Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

12.05.2025, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Erster Nachweis von Mutter-Kind-Bindungstypen bei freilebenden Schimpansen
Forschende des CNRS Instituts für Kognitionswissenschaft der Université Claude Bernard in Lyon und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben erstmals verschiedene Typen von Mutter-Kind-Bindungen bei freilebenden Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste identifiziert. Die Studie zieht Parallelen zur menschlichen Psychologie und liefert überzeugende Belege dafür, dass junge Schimpansen – ähnlich wie menschliche Kinder – sichere und unsicher-vermeidende Bindungsmuster zu ihren Müttern entwickeln.Im Gegensatz zu Menschen und einigen in menschlicher Obhut lebenden Schimpansen zeigen freilebende Schimpansen jedoch keine desorganisierten Bindungen.
Auf den Punkt gebracht
– Mutter-Kind-Bindung in freier Wildbahn: Freilebende Schimpansen entwickeln sichere oder unsicher-vermeidende Bindungen zu ihren Müttern, aber keine desorganisierten Bindungen, was darauf hindeutet, dass dies in freier Wildbahn keine geeignete Überlebensstrategie ist.
– Bindungstypen: Schimpansen mit einer sicheren Bindung sind selbstsicher, während Schimpansen mit einer unsicher-vermeidenden Bindung unabhängiger sind. Desorganisierte Bindung, die bei Menschen und Schimpansen in menschlicher Obhut häufig vorkommt, wird mit emotionalen und psychischen Problemen in Verbindung gebracht.
– Kindererziehung beim Menschen: Ein besseres Verständnis dafür, wie das Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, Bindungsmuster beeinflusst und wie frühe Lebenserfahrungen die soziale und emotionale Entwicklung prägen können, hilft möglicherweise dabei, effektivere Erziehungsstrategien zu entwickeln.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie die Beziehung zu Ihren Eltern in Ihrer Kindheit Sie zu dem Menschen gemacht hat, der Sie heute sind? Forschende wissen seit langem, dass die frühe Bindung an Bezugspersonen eine entscheidende Rolle in der menschlichen Entwicklung spielt, aber wie sieht es bei einem unserer nächsten Verwandten aus, dem Schimpansen?
Indem sie das Verhalten von freilebenden Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste über einen Zeitraum von vier Jahren beobachteten, fanden Forschende heraus, dass junge Schimpansen, genau wie Menschenkinder, verschiedene Typen von Bindungen zu ihren Müttern entwickeln. Einige fühlen sich sicher, verlassen sich in Zeiten der Not auf ihre Mutter und erkunden selbstbewusst ihre Umgebung, weil sie wissen, dass die Mutter für sie da ist. Andere haben eine unsicher-vermeidende Bindung, was bedeutet, dass sie unabhängiger sind und nicht so sehr den Beistand der Mutter suchen. Im Gegensatz zu Menschen, bei denen 23,5 Prozent der Kinder eine desorganisierte Bindung haben, und in menschlicher Obhut lebenden Schimpansenwaisen, von denen 61 Prozent diesen Bindungstyp aufweisen, zeigen Schimpansen in freier Wildbahn keine Anzeichen desorganisierter Bindung.
Keine desorganisierte Bindung bei freilebenden Schimpansen
Beim Menschen entsteht eine desorganisierte Bindung, wenn ein Kind Angst, Trauma oder Aggression durch seine Bezugsperson erlebt. Als Folge kann das Kind widersprüchliche Verhaltensweisen zeigen, indem es Zuneigung sucht, aber auch Angst vor der Bezugsperson hat. Diese Art der Bindung kann zu Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation, der sozialen Integration und zu langfristigen psychischen Problemen führen. Eine desorganisierte Bindung gilt als maladaptiv bzw. schlecht angepasst, weil sie das Kind im Unklaren darüber lässt, wie es in Zeiten der Not reagieren soll. Das beeinträchtigt die Fähigkeit des Kindes zur effektiven Bewältigung der Notsituation und kann sein Überleben insgesamt gefährden.
In menschlicher Obhut lebende Schimpansen, insbesondere von Menschen aufgezogene Waisenkinder, entwickeln häufig desorganisierte Bindungen, wahrscheinlich aufgrund des Fehlens einer festen Bezugsperson. In freier Wildbahn hingegen, wo Schimpansen in stabilen Familienstrukturen aufwachsen und dem natürlichen Überlebensdruck durch Raubtiere ausgesetzt sind, fanden die Forschenden keine Hinweise auf desorganisierte Bindungen. „In freier Wildbahn haben wir keine Hinweise auf desorganisierte Bindungsmuster gefunden, was die Annahme unterstützt, dass diese Art der Bindung möglicherweise keine adaptive Überlebensstrategie gegenüber Umwelteinflüssen ist“, sagt Erstautorin Eléonore Rolland. Dies deutet darauf hin, dass es zwar gelegentlich zu desorganisierten Bindungen bei freilebenden Schimpansen kommen kann, diese Individuen aber wahrscheinlich nicht überleben oder sich fortpflanzen.
Kindererziehung beim Menschen neu betrachtet
Die Bindungstheorie ist ein Schlüsselkonzept in der Psychologie, das erklärt, wie frühe Beziehungen die emotionale und soziale Entwicklung eines Menschen beeinflussen. Eine sichere Bindung ist mit Selbstvertrauen und Resilienz verbunden, während eine unsichere und desorganisierte Bindung zu Angst, Stress oder Beziehungsschwierigkeiten führen kann. Die Tatsache, dass Schimpansen in freier Wildbahn nur sichere oder unsicher-vermeidende Bindungen zeigen, wirft neue Fragen über die Kindererziehung beim Menschen auf. „Die Ergebnisse unserer Studie erweitern unser Wissen über die soziale Evolution bei Schimpansen und zeigen, dass Menschen und Schimpansen gar nicht so verschieden sind“, sagt Eléonore Rolland. „Sie geben uns aber auch zu denken: Haben sich einige menschliche Institutionen oder Betreuungspraktiken möglicherweise von dem entfernt, was für die Entwicklung von Kleinkindern am besten ist?“
Einblicke in die Ursprünge menschlichen Sozialverhaltens
„Durch die Identifizierung von Bindungsmustern bei freilebenden Schimpansen gewinnen wir wichtige Erkenntnisse über die Ursprünge des menschlichen Sozialverhaltens“, sagt Roman Wittig, leitender Autor und Leiter des Taï Chimpanzee Project. Die Studie schlägt eine Brücke zwischen Psychologie, Tierverhalten und Anthropologie und erklärt, wie sich Bindungsstrategien über Artgrenzen hinweg entwickelt haben könnten. Catherine Crockford, leitende Autorin und Forschungsgruppenleiterin an der Université Claude Bernard Lyon1, fügt hinzu: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Bindungsstrategien bei Primaten ein gemeinsames evolutionäres Erbe widerspiegeln könnten. Die hohe Prävalenz desorganisierter Bindungen bei Menschen und Schimpansenwaisen in menschlicher Obhut im Gegensatz zu freilebenden Schimpansen unterstützt zudem die Annahme, dass das Umfeld während des Aufwachsens eine wichtige Rolle bei der Ausprägung von Bindungstypen spielt.“
Diese Erkenntnisse helfen uns, Schimpansen und Menschen besser zu verstehen, und regen zum Nachdenken darüber an, wie frühe Lebenserfahrungen die soziale und emotionale Entwicklung verschiedener Spezies beeinflussen können.
Originalpublikation:
Eléonore Rolland, Oscar Nodé-Langlois, Patrick J. Tkaczynski, Cédric Girard-Buttoz, Holly Rayson, Catherine Crockford, Roman M. Wittig
Evidence of organized but not disorganized attachment in wild Western chimpanzee offspring (Pan troglodytes verus)
Nature Human Behaviour, 12 May 2025, https://doi.org/10.1038/s41562-025-02176-8

12.05.2025, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
40 neue philippinische Schmetterlingsarten in Sammlung entdeckt
Forschende des Museums für Naturkunde Berlin haben in zwei aktuellen Studien insgesamt 40 bisher unbekannte Schmetterlingsarten aus den Philippinen beschrieben. Dabei haben sie Material aus der Sammlung untersucht, was die hohe Relevanz naturkundlicher Sammlungen bei der Biodiversitätsentdeckung unterstreicht. Die neuen Arten gehören zur Gruppe der Zünslerfalter (Crambidae) – einer vielfältigen Familie mit oft unscheinbaren, aber ökologisch bedeutenden Faltern. Die Entdeckungen basieren auf der sogenannten Integrativen Taxonomie, die genetische und äußere Merkmale kombiniert, um Arten sicher zu identifizieren.
„Die Philippinen gehören zu den Hotspots der globalen Biodiversität. Viele Tiere und Pflanzen kommen ausschließlich dort vor – sind also endemisch. Gleichzeitig sind diese einzigartigen Lebensräume durch Abholzung und Bevölkerungsdruck stark bedroht“, erklärt Théo Léger, Schmetterlingsforscher am Museum für Naturkunde Berlin. „Es ist deshalb besonders dringend, die Artenvielfalt dieser Region zu dokumentieren, bevor sie verloren geht.“
Die erste der beiden Studien befasste sich mit zwei Unterfamilien der Zünslerfalter, Crambinae und Scopariinae, und wurde von Théo Léger geleitet. Die zweite Studie entstand im Rahmen der Bachelorarbeit von Anne Müller und widmete sich der kürzlich als eigenständig anerkannten Unterfamilie Lathrotelinae. Beide Forschungen basierten auf rund 700 Sammlungsexemplaren aus Berlin und Kopenhagen.
Die Ergebnisse sind bemerkenswert: Mehr als die Hälfte der untersuchten Arten erwiesen sich als neu für die Wissenschaft. Außerdem entdeckte das Forschungsteam zahlreiche sogenannte „kryptische Arten“ – äußerlich kaum unterscheidbare Tiere, die genetisch jedoch eigenständige Arten darstellen.
Für diese Studie mussten die Forscher keinen Fuß in die Tropen setzen: die neu beschriebenen Arten wurden bereits vor 30 Jahren auf den Philippinen gesammelt und lagen unerforscht in der Sammlung des Museums für Naturkunde. Die Entdeckung neuer Arten ist von großer Bedeutung. Jede Art spielt eine Rolle im Ökosystem. Zudem liefern solche Erkenntnisse wichtige Hinweise auf evolutionäre Prozesse, klimatische Anpassungen und den Zustand von Lebensräumen. Zu den Zünslerfaltern gehört beispielsweise auch der Reisstengelbohrer, einer der schwerwiegendsten Schädlinge im Reisanbau in Süd- und Südostasien (Indien, Bangladesch, Indonesien, Philippinen).
Die Forschenden betonen, dass auf den Philippinen viele Gebiete – vor allem in abgelegenen Bergregionen – noch kaum wissenschaftlich untersucht sind. Künftige Expeditionen versprechen daher weitere spektakuläre Funde.
Publikation:
Léger, T. (2024). Half of the Diversity Undescribed: Integrative Taxonomy Reveals 32 New Species and a High Cryptic Diversity in the Scopariinae and Crambinae of the Philippines (Lepidoptera: Crambidae). Bulletin of the Society of Systematic Biologists, 3(2). https://doi.org/10.18061/bssb.v3i2.9527
Müller, A, Hayden, J, Lees, DC, Léger, T (2025). Assessment of species diversity of the Lathrotelinae (Lepidoptera: Crambidae) from the Philippines using morphology and DNA barcoding reveals eight new species. Journal of Asia-Pacific Biodiversity, 2025.
https://doi.org/10.1016/j.japb.2025.01.012

14.05.2025, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Neue Studie zeigt die Ausbreitungsmuster des Waschbären in Deutschland und Europa
Ein Frankfurter Forschungsteam hat Jagddaten aus zwei Jahrzehnten und 398 deutschen Landkreisen wissenschaftlich ausgewertet. Ziel der Untersuchung war es, die verschiedenen Invasionsstadien des ursprünglich aus Nordamerika stammenden Waschbären in Deutschland zu identifizieren. Die Studie zeigt, dass Waschbären während ihrer Ausbreitung in Deutschland verschiedene Etappen durchlaufen – von ersten Vorkommen über starkes Wachstum bis zur Stabilisierung. Besonders viele der maskierten Raubtiere gibt es in Nordhessen und Nordostbrandenburg, wo deren Ausbreitung aber mittlerweile stagniert. In anderen Regionen, wie im Südwesten Deutschlands, steckt die Verbreitung noch in den Anfängen.
Der weltweite Wandel führt dazu, dass sich die Zusammensetzung von Tier- und Pflanzenarten in vielen Lebensräumen stark verändert. Dabei spielen invasive, gebietsfremde Arten wie Nilgänse, Marderhunde, Nutrias oder Waschbären eine ernstzunehmende Rolle beim Rückgang der Artenvielfalt. In Deutschland streifen mittlerweile mehr Waschbären durch Wälder und Städte als in jedem anderen Land außerhalb ihres ursprünglichen Verbreitungsgebietes. „Ursprünglich stammen Waschbären (Procyon lotor) aus Nordamerika, mittlerweile gibt es Schätzungen zu folge zwischen 1,6 und 2 Millionen der maskierten Säugetiere in der Bundesrepublik“, erklärt Prof. Dr. Sven Klimpel vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum und der Goethe-Universität Frankfurt und fährt fort: „Diese invasive Art breitet sich seit Jahrzehnten kontinuierlich in Deutschland und von hier aus über ganz Europa aus – in unserer neuen Studie haben wir diese Ausbreitung räumlich und zeitlich eingeordnet. Unser Ziel ist es, durch ein umfassendes Verständnis der Populationsdynamik im Invasionsprozess einen erfolgreichen und nachhaltigen Umgang mit invasiven Arten, wie dem Waschbären, zu erreichen.“
Hinzu kommt, dass die wirtschaftlichen Folgen invasiver, gebietsfremder Arten immer deutlicher werden – etwa durch Schäden oder aufwändige Gegenmaßnahmen, besonders in der Landwirtschaft und im Gesundheitswesen. „Die Verbesserung unseres Verständnisses der räumlichen und zeitlichen Dynamik der Ausbreitung dieser Arten und ihrer Triebkräfte ist daher notwendig. Um effektive Gegenmaßnahmen zu entwickeln ist die Bewertung des früheren, aktuellen und zukünftigen Stadiums des Invasionsprozesses von zentraler Bedeutung, da die empfohlenen Maßnahmen und ihre Erfolgschancen maßgeblich von der jeweiligen Situation abhängen“, so Klimpel.
Denn ob sich eine Tierart in einem neuen Gebiet dauerhaft etablieren kann, hängt zunächst von den vorherrschenden Umweltbedingungen ab. Stimmen diese mit den Lebensansprüchen der Art im Ursprungsgebiet überein, ist eine Ansiedlung möglich. Ebenso entscheidend sind biologische Wechselwirkungen mit anderen Arten – insbesondere in der frühen Phase, wenn die Population der eingeschleppten Tierart noch klein ist. Günstige Bedingungen, eine ausgeprägte Konkurrenzfähigkeit, wiederholte Einführungen und eine ausreichende Ressourcenverfügbarkeit können dagegen eine rasche Ausbreitung begünstigen. „Beim Waschbären treffen all diese Faktoren zu: Er verfügt über eine breite ökologische Nische, ist als anpassungsfähiger Allesfresser äußerst flexibel und fühlt sich auch in siedlungsnahen Gebieten wohl. Dadurch kann er mit heimischen Arten in Konkurrenz treten und diese sogar nachhaltig verdrängen – dies ist heute beispielsweise schon bei Amphibien und Reptilien zu beobachten. Dennoch fehlten bislang systematische Methoden, um die räumliche Verbreitung des Waschbären flächendeckend und vergleichbar zu erfassen – genau hier setzt unsere Studie an“, erläutert der Frankfurter Wissenschaftler.
Für die Untersuchung der Waschbär-Ausbreitung in Deutschland wertete das Forschungsteam rund um Erstautorin Dr. Sarah Cunze von der Goethe-Universität Frankfurt Jagdstatistiken aus 21 Jahren und 398 deutschen Landkreisen aus. Diese Daten werden regelmäßig von den zuständigen Behörden erfasst und gelten als zuverlässiger Indikator für langfristige Veränderungen bei Wildtierbeständen. Neben den offiziell erlegten Tieren berücksichtigte die Analyse auch angezeigte Unfalltiere und Meldungen aus dem Forschungsprojekt ZOWIAC.
„Es zeigt sich, dass Waschbären während ihrer Ausbreitung verschiedene Phasen durchlaufen – von ersten Sichtungen über rasches Wachstum bis hin zur Stabilisierung auf hohem Niveau. Unsere neu entwickelte Methode ermöglicht es erstmals, diese Ausbreitungsphasen auf regionaler Ebene präzise zu erfassen“, legt Cunze dar. Die Analyse zeigt, dass die anfänglichen „Hotspots“ der Ausbreitung in Nordhessen (z.B. in Kassel) und in Nordost-Brandenburg lagen. Die Daten decken sich mit bekannten historischen Ereignissen: 1934 wurden zwei Waschbär-Zuchtpaare in der Nähe des Edersees in Nordhessen für Jagdzwecke freigelassen. Vermutlich kamen im Laufe der Zeit weitere absichtliche oder unbeabsichtigte Freisetzungen hinzu, die es ermöglichten, dass sich dort frühzeitig eine stabile Population etablieren konnte. Eine zweite Gründerpopulation in Brandenburg geht auf 25 Tiere zurück, die 1945 aus einer Pelztierfarm in Wolfshagen entkamen.
„In diesen Regionen befindet sich die Ausbreitung der vorwiegend dämmerungs- und nachtaktiven Raubtiere in einer späten Phase der Invasion, in denen das Populationswachstum allmählich eine Sättigung erreicht oder sich bereits auf hohem Niveau stabilisiert hat und nur noch natürlichen Schwankungen unterliegt. In anderen Teilen Deutschlands, insbesondere im Südwesten, befindet sich der Waschbär dagegen noch in einer frühen Expansionsphase“, fügt Cunze hinzu.
Laut den Forschenden sind Jagddaten ein effektives Werkzeug, um die Ausbreitung invasiver Arten wie des Waschbären besser zu verstehen. Durch die Verknüpfung von zeitlichen Trends mit der räumlichen Ausbreitung gibt dieser Ansatz Einblicke in die Sättigung von Populationen in bereits etablierten Gebieten und zeigt gleichzeitig die laufende Ausbreitung in angrenzenden Regionen auf. Diese Methode sei somit ein praktisches Instrument zur Bewertung von Invasionsprozessen und unterstütze gezielte Managementstrategien in verschiedenen Stadien der Etablierung, heißt es in der Studie.
„Ein besseres Verständnis der phasenabhängigen Entwicklung der Waschbärpopulationen schafft die Grundlage für wirksamere Kontrollmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung und zur Verringerung ökologischer Schäden“, fasst Klimpel zusammen und empfiehlt: „Die Methode bietet einen praktischen Rahmen für die Bewertung der Invasionsdynamik und kann auf andere invasive und gebietsfremde Tiergruppen und benachbarte Länder übertragen werden. Unsere Studie trägt somit zu einem tieferen Verständnis von biologischen Invasionen bei und liefert wertvolle Erkenntnisse für eine effektivere Naturschutzplanung.“
Originalpublikation:
Cunze S., Schneider G., Peter N., Klimpel S. (2025) Linking patterns to processes: Using hunting bag data to classify raccoon (Procyon lotor) invasion stages in Germany since the 2000s. Ecological Indicators 175: 113568. https://doi.org/10.1016/j.ecolind.2025.113568

14.05.2025, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Ein Mosaik aus Gebüsch-Säumen pflanzen
Gebüsch-Säume an Wald- und Feldrändern schützen Tierarten und wirken sich positiv auf die Biodiversität aus: Das berichtet ein Forschungsteam der Uni Würzburg, das 45 Gebüsch-Säume in Bayern auf ihre Artenvielfalt untersucht hat.
Sie sind die Übergangszonen zwischen Wald und offener Landschaft und dienen diversen Tierarten als Lebens- und Rückzugsraum. Gemeint sind die Gebüsch-Säume, deren Flächenanteil in Mitteleuropa aufgrund von Forst- und Landwirtschaft sehr gering ist. Das ist nachteilig für Tiere und Pflanzen, die auf diese strauchigen Landschaftselemente angewiesen sind.
Ein Forschungsteam unter Federführung von Professor Jochen Krauss, Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, hat in der ersten umfassenden Studie ihrer Art die betroffenen Tier- und Pflanzenarten untersucht. Die Forschenden haben gezeigt, dass es ein Mosaik aus offenen und halboffenen Gebüsch-Säumen braucht, um die Biodiversität zu maximieren. Unterscheiden lassen sich diese Saumarten daran, wie deckend und dicht das Strauchwerk bewachsen ist.
Um positive Effekte für die Biodiversität zu erzeugen, braucht es ein aktives und durchdachtes Saum-Management: „Wir empfehlen Landbesitzern, Förstern, Landschaftspflegeverbänden und Naturschutzbehörden, Gebüsch-Säumen genügend Raum zu geben. Diese Habitate bieten seltenen und bedrohten Tier- und Pflanzenarten Lebensraum, den sie in unserer intensiv genutzten Kulturlandschaft sonst nur selten finden“, so Studienleiter Krauss.
Die Ergebnisse entstanden in Kooperation mit dem Institut für Biodiversitätsinformation Ebern. Veröffentlicht sind sie im Journal of Applied Ecology.
Die Diversität in den Säumen bestimmen
Insgesamt 45 Gebüsch-Säume in Bayern untersuchten die Forschenden – darunter Habitate in der Nähe der unterfränkischen Orte Höchberg, Retzstadt und Güntersleben. Dabei interessierten sie sich vor allem für krautige Pflanzen, Heuschrecken, Wanzen, Laufkäfer und Spinnen. Um die Tiere zu zählen und zu bestimmen, kamen Bodenfallen und andere Fangmethoden zum Einsatz.
Die Zoologinnen und Zoologen unterschieden dabei zwischen offenen und halboffenen Gebüsch-Säumen. Innerhalb dieser beiden Kategorien testeten die Forschenden den Einfluss drei weiterer Parameter auf die Biodiversität: die Flächengröße, der Anteil naturnaher Lebensräume in der umgebenden Landschaft und die Habitat-Qualität. Letztere setzt sich unter anderem aus der Artenzahl der Sträucher und deren Strukturreichtum zusammen.
Saum-Management auf Landschaftsebene notwendig
Die wichtigsten Einflüsse auf die Diversität sind die Qualität des Lebensraums sowie der Deckungsgrad der Sträucher. „Wir haben erkannt, dass über alle Gruppen hinweg die offenen Säume mit hoher Qualität am artenreichsten waren: Sie wiesen den höchsten Artenreichtum an krautigen Pflanzen, Heuschrecken und Wanzen auf. In diesen Habitaten fanden wir auch eine große Anzahl an unterschiedlichen Spinnenarten, während der Artenreichtum an Laufkäfern am höchsten in halboffenen Säumen von geringerer Qualität des Lebensraums war“, so Fabian Klimm, Erstautor der Studie.
Der Appell steht fest: „Wir brauchen ein Saum-Management auf Landschaftsebene. Es sollten sowohl offene als auch halb-offene Säume gefördert werden, um die Diversität zu maximieren“, so der Doktorand. Biodiversität gewährleiste für den Menschen unabdingbare Ökosystemdienstleistungen wie die Bestäubung von Nutzpflanzen oder ökologische Schädlingskontrolle.
Originalpublikation:
Life at the (h)edge – Multidiversity in shrub ecotones is driven by habitat and shrub foliage cover. Fabian S. Klimm, Fabian A. Boetzl, Sebastian König, Markus Bräu, Lara Burtchen, Klaus Mandery, Jean-Léonard Stör, Jochen Krauss. Journal of Applied Ecology, 13. Mai 2025, https://doi.org/10.1111/1365-2664.70061

15.05.2025, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Bei der Nahrungssuche zu kooperieren hat für Geier mehr Vorteile als Nachteile
Allein oder nicht allein, das ist hier die Frage – nicht nur Hamlet steht vor großen Fragen, auch Wildtiere müssen täglich Entscheidungen treffen, die für ihr Überleben entscheidend sind. In einer Fallstudie modellierten Forschende der GAIA-Initiative, ob ein Informationsaustausch unter Weißrückengeiern (Gyps africanus) dem Einzeltier bei der Nahrungssuche mehr Vor- als Nachteile bringt. Sie fanden heraus, dass soziale Strategien insgesamt vorteilhafter sind als nicht-soziale Strategien, dass aber Umweltbedingungen wie die Dichte von Geiern und Kadavern in der Landschaft starken Einfluss darauf haben, welche Strategie zu den besten Ergebnissen führt.
In dem in der Fachzeitschrift „Ecological Modelling“ veröffentlichten Aufsatz analysiert das GAIA-Team um Erstautorin Dr. Teja Curk vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) anhand von Computermodellen, wie sich verschiedene Strategien der Nahrungssuche unter unterschiedlichen ökologischen Bedingungen bewähren, und verglich die Ergebnisse der Modellierungen mit Feldbeobachtungen. Die Forschenden berechneten unter anderem die Sucheffizienz (die Zeit bis ein Kadaver entdeckt wird und Anteil an der Population, die den Kadaver entdeckt hat), die Auffinderate (der Anteil der in der Landschaft verbleibenden Nahrung) und den Grad der Konkurrenz um Ressourcen (die Anzahl der Geier, die an einem einzelnen Kadaver fressen). Dafür erstellten sie sogenannte „agentenbasierte“ Modelle für drei verschiedene Futtersuchstrategien: die nicht-soziale Futtersuche, bei der jeder Geier allein darauf angewiesen ist, selbst Kadaver in der Landschaft aufzuspüren; die Strategie der „lokalen Anreicherung“, bei der Geier nicht nur von Kadavern angelockt werden, sondern auch durch die direkte Beobachtung von fressenden Artgenossen; und die Strategie der „Geierkette“, bei der die Geier nacheinander anderen Geiern am Himmel folgen, die sich möglicherweise auf dem Weg zu einem Kadaver befinden.
Geier sind sozial und kommunikativ – und finden auf diese Weise besser Nahrung
Die agentenbasierten Modelle wurden anhand von Daten erstellt und validiert, die von 30 Geiern mit Tiersendern im Etosha-Nationalpark in Namibia gesammelt wurden. Von diesen Tieren flossen mehr als 26 Millionen GPS-Positionen und entsprechende Bewegungs- bzw. Beschleunigungsdaten (ACC) in die Modellierung ein. ACC-Sensoren zeichnen kleinskalige Bewegungen in drei räumlichen Achsen auf und erlauben es, genaue Bewegungsprofile typischer Verhaltensweisen abzuleiten. Die GAIA-Wissenschaftler:innen nutzen ihre selbst entwickelten Machine-Learning-Algorithmen, um die GPS- und ACC-Daten zu klassifizieren; so identifizierten sie das Fressverhalten der Geier und die Kadaverstandorte in der Landschaft.
„In unseren Modellen haben wir die drei Strategien mit den empirischen Daten aus Namibia verglichen und waren so in der Lage, Parameter wie die Sucheffizienz zuverlässig zu berechnen“, erklärt Curk. „Wir fanden heraus, dass beide sozialen Strategien den nicht-sozialen Ansatz in Bezug auf die Sucheffizienz übertrafen, da die Geier die Kadaver im Vergleich zum nicht-sozialen Modell schneller fanden. Die ‚Geierkette‘ ist besonders vorteilhaft, wenn sich viele Geier in einem Gebiet aufhalten, die ihre Suchanstrengungen koordinieren können und einen Informationsaustausch über große Entfernungen realisieren können.“
Effektive „Mundpropaganda“ kann zu überfüllten Futterstellen führen
Die Analysen ergaben allerdings auch, dass eine „Geierkette“ zu großen Ansammlungen von Geiern an Kadavern führen kann. Dies hat für den einzelnen Geier zur Folge, dass er möglicherweise weniger Nahrung aufnehmen kann. Die Strategie der lokalen Anreicherung hingegen schafft bei sehr vielen Geiern in einem Gebiet ein Gleichgewicht zwischen mittelhoher Sucheffizienz und geringerer Konkurrenz am Kadaver.
Vergleiche der Auffinderate zeigten, dass die Menge an potenzieller Nahrung, die in der Natur verbleibt, bei sozialen und nicht-sozialen Strategien sehr vergleichbar ist, solange sich in einem Gebiet nur wenige Geier aufhalten. Bei höheren Geierdichten übertreffen die beiden sozialen Strategien die nicht-soziale Strategie. Nur wenn es enorm viele Geier in einem Gebiet gibt, bleibt die Effizienz der „Geierkette“ hinter der „lokalen Anreicherung“ zurück – bei sehr langen Geierketten kommt es häufig zu einer Konzentration auf wenige Futterstellen, und viele Individuen ernähren sich nur von einigen wenigen Kadavern, während andere unbesetzt bleiben.
Schutz für die hochbedrohten Geierarten ist dringend und wichtig
Die Autorinnen und Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Geier im Untersuchungsgebiet wahrscheinlich verschiedene Strategien zur Nahrungssuche kombinieren, die von Umweltvariablen wie der Geier- und Kadaverdichte beeinflusst werden. Diese Verhaltensflexibilität deutet darauf hin, dass Geier ihren Erfolg bei der Nahrungssuche optimieren können, indem sie die Nutzung von sozialen Informationen als Reaktion auf veränderte ökologische Bedingungen anpassen. Die bestätigten Vorteile sozialer Futtersuchstrategien unterstreichen jedoch die Bedeutung des Schutzes der drastisch schrumpfenden Bestände vieler Geierarten: Wenn die Geierdichten unter einen Schwellenwert fallen, gibt es zu wenige Geier um soziale Informationen zu nutzen. Die Sucheffizienz und die Auffinderate sinken und eine beträchtliche Menge an Nahrung bleibt unentdeckt, was die Herausforderungen für die Geier in Bezug auf Ernährung, Fortpflanzung und damit auch Überleben weiter erhöht. Aus Sicht des Geierschutzes ist es daher von entscheidender Bedeutung zu verstehen, wie Umweltbedingungen die Strategien zur Nahrungssuche beeinflussen und was damit verbundene Vor- und Nachteile sind.
In den letzten Jahrzehnten sind die Bestände vieler Geierarten stark zurückgegangen, sie sind nun akut vom Aussterben bedroht. Die Hauptursachen dafür sind der Verlust von Lebensraum und Nahrung in vom Menschen geprägten Landschaften sowie eine hohe Anzahl direkter oder indirekter Vergiftungen. Der Bestand des Weißrückengeiers ist beispielsweise innerhalb von nur drei Generationen um etwa 90 Prozent zurückgegangen – das entspricht einem durchschnittlichen Rückgang von 4 Prozent pro Jahr. Der Erhaltungszustand des Weißrückengeiers wurde in der Roten Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN) im Jahr 2007 von „least concern“ (nicht gefährdet) auf „near threatened“ (potenziell gefährdet) verändert. Nur fünf Jahre später wurde die Art als stark gefährdet eingestuft und im Oktober 2015 wurde ihr Status erneut auf „vom Aussterben bedroht“ geändert, da der anhaltende Rückgang schneller und gravierender ist als vorher vermutet wurde.
Originalpublikation:
Curk Te, Rast W, Portas R, Kohles J, Shatumbu G, Cloete C, Curk Ti, Radchuk V, Aschenborn OHK, Melzheimer J (2025): Advantages and disadvantages of using social information for carcass detection–A case study using white-backed vultures. Ecological Modelling 499 (2025) 110941. DOI: 10.1016/j.ecolmodel.2024.110941

15.05.2025 Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften
Nervenfasern für Sprache beim Schimpansen entdeckt
Die Sprachverarbeitung beim Menschen basiert auf der neuronalen Verbindung zwischen Spracharealen im Gehirn. Dieses Sprachnetzwerk, das den Informationsaustausch zwischen Nervenzellen ermöglicht, galt bisher als einzigartig für den Menschen. Nun haben Forschende eine wichtige Entdeckung zur evolutionären Entwicklung unserer Sprache gemacht: Unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften und in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie und dem Alfred-Wegener-Institut haben sie erstmals eine solche Verbindung im Gehirn von Schimpansen nachgewiesen und in der Zeitschrift „Nature Communications“ vorgestellt.
Dieses direkte Nervenfaserbündel, genannt fasciculus arcuatus (AF), das beim Menschen die Sprachareale verbindet, weist nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Schimpansen eine Verbindung zum mittleren Schläfenlappen (MTG) auf, was bisher nicht bekannt war. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die für Sprache entscheidende neuronale Architektur beim Menschen nicht völlig neu entstanden ist“ erklärt Erstautor Yannick Becker. „Sie hat sich wahrscheinlich aus einer evolutionär älteren, bereits vorhandenen Struktur weiterentwickelt. Die Verbindung ist bei Schimpansen viel schwächer ausgeprägt als beim Menschen und erlaubt möglicherweise deshalb nicht die komplexe menschliche Sprache.“
Für ihre Studie konnten die Forschenden auch Gehirne von wildlebenden Schimpansen aus dem Urwald, die auf natürliche Weise gestorben waren, mit hochauflösender Magnetresonanztomographie untersuchen. „Mit bisher unerreichter Präzision konnten wir so den detaillierten Verlauf der Nervenfasern zwischen den verschiedenen Hirnarealen sichtbar machen.“, beschreibt Alfred Anwander, Letztautor der Studie, die Methode. Dabei zeigte sich, dass in allen der zwanzig untersuchten Schimpansen-Gehirnen eine solche Nervenfaserbündel-Verbindung zum mittleren Schläfenlappen nachweisbar war – ein Merkmal, das bislang als ausschließlich menschlich galt.
Wie die Autor*innen der Studie schreiben, ist es wahrscheinlich, dass diese neuronale Architektur, die eine komplexe Kommunikation unterstützt, bereits beim letzten gemeinsamen Vorfahren der Menschen und der Schimpansen vor sieben Millionen Jahren vorhanden war und die Evolution der Sprache beim Menschen erst ermöglichte. Da das Gehirn des gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen aber nicht erhalten ist, kann die evolutionäre Entwicklung der Grundlage unserer Sprache also nur im Vergleich mit unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, aufgeklärt werden.
„Bisher ging man davon aus, dass die anatomischen Strukturen der Sprache erst beim Menschen entstanden sind. Unsere Ergebnisse verändern nun das Verständnis der evolutionären Entwicklung von Sprache und Kognition insgesamt“, erklärt Angela D. Friederici, Mitautorin der Studie und Direktorin der Abteilung Neuropsychologie am MPI CBS.
„In unserem internationalen Konsortium mit Partnern aus afrikanischen Wildreservaten und Auffangstationen sowie europäischen Zoos können wir künftig die zur Lebenszeit erhobenen Verhaltensdaten von Menschenaffen mit den von uns gesammelten Gehirndaten verknüpfen.“ betont Yannick Becker. Auf diese Weise können die neuronalen Grundlagen der kognitiven Fähigkeiten von Menschenaffen genauer erforscht werden.
Originalpublikation:
Yannick Becker, Cornelius Eichner, Michael Paquette, Christian Bock, Cédric Girard-Buttoz, Carsten Jäger, Tobias Gräßle, Tobias Deschner, EBC Consortium, Philipp Gunz, Roman M. Wittig, Catherine Crockford, Angela D. Friederici, Alfred Anwander:
„Long arcuate fascicle in wild and captive chimpanzees as a potential structural precursor of the language network“
In: Nature Communicationshttps: https://www.nature.com/articles/s41467-025-59254-8

15.05.2025, Deutsche Wildtier Stiftung
Mehr Wasser in den Wald – aber natürlich!
Die beste Hilfe für große Wildtiere bei Trockenheit sind naturnahe Lebensräume
In Deutschland ist es zurzeit viel zu trocken. Nur selten fallen erlösende Regengüsse, die der Natur das wichtige Nass spenden. Künstliche Wasserstellen in Gärten und auf Balkonen erleichtern Vögeln und Insekten das Leben ein wenig. Was den kleinen Wildtieren in unseren Städten hilft, ist aber für die großen Wildtiere in Wald und Flur keine Option – der Aufwand für einen echten Effekt wäre viel zu hoch. Die beste Hilfe bei Trockenheit sind naturnahe Lebensräume: Im Schutz dichter Laubwälder finden die Tiere kühlenden Schatten. In offeneren Bereichen können Weichlaubhölzer wie Aspen und Weiden sogar Feuchtigkeit abgeben, sie bieten außerdem eine Nahrungsalternative zu dürren Gräser und Kräutern. Und das Wichtigste: Die porösen Waldböden speichern wie ein Schwamm Wasser, das auch bei Trockenheit an vielen Stellen an die Oberfläche tritt. Hier entstehen natürliche Tränken und Schlammsuhlen, die vor allem von Wildschweinen und Rothirschen gerne zur Kühlung oder zur Fellpflege benutzt werden.
„Leider haben unsere heutigen Wirtschaftswälder viele dieser natürlichen Funktionen zum Schutz vor Trockenheit verloren“, sagt Dr. Andreas Kinser, Leiter Natur- und Artenschutz bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Waldböden werden flächendeckend entwässert, damit Wirtschaftsfahrzeuge sie besser befahren können „Das Wasser, das in Gräben aus den Wäldern und in unsere Flüsse geleitet wird, fehlt den Wildtieren bei Trockenheit“, sagt Kinser. Auch viele Weichlaubhölzer sind mittlerweile aus unseren Wäldern verschwunden. Da sie wirtschaftlich interessante Baumarten wie Fichte, Buche und Eiche beim Aufwachsen behindern könnten, liegt beispielsweise der Anteil von Aspen und Weiden deutlich unter einem Prozent aller Bäume in Deutschland.
Neben naturnahen Strukturen fehlt den Wildtieren heute häufig auch Ruhe in ihren Lebensräumen. Wiederkäuer wie Rothirsch und Reh sparen in Zeiten von Nahrungs- und Wasserknappheit ihre Energie, indem sie sich weniger bewegen. Daher ist es wichtig, dass das Wild im Wald auch bei Trockenheit nicht unnötig aufgeschreckt wird. „Spaziergänger, Radfahrer und Reiter sollten im Wald stets auf den Wegen bleiben und Hunde sollten immer angeleint sein“, sagt Kinser. „Besonders in den kühlen Dämmerungszeiten vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang sollte der Wald den Wildtieren gehören.“ Auch Jäger sollten dem Wild in besonders trockenen Phasen genauso Ruhe gönnen wie bei hohen Schneelagen.
Die Deutsche Wildtier Stiftung hat in vielen ihrer eigenen Wälder bereits Gräben verschlossen, um das Wasser im Wald zu halten. Trockengefallene Bereiche werden so wiedervernässt und Wildtiere finden auch in Dürrezeiten Zugang zu Wasser im Wald. Darüber hinaus pflanzt die Stiftung auf ihren Liegenschaften Weichlaubhölzer, um sie wieder in den Wäldern zu etablieren. Auf Jagd wird in fast allen Wäldern der Stiftung im Sommer verzichtet.

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