offen. Das Ergebnis: Frei bestäubte Sonnenblumen erzielten im Schnitt rund 25 Prozent höhere Erträge – unabhängig davon, ob sie auf ökologisch oder konventionell bewirtschafteten Feldern standen.
Unterschiedliche Ansprüche, gemeinsamer Nutzen
Die Auswertung zeigte deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Bestäubergruppen: „Hummeln beispielsweise profitierten von einem hohen Anteil ökologisch bewirtschafteter Felder“, erklärt Denise Bertleff, Erstautorin der Studie und Biologin am Lehrstuhl für Tierökologie. „Wir konnten zeigen: Vergrößert man den Anteil solcher Flächen von 10 auf 20 Prozent, sorgt das fast für eine Verdopplung des Hummelbestandes.“
Die Häufigkeit von Solitärbienen hingegen orientiere sich etwa an der Größe halbnatürlicher Lebensräume wie Hecken, Kalkmagerrasen oder Streuobstwiesen. „Unsere Studie zeigt: Landwirtschaft kann so gestaltet werden, dass die Biodiversität fördert“, sagt Bertleff. „Eine vielfältige Landschaft, zum Beispiel indem man Beikräuter gezielt stehen lässt, macht Ernten stabiler und sichert die Biodiversität.“
Studie gibt Handlungsempfehlungen für die Praxis
Aus ihren Daten leiten die Forschenden mehrere Handlungsempfehlungen für Landwirtinnen und Landwirte, politisch Verantwortliche und die Naturschutzberatung ab:
• Mehr Flächen einer Region ökologisch bewirtschaften: Das stärkt die Anzahl von Bestäubern – auch auf konventionellen Feldern.
• Halbnatürliche Lebensräume wie Hecken, Kalkmagerrasen oder Streuobstwiesen erhalten: Solche Flächen sind für Bestäuber unverzichtbar, besonders für Solitärbienen.
• Moderate Mengen an Beikräutern zulassen: Sie bieten wichtige Nahrungsquellen für Wildbienen und Schwebfliegen, ohne zwangsläufig die Erträge zu mindern.
• Zu große Blühflächen vermeiden: Wenn zu viele Nutzpflanzen in einer Umgebung gleichzeitig blühen, drohen Verdünnungseffekte, weil sich Bestäuber auf größere Flächen verteilen. Das kann die Bestäubungsleistung auf einzelnen Feldern reduzieren.
Die Förderung des Vorhabens erfolgte aus Mitteln des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages. Die Projektträgerschaft erfolgte über die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE).
Originalpublikation:
Wild pollinators and honeybees respond differently to landscape-scale organic farming and increase sunflower yields. Journal of Applied Ecology. 14. September 2025, DOI 10.1111/1365-2664.70156
https://besjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/1365-2664.70156

25.09.2025, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Erfolgreiche Auswilderung von Kulanen ist ein Meilenstein für Wiederherstellung des Steppenökosystems in Kasachstan
Ein internationales Konsortium aus Forschungs- und Naturschutzorganisationen entließ im August 2025 eine Gruppe von Kulanen – stark gefährdeten asiatischen Wildeseln – aus dem Wiederansiedlungszentrum „Alibi“ in die weiten Landschaften des Altyn-Dala-Reservats in Kasachstan. Die Wildesel verbachten zuvor ein Jahr in einem Akklimatisierungsgehege und tragen nun zur Renaturierung und zum Erhalt wertvoller Steppen-Ökosysteme bei. Mehrere Kulane tragen GPS-Halsbänder und solarbetriebene GPS-Ohrmarken, die Einblicke in ihre Bewegungen in der Steppe liefern.
Kulane (Equus hemionus kulan) durchstreiften einst in großer Zahl die Torgai-Steppe in Kasachstan, eine weitläufige Landschaft im Herzen der zentralasiatischen Graslandökosysteme. Unter menschlichem Einfluss verschwanden die charismatischen Säugetiere vor mehr als einem Jahrhundert aus diesem Gebiet. Seit 2017 arbeitet die Altyn Dala Conservation Initiative in einem internationalen Konsortium aus Wissenschafts- und Naturschutzorganisationen daran, diese stark bedrohte Schlüsseltierart aus anderen Teilen Kasachstans, wo sie heute in geringer Zahl wieder vorkommt, zurückzubringen. Durch jährliche Umsiedlungen innerhalb Kasachstans wurde nach und nach eine Kulan-Population zur Wiederansiedlung in der Torgai-Steppe aufgebaut. Örtliche Ranger dokumentieren seit einigen Jahren wiederholt Fohlengeburten – ein klares Zeichen für die Anpassungsfähigkeit der Kulane und für das Potenzial für eine langfristige Erholung des Bestandes.
Das Altyn-Dala-Reservat in der Region Kostanay wurde aufgrund seines ausgedehnten, unbewohnten Steppenlebensraums und seiner bestehenden Naturschutzinfrastruktur für die Wiederansiedlung ausgewählt. Es eignet sich ideal für die Wiederherstellung der einheimischen Fauna Zentralkasachstans.
Ein Jahr im Wiederansiedlungszentrum
Nach der Umsiedlung im vergangenen Jahr verbrachten die Kulane ein volles Jahr unter ständiger fachkundiger Betreuung im Wiederansiedlungszentrum „Alibi“ und passten sich in dieser Zeit gut an ihre neue Umgebung an. Sie bildeten eine enge Gruppe ohne aggressives Verhalten oder soziale Probleme, was für diese Tierart nicht selbstverständlich ist. Beobachtungen im Winter zeigten, dass sie natürliches Grasen gegenüber Heu bevorzugten und mit ihren Hufen den Schnee durchwühlten, um an das Gras zu gelangen. Bei starkem Schneefall waren jedoch zusätzliche Fütterungen und gelegentliche tierärztliche Eingriffe erforderlich. Diese erfolgreiche Akklimatisierungsphase im neuen Lebensraum stellte sicher, dass die Tiere bei guter Gesundheit und gut vorbereitet für das Leben außerhalb des Geheges waren.
Wenig Stress, viele Erkenntnisse: Neue Methoden und Technologien beim GPS-Tracking
Um ein langfristiges Monitoring der Gruppe zu ermöglichen, wurden sechs Kulane mit Ortungsgeräten ausgestattet. Das Team setzte sowohl klassische GPS-Halsbänder als auch neue solarbetriebene Ohrmarken ein – diese Ohrmarken wurden zum ersten Mal bei Kulanen eingesetzt. Die Besenderungen begannen im April dieses Jahres, als drei Kulane mit einer neuen Methode im Akklimatisierungsgehege gefangen wurden. Normalerweise werden diese intelligenten, sensiblen und schnellen Wildesel von einem fahrenden Fahrzeug aus per Betäubungsgewehr immobilisiert. Um den Stress für die Tiere zu reduzieren, gingen das tierärztliche Team und die Ranger dieses Mal anders vor: Sie trainierten die Tiere mit strategisch platzierten Wasserstellen, um sie aus einer entspannten Situation heraus mit hoher Präzision und minimalem Stress von einem Versteck neben der Wasserstelle aus zu betäuben. Mit dieser neuen, bisher noch nie dokumentierten Methode gelang es, drei Jungtiere mit Ohrmarken und drei erwachsene Stuten sowohl mit GPS-Halsbändern als auch mit Ohrmarken zu versehen.
„Kulane sind sehr wachsame und intelligente Tiere. Wir haben fast zwei Wochen lang versucht, sie tagsüber zu fangen, wenn sie zum Trinken kamen, aber sie bemerkten schnell, wenn etwas von ihrer gewohnten Routine abwich, hielten sich tagsüber von der Wasserstelle fern und kamen nur noch nachts zum Trinken, wie unsere Kamerafallen zeigten“, sagt Julia Bohner, Wildtierärztin vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW), die die veterinärmedizinischen Maßnahmen des Einsatzes leitete. „Deshalb änderten wir unsere Taktik, passten unser Verhalten an die Kulane an und arbeiteten ebenfalls nur noch nachts, als die Kulane keine Menschen an der Wasserstelle erwarteten. Zur Immobilisierung verwendeten wir ein Etorphin-freies Anästhesieprotokoll, das nur geringfügige Nebenwirkungen auf das Atmungssystem hat, eine weniger starke Fluchtreaktion auslöst und dadurch besonders gut für diese nächtlichen Fangaktionen geeignet ist. Diese Vorgehensweise ermöglichte es uns, die Tiere mit Hilfe von Nachtsichtgeräten innerhalb kurzer Zeit und meist in nicht allzu weiter Entfernung der Wasserstelle zu finden.“
Das Einfangen der Kulane und das Anbringen der Sender unter diesen Bedingungen in der Dunkelheit der Steppe waren nur durch die bis in kleinste Detail abgestimmte Arbeit eines großen Teams möglich, in dem alle koordiniert Hand in Hand arbeiteten – Transport der Ausrüstung, Entnahme von Proben, Überwachung der Narkose, Anbringen der Halsbänder und zu guter Letzt das Markieren der Tiere. Dank der neuen Routine verliefen alle Narkosen reibungslos und die Vitalparameter während der Anästhesie waren ausgezeichnet. Während der Erholungsphase nach der Betäubung standen die Kulane ohne Schwierigkeiten, ruhig und entspannt wieder auf und konnten sich fast sofort wieder der Gruppe anschließen. Das Team war mit dem Ergebnis der Einsätze sehr zufrieden und ist zuversichtlich, diesen Ansatz auch in Zukunft anzuwenden.
Die neu eingesetzten, leichten GPS-Ohrmarken sind so konzipiert, dass sie die Tiere möglichst wenig stören. Sie werden mit Solarbatterien betrieben, die eine Lebensdauer von bis zu fünf Jahren haben sollen. Vor der Freilassung wurden die Tiere drei Monate lang sorgfältig überwacht, um sicherzustellen, dass sie die Sender sie nicht beeinträchtigten.
Kulane erkunden die Steppe
Die Ortungsdaten zeigen bereits das charakteristische Wanderverhalten der Kulane: Einige Tiere zogen nach Nordwesten, um Seen und Feuchtgebiete zu erkunden, bevor sie auf dem gleichen Weg nach Süden zurückkehrten. Andere bewegen sich mit durchschnittlich 26 km pro Tag auf neu geschaffenen Pfaden nach Südosten. Diese Daten sind von großer Bedeutung – die Art und Weise, wie diese Tierart neue Gebiete erkundet und Territorien auswählt, wird das Vorkommen zukünftiger Generationen von Kulanen in der Steppe prägen.
„Die Bewegungsdaten zeigen, dass sich verschiedene Kulan-Gruppen bereits in denselben Gebieten begegnen. Wir hoffen, dass sich diese GPS-Signale in Zukunft regelmäßig treffen und miteinander verflechten“, sagt Albert Salemgareyev, Leiter des Wild Ungulate Reintroduction Centre der Association for the Conservation of Biodiversity of Kazakhstan (ACBK). „Diese Kulane sind Pioniere einer zukünftigen Population und ebnen buchstäblich den Weg, dem andere folgen werden. Das riesige neue Gebiet kann anfangs verwirrend sein, und Kulane gedeihen am besten, wenn sie in Gruppen leben und sich in Gruppen fortbewegen.“ In den kommenden Jahren plant das Team, etwa 100 Kulane in die Region zu bringen. Mit mehr Tieren in der Steppe werden sie sich leichter finden, neue zusammenhängende Gruppen bilden und ihre Überlebenschancen verbessern, wodurch eine nachhaltige und florierende zukünftige Population entsteht.
Pioniere einer zukünftigen Population und Erkenntnisse für zukünftige Umsiedlungen
Die im August 2025 ausgewilderte Gruppe ist die erste, die eine über 50-stündige Umsiedlung auf dem Landweg vom Altyn-Emel-Nationalpark nach Zentralkasachstan durchlaufen hat. Frühere Gruppen wurden auf dem Luftweg transportiert – eine schnellere Methode, die jedoch die Anzahl der Tiere pro Transfer stark einschränkt. Die neue Transportmethode auf dem Landweg, wurde über fast ein Jahr hinweg entwickelt. Sie ermöglicht es, größere Gruppen sicher und effizient zu transportieren. Für den Transport nutzte das Team speziell angefertigte Transportcontainer, in denen die Tiere gefüttert, getränkt und per Video überwacht werden können, um ihr Wohlergehen während der 2.139 Kilometer langen Reise zu gewährleisten.
Jede Umsiedlung und Auswilderung liefert wertvolle Erkenntnisse und Erfahrungen: Das Ziel des Teams ist es, alle Prozesse im Sinne der Tiere laufend zu optimieren. In diesem Jahr werden die Kulane nach ihrer Ankunft zunächst eine erste Akklimatisierungsphase in einem kleineren, 60 × 80 Meter großen Gehege verbringen. Hier können sie mit Futter und Wasser versorgt, genau beobachtet, bei Bedarf gegen Parasiten behandelt und mit Vitaminen zugefüttert werden. Diese Einrichtung gewährleistet eine schnelle Erholung nach der langen Reise, bevor sie in größere Akklimatisierungsgehege gebracht werden.
„Die Rückkehr der Kulane und Wildpferde ist mehr als eine Wiederansiedlung – sie ist die Wiederbelebung des natürlichen Gefüges der Torgai-Steppe. Diese Arten sind der Schlüssel zur Wiederherstellung des Gleichgewichts dieses einzigartigen Ökosystems. Diese Leistung ist nur dank des Engagements und der Partnerschaft vieler Organisationen möglich, die sich gemeinsam für die Zukunft der wilden Landschaften Kasachstans einsetzen“, sagt Stephanie Ward, Programmleiterin Kasachstan bei der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF).
Über die Partnerschaft
Das Programm zur Wiederansiedlung der Kulane wird im Rahmen der Altyn Dala Conservation Initiative umgesetzt – einer Partnerschaft zwischen dem Forestry and Wildlife Committee des Ministry of Ecology, Geology and Natural Resources der Republik Kasachstan, der Association for the Conservation of Biodiversity of Kazakhstan (ACBK), der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF), der Royal Society for the Protection of Birds (RSPB) und Fauna & Flora. Die veterinärmedizinische Leitung der Einsätze liegt beim Leibniz-IZW, weitere Unterstützung erhält das Projekt vom Tiergarten Nürnberg und dem südafrikanischen Wildtiertransport-Spezialisten Conservation Solutions.

24.09.2025, Universität Duisburg-Essen
Klimawandel bedroht Fischvielfalt : Nature-Studie belegt Rückgänge in kühlen US-Gewässern
Die Zusammensetzung von Fischgemeinschaften in Flüssen und Bächen der USA hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten massiv verändert. Eine neue Studie in Nature belegt: Steigende Wassertemperaturen und die Ansiedlung bestimmter Fische durch den Menschen beschleunigen den Verlust der Biodiversität – vor allem in kühlen Gewässern. An der Studie ist Umweltexperte Prof. Dr. Ralf Schäfer (Universität Duisburg-Essen) beteiligt.
„Arten aus der Familie der Karpfen und echten Barsche, die kühles Wasser bevorzugen, verlieren zunehmend ihren Lebensraum, da die Temperaturen in Flüssen weltweit steigen“, erklärt Prof. Dr. Ralf Schäfer, Umweltforscher an der Universität Duisburg-Essen und am Research Center One Health Ruhr. Für die Studie hat er zusammen mit einem internationalen Forschungsteam Langzeitdaten zu fast 400 Fischarten in Nordamerika ausgewertet. Die Daten stammen von der US-Umweltbehörde EPA, die zwischen 1990 und 2019 Proben an knapp 3.000 Standorten erhoben hat.
Das Ergebnis in Flüssen mit einer Durchschnittstemperatur unter 15 Grad Celsius ist drastisch: Hier ist die Zahl der Fische um mehr als die Hälfte geschrumpft, die Artenvielfalt um rund ein Drittel. Gleichzeitig beobachten die Forschenden, dass größere Arten wie Forellenbarsche und Kanalwelse, die zum Angeln und Fischen eingesetzt werden, kleinere Arten in den kalten Flüssen verdrängen.
In Flüssen mit Wassertemperaturen über 24 °C zeichnet sich ein anderes Bild: In den warmen Gewässern steigt sowohl die Zahl der Fische als auch die Artenvielfalt, vor allem robuste Arten legen zu. Doch dieser Zuwachs darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Artenvielfalt insgesamt leidet. Eingeschleppte Fischarten und steigende Temperaturen wirken hier zusammen und verschärfen den Verlust der Biodiversität.
„Unsere Ergebnisse belegen, wie empfindlich Süßwasserökosysteme auf den Klimawandel reagieren“, betont Schäfer. „Gerade in kühlen Flüssen droht die charakteristische Artenvielfalt zu verschwinden. Dabei sind die Daten aus den USA ein deutliches Warnsignal für Europa, denn hier beobachten wir dieselbe Entwicklung: Flüsse werden stetig wärmer.“
Originalpublikation:
Rumschlag, S.L., Gallagher, B., Hill, R. et al. Diverging fish biodiversity trends in cold and warm rivers and streams. Nature (2025). https://doi.org/10.1038/s41586-025-09556-0

25.09.2025, Georg-August-Universität Göttingen
Weidehaltung und Wölfe: „(Wie) wollen Sie Ihre Herden schützen?“
Forschende untersuchen Bereitschaft zum Einsatz von Herdenschutzmaßnahmen
Wölfe waren in Teilen Mitteleuropas lange ausgestorben. Durch einen strengen Artenschutz konnten sie sich in den vergangenen Jahrzehnten wieder ausbreiten. Das bringt Herausforderungen mit sich: Damit Weidetiere wie Schafe und Rinder nicht von hungrigen Wölfen gerissen werden, ist Herdenschutz vielerorts unabdingbar.
Wie stehen Tierhalterinnen und Tierhalter zu Maßnahmen wie „wolfsabweisenden Zäunen“ oder Schutzhunden und nimmt die Verfügbarkeit von Fördergeldern darauf einen Einfluss? Das hat ein Forschungsteam der Universität Göttingen, der Humboldt-Universität zu Berlin, der Technischen Universität Dresden und der Schweizer Stiftung KORA mit einer Befragung untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Bereitschaft zum Herdenschutz vor allem von sozialen Einflüssen abhängt. Und finanzielle Unterstützung geht mit einer höheren Bereitschaft zum Einsatz wolfsabweisender Zäune einher. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift People and Nature veröffentlicht.
Um die Wahrnehmungen und Absichten zum Herdenschutz zu ermitteln, hat das Team 2022 eine Online-Umfrage unter Landwirtinnen und Landwirten mit Weidetieren in Bayern durchgeführt. Die Forschenden werteten die Antworten von 353 Personen aus. Dabei stützten sie sich auf die „Theorie des geplanten Verhaltens“. Ob jemand etwas tut oder nicht, hängt der Theorie nach in erster Linie davon ab, wie stark die Person zu dem Verhalten entschlossen ist. Ihre Absicht wird dabei von drei Faktoren beeinflusst: der persönlichen Einstellung („Halte ich es für sinnvoll?“), dem sozialen Druck („Wie steht mein Umfeld dazu?“) und der empfundenen Kontrolle („Kann ich es umsetzen?“).
Welche Beweggründe die Bereitschaft zum Herdenschutz prägen, unterscheidet sich den Ergebnissen der Umfrage nach zwischen verschiedenen Maßnahmen. Die größte Rolle spielt aber bei allen Maßnahmen das soziale Umfeld. „Es ist daher wichtig, dass Landwirtinnen und Landwirte Beispiele für erfolgreiche Weidehaltung in Wolfsgebieten kennenlernen und untereinander Wissen und Erfahrungen austauschen“, sagt Dr. Friederike Riesch, Erstautorin der Studie aus der Abteilung Graslandwissenschaft der Universität Göttingen.
Finanzielle Unterstützung kann zusätzliche Anreize schaffen, wie die Studie außerdem zeigt: In gewissen Zonen rund um die Reviere standorttreuer Wölfe fördert das Land Bayern wolfsabweisende Zäune und Herdenschutzhunde. In der Befragung zeigten sich Tierhalterinnen und -halter in solchen Zonen stärker gewillt, die Zäune aufzustellen. Am höchsten ist die Absicht dabei unter denjenigen, deren Weidetiere unmittelbar im Wolfsgebiet stehen. Sie müssen nämlich einen Grundschutz vorweisen, um Ausgleichszahlungen für Schäden durch Wölfe zu erhalten. „Die Ergebnisse zeigen, dass Subventionen den Einsatz von Herdenschutzmaßnahmen begünstigen. Demnach ist es empfehlenswert, die Förderung wolfsabweisender Zäune auf das gesamte Bundesland auszuweiten“, erklärt Dr. Malte Möck, Zweitautor vom Fachgebiet Agrar- und Ernährungspolitik der Humboldt-Universität zu Berlin. Auf die Absicht, Hunde zum Schutz der Weidetiere einzusetzen, hat die Förderkulisse der Umfrage zufolge hingegen keinen Einfluss. Die damit verbundenen Herausforderungen sind mit finanziellen Mitteln nicht zu lösen, schließen die Forschenden.
Neben Vernetzung und Förderung empfehlen die Forschenden Angebote zur praktischen Unterstützung beim Herdenschutz, um die zusätzliche Arbeitsbelastung zu reduzieren. Solche Aktionen fördern zugleich den Austausch zwischen Menschen mit unterschiedlichen Sichtweisen und können dadurch Konflikte um Wölfe und Weidehaltung entschärfen.
Die Studie wurde aus dem Zweckvermögen des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank und durch Mittel des Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt für das Projekt GreenGrass gefördert.
Originalpublikation:
Riesch, F. et al. (2025). How to reconcile pasture grazing and wolf recolonisation? Perceptions of management options by livestock farmers in Germany. People and Nature. https://besjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/pan3.70141

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