Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

23.11.2020, Max-Planck-Institut für Biogeochemie
Nachweis ersten tierischen Lebens durch geologisch veränderte Algen-Moleküle verfälscht
Max-Planck-Forscher und Kollegen haben eine langjährige Kontroverse über den Ursprung des komplexen Lebens auf der Erde gelöst. Sie fanden heraus, dass fossile Lipidmoleküle, die aus 635 Millionen Jahre alten Gesteinen isoliert wurden, nicht die frühesten Hinweise auf Tiere darstellen. Die fossilen Moleküle entstehen durch geologische Prozesse aus Vorläufer-Molekülen gewöhnlicher Algen, wie die Forscher in zwei aktuellen Publikationen im Fachjournal Nature Ecology and Evolution nachweisen konnten.
Bereits im Jahr 2009 fanden Forscher in mehr als 635 Millionen Jahre alten Gesteinen fossile Lipidmoleküle, altertümliche Steroide, die vermutlich aus Meeresschwämmen stammten. Da Schwämme zu den ältesten und einfachsten Vertretern der Tierwelt gehören, wurden diese Funde als früheste Spuren in der Entwicklungsgeschichte tierischen Lebens interpretiert. Größere Schwammfossilien, die zu den Steroidmolekülen passen würden, konnten aber nie entdeckt werden. „Ein großes Rätsel der frühen tierischen Evolution war bisher, dass eindeutige Fossilien aus diesem Zeitraum fehlten, in dem chemische Überreste schwammartiger Tiere reichlich vorhanden zu sein schienen“, sagt Dr. Benjamin Nettersheim von der Max-Planck-Forschungsgruppe Organische Paläobiogeochemie am Max-Planck-Institut für Biogeochemie, Jena, und vom MARUM -Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen.
Dieses Rätsel konnte nun durch zwei chemisch-experimentelle Studien gelöst werden. „Wir konnten zeigen, dass sich Moleküle aus gewöhnlichen Algen unter dem Einfluss geologischer Prozesse chemisch so verändern können, dass sie zu besagten Steroidmolekülen werden. Diese vermeintlich fossilen Moleküle lassen sich nicht von denen aus schwammähnlichen Tieren unterscheiden, die in 100 Millionen Jahre jüngeren Fossilien gefunden wurden“, sagt Dr. Lennart van Maldegem, Mitverfasser einer der Studien aus der gleichen Arbeitsgruppe, in der er auch seine Doktorarbeit anfertigte.
In einer zweiten Arbeitsgruppe wurde dieser Befund unabhängig bestätigt. „Es stimmt zwar, dass Schwämme die einzigen lebenden Organismen sind, die diese Steroide produzieren können. Aber chemische Umwandlungen können unter besonderen geologischen Bedingungen einfache Steroide aus pflanzlichen Algen auch in vermeintlich „tierische“ umwandeln“, sagt Dr. Ilya Bobrovskiy, Hauptautor der zweiten Studie von der Australian National University (ANU) und dem California Institute of Technology (Caltech).
Beiden Forschungsteams war es gelungen, den Beweis im chemischen Labor zu erbringen: Als Ausgangsstoffe verwendeten sie entweder Steroide, die aus Algen extrahiert wurden, oder reine Chemikalien. Aus diesen konnten sie die „tierischen“ Steroide mit Pyrolysetechniken experimentell reproduzieren, und damit die geologischen Prozesse simulieren.
Die an der Studie beteiligten Forscher, darunter Wissenschaftler der Universität Straßburg (CNRS, Frankreich) und des CSIRO, Australien, unterstreichen die Bedeutung ihrer neuen Erkenntnisse für unser Verständnis der Evolution. „Den Aufstieg der Tiere zu verstehen, ist deshalb so unglaublich wichtig, weil er an der Wurzel unserer ureigenen Existenz steht“, sagt der leitende Autor der ersten Studie, Professor Christian Hallmann. „Bevor wir untersuchen können, welche Faktoren die Entwicklung zu komplexen Organismen vorantrieben, müssen wir zunächst den zeitlichen Rahmen der Evolution klar abstecken“, so Hallmann weiter.
Das Auftauchen der ersten tierischen Organismen wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv und kontrovers diskutiert. „Unsere Ergebnisse bringen damit den ältesten Nachweis für Tiere um fast 100 Millionen Jahre näher an die Gegenwart heran“, schließt Nettersheim, „also auf etwa 560 Millionen Jahre vor unserer Zeit.“
Die beiden komplementären Studien wurden am 23.11.2020 im Fachjournal Nature Ecology and Evolution veröffentlicht.
Originalpublikation:
Bobrovskiy, I. et al.
Algal origin of sponge sterane biomarkers negates the oldest evidence for animals in the rock record.
Nat. Ecol. Evol. (2020), DOI:10.1038/s41559-020-01334-7
www.nature.com/articles/s41559-020-01334-7
Van Maldegem, L. M., Nettersheim, B.J. et al.
Geological alteration of Precambrian steroids mimics early animal signatures
Nat. Ecol. Evol. (2020), DOI:10.1038/s41559-020-01336-5
www.nature.com/articles/s41559-020-01336-5

23.11.2020, Deutsches Primatenzentrum GmbH – Leibniz-Institut für Primatenforschung
Treue Paare im Regenwald
Rote Springaffen verzichten auf Seitensprünge
Seit es die Möglichkeit genetischer Vaterschaftsanalysen gibt, ist klar: Viele paarlebende Tierarten, einschließlich des Menschen, nehmen es mit der Treue nicht besonders ernst. Bei den meisten findet sich ein mehr oder weniger großer Anteil an Kindern, die nicht von ihrem sozialen Vater abstammen. Eine Ausnahme scheinen die im Tieflandregenwald des Amazonas lebenden Roten Springaffen zu sein. Bei ihnen fanden Forschende des Deutschen Primatenzentrums (DPZ) – Leibniz-Institut für Primatenforschung keine Hinweise für außerpartnerschaftliche Vaterschaften. Die Tiere scheinen in ihrer Partnerwahl so erfolgreich zu sein, dass ein potentieller genetischer Vorteil nicht die sozialen Kosten von Untreue aufwiegt (Scientific Reports).
Sogenannte Kuckuckskinder, das heißt Kinder, die aus einem Seitensprung resultieren und ihrem sozialen Vater untergeschoben werden, kommen bei paarlebenden Arten erstaunlich häufig vor. Verschiedene Gründe werden für dieses Verhalten diskutiert. So ist die Partnerwahl oft eingeschränkt und manchmal stellt sich erst später raus, dass der gewählte Partner vielleicht nicht die beste genetische Ausstattung besitzt. Um den eigenen Kindern möglichst gute Gene zu sichern, kann man es mit den Genen des Nachbarn oder eines herumwandernden Junggesellen probieren, ohne die Sicherheit des eigenen Territoriums und des sorgenden Vaters aufgeben zu müssen.
Rote Springaffen leben in kleinen Familiengruppen, bestehend aus Vater, Mutter und eigenem Nachwuchs, die gemeinsam ein Territorium verteidigen. In der Regel wird ein Junges pro Jahr geboren, das mit Erreichen oder kurz nach der Geschlechtsreife die Gruppe verlässt und sich einen Partner sucht, mit dem es ein eigenes Territorium besetzt. Die Paarpartner pflegen eine enge Beziehung, verbringen Tag und Nacht in großer räumlicher Nähe und mit wechselseitiger sozialer Fellpflege. An der Feldstation des Deutschen Primatenzentrums „Estación Biológica Quebrada Blanco“ im Nordosten Perus und deren näherer Umgebung wurden 14 Familiengruppen von Roten Springaffen untersucht. Mit Hilfe von Kotproben, aus denen im Genetiklabor des Deutschen Primatenzentrums in Göttingen DNA extrahiert und sequenziert wurde, konnte von 41 Individuen das Erbgut charakterisiert werden. Bei keinem der 18 untersuchten Jungtieren wurde eine Fremdvaterschaft nachgewiesen, das heißt es herrscht genetische Monogamie. Darüber hinaus zeigte sich, dass die erwachsenen Tiere insgesamt eine sehr vielfältige genetische Ausstattung besaßen und Paarpartner nicht oder nur sehr weitläufig miteinander verwandt waren. „Eine außerpartnerliche Fortpflanzung hätte den untersuchten Tieren daher keinen genetischen Vorteil verschafft, so dass sie vermutlich die Risiken von ‚Untreue‘ eher vermeiden“, sagt Sofya Dolotovskaya, die als Doktorandin des Deutschen Primatenzentrums 14 Monate lang die Tiere und ihr Verhalten vor Ort studierte.
„In einem intakten Ökosystem, wie an unserer Feldstation, können sich junge Springaffen offenbar so weit von ihrer Geburtsgruppe entfernen, dass sie einen geeigneten Partner finden, ohne das Risiko von Inzucht einzugehen“, schließt Eckhard W. Heymann, Wissenschaftler am Deutschen Primatenzentrum und Leiter der Feldstation in Peru aus der Studie. „Ob die genetische Monogamie auch in anderen Populationen Roter Springaffen vorherrscht, insbesondere in gestörten Lebensräumen, müssen weitere Studien zeigen.“
Originalpublikation:
Dolotovskaya S, Roos C, Heymann EW (2020): Genetic monogamy and mate choice in a pair-living primate. Scientific Reports: https://doi.org/10.1038/s41598-020-77132-9

24.11.2020, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Lebenszyklus der Ohrenqualle hängt vom Mikrobiom ab
CAU-Forschungsteam weist am Beispiel von Aurelia aurita Zusammenhänge zwischen der mikrobiellen Besiedlung und der Reproduktion mariner Nesseltiere nach
Alle mehrzelligen Lebewesen weisen eine aus einer unvorstellbar großen Anzahl von Mikroorganismen bestehende Besiedlung ihres Körpergewebes auf. Wirtslebewesen und Mikroben haben sich in der Entstehungsgeschichte des vielzelligen Lebens von Beginn an gemeinsam entwickelt. Das natürliche Mikrobiom, also die Gesamtheit dieser Bakterien, Viren und Pilze, die in und auf einem Körper leben, spielt daher eine fundamentale Rolle für das Funktionieren des Gesamtorganismus: Es unterstützt beispielsweise bei der Nährstoffaufnahme, wehrt Krankheitserreger ab und kommuniziert sogar mit dem Nervensystem. Ein Forschungsteam vom Institut für Allgemeine Mikrobiologie (IfAM) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) unter Leitung von Professorin Ruth Schmitz-Streit hat nun die Bedeutung des natürlichen Mikrobioms für das gesunde Funktionieren des Organismus und die Fortpflanzung bei einfachen Meereslebewesen am Beispiel der Ohrenqualle Aurelia aurita untersucht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigten, dass Tiere ohne eine natürliche Mikrobenbesiedlung in ihrer Fitness eingeschränkt sind und ein entscheidender Wandlungsprozess ihres in mehreren Stadien ablaufenden Fortpflanzungszyklus gänzlich unterbunden wird. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden im Rahmen des CAU-Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel kürzlich in der Fachzeitschrift mBio.
Mikrobiom bestimmt Fitness und Fortpflanzung mit
Die neue Studie des Kieler Forschungsteams beruht auf einer früheren Arbeit, in der die Zusammensetzung des natürlichen Mikrobioms der Ohrenqualle bestimmt wurde. Die Tiere verfügen, ähnlich wie viele andere marine Nesseltiere auch, über eine komplexe, aus einigen Hundert verschiedenen Arten zusammengesetzte Mikrobenbesiedlung. Dieses Mikrobiom erweist sich weitgehend unabhängig von der geografischen Herkunft und dem Mikrobenvorkommen im Umgebungswasser als sehr stabil. Seine Zusammensetzung wird daher vermutlich vor allem durch den Wirtsorganismus selbst gesteuert und besteht hauptsächlich aus zahlreichen verschiedenen, sogenannten gramnegativen Gammaproteo-Bakterien.
Die Forschenden führten nun umfassende Experimente zu den Auswirkungen des Mikrobioms auf Fitness und Reproduktion der Quallen durch. „Dazu haben wir zunächst die Polypen der Qualle mit einer antibiotischen Behandlung keimfrei gemacht und die Auswirkungen auf den Organismus untersucht“, erklärt Dr. Nancy Weiland-Bräuer, Wissenschaftlerin in der Arbeitsgruppe Molekularbiologie der Mikroorganismen am IfAM und SFB 1182-Mitglied. „Zum einen zeigte sich, dass diese Polypen im Vergleich um ein Drittel kleiner blieben. Zum anderen beobachteten wir vor allem gravierende Auswirkungen auf die ungeschlechtliche Fortpflanzung der Tiere, die ohne vorhandenes Mikrobiom ganz zum Erliegen kommen kann“, so Weiland-Bräuer, die auch im CAU-Forschungsschwerpunkt „Kiel Marine Science“ (KMS) aktiv ist.
Ohrenquallen durchlaufen eine komplexe Abfolge mehrerer Lebensstadien, bei denen sie sukzessive von einer ortsfesten Lebensweise – dem Polyp – am Meeresboden schließlich zu einem frei im Wasser schwimmenden Stadium als ausgewachsene Medusen übergehen. Die Anwesenheit eines natürlichen Mikrobioms ist also offenbar Voraussetzung für den ungestörten Ablauf dieses Prozesses. Fehlte den Polypen im Experiment die mikrobielle Besiedlung, kam dieser Lebenszyklus an einem Punkt schließlich ganz zum Erliegen: Das Freisetzen des ersten frei im Wasser lebenden Stadiums – der Ephyren – ist unter keimfreien Bedingungen nicht möglich. Dass diese Unterbrechung kein Effekt der Antibiotika-Gabe war, konnten die Forschenden mit einem Wiederbesiedlungs-Experiment zeigen: Siedelten sie die charakteristischen Mikrobenarten erneut auf den keimfrei gemachten Polypen an, stellte sich auch der normale Ablauf der Reproduktion wieder ein.
In weiteren Versuchen untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zudem einen möglichen Zusammenhang zwischen dem natürlichen Mikrobiom und der Abwehr von Krankheitserregern. Es zeigte sich, dass die keimfreien Polypen kaum in der Lage waren, Schadorganismen abzuwehren. „Die Anwesenheit des natürlichen Mikrobioms machte sie dagegen toleranter gegenüber den Erregern und sie konnten in ihrer Anwesenheit überleben und sich reproduzieren“, fasst Erstautorin Weiland-Bräuer zusammen. Daraus schlossen die Kieler Forschenden, dass das Mikrobiom auch bei der Ohrenqualle offenbar eine Schutzfunktion übernimmt. Ähnlich wie Mikroorganismen an der Immunabwehr höherer Lebewesen beteiligt sind, übernehmen sie auch bei den nur aus zwei Gewebeschichten aufgebauten Quallen möglicherweise die Aufgabe eines Schutzschildes, der den Organismus vor dem Eindringen von Schädlingen bewahrt.
Aussagekraft eines einfachen Modellorganismus
Bei der Erforschung möglicher ursächlicher Zusammenhänge in den Interaktionen von Mikrobiom und Wirtslebewesen spielen sogenannte Modellorganismen eine wichtige Rolle. Diese in der Regel einfach aufgebauten Lebewesen helfen dabei, mögliche Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die aufgrund der wesentlich größeren Komplexität der Wechselwirkungen von Mikroben und Wirtszellen bei höheren Lebewesen einschließlich des Menschen verborgen bleiben. Während die Ohrenqualle in der Untersuchung physiologischer und ökologischer Aspekte des marinen Lebens schon seit Langem genutzt wird, setzen Forschende sie erst seit einigen Jahren als Modellorganismus in der Mikrobiomforschung ein. „Allgemein eignet sich Aurelia aurita hervorragend als Modell, um die Auswirkungen des Mikrobioms auf die Gesundheit und Fitness mariner Lebewesen zu erforschen“, betont Schmitz-Streit, Leiterin der Arbeitsgruppe Molekularbiologie der Mikroorganismen am IfAM, und zweier Teilprojekte innerhalb des SFB 1182. „Neue Einsichten über die Rolle des Mikrobioms bei der Reproduktion dieser einfach organisierten Meerestiere sind zudem speziell für das Verständnis von Veränderungen der Meeresumwelt von großer Bedeutung“, so Schmitz-Streit weiter.
Dies zeigt sich zum Beispiel an sogenannten Quallenblüten – also dem massenhaften, ungewöhnlich schnellenund starken Auftreten bestimmter Quallenarten in verschiedenen Meeresregionen, deren Ursachen Forschende in durch den Klimawandel verursachten Veränderungen der Lebensbedingungen im Meer vermuten. Diese Blüten haben einen signifikanten Einfluss auf die Zusammensetzung und Struktur ökologischer Gemeinschaften. Sie reduzieren zum Beispiel die Nahrungsverfügbarkeit in marinen Ökosystemen und wirken sich damit unter anderem negativ auf die Fischbestände aus. Dabei ist die Ohrenqualle beispielsweise in der Ostsee gewissermaßen ein Indikator, die solche Veränderungen deutlich sichtbar macht. Ein besseres Verständnis der mikrobiellen Einflüsse auf den Lebenszyklus und die Fortpflanzung dieser Tiere könnte künftig dabei helfen, mehr über die Zusammenhänge einer Veränderung der Meeresumwelt mit der starken Vermehrung der Quallen zu erfahren.
Originalpublikation:
Nancy Weiland-Bräuer, Nicole Pinnow, Daniela Langfeldt, Anna Roik, Simon Güllert, Cynthia M. Chibani, Thorsten B. H. Reusch, Ruth A. Schmitz (2020): The native microbiome is crucial for offspring generation and fitness of Aurelia aurita. mBio First published 17. November 2020
https://doi.org/10.1128/mBio.02336-20

24.11.2020, Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung
Und der Haifisch, der hat Zähne: Besonderheit im Zahnschmelz von Haifischzähnen entdeckt
Haifischzähne müssen während ihrer kurzen Verweildauer auf den Punkt funktionieren: Der Port-Jackson-Stierkopfhai ernährt sich von harten Beutetieren wie Seeigeln und Muscheln. Seine Zähne müssen kontinuierlich hoher mechanischer Beanspruchung standhalten. Dies gewährleistet die besondere Struktur des Zahnschmelzes: „Die Besonderheit besteht darin, dass die innere Zahnschmelzschicht für Stabilität sorgt, während die äußere sukzessive absplittert. Dadurch behält der Zahn seine Funktion“, sagt Dr. Shahrouz Amini. Diese Erkenntnis liefert neue Designparadigmen für funktionalisierte Werkstoffe mit Außenbeschichtungen, die beschädigt und ersetzt werden können, ohne die Leistung einzuschränken.
Der Zahnschmelz bildet bei allen Wirbeltieren das härteste Gewebe, da er eine starke mechanische Leistung vollbringen und trotzdem jahrzehntelang intakt bleiben muss. Anders bei Port-Jackson-Stierkopfhaien, deren Gebiss sich regelmäßig erneuert. „Spannend ist, dass sich jegliche Zähne in ihrem Gesamtaufbau, je nach Funktion, unterscheiden, sich aber in ihrer Mineralzusammensetzung ähneln“, sagt Peter Fratzl. Apatit ist ein von Natur aus hartes, aber recht sprödes Material. Der Unterschied zwischen Zähnen anderer Wirbeltiere und beispielsweise Port-Jackson-Stierkopfhaien besteht im ungewöhnlich abgestuften Aufbau der äußeren Zahnschmelzschicht. Die Zähne nutzen sich zwar ab und werden geschädigt, aber ihre Funktion bleibt bis zu dem Zeitpunkt, wenn sie ausfallen, bestehen. „Anders ausgedrückt, wird ein Teil des Zahnmaterials für die Aufrechterhaltung der Funktionalität geopfert“, sagt Shahrouz Amini.
Forschungsabteilung Biomaterialien
Am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung ist Prof. Dr. Peter Fratzl einer von vier Direktoren. Er leitet die Abteilung Biomaterialien, in der die Bauprinzipien natürlicher Materialien erforscht werden, welche die Natur im Laufe der Evolution hervorgebracht hat. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die außergewöhnlichen mechanischen Eigenschaften solcher natürlichen Materialien, die sich ständig wechselnden äußeren Bedingungen anpassen können.
Dr. Shahrouz Amini erforscht neue Biomaterialien und leitet die Forschungsgruppe „Mikromechanik biologischer Materialien“. Amini ist der Erstautor der Zahnschmelz-Studie, die unter folgendem Link in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht wurde:
https://www.nature.com/articles/s41467-020-19739-0
Weitere Autoren aus der Abteilung sind Mason Dean, Ronald Seidel (jetzt am B CUBE in Dresden), Hajar Razi (jetzt an der ETH in Zürich) und Daniel Werner. Externe Mitarbeiter sind James Weaver vom Harvard’s Wyss Institute und Will White von der Australian National Fish Collection des CSIRO.

24.11.2020, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Knochenfische, Korallen und aktive Tiere leiden unter Meerwassererwärmung
Forschende des Museums für Naturkunde Berlin und der Universität Erlangen-Nürnberg haben die Anfälligkeit von Tieren während rascher Erwärmungsphasen der Ozeane in den letzten 300 Millionen Jahren Erdgeschichte ermittelt und mit dem Aussterberisiko in Zeitintervallen ohne drastische Temperaturerhöhung des Meerwassers verglichen. Die mit Fossilien gewonnenen Ergebnisse geben einen Hinweis darauf, welche Meerestiere besonders empfindlich auf den Klimawandel reagieren.
Der moderne Klimawandel weißt Parallelen zu weit zurückliegenden natürlichen Erwärmungsereignissen auf, die im Extremfall bis zu 80% aller Meerestiere ausrotteten. Ein neuer Artikel in der Zeitschrift Global Change Biology deutet darauf hin, dass sich die Opfer von Wärmekrisen signifikant von den Opfern anderer Krisen unterscheiden. Die Autoren, die für ihre Studie eine umfangreiche Datenbank zur Verbreitung fossiler Tierarten auswerteten, führen dies darauf zurück, dass Tiere mit bestimmten ökologischen Ansprüchen eher an ihre Toleranzgrenzen stoßen als andere.
Mehrere der Gruppen, die während der Vergangenheit am anfälligsten auf eine Klimaerwärmung reagierten, zeigen ähnliche Veränderungsmuster in der heutigen Meeresfauna. Dies betrifft zum Beispiel Korallenriffe, die in der Vergangenheit immer besonders stark von Wärmekrisen betroffen waren und auch heute besonders unter der Klimaerwärmung leiden. Knochenfische waren anfälliger als Knorpelfische wie Haie und Rochen. Knochenfische zeigen auch heute bereits ausgeprägte Wanderungen in höhere Breitengrade, um in kühleres Meerwasser zu gelangen. Sich aktiv fortbewegende Organismen waren durchschnittlich stärker von Wärmekrisen betroffen als stationär lebende Tiere: „Warmes Wasser enthält weniger Sauerstoff als kühles Wasser. Das beeinträchtigt vor allem Organsimen mit hohem Sauerstoffverbrauch, wie es bei schwimmenden und aktiv grabenden Tieren der Fall ist“, erklärt Carl Reddin vom Museum für Naturkunde, der die Studie leitete.
Die Tatsache, dass wir bereits jetzt sehen, wie diese Gruppen auf die anthropogene globale Erwärmung reagieren, bedeutet, dass ein weitreichendes Aussterben in naher Zukunft möglich sein könnte, wenn die CO2-Emissionen nicht gesenkt werden. „Unsere neue Studie legt nahe, welche Meeresorganismen am stärksten vom globalen Aussterben bedroht sind. Damit können wir einen Ausblick auf mögliche langfristige Folgen der gegenwärtigen globalen Erwärmung geben und Handlungsempfehlungen für den Naturschutz ableiten“, sagt Martin Aberhan vom Museum für Naturkunde, ein Mitautor dieser Studie.
Veröffentlicht in: Carl J Reddin, Ádám T Kocsis, Martin Aberhan, Wolfgang Kiessling (2020). Victims of ancient hyperthermal events herald the fates of marine clades and traits under global warming. – Global Change Biology https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/gcb.15434

24.11.2020, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Genetischer Geschlechtsmarker bei Stören entdeckt
Forschende haben im internationalen Projekt STURGEoNOMICS unter Leitung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) einen molekularen Marker zur Geschlechtsidentifizierung bei Stören entdeckt. Dies ist ein wissenschaftlicher Durchbruch für die Evolutionsbiologie, den Artenschutz und die kaviarproduzierende Aquakultur. Der genetische Nachweis charakterisiert das älteste bekannte System genetischer Geschlechtsbestimmung bei Wirbeltieren mit mikroskopisch nicht unterscheidbaren Geschlechtschromosomen. Die kurze geschlechtsspezifische DNA-Sequenz wurde bei mehreren Störarten nachgewiesen und geht auf einen gemeinsamen Stör-Vorfahren vor 180 Millionen Jahren zurück.
Schon lange wird international nach geschlechtsgebundenen genetischen Markern bei Stören gesucht, denn an äußeren Merkmalen lässt sich das Geschlecht bei Stören nicht ablesen und sie besitzen keine differenzierten Geschlechtschromosomen, die sich unter dem Mikroskop unterscheiden ließen. Dem Genomiker Dr. Heiner Kuhl, Erstautor der Studie vom IGB, ist nun die Entdeckung einer winzigen, nur bei Störweibchen vorhandenen, genetischen Region gelungen. Voraussetzung dafür waren Gesamtgenom-Sequenzierungen von zahlreichen Weibchen und Männchen des Sterlets (einer Störart), die am französischen INRAE im Labor von Dr. Yann Guiguen durchgeführt wurden.
Wissenschaftlicher Durchbruch nach jahrzehntelanger Suche:
Mit der Entdeckung dieses genetischen Elements wiesen die Forschenden gleichzeitig das älteste bekannte geschlechtsbestimmende System mit undifferenzierten Geschlechtschromosomen bei Wirbeltieren nach – es ist rund 180 Millionen Jahre alt. „Das ist ein wissenschaftlicher Durchbruch. Bereits seit Jahrzehnten wird international nach genetischen Geschlechtsmarkern bei Stören gesucht“, sagt Evolutionsbiologe Dr. Matthias Stöck, Leiter der Studie vom IGB, und fügt hinzu: „Nur die internationale Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten aus drei europäischen Ländern hat diesen Erfolg ermöglicht, an dem Genomiker des INRAE aus Rennes in Frankreich, Forschende um Prof. Dr. Manfred Schartl von der Universität Würzburg und um Dr. Mitica Ciorpac vom rumänischen Donau-Institut, DDNI, beteiligt waren.“
Bislang wird das Geschlecht der Störe per Ultraschalldiagnostik oder durch Biopsien identifiziert. Für die zuverlässige Anwendung der Ultraschall-Methode müssen die Störe allerdings fortgeschrittene Reifestadien erreichen, was mitunter 6 bis 10 Jahre dauern kann. Biopsien der Geschlechtsorgane sind invasiv und stressen die Fische oder schädigen sie sogar. Mit Hilfe des entwickelten Markers reicht künftig ein Hautabstrich mit einem Wattestäbchen, um anhand der DNS Weibchen von Männchen zu unterscheiden. Dieser Test ist sogar zuverlässiger als die bisher verwendeten Methoden.
Einsatz für den Artenschutz:
Viele der weltweit vorkommenden 27 Störarten sind stark bedroht. Für den Artenschutz der Störe ist der Marker ein gutes Instrument, um nicht-invasiv das Geschlecht von Zuchttieren zu identifizieren, welche als künftiger Laichbestand in Wiederansiedlungsprogrammen vorgesehen sind. „So können Störe für lebende Genbanken gezielter ausgewählt werden, und zwar nicht nur auf Grundlage seltener Allele, sondern auch aufgrund ihres Geschlechts. Fische, die nicht für den Aufbau von Laichbeständen ausgewählt wurden, könnten gleich ausgewildert werden“, prognostiziert Dr. Jörn Gessner, Mitautor der Studie, der am IGB das Projekt zur Wiederansiedlung der heimischen Störe koordiniert.
Effizientere Aquakultur für Fisch und Kaviar:
In der Aquakultur könnte die Methode künftig der nicht-invasiven Früherkennung von Fischen dienen, die für die Aufzucht genutzt werden sollen. Das ermöglicht eine Spezialisierung der Produktion auf Kaviar mit den weiblichen und auf Fleisch mit den männlichen Tieren. Der Test sollte jedoch keinesfalls zum „Verwerfen“ männlicher Störe führen, wie die Forschenden explizit betonen. Dieser ethische Aspekt soll unbedingt berücksichtigt werden. „Im nächsten Schritt wird es darum gehen, mit dem Marker einen Test zur Geschlechtsbestimmung zu entwickeln, der noch einfacher in der Praxis angewendet werden kann“, sagt Heiner Kuhl.
Rätsel um Geschlechtsevolution beim Stör:
Die sexuelle Fortpflanzung ist ein evolutionär altes Merkmal des Lebens. Bei Wirbeltieren bestimmen entweder Reize aus der Umwelt oder die Gene die Geschlechtsentwicklung, manchmal auch eine Kombination aus beiden. Wechselwarme Wirbeltiere, wie Fische und Amphibien, haben meist keine differenzierten Geschlechtschromosomen – also kein mikroskopisch unterscheidbares XX/XY-System wie Säugetiere oder ZW/ZZ-System wie Vögel. Geschlechtschromosomen vieler Fische und Amphibien unterscheiden sich nur auf der DNA-Ebene. Dafür gibt es mehrere Erklärungen: Meistens übernimmt bei verschiedenen Arten jeweils ein anderes Master-Gen die erste Weichenstellung der Geschlechtsbestimmung, aber sogar ein evolutionärer Wechsel der Geschlechtschromosomen, selbst bei nah verwandten Arten, ist möglich.
Heute gibt es 27 Stör- und Löffelstör-Arten, die sich vor etwa 330 Millionen Jahren von der Linie der 31.000 heute lebenden Knochenfische abgespalten haben. Anders als bei vielen anderen Wirbeltieren war die Evolution der Störe durch erstaunlich geringe Veränderungen im Erbgut und im „Bauplan“ geprägt. „Die Konservierung der weibchenspezifischen Sequenz über 180 Millionen Jahre der Störevolution und trotz Polyploidisierung – einer Vervielfachung der Chromosomen in der Familie der Störe – wirft viele interessante biologische Fragen auf“, erläutert Matthias Stöck. Wie konnte der Geschlechtslokus diese Verdopplung des gesamten Erbgutes überstehen? Warum wurde bei Stören die genetische Geschlechtsbestimmung anscheinend konserviert, während viele Fischarten vielfach wechselnde Geschlechtsbestimmungssysteme evolviert haben?
Originalpublikation:
Diese Studie wurde am 23. Oktober von den Philosophical Transactions of the Royal Society B zur Veröffentlichung akzeptiert und wird im Frühjahr 2021 in einem Sonderband zur Geschlechtschromosomenevolution erscheinen. Ein Vorabdruck (preprint) ist bereits jetzt online verfügbar: https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2020.10.10.334367v2

25.11.2020, BUND
Die Wanderlibelle ist die Libelle des Jahres 2021 – Klimakrise begünstigt Vorkommen in Deutschland und Europa
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und die Gesellschaft der deutschsprachigen Odonatologen (GdO) haben die Wanderlibelle (Pantala flavescens) zur Libelle des Jahres 2021 gekürt. Mit dieser Wahl machen sie auf die voranschreitende Klimakrise aufmerksam, denn die Wanderlibelle profitiert von den immer schneller voranschreitenden Klimaveränderungen und wurde erst 2019 das erste Mal in Deutschland nachgewiesen. Dazu Klaus-Jürgen Conze, Libellenexperte und GdO-Vorstandsmitglied: „Dass die Wanderlibelle nun auch in Deutschland nachgewiesen wurde, ist kein Zufall. Vielmehr ist es ein Indiz der Klimaerhitzung, die unaufhaltsam voranschreitet und die globale Biodiversität sowie uns alle betrifft.“
Auch wenn die Wanderlibelle weltweit vorkommt, im europäischen Raum konnte sie erst in den letzten Jahren nachgewiesen werden. Dies hängt mit der steigenden mittleren Temperatur und den veränderten Klimabedingungen auf dem europäischen Kontinent zusammen, die nun ganz neue Wettersysteme mit sich bringen. Die Wanderlibelle trägt ihren Namen zurecht, sie kann mehrere Stunden ununterbrochen in der Luft bleiben und so große Strecken zurücklegen, erklärt Conze: „Die hochmobilen Libellen sind gute Indikatoren für die enormen Veränderungen durch die Klimaerhitzung. Auch in Deutschland können wir nun schon seit einigen Jahren deutliche Veränderungen in der Libellenfauna erkennen. Kritisch zu sehen ist dabei die hohe Geschwindigkeit des Wandels und die große Unsicherheit, ob die Mehrzahl der Arten unter diesen neuen Bedingungen bei uns dauerhaft weiterexistieren können. Das gilt es aufmerksam zu verfolgen.“
Auf Englisch ist die Wanderlibelle auch als „global wanderer“ bekannt und damit treffend charakterisiert. In riesigen Schwärmen wandert sie zwischen Afrika und Asien hin und her, um die Monsunregen zu nutzen und immer gerade dort anzukommen, wo die Wetterfronten systematisch die passenden Fortpflanzungsgewässer bereitet haben. Das macht deutlich, welches Leistungsvermögen in kleinen Organismen wie diesen Insekten steckt. Wandernde Libellen zeigen auch: Wer reist, braucht auch einen Ort zum Ankommen. Es braucht daher mehr Biotopverbund durch konsequente nationale Umsetzung der neuen Renaturierungsziele der EU und der Wasserrahmenrichtlinie. Mehr Wasser muss in der Landschaft verbleiben, um gute Lebensräume für Libellen und viele weitere Arten zu gewährleisten.
Weniger spektakulär ist hingegen das Aussehen der Art, die leicht mit den bei uns vorkommenden Heidelibellen verwechselt werden kann: So ist die Wanderlibelle eine mittelgroße Segellibelle, die sehr ausdauernd fliegt. Im Vergleich zu den Heidelibellen ist sie jedoch etwas größer und kräftiger und besitzt keine auffällige Körperzeichnung. Die Flügel sind im Verhältnis zum Körper sehr lang und bilden mit ihren großen Tragflächen eine auffällige Proportion zum Rest des Körpers.

26.11.2020, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Alpha-Tiere müssen sich der Mehrheit beugen, wenn sie ihre Macht missbrauchen
Besitzen dominante Individuen ein Monopol über Ressourcen, entscheiden Geierperlhühner demokratisch
Viele Tiergruppen entscheiden ähnlich wie bei Abstimmungen, wohin sie gehen. Dabei entscheiden nicht nur die Alpha-Tiere, wohin die Gruppe als Nächstes geht, sondern alle Gruppenmitglieder haben das gleiche Mitspracherecht. Doch bei vielen in stabilen Gruppen lebenden Arten wie zum Beispiel Primaten und Vögeln monopolisieren die dominanten Gruppenmitglieder oft beispielsweise die reichsten Nahrungsgebiete und den Zugang zu Geschlechtspartnern. Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und des Cluster of Excellence Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour an der Universität Konstanz haben an wilden Geierperlhühnern untersucht, wie Dominanz und Entscheidungen der Gruppe zusammenhängen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass demokratisch getroffene Entscheidungen die Macht der Alpha-Tiere maßgeblich mildert. Die übrigen Mitglieder der Gruppe entscheiden vor allem dann über die Ortswahl mit, wenn die Alpha-Tiere Ressourcen ganz allein für sich beanspruchen.
Geierperlhühner sind große Vögel, die in den Savannen Ostafrikas beheimatet sind. Die Vögel leben in einer mehrschichtigen Gesellschaft, in der sich soziale Gruppen aus 15 bis über 60 Individuen untereinander austauschen. Innerhalb dieser großen Gruppen gibt es eine klare Hierarchie: Wie bei Wölfen und Primaten können die dominanten Alpha-Individuen andere Gruppenmitglieder übertrumpfen und Nahrung für sich selbst beanspruchen.
Lange glaubten Forscherinnen und Forscher, dass die Alpha-Tiere die Richtung vorgeben und entscheiden, wohin ihre Gruppe als Nächstes geht. Studien haben in den letzten zehn Jahren jedoch gezeigt, dass alle Gruppenmitglieder gleichberechtigt mitbestimmen können. Offen war jedoch noch, ob Entscheidungen deshalb demokratisch getroffen werden, um die Macht der Dominanten in Schach zu halten. „Geierperlhühner müssen als Gruppe zusammenarbeiten, da allein lebende Tiere durch ihr leuchtendes Gefieder leichte Ziele für Raubtiere wie Leoparden und Kampfadler sind“, sagt Damien Farine, der leitende Autor der Studie und Forschungsleiter des Geierperlhuhn-Projekts.
Den neuen Ergebnissen zufolge hängt die Entscheidung, wohin eine Gruppe als Nächstes zieht, von den letzten Aktionen der dominanten Gruppenmitglieder ab. Wenn sich die Gruppen in weitläufigen Bereichen mit für alle zugänglicher Nahrung aufhalten, sind alle Gruppenmitglieder an den Entscheidungen gleichermaßen beteiligt. Verjagen jedoch dominante Individuen andere Gruppenmitglieder von einem besonders reichhaltigen Nahrungsgebiet, tun sich die Ausgeschlossenen zusammen und drängen die Gruppe zum Aufbruch. Dies zwingt die Alpha-Tiere schließlich, ihre reichen Nahrungsressourcen aufzugeben und der Gruppe zu folgen.
Demokratie oder Alleinentscheidungen?
Dies deutet darauf hin, dass sich die demokratische Entscheidungsfindung im Gegensatz zur despotischen Führung entwickelt hat, damit alle Gruppenmitglieder Ressourcen wie Nahrung und Wasser erhalten. Wenn immer nur die dominanten Individuen entscheiden, würden nur diese selbst profitieren.
In ihrer Studie haben die Forschenden mehrere Jahre die Bewegungen verschiedener Gruppen von Geierperlhühnern zu Fuß, per Video und mit hochauflösenden GPS-Sensoren verfolgt. Zunächst zeichneten sie alle Streitigkeiten zwischen einzelnen Vögeln auf, um jedem Tier einen Rang in der Hierarchie zuzuweisen. Sie benutzten dafür ein im Schach, Fußball und Tischtennis übliches Verfahren, um die Ränge der Spieler danach zu bestimmen, gegen wen sie verloren und gegen wen sie gewonnen haben. Die Wissenschaftler dokumentierten auch, welcher Vogel den Abflug von und zu neuen Futterstellen veranlasste, und in welcher Reihenfolge die restlichen Tiere der Gruppe folgten.
Auch Paviane folgen der Mehrheit
In einer Studie an Pavianen hatte Damien Farine zusammen mit Forschenden, die inzwischen am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und am Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour arbeiten, zuvor festgestellt, dass einzelne Tiere „mit den Füßen“ abstimmen können und sich von der Gruppe entfernen, wenn sie eine andere Richtung einschlagen wollen. Die Untersuchung hatte zudem ergeben, dass der Rest der Gruppe in diese Richtung folgt, wenn sich eine Mehrheit der Gruppenmitglieder den Initiatoren anschließen.
Tiergruppen können also demokratisch darüber entscheiden, wohin sie sich bewegen, und so zusammenhalten, auch wenn der Zugang zu Ressourcen zwischen den Einzelnen sehr ungleich verteilt ist. Auch wenn die Alpha-Tiere zu viel Macht erlangt haben, können die übrigen Individuen so die Kontrolle über Gruppenentscheidungen zurückerlangen. Sie können sogar ranghöhere Tiere dazu zwingen, einen Futterplatz zu verlassen, der für diese am besten geeignet ist.
„Dass Untergebene ihre Gruppe führen, nachdem sie den Zugang zu Ressourcen verloren hatten, ist natürlich sehr spannend. Wir sprechen dabei von einem ‚Verlierer-Führungsmechanismus“, sagt Danai Papageorgiou, Doktorandin am Max-Planck-Institut und Leiterin der Studie. „Unsere Ergebnisse zeigen, wie Gruppen auf eine zunehmende soziale Ungleichheit reagieren können. Demokratische Entscheidungsfindung ist ausschlaggebend dafür, dass Gesellschaften, die nur als Gruppe überleben können, ein Machtgleichgewicht aufrecht erhalten können“, fügt Papageorgiou hinzu.
Originalpublikation:
Danai Papageorgiou & Damien Farine
Shared decision-making allows subordinates to lead when dominants monopolise resources.
Science Advances (DOI: 10.1126/sciadv.aba5881)

27.11.2020, Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT)
Neuer wissenschaftlicher Handlungsrahmen soll Forschungsergebnisse zur Korallenbleiche vergleichbare
Weltweit zunehmende Korallenbleichen sind eine große Bedrohung für Riffe. Ein internationales Konsortium von Forschenden mit Beteiligung des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) hat nun den ersten gemeinsamen Handlungsrahmen geschaffen, um Forschungsergebnisse zur Korallenbleiche besser vergleichen zu können und so wissenschaftliche Erkenntnisse zu beschleunigen. Die daraus resultierenden Empfehlungen sind jetzt in der Fachzeitschrift Ecological Applications erschienen.
Die Korallenbleiche ist eine große Bedrohung für Riffe weltweit. Die Erwärmung der Ozeane als Folge des Klimawandels kann dazu führen, dass Korallen in einer Stressreaktion ihre Algen-Symbionten abstoßen. So verlieren die Korallen ihre Farbgebung, das darunter liegende weiße Skelett kommt zum Vorschein. Eine Bleiche bedeutet nicht sofort ein Absterben aller Tiere, aber sie erhöht das Risiko für Krankheit und Tod.
Sterben Korallen, kann dies katastrophale ökologische und ökonomische Folgen haben: Denn Korallenriffe schützen die Küsten vor Erosion, sind ein wichtiger Lebensraum für mehr als 25% der marinen Arten weltweit und dienen auch dem Tourismus in tropischen Küstenregionen. Da sich die Weltatmosphäre und damit auch die Ozeane durch den Klimawandel erwärmen, zählen Forschende zunehmend mehr Korallenbleichen.
„Riffe sind in der Krise“, sagt Andréa Grottoli, Professorin für Geowissenschaften an der Ohio State University und Hauptautorin des neuen Papers über gemeinsame Richtlinien zur Erforschung der Korallenbleiche. „Als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben wir die Verantwortung, unsere Arbeit so schnell, kostengünstig, professionell und so gut wie möglich zu erledigen.“
Deshalb hat nun ein internationales Forscherteam unter Leitung von Grottoli einen gemeinsamen Handlungsrahmen vorgelegt, um Forschungsergebnisse zur Korallenbleiche besser vergleichen zu können. „Wir brauchen standardisierte Wege, um erhobene Daten untereinander austauschen und verwenden zu können“, betont Mitautor Dr. Henry C. Wu vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) in Bremen.
Der Biogeochemiker Wu gehört zu dem von Grottoli initiierten „Coral Bleaching Research Coordination Network“, das im Mai 2019 im Bundesstaat Ohio zusammentraf. Im Rahmen eines von der US-amerikanischen National Science Foundation geförderten Workshops entwickelte das Konsortium aus insgesamt 27 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die 21 Institutionen auf der ganzen Welt vertreten, den jetzt vorgestellten gemeinsamen Rahmen.
Die Empfehlungen enthalten Standardisierungs-Richtlinien zu den gängigsten Methoden zur Aufzeichnung und Berichterstattung physikalischer und biologischer Parameter in Experimenten zur Korallenbleiche. Mit solchen Versuchen wollen die Forschenden verstehen, was passiert, wenn Korallen über einen kurzen oder moderaten Zeitraum, oder über lange Zeiträume Licht- oder Temperaturänderungen ausgesetzt sind. „Um uns über die Resultate unserer Studien und Experimente gegenseitig zu informieren und die gemeldeten Variablen schnell vergleichen zu können, brauchen wir bei Experimenten gemeinsame Bezugspunkte etwa für Parameter wie Lichtintensität, Salzgehalt, Alkalinität oder Temperatur“, erklärt Wu.
Bisher gab es einen solchen Bezugsrahmen noch nicht, denn das Forschungsgebiet ist relativ jung. Die erste Korallenbleiche wurde 1971 in Hawaii beobachtet, rund zehn Jahre später ereignete sich eine weit verbreitete Korallenbleiche in Panama in Verbindung mit dem El Niño von 1982 bis 1983. Experimente zum besseren Verständnis des Phänomens begannen erst in den 1990er Jahren, und zwei Drittel der wissenschaftlichen Arbeiten zur Korallenbleiche wurden erst in den letzten zehn Jahren veröffentlicht. Im letzten Jahrzehnt litten insbesondere das Große Barriereriff vor Australien oder die indonesischen Meere im Korallendreieck unter erhöhten Wassertemperaturen, die zu großräumigen Korallenbleichen führten.
Noch immer versuchen Forschende zu verstehen, warum einige Korallenarten anfälliger für eine Bleiche zu sein scheinen als andere, erläutert Grottoli. Immerhin können Korallen Bleichereignisse auch überleben – aber unter welchen Voraussetzungen? „Eine Einigung auf den vorgelegten gemeinsamen Rahmen für Experimente zur Korallenbleiche würde uns als Disziplin effektiver machen“, sagt die Wissenschaftlerin.
Henry C. Wu vom ZMT weist auf die Dringlichkeit der Situation hin: „Aufgrund des Klimawandels und der Verwundbarkeit der Korallen müssen wir schneller vorankommen. Denn die Korallenbleiche ist die größte globale Bedrohung für Korallenriffe weltweit.“
Publikation:
Grottoli, A., Toonen, R., van Woesik, R., Vega Thurber, R., Warner, M., McLachlan, R., Price, J., Bahr, K., Baums, I., Castillo, K., Coffroth, M., Cunning, R., Dobson, K., Donahue, M., Hench, J., Iglesias‐Prieto, R., Kemp, D., Kenkel, C., Kline, D., Kuffner, I., Matthews, J., Mayfield, A., Padilla‐Gamino, J., Palumbi, S., Voolstra, C., Weis, V. und Wu, H. (2020, online first), Increasing comparability among coral bleaching experiments. Ecological Applications. DOI: 10.1002/eap.2262

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