19.05.2025, Georg-August-Universität Göttingen
Ein Kopf und hundert Enden: Wie ein verzweigter Wurm seine Fortpflanzung steuert
Internationales Forschungsteam erstellt Karte über Genaktivität eines seltenen Meereswurms
Forschende haben die genetischen Grundlagen eines der bizarrsten Tiere des Ozeans aufgedeckt: Der in tropischen Gewässern vorkommende verzweigte Wurm Ramisyllis kingghidorahi lebt versteckt im Inneren eines Schwammes und pflanzt sich auf außergewöhnliche Weise fort. Jedes Körperende produziert eigene Fortpflanzungseinheiten, die sich abtrennen und zur Paarung wegschwimmen. Wie wird dieser komplexe Mechanismus über die vielen Zweige des Körpers hinweg gesteuert? Das haben Forschende unter der Leitung der Universität Göttingen untersucht.
Sie haben die Aktivität von Genen zwischen verschiedenen Körperbereichen sowie zwischen Männchen und Weibchen verglichen und die erste vollständige „genetische Aktivitätskarte“ eines verzweigten Wurms erstellt. Ihre Befunde wurde in der Fachzeitschrift BMC Genomics veröffentlicht.
Die Forschenden fanden in ihren Analysen eindeutige Muster: Die Unterschiede in der Genaktivität waren zwischen den Körperbereichen desselben Wurms größer als zwischen männlichen und weiblichen Würmern. Die kurzlebigen Fortpflanzungseinheiten, die als Stolonen bezeichnet werden, wiesen zwischen den Geschlechtern die ausgeprägtesten genetischen Signaturen auf. Das spiegelt den Forschenden zufolge wahrscheinlich ihre spezialisierte Rolle bei der Bildung und weiteren Entwicklung der Geschlechtszellen wider. „Wir waren überrascht, dass der Kopf des Wurms, von dem man bisher annahm, dass er ein geschlechtsspezifisches Kontrollsystem beherbergt, in der Genaktivität nicht die deutlichen Unterschiede aufweist, die wir zwischen Männchen und Weibchen erwartet hatten“, erklärt Dr. Guillermo Ponz-Segrelles, ehemaliger Forscher an der Autonomen Universität von Madrid.
„Stattdessen erwiesen sich die Stolonen als die wahren Hotspots der Genaktivität während der sexuellen Entwicklung“, so Ponz-Segrelles weiter. Ein bislang übersehenes, aber wichtiges Merkmal der Stolonen ist, dass sie Augen ausbilden, bevor sie sich auf der Suche nach einem Partner vom Wurm abtrennen. Passend dazu stellten die Forschenden eine gesteigerte Aktivität von Genen fest, die mit der Entwicklung von Augen zusammenhängen. Das gibt ihnen erste Anhaltspunkte dafür, wie sich an den Zweigen des Wurmkörpers die Spitzen in Fortpflanzungseinheiten verwandeln. Die Daten deuten zudem auf eine Verdopplung bestimmter Gene bei Ramisyllis hin. Das könnte helfen, die Komplexität seiner Biologie und seines Fortpflanzungssystems zu erklären.
Trotz Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Signalwegen in den evolutionär konservierten Würmern deuten die Ergebnisse auf eine einzigartige genetische Ausstattung in Ramisyllis hin. Sie machen deutlich, wie wenig wir bislang über die Fortpflanzung wirbelloser Meerestiere wissen. „Dieser Wurm und sein surrealer, baumartiger Körper machte bereits 2021 und 2022 weltweit Schlagzeilen, aber er verblüfft uns immer noch“, sagt Thilo Schulze, Doktorand an der Universität Göttingen. „Er stellt unser Verständnis davon infrage, wie tierische Körper organisiert sein können und wie derart seltsame Formen der Fortpflanzung auf molekularer Ebene orchestriert werden.“ Viele Aspekte der Fortpflanzung verzweigter Würmer wie Ramisyllis sind immer noch ein Rätsel. Nun hofft das Team, dass die neuen genetischen Befunde die Tür öffnen zu tiefergehenden Untersuchungen darüber, wie sich das Leben in unerwartete Richtungen entwickelt – selbst in den verborgenen Ecken unserer Ozeane.
Originalpublikation:
Ponz-Segrelles et al. Sex-specific differential gene expression during stolonization in the branching syllid Ramisyllis kingghidorahi (Annelida, Syllidae). BMC Genomics (2025). DOI: https://bmcgenomics.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12864-025-11587-w
(Ramisyllis kingghidorahi wurde wegen seines verzweigten Körpers nach King Ghidorah, einem der Gegner von Godzilla benannt.
19.05.2025, Philipps-Universität Marburg
Wie Licht den Takt angibt oder Vögeln den Weg weist
Forschende entschlüsseln Mechanismus eines „tierischen“ Cryptochroms. Internationale Studie zeigt, wie lichtempfindliche Proteine den biologischen Rhythmus steuern. . Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin Science Advances veröffentlicht.
Ob Mensch, Tier oder Alge – alle Lebewesen folgen einem inneren Takt, der sich am Licht orientiert. Wie genau bestimmte Eiweiße diesen Tag-Nacht-Rhythmus steuern, war bisher nicht vollständig geklärt. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Professor Dr. Lars-Oliver Essen von der Philipps-Universität Marburg und mit Beteiligung der National Taiwan University (NTU) hat nun erstmals entschlüsselt, wie sogenannte Cryptochrome Licht wahrnehmen und in ein chemisches Signal umwandeln. Damit liefern sie einen wichtigen Baustein zum Verständnis der biologischen Uhr. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin Science Advances veröffentlicht.
Cryptochrome sind Photorezeptoren, die in Pflanzen, Tieren und anderen Organismen den Tagesrhythmus sowie andere lichtabhängige Prozesse regulieren. Sie nutzen Lichtenergie, um chemische Reaktionen anzustoßen, die Stoffwechselprozesse im Zellinneren auslösen. „Bisher war unklar, wie Cryptochrome die Energie des Lichts in strukturelle Veränderungen umsetzen, die Signale auslösen“, erklärt Lars-Oliver Essen, einer der Hauptautoren der Studie. „Unsere Arbeit zeigt nun erstmals, wie drei molekulare Bereiche zusammenwirken, um diesen Prozess zu steuern.“
Licht verändert Proteinstruktur
Mit Hilfe der seriellen Femtosekunden-Kristallographie (SFX) erstellte das Team 19 hochauflösende Schnappschüsse, die die Dynamik von CraCRY zwischen zehn Nanosekunden und 233 Millisekunden nach Lichteinfall abbilden. Diese zeigen als Film zusammengesetzt, wie Licht die Bildung eines Radikalpaares mit weit auseinanderstehenden, ungepaarten Elektronen auslöst, das drei Prozesse in Gang setzt: Stabilisierung des Radikalpaares, Neutralisierung des Flavin-Chromophors (FAD) durch Protoneneinfang und Auslösen eines Signalzustands durch das Auseinanderfalten einer langen Helix am Endbereich des Proteins. „Wir sehen zum ersten Mal, wie Licht die Struktur eines Cryptochroms vom tierischen Typus verändert, um Signale zu erzeugen“, sagt Dr. Manuel Maestre-Reyna, Erstautor der Studie und Professor an der Nationalen Taiwanesischen Universität in Taiwan.
Die Studie hebt zwei zentrale Mechanismen hervor: Den sognenannten „N395/FAD-Schalter“, der eine kurzzeitige Protonierungsroute (TPP) aktiviert, um das Flavin-Molekül zu protonieren und das Radikalpaar zu stabilisieren, sowie den „D321/Y373-Schalter“, der durch Protonentransfer die entständige Helix destabilisiert und so den Signalzustand einleitet. „Diese Prozesse könnten zum Beispiel erklären, wie Cryptochrome in Vögeln Magnetfelder für die Navigation nutzen“, betont Essen. Die Protonierung des Flavins innerhalb von Mikrosekunden passt zu dem Zeitrahmen, der für die Magnetorezeption in Vögeln erforderlich ist, bei der magnetische Felder die Signalbildung beeinflussen.
Ideen für die Erforschung des Tagesrhythmus von Organismen
Die Ergebnisse haben weitreichende Bedeutung: Sie liefern nicht nur Einblicke in die Funktionsweise von Cryptochromen, sondern könnten auch die Forschung zu tagesrhythmusgesteuerten Krankheiten oder magnetischen Orientierungssystemen vorantreiben. „Unsere molekularen Filme zeigen, wie Licht, Protonentransfer und strukturelle Veränderungen zusammenspielen“, erklärt Essen. „Das ist ein Meilenstein für das Verständnis lichtgesteuerter Prozesse in der Natur.“
Die Forschung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie Förderorganisationen aus Taiwan, Japan und den USA unterstützt. Neben Essens Team in Marburg waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Hamburg, Italien, Frankreich, Japan, den USA und der Schweiz beteiligt. Die Studie nutzte hochmoderne Röntgen Freie-Elektronen Laser (XFEL), die nur an wenigen Standorten weltweit verfügbar sind.
Originalpublikation:
https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adu7247
20.05.2025, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Asiatische Elefanten haben größere Gehirne als ihre afrikanischen Verwandten
Afrikanische Elefanten sind die größten Landtiere der Erde und deutlich größer als ihre Verwandten in Asien, von denen sie Millionen Jahre der Evolution trennen. Dennoch haben Asiatische Elefanten ein um 20 Prozent schwereres Gehirn, wie Forschende der Humboldt-Universität zu Berlin und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) mit internationalen Kolleg:innen nachweisen konnten. Zudem zeigten sie, dass Elefantengehirne nach der Geburt auf das dreifache Gewicht wachsen.
Die in der Fachzeitschrift „PNAS Nexus“ publizierten Ergebnisse liefern Erklärungsansätze für Unterschiede im Verhalten zwischen Afrikanischen und Asiatischen Elefanten sowie für die lange Jugend der Dickhäuter, in der sie enorme Erfahrungen sammeln und soziale Fähigkeiten erlernen.
Elefanten gehören zu den bekanntesten und ikonischsten Tierfamilien und gelten als enorm sozial und intelligent – dennoch ist erstaunlich wenig über ihr Gehirn bekannt. Ein internationales Forschungsteam um Malav Shah und Michael Brecht vom Bernstein Center for Computational Neuroscience der Humboldt-Universität zu Berlin (BCCN) und Thomas Hildebrandt vom Leibniz-IZW analysierte nun Gewicht und Aufbau der Gehirne von Asiatischen Elefanten (Elephas maximus) und Afrikanischen Elefanten (Loxodonta africana) anhand von Sektionen von wildlebenden Tieren und Zootieren sowie von Literaturdaten und MRT-Scans.
Sie zeigten, dass äußerlich sichtbare Unterschiede – Asiatische Elefanten sind etwas kleiner, haben relativ gesehen kleinere Ohren, nur einen „Rüsselfinger“ und die Weibchen haben meist keine Stoßzähne – und damit teilweise verbundene Verhaltensunterschiede sich auch im Inneren der riesigen Schädel fortsetzen: Erwachsene weibliche Asiatische Elefanten weisen mit durchschnittlich gut 5.300 Gramm ein signifikant schwereres Gehirn auf als ihre afrikanischen Artgenossinnen mit durchschnitt gut 4.400 Gramm. Für männliche Elefanten, die deutlich schwerere Gehirne haben, konnte dieser Befund aufgrund der dünnen Datenlage beim Asiatischen Elefanten nicht abschließend bestätigt werden. Im Verhältnis ist das Kleinhirn bei Afrikanischen Elefanten jedoch schwerer (gut 22 Prozent des gesamten Gehirngewichts) als bei Asiatischen Elefanten (gut 19 Prozent).
Elefantengehirne wachsen nach der Geburt fast so stark wie die des Menschen
Zudem konnten die Forschenden zeigen, dass Elefanten ein sehr großes nachgeburtliches Hirnwachstum aufweisen. Die Gehirne von erwachsenen Elefanten sind rund dreimal so schwer wie bei der Geburt. Damit weisen Elefanten ein zum Teil deutlich höheres Gehirnwachstum während ihres Lebens auf als alle Primaten – mit Ausnahme des Menschen, wo das Gehirn bei Geburt nur rund ein Fünftel seines finalen Gewichts hat.
Dass diese Erkenntnisse über die Größe von Elefantengehirnen neu sind, liegt an der herausfordernden Akquise der Untersuchungsgegenstände: Elefantengehirne aus den Schädeln verstorbener Tiere zu extrahieren, ist eine aufwändige und sehr selten durchgeführte tiermedizinische Prozedur. Für die vorliegende Studie wurden 19 Gehirne herangezogen, die am Leibniz-IZW aus verstorbenen oder aus Tierwohlgründen eingeschläferten Zootieren extrahiert (14) oder bei Sektionen gestorbener Elefanten im Freiland, unter anderem im Kruger National Park in Südafrika, gewonnen wurden (5). Darüber hinaus konnten die Forschenden Daten über sechs weitere Gehirne aus einer früheren Untersuchung eines anderen Forschungsteams in ihre Auswertung einbeziehen.
Gehirngröße als mögliche Erklärung für Unterschiede in Sozialverhalten und Motorik?
„Die unterschiedlich schweren Gehirne sind vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen diesen beiden Elefantenarten“, sagt Malav Shah vom BCCN, Erstautor der Studie. „Dies könnte ein Ansatz zur Erklärung wichtiger Verhaltensunterschiede zwischen Asiatischen und Afrikanischen Elefanten sein.“ Beide Arten zeigen beispielweise deutliche Unterschiede in der Interaktion mit Menschen. Asiatische Elefanten wurden über Jahrtausende hinweg teilweise domestiziert und als Arbeits- und Lasttiere in unterschiedlichen Kulturen und Regionen eingesetzt. Beim Afrikanischen Elefanten gibt es nur wenige Einzelfälle, in denen die Domestikation als Nutztier auch nur teilweise gelang. Sie an menschliche Gesellschaft zu gewöhnen, gilt bei Afrikanischen Elefanten als deutlich schwieriger als bei Asiatischen.
Dass ihre Gehirne im Verlaufe eines Elefantenlebens so stark wachsen, erscheint den Leitern der Studie, Michael Brecht und Thomas Hildebrandt, schlüssig: „Soziale Faktoren und Lernprozesse könnten das starke Gehirnwachstum nach der Geburt erklären, denn Elefanten leben in komplexen sozialen Strukturen und haben ein herausragendes Erinnerungsvermögen. Die Erfahrung und das gesammelte Wissen von erwachsenen Elefanten, insbesondere Matriarchinnen, ist zentral für das Gruppenverhalten von Elefanten und die Jungtiere werden über eine lange Kindheits- und Jugendzeit sehr eng umsorgt.“ Dass das Kleinhirn relativ zur Gesamtgröße bei Afrikanischen Elefanten hingegen größer ist, könnte mit der komplexeren Motorik des Rüssels bei dieser Art zusammenhängen. Mit ihren zwei Rüsselfingern können die Afrikanischen Elefanten vielfältigere Bewegungen ausführen, was sich auch in einer höheren Zahl von Neuronen im Steuerungszentrum des Rüssels im Gehirn widerspiegelt.
Brecht und Hildebrandt verweisen auf die vielen noch offenen Fragen bei der Erforschung der Gehirne der Asiatischen und Afrikanischen Elefanten und deren Bedeutung für Motorik und Sozialverhalten. Sie werden an den faszinierenden, intelligenten Tieren und ihren Schaltzentralen intensiv weiter forschen.
Originalpublikation:
Shah M, Heise O, Buss P, de Klerk-Lorist LM, Hetzer S, Haynes JD, Hildebrandt TB, Brecht M (2025): Larger Brains and Relatively Smaller Cerebella in Asian Compared to African Savanna Elephants. PNAS Nexus, Volume 4, Issue 5, May 2025, pgaf141. DOI: 10.1093/pnasnexus/pgaf141
20.05.2025, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Kleine Prozesse – große Wirkung: Wie kleinräumige Strömungen die Artenvielfalt rund um die Kapverdischen Inseln formen
Warum ist das Meer rund um die Kapverdischen Inseln so ungewöhnlich produktiv, obwohl es mitten in einem nährstoffarmen Gebiet des Ozeans liegt? Ein internationales Forschungsteam unter Leitung des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel hat jetzt Daten aus zwei Jahrzehnten interdisziplinärer Beobachtungen ausgewertet. Die Analyse zeigt: Drei kleinskalige physikalische Prozesse – Wirbel, interne Wellen und Windfelder – fördern maßgeblich den Transport von Nährstoffen aus der Tiefe an die Oberfläche und beeinflussen, welche Arten sich wo im Ozean ansiedeln. Die Studie liefert wichtige Grundlagen für die Weiterentwicklung eines Digitalen Zwillings des Ozeans.
Rund 600 Kilometer vor der westafrikanischen Küste liegt mitten im offenen Atlantik das Kapverdische Archipel – ein Hotspot mariner Vielfalt. Trotz nährstoffarmer Umgebung tummeln sich hier Wale, Delphine und große Fischschwärme. Warum gerade rund um die Inseln so viel Leben herrscht, konnte ein internationales Forschungsteam unter Leitung des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel nun erstmals im Detail erklären: Kleinskalige physikalische Prozesse wie Strömungswirbel, Gezeiten und Winde schaffen lokal sehr unterschiedliche Lebensräume. Diese Mikrohabitate bieten die Grundlage für den außergewöhnlichen Artenreichtum im marinen Ökosystem der Kapverden.
Datenschatz aus zwei Jahrzehnten interdisziplinärer Forschung
Die Studie stützt sich auf einen außergewöhnlich umfangreichen Datensatz: Er umfasst die Ergebnisse von 34 Forschungsexpeditionen, Messdaten autonomer Unterwasserfahrzeuge (Glider), Satellitenbeobachtungen sowie Daten von dauerhaft verankerten Ozeanstationen. Die Forschenden verknüpften physikalische, chemische und biologische Messgrößen, um den Zusammenhang zwischen Strömungen, Nährstoffverfügbarkeit und Artenzusammensetzung im Ozean sichtbar zu machen.
„Erst durch die Kombination all dieser Informationen konnten wir Muster erkennen, die mit physikalischen Daten allein nicht sichtbar geworden wären“, sagt Erstautor Dr. Florian Schütte, Juniorprofessor für Physikalische Ozeanographie am GEOMAR. Die Ergebnisse liefern nicht nur neue Einblicke in das Ökosystem, sondern auch wichtige Grundlagen für die Entwicklung digitaler Werkzeuge – etwa gekoppelter Ökosystemmodelle oder eines sogenannten Digitalen Zwillings des Ozeans. Dieses digitale Abbild verknüpft große Datenmengen aus verschiedenen Disziplinen miteinander. Schütte: „Was wir gemacht haben, ist die Grundidee eines Digitalen Zwillings: viele Perspektiven zusammenbringen, um das System als Ganzes zu verstehen.“
Drei Schlüsselprozesse bringen Nährstoffe an die Oberfläche
Auf Basis des riesigen Datensatzes identifizierte das Forschungsteam drei physikalische Schlüsselprozesse, die dafür sorgen, dass Nitrat – der limitierende Nährstoff für das Wachstum von Phytoplankton im Atlantik – aus tieferen Wasserschichten an die Oberfläche gelangt. Dort bildet es die Grundlage für die hohe biologische Produktivität.
1. Windwirbel in Lee der Inseln: Der erste Mechanismus basiert auf sogenannten „Island Wakes“ – Wirbelfeldern, die entstehen, wenn der stetige Nordostpassat auf die hohen Vulkane von Santo Antão und Fogo trifft. Die markante Topografie lenkt den Wind ab und erzeugt im Windschatten starke lokale Windscherung. Diese wiederrum führen zur Bildung kleiner, aber sehr produktiver Wasserwirbel, die die Durchmischung und den Nährstofftransport anregen.
2. Mesoskalige Ozeanwirbel: Der zweite Prozess betrifft so genannte „mesoskalige Eddies“ – eher großräumige Ozeanwirbel mit bis zu 120 Kilometern Durchmesser. Diese entstehen regelmäßig vor der westafrikanischen Küste und transportieren nährstoffreiches, kaltes und salzärmeres Wasser westwärts in Richtung der Kapverdischen Inseln. Treffen sie auf die Inseln oder flache Unterwasserstrukturen, entlassen sie das nährstoffreiche Wasser aus ihrem Inneren und verstärken lokal die vertikale Durchmischung.
3. Interne Wellen durch Gezeiten: Auch die Wechselwirkung von Gezeiten mit der steilen Unterwassertopographie der Inseln spielt eine entscheidende Rolle. Das Kapverdische Archipel liegt in einem Tiefseebecken (Kapverdenbecken) mit Wassertiefen zwischen 3000 und 4000 Metern. Die gleichmäßigen Gezeiten werden durch die Seeberge und Küstenlinien der Kap Verden gestört – es entstehen sogenannte interne Gezeitenwellen. An bestimmten Stellen, etwa südlich von Santo Antão, brechen diese internen Wellen wie Brandung an einer Küste – und setzen dabei große Mengen Energie frei. Die Folge: eine stark erhöhte vertikale Durchmischung des Wassers. An genau diesen Hotspots wurden die bisher höchsten Mischungswerte gemessen, die das GEOMAR je dokumentiert hat, verbunden mit Wassergeschwindigkeiten, die um ein Vielfaches höher sind als die ursprüngliche Gezeitenströmung in der Tiefe.
Der Clou: Die Physik bestimmt, wer wo lebt
„All diese Prozesse transportieren Nitrat aus der Tiefe in die lichtdurchflutete Oberflächenschicht und fördern dort das Wachstum von Phytoplankton, das die Basis allen Lebens im Ozean bildet“, erklärt Dr. Florian Schütte. In den dadurch entstehenden produktiven Zonen wurden bis zu zehnmal höhere Konzentrationen von Zooplankton gemessen, häufiger Fische gefangen und mehr Wale gesichtet. Sogar die jährlichen Fangmengen von Makrelen und Thunfischen in der Region zeigen eine deutliche Korrelation mit der Intensität der kleinskaligen physikalischen Prozesse und den daraus resultierenden Chlorophyllwerten.
Die zentrale Erkenntnis der Studie geht jedoch noch weiter: Es sind nicht nur die Nährstoffe, die an die Oberfläche gelangen – sondern auch die Artenzusammensetzung im Ozean, die durch die Art des physikalischen Prozesses gezielt beeinflusst wird. So unterscheiden sich die Zooplanktongemeinschaften je nach physikalischer Dynamik – etwa zwischen Regionen mit starker Gezeitenmischung, windgetriebenen Island Wakes oder den Einflussbereichen großer ozeanischer Wirbel. Diese Unterschiede setzen sich offenbar entlang der Nahrungskette fort – bis hin zu Fischen und Walen.
„Wo Gezeiten dominieren, leben andere Tiere als dort, wo Windwirbel entstehen oder große Eddies gegen die Inseln stoßen“, sagt Schütte. „Was früher wie chaotische Vielfalt wirkte, zeigt jetzt erkennbare Muster. Wir bringen etwas Struktur in den Ozean – und beginnen zu verstehen, wie biologische Vielfalt entsteht.“
Relevanz für Meeresschutz und nachhaltige Nutzung
Die Studie zeigt erstmals im Detail, wie die biologische Vielfalt im Ozean rund um die Kapverdischen Inseln mit physikalischen Prozessen und der Unterwassertopografie verknüpft ist. Diese ganzheitliche Perspektive liefert eine wichtige Grundlage, um das marine Ökosystem der Region besser zu verstehen.
Gerade für den Meeresschutz und das nachhaltige Management von Fischbeständen ist dieser systemische Blick von großer Bedeutung. Denn bislang basieren viele Entscheidungen in der Fischerei vor allem auf Fangstatistiken. Die neue Studie macht deutlich: Ein zukunftsfähiges Monitoring braucht mehr – eine interdisziplinäre Datenerhebung, bei der physikalische, chemische und biologische Prozesse gemeinsam berücksichtigt werden, idealerweise in Kombination mit Satellitendaten und langfristigen Messprogrammen vor Ort.
Originalpublikation:
Schütte, F., Hans, A.C., Schulz, M., Hummels, R., Assokpa, O., Brandt, P., Kiko, R., Körtzinger, A., Fiedler, B., Fischer, T., Rodrigues, E., Hoving, H-J., Hauss, H. (2025). Linking physical processes to biological responses: Interdisciplinary observational insights into the enhanced biological productivity of the Cape Verde Archipelago, Progress in Oceanography, 235, 103479.
https://doi.org/10.1016/j.pocean.2025.103479
20.05.2025, Forschungsinstitut für Nutztierbiologie (FBN)
Trübe Aussichten für Regenbogenforellen: Forschende decken verborgene Gefahren durch „Browning“ in Gewässern auf
Wissenschaftler:innen von der Universität Südböhmen und dem Forschungsinstitut für Nutztierbiologie (FBN) haben entdeckt: Die zunehmende Braunfärbung unserer Gewässer („Browning“) durch organische Substanzen stellt für Regenbogenforellen eine bislang unterschätzte Gefahr dar. Fische reagieren mit deutlicher Stressantwort auf molekularer Ebene.
Ein bisher kaum beachtetes Phänomen, das sogenannte „Browning“, bezeichnet die schleichenden Braunfärbung der Gewässer. Ursache sind Fulvosäuren und Huminstoffe, die beim Abbau von Pflanzenmaterial freigesetzt werden – begünstigt durch zunehmende Einträge organischen Materials und steigende Temperaturen infolge des Klimawandels. Welche Auswirkungen dies auf die Wasserlebewesen hat, wurde nun erstmals umfassend untersucht – mit überraschenden Ergebnissen.
Ein internationales Forscherteam der Universität Südböhmen in Budweis, des Forschungsinstituts für Nutztierbiologie (FBN) in Dummerstorf und der Tierärztlichen Hochschule Hannover hat untersucht, wie Regenbogenforellen auf erhöhte Konzentrationen von Fulvosäuren reagieren. Die Ergebnisse der Studie wurden kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift „Journal of Hazardous Materials“ veröffentlicht.
Molekulare Abwehrreaktionen bei Fischen nachgewiesen
Junge Regenbogenforellen, ein weltweit wichtiger und beliebter Speisefisch, wurden im Labor vier Wochen lang zwei unterschiedlichen Konzentrationen von Fulvosäuren ausgesetzt – vergleichbar mit Konzentrationen, wie sie heute schon in einigen natürlichen Gewässern vorkommen. Während bei einer niedrigen Konzentration von 5 mg Kohlenstoff pro Liter kaum Veränderungen sichtbar waren, zeigte die höhere Konzentration von 50 mg Kohlenstoff pro Liter deutliche Auswirkungen auf die Forellen: Zwar traten äußerlich und histologisch noch keine sichtbaren Schäden an den Kiemen auf, doch auf molekularer Ebene schlugen die Tiere deutlich Alarm.
„Insgesamt 34 Gene im Kiemengewebe der Fische reagierten auf die erhöhte Fulvosäurebelastung“, erklärt Dr. Alexander Rebl von der Arbeitsgruppe Fischgenetik am Forschungsinstitut für Nutztierbiologie (FBN) in Dummerstorf. „Diese Gene spielen eine zentrale Rolle bei der Entgiftung, dem oxidativen Stress und der Immunabwehr. Besonders auffällig war die Aktivierung des so genannten Aryl-Hydrocarbon-Rezeptor-Signalweges, der wesentlich an der Erkennung und Verarbeitung von Schadstoffen beteiligt ist“, so Rebl weiter.
Chemischer Stress: Was Browning für Fische bedeutet
Die Ergebnisse verdeutlichen eindrucksvoll, dass Browning nicht bloß eine ästhetische Veränderung unserer Gewässer darstellt. Vielmehr löst es eine Stressantwort bei Fischen aus, die auf eine aktive Abwehrreaktion gegen chemische Belastungen hinweist. Die Folgen könnten weitreichend sein: Ständige Stressbelastungen kosten die Tiere Energie, schwächen langfristig ihre Gesundheit und könnten sie anfälliger für Krankheiten machen.
„Wir müssen das Browning der Gewässer als Umweltproblem ernst nehmen. Selbst wenn wir äußerlich noch keine Schäden feststellen, zeigen unsere Ergebnisse klar, dass Fische bereits auf niedrige Belastungen reagieren“, sagt Dr. Thora Lieke, Wissenschaftlerin an der Universität Südböhmen. „Jetzt gilt es, die langfristigen Folgen für die Fischpopulationen und das gesamte aquatische Ökosystem genauer zu untersuchen“, so Lieke weiter.
Wichtige Basis für Umweltschutzmaßnahmen
Die Ergebnisse der Studie liefern wichtige Grundlagen, um den Zustand unserer Süßwassersysteme besser einschätzen und rechtzeitig Schutzmaßnahmen entwickeln zu können. Zukünftige Untersuchungen müssen verstärkt darauf abzielen, die langfristigen Auswirkungen des Brownings auf Wasserlebewesen besser zu verstehen und so die aquatischen Ökosysteme nachhaltig zu schützen. Ein umfassendes Verständnis der Auswirkungen des Klimawandels und menschlicher Einflüsse auf unsere Gewässer ist dabei unerlässlich. Davon profitieren nicht nur Tiere und Umwelt, sondern auch die Verbraucherinnen und Verbraucher, denn gesunde Gewässer bilden die Grundlage für eine nachhaltige und sichere Lebensmittelversorgung. Maßnahmen gegen das „Browning“ sichern somit langfristig auch die Qualität beliebter Speisefische wie der Regenbogenforelle.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1016/j.jhazmat.2025.137260
21.05.2025, IMBA – Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften GmbH
Hand2 und nachwachsende Gliedmaßen: Positionscode der Wunderlurche gefunden
Mit seiner faszinierenden Fähigkeit, Gliedmaßen und innere Organe komplett nachwachsen
zu lassen, ist der mexikanische Axolotl das ideale Modell für die Erforschung von Regeneration. Wissenschaftler:innen aus dem Labor von Elly Tanaka am Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien haben nun eine bahnbrechende Entdeckung gemacht: sie fanden jenes Signal, das Zellen mitteilt, welcher Teil des Arms regeneriert werden soll – und nutzten es gleich, um die Identität der Zellen während ihrer Entwicklung neu zu programmieren. Die Studie wurde heute in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.
Der Axolotl lebt in einem trüben See in der Nähe von Mexiko-Stadt, umgeben von aggressiven und kannibalischen Nachbarn. Der Salamander läuft hier ständig Gefahr, ein Bein oder den Schwanz an einen hungrig knabbernden Nachbarn zu verlieren. Glücklicherweise wachsen verlorene Gliedmaßen von Axolotln nach und sind innerhalb von acht Wochen wieder funktionsfähig. Diese Fähigkeit machten den „Wunderlurch“ zum Star der Regenerationsforschung.
Nachwachsenden Körperteile müssen ihre Position im Axolotl-Körper genau kennen, um die richtige Struktur für eine bestimmte Stelle zu regenerieren. Jener lange gesuchte Code, der den Zellen ihre Position verrät und dadurch den Körperteilen ihre Identität verleiht, wurde nun von Elly Tanaka und ihrer Gruppe am IMBA, dem Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Vienna BioCenter in Wien, geknackt. Im Fachjournal Nature zeigen die Wissenschaftler:innen, dass Zellen beim Verlust einer Gliedmaße ein Signal einschalten, das über eine Seite der nachwachsenden Struktur ausstrahlt und damit die Position codiert.
Sobald die Regeneration beginnt, bilden Stammzellen auf der vorderen Seite (der Seite des Daumens) das Signalmolekül FGF8, während die Stammzellen der hinteren Seite (kleiner Finger) das Molekül Shh bilden. Diese beiden Signale verstärken sich gegenseitig und weisen die Zellen an, zu wachsen und den sich regenerierenden Arm zu formen – eine frühere Entdeckung des Labors von Tanaka.
„Was wir nicht wussten, war, welche Signale dafür sorgen, dass FGF8 und Shh während der Regeneration an den beiden Seiten der Gliedmaße eingeschaltet werden. Also die Grundlage für die Positionsinformation,“ erklärt Leo Otsuki, Erstautor der Studie.
Axolotl haben sehr große und komplexe Genome, und genetische Werkzeuge, die für andere Modellorganismen zur Verfügung stehen, fehlen für Axolotl oft. Erst jüngste Fortschritte bei diesen molekularen Werkzeugen ermöglichten es den issenschaftler:innen, systematisch nach Signalstoffen zu suchen.
Viele Hinweise zur Kodierung des Positionsgedächtnisses
Zu ihrer Überraschung fanden die Forscher:innen Hunderte von Faktoren, deren Muster sich in der vorderen (daumenseitigen) gegenüber der hinteren (kleinfingerseitigen) Hälfte der Gliedmaßen schon vor einer Verletzung unterschieden. Doch ein Protein stach besonders hervor: Das passend benannte „Hand2“ wird nur auf der hinteren Seite gebildet, in der vorderen Hälfte überhaupt nicht.„Hand2 hat unsere Aufmerksamkeit erregt, weil es an der richtigen Stelle gebildet wird, um als Orientierungshilfe zu dienen“, sagt Otsuki. Experimente an sich entwickelnden und regenerierenden Gliedmaßen bestätigten, dass Hand2 eine wichtige Rolle bei der Aktivierung von Shh nach einer Verletzung spielt, was seine Bedeutung für Positionsinformationen unterstreicht.
Die Wissenschaftler leiteten ein neues Modell für die Regeneration von Gliedmaßen ab, das einem Radiosignal ähnelt: In der voll entwickelten Gliedmaße bilden nur Zellen auf der hinteren Seite Hand2 in geringer Menge. Diese Hand2-Expression bildet das Gedächtnis der Zellen dafür, dass sie sich in der Hälfte des kleinen Fingers befinden. Bei einer Verletzung erhöhen diese Zellen die Hand2-Expression auf ein höheres Niveau, wodurch das Shh-Signal in einer Untergruppe der Hand2-exprimierenden Zellen eingeschaltet wird. Shh-Zellen in der Nähe der Shh-Quelle regenerieren sich dann als Zellen aus dem hinteren Teil des Arms; Zellen, die weit vom Shh-Signal entfernt sind, regenerieren sich als Zellen aus dem vorderen Teil.
Sobald die Gliedmaße vollständig regeneriert ist, bilden die Zellen erneut Hand2 auf niedrigem Niveau, um sicherzustellen, dass ein stabiles Gedächtnis ihrer Position für den nächsten Zyklus von Verletzung und Regeneration bereitsteht. Mit diesen Erkenntnissen lässt sich zum ersten Mal erklären, wie ein bereits vorhandenes Positionsgedächtnis-Signal nach einer Verletzung erneut aktiviert wird, um wiederholt eine korrekte Musterbildung zu bewirken.
Vielversprechende Möglichkeiten für Gewebe- und Organoid-Engineering
Die Entdeckung ist ein wichtiger Durchbruch für das gesamte Feld der Regenerationsforschung: „Wir haben ein flexibleres Regenerationsmodell entdeckt, als wir erwartet hatten, und das ist wirklich aufregend. Unser Modell sagte voraus, dass wir in der Lage sein sollten, Zellen von einer daumenseitigen Identität zu einer kleinfingerseitigen Identität zu wechseln, indem wir die Shh-Übertragung nutzen“, erklärt Otsuki. Als die Forscher Zellen von der Daumenseite des Arms in die Seite des kleinen Fingers verpflanzten, regenerierten sich diese Daumenzellen tatsächlich und verhielten sich wie Zellen des kleinen Fingers, da sie in den Bereich des Shh-Signals fielen. „Wir waren in der Lage, Zellen von der Vorderseite umzuprogrammieren und ihre Identität zu verändern.“
Die Fähigkeit, die Identität von Zellen zu verändern, birgt ein immenses Potenzial für Tissue Engineering, den Nachbau von Geweben im Labor, und für regenerative Therapien. Dieses Konzept könnte es Wissenschaftlern ermöglichen, Zellen in verschiedenen Teilen des Körpers eine neue Identität zu geben und Gewebe gezielt zu verändern.
„Die Fähigkeit, Zellen etwa nach einer Verletzung umzuwandeln und ihre Funktion zu ändern, ist für Anwendungen in regenerativen Therapien von entscheidender Bedeutung“, betont Otsuki. „Es macht es auch leichter, mit kleinen Modellen für Organe, sogenannten Organoiden, zu arbeiten und Gewebe zu entwickeln: Wir kennen jetzt die Signale, die Zellidentitäten steuern und können damit ihre Regenerationsleistung steigern. Die Nutzung solcher Signale könnte es ermöglichen, Zellen über ihre normalen biologischen Grenzen hinaus zu bringen.“ Die Zellen könnten damit völlig neue Aufgaben übernehmen – eine aufregende Perspektive für medizinische Innovationen.
Vielversprechend für die Regenerationsmedizin macht die Entdeckung vor allem, dass die Handregeneration von Axolotln auf den Hand2-Shh-Signalweg angewiesen ist. „Dieselben Gene kommen auch beim Menschen vor, und die Tatsache, dass der Axolotl diesen Schaltkreis im Erwachsenenalter wiederverwendet, um eine Gliedmaße zu regenerieren, ist spannend. Das deutet darauf hin, dass, wenn ein ähnliches Gedächtnis in menschlichen Gliedmaßen vorhanden ist, wir diese Signale eines Tages nutzen könnten, um neue Regenerationsfähigkeiten freizusetzen,“ sagt Elly Tanaka. „Unsere Entdeckung stimmt uns optimistisch, dass wir durch Hand2 zusammen mit anderen Erkenntnissen aus dem Axolotl-Modell irgendwann in der Lage sein könnten, Gliedmaßen bei Säugetieren nachwachsen zu lassen“, fügt Tanaka hinzu.
Originalpublikation:
Leo Otsuki, Sarah A. Plattner, Yuka Taniguchi-Sugiura, Francisco Falcon, Elly M. Tanaka:
„Molecular basis of positional memory in limb regeneration”. Nature, 2025. DOI: 10.1038/s41586- 025-09036-5
21.05.2025, Justus-Liebig-Universität Gießen
Rückgang des Kaspischen Meeres bedroht gefährdete Robben, Küstengemeinschaften und Wirtschaft
Klimawandel: Rapide sinkender Wasserstand im größten Binnenwassergebiet der Erde erfordert Handeln – Internationale Studie unter Beteiligung der Universität Gießen
Das Kaspische Meer in Zentralasien, der größte Binnensee der Welt, schrumpft aufgrund des Klimawandels. Das hat schwerwiegende Folgen für die Umwelt, die Menschen und die Wirtschaft in der Region, wie eine internationale Studie unter Beteiligung von Forschenden der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) zeigt. Selbst wenn die globale Erwärmung auf unter zwei Grad begrenzt wird, sinkt der Wasserspiegel des Kaspischen Meeres um fünf bis zehn Meter, so die Studie. Bei höheren Temperaturen könnte der Wasserspiegel des Sees bis zum Jahr 2100 sogar um 21 Meter sinken. Die Studie, in der die Forschenden die die potenziellen Risiken für die Biodiversität und die Infrastruktur der Region kartiert haben, ist in der Nature-Zeitschrift „Communications Earth & Environments“ veröffentlicht worden.
Das Kaspische Meer ist die Heimat von gefährdeten Tieren wie der Kaspischen Robbe und sechs Stör-Arten. Die sinkenden Wasserpegel bedrohen jedoch die Fortpflanzungsgebiete der Robben und die Laichplätze der Störe in flacheren Bereichen des Gewässers. Zugvögel finden in den Lagunen und Schilfgebieten Rastplätze, Schutz und Nahrung während ihrer transkontinentalen Reise. Diese Lebensräume könnten jedoch verloren gehen, wenn die Wasserstände weiter fallen. „Selbst in einem optimistischen Szenario für die globale Erwärmung würden unseren Ergebnissen zufolge bei einem Rückgang des Wasserspiegels um zehn Meter 112.000 Quadratkilometer trockenfallen – eine Fläche, die größer ist als Island“, so Prof. Dr. Thomas Wilke vom Institut für Allgemeine und Spezielle Zoologie der JLU, der mit seiner Arbeitsgruppe an der Studie beteiligt war. „Das ist dramatisch, da sich viele der ökologisch und ökonomisch wichtigsten Gebiete in den von der Austrocknung betroffenen Bereichen befinden.“ Und es birgt auch gesundheitliche Gefahren für die Menschen, da der freigelegte Seeboden mit Schadstoffen aus der Erdölförderung verunreinigt sein könnte.
Darüber hinaus werden die veränderten regionalen Klimabedingungen auch die Wirtschaft in der Region beeinflussen, so die Studie. Durch geringere Niederschläge und höhere Temperaturen drohen Ernteausfälle und damit wirtschaftliche Verluste für Landwirtinnen und Landwirte. Der sinkende Wasserspiegel beeinträchtigt auch die Infrastruktur in den Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres: So könnten die Häfen von Baku (Aserbaidschan), Anzali (Iran) und Aktau (Kasachstan), aber auch Ortschaften und Industrieanlagen in Zukunft mehrere Kilometer von der Küste entfernt sein, was Schifffahrt, Handel und Produktion erschweren würde. Auch die Fischerei, ein wichtiger Wirtschaftszweig in der Region, sowie die Offshore-Förderung von Öl wären betroffen.
„Es ist dringend notwendig zu handeln, um die Auswirkungen auf Natur, Menschen und Wirtschaft zu mildern“, betont Prof. Wilke. Das Forschungsteam empfiehlt, in die regionalen Kapazitäten für die Überwachung der biologischen Vielfalt, die nachhaltige Entwicklung und die Wiederherstellung von Ökosystemen zu investieren. Weil sich die Situation so schnell ändern kann, sollte es rechtlich ermöglicht werden, Schutzgebiete mit flexiblen Grenzen einzurichten. Zudem sollten die Küstengemeinden bei der wirtschaftlichen Diversifizierung und der Entwicklung einer widerstandsfähigen Infrastruktur unterstützt werden. „Dabei müssen die Regierungen der Anrainerstaaten gemeinsam handeln. Auch internationale Organisationen und die Zivilgesellschaft sollten involviert werden, um die enormen Herausforderungen zu bewältigen und die Zukunft des Kaspischen Meeres zu sichern“, so Prof. Wilke.
Beteiligt an der Studie waren Forschende der Universität Leeds (Großbritannien, Federführung), der TU Braunschweig, der TU Berlin, der Universität Bremen sowie Forschungsinstitute und Einrichtungen in den Anrainerstaaten Aserbaidschan, Kasachstan, Russland und Turkmenistan.
Originalpublikation:
Court R., Lattuada M., Shumeyko N., Baimukanov M., Eybatov T., Kaidarova A., Mamedov E. V., Rustamov E., Tasmagambetova A., Prange M., Wilke T., Hassall C., Goodman S. J. (2025). Rapid decline of Caspian Sea level threatens ecosystem integrity, biodiversity protection, and human infrastructure. Communications Earth & Environment 6, 261 (2025).
https://www.nature.com/articles/s43247-025-02212-5
21.05.2025, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung
Organoide enthüllen effektive Immunmechanismen gegen zoonotische Viren – Neue Einblicke in die antivirale Abwehr bei Fledertieren
Fledertiere gelten als natürliche Wirte für hochgefährliche Viren wie MERS- und SARS-verwandte Coronaviren sowie das Marburg- oder Nipah-Virus. Im Gegensatz zu den häufig tödlichen Krankheitsverläufen beim Menschen zeigen Fledertiere nach einer Infektion mit diesen Viren meist keine offensichtlichen Anzeichen einer viralen Erkrankung. Ein internationales Forschungsteam um Dr. Max Kellner und Prof. Josef Penninger – wissenschaftlicher Geschäftsführer des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) – hat nun eine innovative Organoid-Forschungsplattform entwickelt, mit der sie die zellulären antiviralen Abwehrmechanismen in den Schleimhäuten von Fledertieren genauer untersuchen konnten. Die Ergebnisse wurden jetzt im Fachjournal Nature Immunology veröffentlicht und könnten wegweisend für die Entwicklung neuer Therapien gegen virale Erkrankungen sein.
Um die Mechanismen der angeborenen Immunabwehr gegen Viren in Fledertieren aufzuklären, hat das Forschungsteam Organoide der Atemwege und des Darms aus Gewebe von Nilflughunden (Rousettus aegyptiacus), dem natürlichen Wirt des hochpathogenen Marburg-Virus und anderer zoonotischer Viren, hergestellt. „Aufgrund ihrer speziellen Lebensweise und der niedrigen Fortpflanzungsrate sind Fledertiere schwer zu untersuchen. Daher haben wir Organoide aus Schleimhautgewebe hergestellt, da diese sich in Kultur gut vermehren lassen und den ersten Kontakt mit Viren simulieren – Schleimhäute sind für viele Viren die Eintrittspforte in den Körper“, sagt Max Kellner, der seit April 2025 die Nachwuchsgruppe „Labor für Virus-Wirt Co-Evolution“ am HZI leitet.
Der Nilflughund gilt als natürlicher Wirt des hochpathogenen Marburg-Virus, das beim Menschen schweres hämorrhagisches Fieber auslösen kann und in 30 bis 90 Prozent der Fälle tödlich verläuft. Eine zugelassene Therapie oder Impfung gegen das Virus existiert bislang nicht. In enger Zusammenarbeit mit dem Team von Prof. Ali Mirazimi vom Karolinska-Institut in Stockholm konnten die Forschenden sowohl Flughund-Organoide als auch Organoide aus menschlichen Atemwegszellen im Hochsicherheitslabor der Schutzstufe 4 (S4) mit dem Marburg-Virus infizieren. Dabei zeigte sich, dass die Flughund-Organoide im Vergleich zu den menschlichen Modellen bereits vor einer Infektion eine deutlich erhöhte Grundaktivität der antiviralen Immunabwehr aufwiesen. „Unsere Experimente an Organoiden zeigten, dass die Epithelzellen von Nilflughunden im Vergleich zu denen des Menschen eine signifikant stärkere antivirale Grundabwehr und eine erhöhte Induktionsfähigkeit von antiviralen Reaktionen aufweisen, insbesondere durch das Interferon-System“, erklärt Max Kellner. „Interferone sind ein zentraler Bestandteil der angeborenen Immunabwehr und bekämpfen Virusinfektionen, indem sie Hunderte antiviraler Gene in Zellen aktivieren. Vermutlich ermöglicht dies Fledertieren, die Virusreplikation bereits früh in der Schleimhaut zu kontrollieren, während menschliche Zellen das Marburg-Virus zu Beginn der Infektion weniger effektiv erkennen, wodurch es sich ungehindert im Körper ausbreiten kann.“
Besonders Typ-III-Interferone spielen offenbar eine entscheidende Rolle in den Schleimhautzellen der Fledertiere: Nach der Infektion mit einer Vielzahl zoonotischer Viren reagierten Flughund-Organoide mit einer ausgesprochen starken Produktion dieser Interferone. Durch zusätzliche Stimulationsexperimente und genetische Modifikationen, wie etwa das gezielte Ausschalten des Interferon-Systems mittels CRISPR/Cas9, konnte die starke antivirale Aktivität der Interferone nachgewiesen werden. Zudem entdeckten die Forschenden einen selbstverstärkenden Genregulationsmechanismus der Typ-III-Interferone, der eine langanhaltende Schutzwirkung gegen Viren ermöglicht. „Die Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass Fledertiere durch eine Kombination verschiedener angeborener Immunprozesse in der Lage sind, unkontrollierte Virusvermehrungen zu verhindern, wodurch die Entstehung viraler Krankheiten wahrscheinlich verhindert wird“, sagt Josef Penninger. „Für die Entwicklung antiviraler Therapien und die Bekämpfung zukünftiger Pandemien ist es essenziell, die Resilienzmechanismen dieser Tiere gegenüber hochpathogenen Viren und die evolutionäre Anpassung ihres Immunsystems zu verstehen.“
Neben den neuartigen Erkenntnissen zu den antiviralen Mechanismen der Fledermaus-Schleimhäute bieten die entwickelten Organoide eine innovative Plattform, um die komplexe Biologie von Fledermäusen auf genetischer und molekularer Ebene zu untersuchen. Das Forschungsteam plant nun, die Organoid-Modelle in ihrer Komplexität weiterzuentwickeln und sie der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. „Uns ist es ein besonderes Anliegen, unsere Erkenntnisse und die neu entwickelte Plattform im Sinne der Demokratisierung allen Forschenden zugänglich zu machen“, sagt Penninger. „Nur gemeinsam können wir die komplexen Mechanismen verstehen, die die Evolution zum Beispiel bei den Fledertieren hervorgebracht hat, und davon ausgehend neue Ansätze für die Abwehr und Behandlung viraler Erkrankungen entwickeln.“
Gewebeproben für die Herstellung der Organoide stammten aus der Zuchtkolonie von Nilflughunden am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) in Greifswald. Der Großteil der Forschungsarbeiten wurde in Kooperation mit dem HZI an der Medizinischen Universität Wien und am Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (IMBA) am Vienna BioCenter durchgeführt.
Originalpublikation:
Max J. Kellner, Vanessa Monteil, Patrick Zelger, Gang Pei, Jie Jiao, Masahiro Onji, Komal Nayak, Matthias Zilbauer, Anne Balkema-Buschmann, Anca Dorhoi, Ali Mirazimi, Josef M. Penninger: Bat organoids reveal antiviral responses at epithelial surfaces. Nature Immunology, 2025, DOI: 10.1038/s41590-025-02155-1
21.05.2025, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Zauneidechsen fühlen sich an Bahngleisen wohl
Als streng geschützte Art sind Zauneidechsen auf den Erhalt ihrer Lebensräume angewiesen – gerade angesichts rückläufiger Bestände in Deutschland. Zauneidechsen finden an Bahnstrecken teils ideale Lebensbedingungen – das zeigt eine neue Studie des Museums für Naturkunde Berlin. Rund 80 Tiere wurden an einer Bahnstrecke in Brandenburg besendert und über mehrere Jahreszeiten hinweg beobachtet. Die Ergebnisse belegen: Die Tiere bewegen sich oft nur auf kleinstem Raum, da sie hier alles finden, was sie benötigen – Nahrung, Sonnenplätze, Verstecke und Eiablageorte. Die Erkenntnisse helfen nun dabei, Schutzmaßnahmen bei Bahnprojekten gezielter zu planen.
Das Ziel einer Studie von Forschenden des Museums für Naturkunde war es herauszufinden, wie Zauneidechsen ihre Lebensräume an Bahnstrecken genau nutzen. Dafür statteten sie knapp 80 Zauneidechsen an einer Bahnstrecke südlich von Frankfurt (Oder) mit kleinen Sendern aus und beobachteten sie während verschiedener Jahreszeiten in ihrem Lebensraum. „Es war gar nicht so einfach eine Besenderungsmethode für Zauneidechsen zu finden, bei der die Tiere sich weiter ohne Einschränkung bewegen können“, berichtet Alina Janssen vom Museum für Naturkunde Berlin. „Die Sender dürfen zum Beispiel nicht über die Zauneidechse hinausragen, da sich die Tiere dann leicht damit in der dichten Vegetation verfangen.“ Schließlich habe die Forschenden eine Methode gefunden, bei der der Sender vorsichtig am Schwanz befestigt werden kann und dann für bis zu drei Wochen den Aufenthaltsort der Eidechse verrät, bevor er von alleine abfällt.
„Die Aktionsräume der Zauneidechse waren im Vergleich zu Studien aus anderen Lebensräumen sehr klein. Manche Eidechsen bewegten sich wirklich nur wenige Meter entlang des Bahndamms“, berichtet Mark-Oliver Rödel, Reptilienexperte am Museum für Naturkunde Berlin. „Das zeigt, dass Zauneidechsen an Bahnstrecken sehr gute Bedingungen vorfinden, da sie auf kleinem Raum alles haben, was sie über das Jahr hinweg benötigen: genügend Insekten als Nahrungsgrundlage, Versteck- und Schlafplätze, Orte zum Sonnen und Möglichkeiten für die Eiablage. Sie können also Energie sparen und müssen sich nicht über weite Strecken bewegen. Dadurch sind sie auch weniger Gefahren durch Fressfeinde ausgesetzt“. Im Sommer, wenn der Bahnschotter sich durch die Sonneneinstrahlung stark erwärmt, nutzen Zauneidechsen den Schotter bevorzugt als Schlafplatz, da die Steine nachts am längsten die Wärme halten.
Für die Zauneidechse, deren Bestände gerade deutschlandweit zurück gehen, ist der sorgsame Umgang mit den verbleibenden Populationen von besonderer Bedeutung. Die genaue Kenntnis der Bewegungsmuster der Zauneidechsen kann nun dabei helfen, Schutzmaßnahmen bei Bauprojekten der Bahn noch besser zu planen.
Publikation: Janssen, Alina, Staab, Michael & Mark-Oliver Rödel (2025): Home ranges of Sand Lizards, Lacerta agilis (Squamata: Sauria: Lacertidae), along railway tracks. – SALAMANDRA 61(2): 240–255
Link: https://www.salamandra-journal.com/index.php/contents/2025-vol-61/2183-janssen,-…
23.05.2025, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Reptilienhaut und Geselligkeit unter den frühen Säugetiervorfahren
Ein internationales Forschungsteam vom Museum für Naturkunde Berlin, aus Magdeburg und Paris hat erstmals Liegespuren mit Hautabdrücken von frühen Säugetierverwandten untersucht. Die 290 Millionen Jahre alten Spurenfossilien wurden vor über 100 Jahren im Tambacher Sandstein der berühmten Bromacker-Fossillagerstätte im UNESCO-Geopark Thüringen entdeckt und im Rahmen des laufenden BROMACKER-Forschungsprojekts neu erforscht. Diese geologisch ältesten Liegespuren von frühen Säugetierverwandten liefern einzigartige Erkenntnisse über eine reptilienartige Beschuppung sowie das Sozialverhalten unserer frühen Vorfahren. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Current Biology veröffentlicht.
Was kam vor dem Haarkleid der Säugetiere? Dafür gab und gibt es kaum direkte Belege. In den etwa 290 Millionen Jahre alten Tambacher Sandsteinen der Bromacker Fossillagerstätte gibt es jedoch besonders detailliert erhaltene Fußspuren und Liegespuren mit Hautabdrücken, die im Rahmen des BROMACKER-Projektes des Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt (ehemals BMBF) neu untersucht wurden.
„Es zeigt sich immer wieder, dass bestimmte Merkmale und Eigenschaften heutiger Wirbeltiere, beispielsweise die Hautstruktur, Lebensweise oder das Sozialverhalten, im Verlauf der Evolutionsgeschichte früher auftraten, als man das zunächst annahm“, erklärt Prof. Jörg Fröbisch, Seniorautor der Studie. „Die Studie zeigt erneut die weltweit einzigartige Bedeutung der Fossillagerstätte am Bromacker und ihr enormes Potenzial für die zukünftige Forschung.“
Schuppen an Bauch, Beinen, Schwanz
Ist der Schlamm sehr feinkörnig und wasserhaltig, dann drücken sich die Füße und andere Körperteile mit sehr großer Detailgenauigkeit ab. Aus den Fundschichten des Tambacher Sandsteins sind unter anderem Hautfalten an den Zehen sowie verschiedene Schuppenformen an Ober- und Unterschenkeln, an der Unterseite des Schwanzes, im Hüftbereich und am Bauch zu erkennen, die sich oftmals zusammen in Form einer Liegespur-, Ruhe- oder Suhlspur erhalten haben. Die Reihung und Form der Schuppenabdrücke – mal rautenförmig, rechteckig, fünf- bis vieleckig, manchmal dachziegelartig überlappend – erinnert sehr stark an die Hornschuppen häutiger Reptilien.
Gemeinsames „Abhängen“
Manche dieser Spurenplatten – von denen eine große Anzahl heute im Magazin der Friedenstein Stiftung Gotha aufbewahrt werden – weisen mehrere Liegespuren nebeneinander auf. Einige zeigen parallel verlaufende Fährten; wahrscheinlich sind Tiere der gleichen Art nebeneinander hergelaufen. Wahrscheinlich haben die Spurenerzeuger – wie Dimetrodon teutonis – sich ähnlich wie heutige Echsen und Säugetiere in warmen und trockenen Klimaten in flachen Tümpeln und Pfützen gemeinsam gesuhlt, ausgeruht und abgekühlt. Aus solchen Zusammentreffen könnte später das komplexe Gruppenverhalten der Säugetiere hervorgegangen sein.
Publikation: Marchetti, L., Logghe, A., Buchwitz, M., and Fröbisch, J. 2025. Early Permian synapsid impressions illuminate the origin of epidermal scales and aggregation behaviour. Current Biology. doi: 10.1016/j.cub.2025.04.077 für den Artikel.
Weiterführende Informationen:
Woher stammen die Säugetiere ab?
Die Evolutionslinie der Säuger – die sogenannten Synapsiden, zu denen also auch unsere eigenen frühen Vorfahren gehören – ist schon sehr alt. Sie ist die Schwestergruppe der heutigen Reptilien und Vögel, die sich gemeinsam mit den Synapsiden schon vor über 320 Millionen Jahren von der Stammeslinie trennten – lange bevor die typischen Säugetier-Merkmale wie Haare und Milchdrüsen erstmals auftraten. Aus dem späten Erdaltertum sind kaum fossile Hautreste im Zusammenhang mit versteinerten Wirbeltierskeletten bekannt, schon gar nicht von den frühen Säugetierverwandten, von denen viele so wie der vierbeinige Rückensegel-Träger Dimetrodon eher an Echsen erinnern.
Woher weiß man, dass die Spuren von Säugetierverwandten stammen?
Es gibt bestimmte Merkmale der Fußabdrücke, die zusammen mit den Liegespuren vorkommen und von denselben Tieren stammen. Diese weisen eine lange Ferse, tiefe Eindrücke der Zehenansätze, schmale kurze Zehen und tiefe Eindrücke der Krallen an den Zehenspitzen auf und lassen sich anhand dieser Merkmale Säugetierverwandten zuordnen, die von derselben Fundstelle als Skelette belegt sind.
Bereits vor 290 Millionen Jahren setzten Tiere aus der Stammgruppe der Säugetiere ihre Hände und Füße „tatzenförmig“ mit nach oben gewölbten Fingern und Zehen auf, was sich im Fußabdruck widerspiegelt. Besonders die Rückensegelechse Dimetrodon teutonis, die man durch eine Anzahl von Funden von der Grabungsstelle in unmittelbarer Nachbarschaft der Sandsteinbrüche kennt, passt von der Größe und Fußform her zu den Spuren.
23.05.2025, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Hitzewellen in der Nordsee setzen Plankton zu
Weltweit steigen die Temperaturen kontinuierlich – auch in der Nordsee. Doch nicht nur die graduelle Erwärmung, auch immer häufigere und plötzlich auftretende Hitzeereignisse haben Folgen für die Organismen in der Deutschen Bucht. Forschende der Biologischen Anstalt Helgoland des Alfred-Wegener-Instituts haben die Häufigkeit und Intensität von Hitzewellen und deren Auswirkungen auf das Plankton quantifiziert. Ihr Fazit: Die graduelle Erwärmung sorgt für erhebliche Verschiebungen im Artenspektrum. Kommen dann noch Hitzewellen hinzu, verändern diese das Ergebnis zu Ungunsten der meisten Gruppen. Die Ergebnisse wurden in drei aufeinanderfolgenden Publikationen veröffentlicht.
Meeresspiegelanstieg, zahlreiche neu eingeschleppte Arten und eine Erwärmung um 1,9 Grad Celsius seit 1962 – die Nordsee, so viel ist klar, verändert sich derzeit so massiv wie seit Jahrtausenden nicht mehr. Und dennoch entsteht durch die aus menschlicher Sicht langen Zeitskalen des Klimawandels oft der Eindruck, diese Veränderungen vollzögen sich langsam und graduell, seien vielleicht gar nicht so gravierend, weil sich viele Organismen ja nach und nach anpassen könnten. „In diesem Bild fehlt allerdings ein entscheidendes Puzzleteil“, sagt Dr. Cédric Meunier. „Und das sind die marinen Hitzewellen.“
Cédric Meunier erforscht die Ökologie von Schelfmeersystemen an der Biologischen Anstalt Helgoland (BAH), die seit 1998 Teil des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) ist. Gemeinsam mit Forschenden aus unterschiedlichsten Disziplinen hat er die Hitzewellen unter der Meeresoberfläche genauer unter die Lupe genommen.
Bei einer solchen Hitzephase steigen die Wassertemperaturen – meist als Folge einer vorangegangenen atmosphärischen Hitzewelle – plötzlich an und liegen dann für mehrere Tage deutlich über dem Durchschnitt. Die Forschenden wollten nun wissen, welche Folgen das für die Organismen hat. Dazu haben sie Messdaten aus der Vergangenheit analysiert, die Häufigkeit und Intensität von Hitzewellen der vergangenen Jahrzehnte bis heute untersucht und das Nordseeökosystem im Experiment in die Zukunft geschickt. Die Ergebnisse haben sie im Rahmen von zwei Forschungsarbeiten (Vergangenheit und Gegenwart) veröffentlicht. Die nun erschienene dritte Arbeit schließt die Gesamtbetrachtung zu Hitzewellen mit dem Blick in die Zukunft ab.
Der Blick zurück war durch eine der weltweit wichtigsten Langzeitreihen möglich. Denn dank der Arbeit zahlreicher Helgoländer Forschender ist der Einfluss des Klimawandels auf das Ökosystem Nordsee seit 1962 in der Messdatenreihe Helgoland Reede lückenlos dokumentiert. In der Analyse der Temperaturdaten durch das Team um den Ökologen Dr. Luis Gimenez zeigte sich, dass marine Hitzewellen in der Deutschen Bucht im Laufe der Jahrzehnte bis heute immer häufiger geworden sind und auch länger andauern. Am häufigsten treten sie dabei im Spätsommer auf, wenn auch die Durchschnittstemperaturen im Jahresgang am höchsten sind.
Eine weitere Studie zeigte, dass Hitzewellen bereits in der Vergangenheit deutlich messbare Auswirkungen auf die Organismen hatten. „Wir haben festgestellt, dass sich das mittelgroße Zooplankton, zu dem unter anderem auch Ruderfußkrebse zählen, in Folge kurzzeitig hoher Temperaturen deutlich verändert“, erklärt die BAH-Wissenschaftlerin Margot Deschamps. „Manche Gruppen waren nach einer Hitzewelle zumindest zeitweise dezimiert, andere konnten offenbar sogar profitieren und waren häufiger.“
Im dritten, nun im Fachmagazin Limnology and Oceanography erschienenen Forschungsartikel, wirft das Forschungsteam einen Blick in die Zukunft. Dazu nutzten sie eine der weltweit modernsten Mesokosmen-Anlagen in der AWI-Wattenmeerstation Sylt. Jeder der 30 zylindrischen Tanks (Mesokomsos) ist 85 Zentimeter hoch, 170 Zentimeter breit und fasst 1.800 Liter Seewasser. Durch gezielte Manipulation von Temperatur, pH-Wert und Nährstoffgehalt des Wassers können die Forschenden die Bedingungen der Welt von morgen simulieren und so den Mesokosmos mitsamt des darin lebendenden Planktons wie eine Zeitmaschine in die Zukunft schicken.
Im Experiment setzte das Team die Nordseebewohner den Bedingungen von heute und zum Vergleich den Bedingungen aus, die der Weltklimarat IPCC im „Weiter-so-wie-bisher“-Entwicklungsszenario RCP 8.5 für das Jahr 2100 beschreibt. In diesem Szenario werden die CO2-Emissionen der Weltgemeinschaft bis 2100 weiter auf 30 Gigatonnen ansteigen, was zu einer globalen Erwärmung von etwa 4°C führen wird. Sowohl der heute- als auch der „Weiter-so-wie-bisher“-RCP 8.5 Ansatz wurden zudem ohne und mit einer Hitzewelle durchgeführt, welche das Wasser für fünf Tage um 2 Grad Celsius über dem Durchschnitt erwärmte.
„Im Ergebnis zeigte sich, dass der Klimawandel auf vielen Ebenen der Planktongemeinschaft für Verschiebungen sorgt, die durch Hitzewellen noch verstärkt oder modifiziert werden“, erklärt Cédric Meunier. „Bestimmte Bakteriengruppen profitieren von den Umweltveränderungen, unter anderem einige Bakterien der auch für Menschen potenziell gefährlichen Gattung Vibrio“. Beim Phytoplankton bleibt zwar die Gesamtbiomasse konstant, die Artenzusammensetzung verschiebt sich im RCP 8.5 Szenario jedoch zugunsten kleinerer Arten. Bei zusätzlichen Hitzewellen profitieren dann besonders Phytoflagellaten und die mit Kalkplättchen ausgestatteten Coccolithophoriden. Beim Zooplankton kommt es zu noch stärkeren Verschiebungen. Insbesondere beim mittelgroßen Mesozooplankton beobachten wir zusätzlich eine Abnahme der Gesamtbiomasse unter wärmeren Bedingungen. Bei zusätzlichen Hitzewellen leidet dann besonders das Meeresleuchttierchen Noctiluca scintillans, das für seine Biolumineszenz bekannt ist.“
Zusammen machen alle drei Forschungsarbeiten deutlich: Die kontinuierlich steigenden globalen Temperaturen verändern die Artengemeinschaft des Nordseeplanktons massiv. Ein reiner Fokus auf Durchschnittstemperaturen reicht jedoch für Zukunftsprognosen nicht aus. Denn auch kurzfristige Ereignisse wie Hitzewellen verstärken und verändern diese Effekte noch. „Daher ist es wichtig, nicht nur die langfristigen Klimatrends, sondern auch kürzere Ereignisse wie Hitzewellen im Auge zu behalten“, sagt Cédric Meunier. „Denn die Auswirkungen von marinen Hitzewellen verändern die Basis des Nahrungsnetzes ganz erheblich. Und das könnte auch Folgen für höhere Ebenen wie Fische haben.“
Originalpublikation:
Luis Giménez, Maarten Boersma, and Karen H. Wiltshire: A multiple baseline approach for marine heatwaves ; Limnology and Oceanography (2024). DOI: 10.1002/lno.12521
https://aslopubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/lno.12521
Margot Deschamps, Maarten Boersma, Luis Giménez : Responses of the mesozooplankton community to marine heatwaves: Challenges and solutions based on a long‐term time series; Journal of Animal Ecology (2024). DOI: 10.1111/1365-2656.14165
https://doi.org/10.1111/1365-2656.14165
Cédric L. Meunier, Josefin Schmidt, Antonia Ahme, Areti Balkoni, Katharina Berg, Lea Blum, Maarten Boersma, Jan D. Brüwer, Bernhard M. Fuchs, Luis Gimenez, Maïté Guignard, Ruben Schulte-Hillen, Bernd Krock, Johannes Rick, Herwig Stibor, Maria Stockenreiter, Simon Tulatz, Felix Weber, Antje Wichels, Karen Helen Wiltshire, Sylke Wohlrab, Inga V. Kirstein: Plankton communities today and tomorrow – impacts of multiple global change drivers and marine heatwaves in a mesocosm experiment; Limnology and Oceanography (2025). DOI: 10.1002/lno.70042
https://aslopubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/lno.70042