Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

03.11.2025, Universität Konstanz
Wie Tiere sich untereinander Gehör verschaffen

Welche akustischen Signale der Tierkommunikation dienen dazu, die Aufmerksamkeit der Artgenossen zu erregen? Ein Forschungsteam der Universität Konstanz, der Tel Aviv University und der Bar-Ilan University hat untersucht, ob die sogenannten wail-Laute, mit denen Klippschliefer ihren Gesang einleiten, diesen Zweck erfüllen. Ihre Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Animal Behaviour veröffentlicht.
Wir sind von so vielen Informationen umgeben, dass es schwierig ist, ihnen allen aufmerksam zu folgen. Um Details wahrzunehmen, müssen wir uns auf spezielle Signale oder einen besonderen Informationskanal konzentrieren. Daher verwenden wir in der menschlichen Kommunikation sehr häufig Signale, welche die Aufmerksamkeit erhöhen: So setzen wir beispielsweise bei der persönlichen Ansprache ein „Hey” oder „Du” vor den Namen oder lassen einen Gong vor einer Ansage an Bahnhöfen oder Flughäfen erklingen.
Solche Aufmerksamkeitssignale (alerting signals) finden wir auch im Tierreich. Diese zielen hauptsächlich darauf ab, die Konzentration der Artgenossen darauf zu lenken, was man mitteilen will. „Für Tiere ist dies noch wichtiger, da sie ständig ihre Umgebung überwachen müssen. Sonst verpassen sie womöglich Nahrungsangebote oder bemerken Raubtiere nicht”, sagt Verhaltens-Ökologe Vlad Demartsev. Aus diesem Grund machen solche Aufmerksamkeitssignale die Tier-Kommunikation besonders effizient. Sie helfen den Empfängern, die Abstriche bei der generellen Überwachung ihrer Umgebung machen müssten, wenn sie sich ständig auf ein spezifisches Signal konzentrieren würden. Und sie stellen für die Mitteilenden sicher, dass ihre Kernbotschaft ankommt, die möglicherweise aufwendig oder riskant zu erzeugen ist.
Vlad Demartsev, Postdoc am Exzellenzcluster „Kollektives Verhalten“ der Universität Konstanz und am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, und seine Kolleg*innen von der Tel Aviv University und der Bar-Ilan University stellen in einem kürzlich in der Fachzeitschrift Animal Behaviour veröffentlichten Artikel ein Rahmenkonzept vor, um die aufmerksamkeitssteigernde Funktion (alerting function) von Tiersignalen zu testen. In einem zweiten Schritt untersuchen sie damit, ob die in unseren Ohren heiser-klagend klingenden Laute in Klippschliefer-Gesängen – wail-Laute genannt – die Kriterien für eine solche Funktion erfüllen.
Was lässt auf eine aufmerksamkeitssteigernde Funktion schließen?
Das Konzept, welches die Forscher vorschlagen, analysiert drei Ebenen: das Signal selbst, den Signalgeber und die Zuhörer. Zunächst einmal wird von einem Aufmerksamkeitssignal erwartet, dass es aus größerer Entfernung zu hören ist und sich gegen Umgebungsgeräusche durchsetzen kann. An den Signalgebern wird untersucht, ob sie den Laut flexibel nutzen, indem sie ihn beispielsweise weglassen, wenn ihre Artgenossen darauf antworten oder ihn wiederholen, falls er in lauter Umgebung unterzugehen droht. Und was schließlich die Empfänger betrifft: Beeinflusst das Signal diese auf vorhersehbare Weise, indem es deren Reaktion schneller oder mit größerer Wahrscheinlichkeit erfolgen lässt? „Das Phänomen solcher alerting signals ist wahrscheinlich unter Tieren weit verbreitet“, sagt Demartsev, „aber bisher hatten wir keine systematische Methode, um es zu untersuchen.“
Klippschliefer sind gesellig lebende Säugetiere mit einem gut beschriebenen Lautrepertoire. Ihre Gesänge sind komplex und enthalten eine Menge Informationen. Als „singende“ Säugetiere sind Klippschliefer ziemlich einzigartig. Vermutlich nutzen die Männchen ihre Gesänge, um sich vor potenziellen Partnerinnen zu präsentieren und Konkurrenten einzuschätzen. Gehör zu finden ist daher enorm wichtig für sie, jedoch mit hohen Risiken verbunden, wenn sie etwa von Raubtieren oder aggressiven Konkurrenten entdeckt werden.
Die Gesänge von Klippschliefern bauen sich aus Abfolgen von drei unterschiedlichen vokalen Elementen auf. Dazu gehören wails, von denen Demartsev und seine Kolleg*innen vermuten, dass sie eine aufmerksamkeitssteigernde Funktion haben könnten. Denn diese Laute leiten die Gesänge ein, lassen aber häufig in deren weiterem Verlauf nach. Außerdem stehen sie – anders als andere vokale Elemente – nicht in Zusammenhang mit Eigenschaften der Männchen wie Alter und Ranghöhe.
„Aufgepasst – ich hab euch was zu sagen!“
Wie aber fanden die Forscher*innen heraus, ob diese Laute dazu dienen könnten, Aufmerksamkeit zu schaffen? Zunächst analysierten sie alle gesammelten Gesangsdateien. Dabei fanden sie heraus, dass Klippschliefer die wails nur zu Beginn ihrer Gesänge verwenden. Und sie ließen diese weg, wenn ihnen Ereignisse vorangingen, die bereits die Aufmerksamkeit der Artgenossen fesselten, wie die Anwesenheit von Raubtieren, Warnrufe oder Kämpfe. Anschließend führte das Forschungsteam Experimente durch, wie weit wail-Laute sich über Distanzen und unter verschiedenen Windbedingungen verbreiteten bzw. wo sie abebbten.
„Schließlich experimentierten wir im Feld mit den Gesängen selbst. Wir nahmen einen ‚Mustergesang‘, spielten ihn ab, maßen die Reaktionen anderer Klippschliefer. Dann löschten wir die meisten wails und ersetzten sie durch Hintergrundgeräusche. Außerdem segmentierten wir die wails selbst und unterbrachen deren Verlaufsstruktur. Bei beiden Manipulationen beobachteten wir, dass sich die Reaktionen der Zuhörer verringerten“, erklärt der Biologe.
Diese Laute erfüllen mehrere Kriterien für ein alerting signal: Sie bleiben über mittlere Übertragungsentfernungen stabil, kommen zu Beginn der Gesänge vor und gehen mit einer erhöhten Reaktionsrate einher, was die Forscher*innen als entscheidenden Maßstab für deren aufmerksamkeitserregenden Charakter beschreiben. „Diese wails steigern wahrscheinlich die Aufmerksamkeit unter den Zuhörern, auch wenn sie nicht alle unsere Kriterien perfekt erfüllen. Umweltbedingungen wie die Struktur des Lebensraums, Hintergrundgeräusche oder die Gefahr durch Raubtiere wirken sich hier sicher beeinträchtigend aus. Außerdem würde ich nicht so weit gehen zu behaupten, dass wails einzig als Aufmerksamkeitssignale dienen. Darin mögen weitere Informationen verschlüsselt sein, die wir noch nicht herausgefunden haben“, erklärt Demartsev.
Die Forscher*innen hoffen, dass ihr Rahmenkonzept auch auf andere Tierarten Anwendung findet, um potenzielle Aufmerksamkeitssignale einzuordnen. Zukünftige Forschungen könnten sich auch damit befassen, zu welchen Kompromissen die evolutionäre Entwicklung führte, etwa wenn die Erzeugung gut erkennbarer Signale mit einer erhöhten Auffälligkeit gegenüber unbeabsichtigten Empfängern wie Raubtieren oder Konkurrenten einherging.
Die Studie „Alerting components in animal vocalisation” wurde vor kurzem in der Fachzeitschrift Animal Behaviour veröffentlicht.

03.11.2025, Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei
Erster Nachweis: Heringe kehren zum Laichen an ihren Geburtsort zurück
Eine aktuelle Studie des Thünen-Instituts für Ostseefischerei belegt erstmals, dass auch der Atlantische Hering eine sogenannte Brutort-Treue besitzt. Deshalb kehren die meisten Heringe der westlichen Ostsee zum Laichen an den Ort ihrer Geburt zurück, etwa in den Greifswalder Bodden. Die Erkenntnis ist ein wichtiges Argument für den Schutz von Küstenlebensräumen.
Zugvögel, Meeresschildkröten und Lachse haben etwas gemeinsam: Jahr für Jahr kehren sie an die Orte ihrer Geburt zurück, um sich fortzupflanzen. Eine jetzt im Fachjournal Science Advances veröffentlichte Studie zeigt, dass auch der Atlantische Hering in der Ostsee diese Brutort-Treue besitzt. Erstmals konnte ein internationales Forschungsteam unter Federführung von Dr. Dorothee Moll vom Thünen-Institut für Ostseefischerei in Rostock belegen, dass Heringe mit hoher Wahrscheinlichkeit genau in jenen Buchten, Lagunen und Flussmündungen laichen, in denen sie selbst geschlüpft sind (natal homing).
Für die Studie haben die Forschenden eine Art chemischen Fingerabdruck aus den Gehörsteinen (Otolithen) der Fische erstellt sowie genetische Analysen durchgeführt, um Herkunft und Fortpflanzungswanderungen der Tiere bestimmen zu können. Die Ergebnisse zeigen: 56 bis 73 Prozent der Heringe kehren zur Fortpflanzung in ihr Geburtsgebiet zurück – unabhängig von der Größe des jeweiligen Laichgebiets.
„Das ist der erste Nachweis für eine ausgeprägte Brutort-Treue beim Hering“, sagt Dorothee Moll, Erstautorin der Studie und Wissenschaftlerin am Rostocker Institut. Bisher ging die Wissenschaft davon aus, dass jüngere und unerfahrene Heringe sich einfach den Schwärmen älterer Fische anschließen, wenn es Zeit für die Fortpflanzung ist und so die Wanderrouten zu etablierten Laichgebieten erlernen. „Unsere Ergebnisse zeigen dagegen, dass die verschiedenen Laichgebiete entlang der Küste nicht beliebig austauschbar oder ersetzbar sind“, erklärt die Wissenschaftlerin. Das unterstreiche erneut, wie wichtig ein gezieltes Küstenzonenmanagement sei, um die Produktivität und Widerstandsfähigkeit mariner Ökosysteme langfristig zu sichern.
Das Thünen-Institut für Ostseefischerei erforscht die Populationsdynamik des Herings schon seit vielen Jahren. Die aktuelle Forschungsarbeit knüpft an eine bereits 1997 veröffentlichte Studie dazu an. Die ältere Theorie postulierte, dass Heringsschwärme auf den langen Wanderungen zwischen ihren Fraßgründen und Laichgebieten sogenannte Streuner aufnehmen, die den genetischen Austausch zwischen Teilpopulationen fördern und eine übergreifende Metapopulation bilden. Dorothee Moll und ihr Team konnten diese Hypothese nun testen und den Anteil an Rückkehrern und Streunern bestimmen.
Angesichts zunehmender menschlicher Eingriffe in Küstenökosysteme sind diese Erkenntnisse von großer Bedeutung: Sie zeigen, wie eng die Produktivität von Fischpopulationen mit dem Erhalt lokaler Laichgebiete verknüpft ist – und wie wichtig es ist, diese Lebensräume gezielt zu schützen.
Originalpublikation:
Dorothee Moll, Patrick Polte, Klaus Peter Jochum, Tomas Gröhsler, Dorte Bekkevold, Ian McQuinn, Christian Möllmann, Christopher Zimmermann, Paul Kotterba (2025): First direct evidence of natal homing in an Atlantic herring metapopulation. Science Advanced Vol. 11, Issue 44, DOI 10.1126/sciadv.adz6746
https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adz6746

06.11.2025, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ
Pflanzenschutzmittel verändern das Verhalten von Nicht-Zielorganismen / Effekte bei Bestäuberinsekten und Fischen
Pflanzenschutzmittel schützen Kulturpflanzen vor Schädlingen, Krankheiten und Unkräutern. Sie wirken sich aber auch negativ auf Organismen aus, die nicht das primäre Ziel ihres Einsatzes sind, zum Beispiel Bestäuberinsekten oder Fische. Wie sich deren Verhalten nach Exposition mit Pflanzenschutzmitteln ändert, steht im Fokus der lebensraumübergreifenden Studie von Wissenschaftler:innen des UFZ. Die im Tiermodell gefundenen Verhaltensänderungen fielen deutlich aus. Die Arbeit zeigt, dass es für eine bessere Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln notwendig ist, künftig komplexere und damit relevantere Verhaltenstests einzubeziehen.
Das Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln in der Landwirtschaft unterliegt strengen Regelungen. Dennoch kommen unvermeidlich auch Organismen, die nicht das primäre Ziel ihres Einsatzes sind, sogenannte Nicht-Zielorganismen, mit diesen Substanzen in Kontakt und können Schaden nehmen. „Wildbienen und andere Bestäuberinsekten können kurz nach dem Spritzen mit recht hohen Konzentrationen in Berührung kommen. Aber auch Tiere des aquatischen Lebensraums sind gefährdet“, sagt UFZ-Biologe Prof. Dr. Martin von Bergen, einer der beiden Co-Studienleiter. „Durch Regenfälle werden Pflanzenschutzmittel nach und nach in die umliegenden Gewässer gespült. Sie verbleiben und wirken nicht nur dort, wo sie ausgebracht wurden.“
Aus diesem Grund wählte das UFZ-Team für die Studie einen Forschungsansatz, in dem lebensraumübergreifend Bestäuberinsekten und Fische untersucht wurden. Als Modellorganismus für Bestäuberinsekten diente die Honigbiene (Apis mellifera) und für aquatische Tiere der Zebrabärbling (Danio rerio). Dabei richteten die Forschenden ihren Fokus auf Verhaltensänderungen infolge einer Exposition mit Pflanzenschutzmitteln. „Pflanzenschutzmittel wirken natürlich nicht immer tödlich auf die Nicht-Zielorgansimen. Je nach Art des Pflanzenschutzmittels können aber bereits geringe Konzentrationen ihre Gesundheit schädigen oder sie in ihrem Verhalten so beeinträchtigen, dass sich dies negativ auf das Individuum, die Population und damit letztlich sogar auch auf die Biodiversität des Ökosystems auswirken kann“, sagt Cassandra Uthoff, UFZ-Doktorandin und Erstautorin der Studie. „In die Risikobewertung von Chemikalien werden Verhaltenstests von Tieren nach einer Chemikalienexposition in niedrigen Konzentrationen zwar teilweise schon einbezogen, sind jedoch nicht komplex genug und meist nicht verpflichtend.“
Und genau solche komplexen Verhaltensmuster nahmen die UFZ-Forschenden, ein interdisziplinäres Team aus den Bereichen Tierverhaltensforschung, Ökotoxikologie und Biochemie, in den Fokus. „Wir wollten herausfinden, ob und in welchem Maße sich diese Verhaltensmuster unter Einwirkung von Insektiziden, Herbiziden und Fungiziden ändern. Dazu haben wir die Modellorganismen Konzentrationen von Pflanzenschutzmitteln ausgesetzt, die in ihrem jeweiligen Lebensraum in der Umwelt auch tatsächlich vorkommen und ihr Verhalten analysiert“, erklärt Cassandra Uthoff. Bei den Honigbienen konnten die Forschenden nach Behandlung mit dem Insektizid eine verringerte Futtersuchaktivität und ein verändertes Verhalten in der Nektarverarbeitung feststellen. Fungizide und Herbizide führten dagegen zu einem weniger intensiven Brutpflegeverhalten. „Solche Verhaltensänderungen, ausgelöst durch umweltrelevante Konzentrationen von Pflanzenschutzmitteln, können die Leistungsfähigkeit, den Erhalt der Kolonien und damit letztlich auch ihre Bestäubungsleistungen beeinträchtigen“, sagt Uthoff.
Um die Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln auf das Verhalten von Süßwasserorganismen zu testen, nutzten die Forscher:innen eine Screening-Methode am Zebrafisch-Embryo-Modell. Damit ist es möglich, Chemikalien schnell auf neurotoxische Wirkungen zu testen, indem veränderte Lern- und Gedächtnisprozesse anhand des Verhaltens von Embryonen des Zebrabärblings gemessen werden. Neben der Einzelbehandlung mit den Pflanzenschutzmitteln wurden die Fischembryonen auch verschiedenen Konzentrationen eines Insektizid-Herbizid-Fungizid-Gemisches ausgesetzt, wie es typischerweise in deutschen Fließgewässern vorkommt. Die Exposition führte zu deutlichen und auch spezifischen Änderungen ihres Verhaltens: War die Konzentration des Gemisches gering, zeigten die Fischembryonen ein Verhalten, wie es normalerweise das Herbizid allein auslösen würde. Bei höherer Konzentration desselben Gemisches wurde dieses Verhalten aber nicht verstärkt, sondern abgelöst: Der Fischembryo verhielt sich nun so wie unter Einwirkung des Fungizids.
„Die Arbeit zeigt auch, dass Chemikaliengemische bereits in umweltrelevanten Konzentrationen komplexe Verhaltensänderungen hervorrufen können“, sagt Prof. Dr. Tamara Tal, UFZ-Ökotoxikologin und Co-Studienleiterin. „Zum besseren Schutz der Tiere in der Umwelt brauchen wir deshalb Regularien, die Grenzwerte auf Basis des kumulativen Risikos festlegen.“
„Die Effekte, die wir im Tiermodell messen konnten, lassen vermuten, dass die tatsächlichen ökologischen Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln deutlich weitreichender sind als bislang angenommen“, ergänzt Martin von Bergen.
Die Forschenden fordern deshalb, mehr relevante Verhaltenstests für niedrig konzentrierte Chemikalien in die Rahmenwerke zur Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln zu integrieren. Dies würde helfen, kritische Substanzen zu identifizieren und Nicht-Zielorganismen besser zu schützen und würde so zum Erhalt der Biodiversität in Agrarlandschaften beitragen.
Die Forschungsarbeiten fanden im Rahmen des vom Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat (BMELH) geförderten Projekts Sens4Bee, eines Stipendiums der Helmholtz-Gemeinschaft und mit Unterstützung der Novo Nordisk Foundation statt.
Originalpublikation:
Uthoff, C., Herold, N.K., Alkassab, A.T., Engelmann, B., Rolle-Kampczyk, U., Pistorius, J., Schweiger, N., Finckh, S., Krauss, M., Thum, A.S., Jehmlich, N.,Tal, T., von Bergen, M.: Cross-taxa sublethal impacts of plant protection products on honeybee in-hive and zebrafish swimming behaviours at environmentally relevant concentrations; Environment International, September 2025, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S016041202500501X?via%3Dihub

06.11.2025, Universität Potsdam
Drei neue Krötenarten springen ins Rampenlicht
Junge Frösche und Kröten entwickeln sich üblicherweise aus Eiern. Ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung der Universität Potsdam hat nun drei neue Arten von Baumkröten aus Tansania beschrieben, die voll entwickelte Jungtiere zur Welt bringen. Die jetzt in „Vertebrate Zoology“ veröffentlichte Entdeckung wurde durch die Kombination traditioneller Museumsforschung mit moderner Genanalyse ermöglicht.
„Indem wir verschiedene Naturkundemuseen besuchten, um Hunderte erhaltender Kröten-Exemplare zu untersuchen und sogenannte museomic-Methoden zur DNA-Extraktion anwendeten, konnten wir uns deren vielfältige Erscheinungsform vor Augen führen und damit neue Arten beschreiben“, sagt der leitende Autor der Studie, Christian Thrane von der Universität Kopenhagen.
„Lebendgebärende Fortpflanzung ist unter Fröschen und Kröten äußerst selten und kommt bei weniger als einem Prozent der Froscharten vor, was diese neuen Arten besonders interessant macht“, sagt Co-Autor Dr. H. Christoph Liedtke vom Spanish National Research Council, der sich auf die Entwicklung der Fortpflanzungsweisen von Amphibien spezialisiert hat. Nur eine Handvoll Froscharten aus Südamerika und Südostasien hat ähnliche Strategien entwickelt. Die meisten Lehrbücher erzählen immer dieselbe Geschichte zur Fortpflanzung von Fröschen: von Eiern über Kaulquappen hin zu Jungfröschen und ausgewachsenen Tieren. „Das ist das Standard-Paradigma“, sagt Co-Autor Prof. Mark D. Scherz vom Natural History Museum Dänemark. „Dabei gibt es tatsächlich eine große Vielfalt bei der Fortpflanzung von Amphibien.“
Ein wesentlicher Teil der Studie fand an der Universität Potsdam statt. Dr. Alice Petzold führte genetische Analysen an Museumsexemplaren (museomics) durch, die in der Nasssammlung des Museums für Naturkunde aufbewahrt werden. Sie sind von Gustav Tornier im Jahr 1905 verwendet worden, um die erste lebendgebärende Kröte der Gattung Nectophrynoides zu beschreiben. „Einige dieser Exemplare wurden vor mehr als 120 Jahren gesammelt“, sagt sie. „Unsere Genanalysen konnten genau aufzeigen, zu welchen Populationen diese alten Exemplare gehörten, was uns für die zukünftige Arbeit an diesen Kröten eine große Sicherheit gibt.“
„Die Entdeckungen unterstreichen die Vielfalt lebendgebärender Kröten und wie bedeutsam der Schutz der Wälder Ostafrikas ist“, sagt Dr. Simon P. Loader vom Natural History Museum in London, Experte für die Amphibien Ostafrikas. „Wenn wir diese Wälder verlieren, verlieren wir damit eine der ungewöhnlichsten Formen amphibischer Fortpflanzung, die wir kennen. Nur wenn wir diese wenig erforschten Gebiete weiter erkunden und schützen, erhalten wir ein vollständigeres Bild ihrer Artenvielfalt und stellen sicher, dass es für künftige Generationen erhalten bleibt.“
Die Studie stellt die Bedeutung naturhistorischer Sammlungen für die wissenschaftliche Forschung und den Erhalt der biologischen Vielfalt heraus und zeigt, wie das Kombinieren von Daten aus modernen und historischen Exemplaren dazu beitragen kann, verborgene Artenvielfalt zu enthüllen.
Originalpublikation:
Thrane C, Lyakurwa JV, Liedtke HC, Menegon M, Petzold A, Loader SP, Scherz MD (2025) Museomics and integrative taxonomy reveal three new species of glandular viviparous tree toads (Nectophrynoides) in Tanzania’s Eastern Arc Mountains (Anura: Bufonidae). Vertebrate
Zoology 75, https://doi.org/10.3897/vz.75.e167008

06.11.2025, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Rehe bremsen die Baumvielfalt – auch im Licht
Auch in hellen Waldlücken verhindert Rehverbiss die natürliche Verjüngung vieler Baumarten. Forschende der Universität Würzburg zeigen, wie stark die Huftiere die Waldentwicklung beeinflussen.
In der aktuellen Ausgabe des Journal of Applied Ecology berichten Forschende der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU), dass Rehe die natürliche Regeneration von Laubwäldern deutlich stärker einschränken als bislang angenommen. Das Team um Professor Jörg Müller hat in einem mehrjährigen Freilandexperiment gezeigt: Selbst wenn nach Störungen viel Licht in den Wald fällt, kann dieser Vorteil den selektiven Verbiss durch Rehe nicht kompensieren.
Verbiss verhindert positive Lichteffekte
Um die Anpassungsfähigkeit von Wäldern an den Klimawandel zu erhöhen, setzt die Forstpraxis zunehmend auf erhöhte Baumartenvielfalt. Offene Kronenlücken nach Störungen wie Stürmen oder Trockenperioden bieten vielen Baumarten dafür grundsätzlich ideale Bedingungen. „Wir konnten aber zeigen, dass der Einfluss der Rehe in diesen lichten Bereichen besonders groß ist“, so Ludwig Lettenmaier, Doktorand an der Universität Würzburg.
Universitätswald als Prototyp
Durchgeführt wurde die Studie über einen Zeitraum von vier Jahren im Würzburger Universitätswald. Dazu legten die Forschenden jeweils eine eingezäunte und eine nicht eingezäunte Fläche von 36 Quadratmetern sowohl in künstlich geschaffenen Kronenlücken als auch in schattigen, geschlossenen Waldbereichen an.
Die Ergebnisse waren eindeutig: „Das zusätzliche Licht konnte auf den nicht eingezäunten Flächen den negativen Einfluss der Rehe nicht ausgleichen. Die Baumartenvielfalt glichen denen in den schattigen Arealen“, berichtet Lettenmaier.
Im Bereich bis 1,3 Metern Höhe – also dort, wo Rehe fressen – entwickelte sich zwar eine potenziell hohe Baumartenvielfalt. Durch den selektiven Fraß der Tiere schafften es aber nur sehr wenige Baumarten aus dieser kritischen Zone heraus. Dies führte unabhängig vom Licht zu einer Halbierung der Baumartenvielfalt.
Die Studie belegt, dass Rehe durch ihre geschmacklichen Vorlieben eine deutliche Homogenisierung der Waldverjüngung bewirken. Da die Rehdichte im Universitätswald typische für viele bayerische Laubwälder ist, gehen die Forschenden davon aus, dass ähnliche Effekte großflächig auftreten.
Folgen für das Waldmanagement
Nach Störungen entscheidet die frühe Entwicklungsphase über die Zusammensetzung künftiger Waldbestände. „Wenn sich in den ersten Jahren vor allem wenig schmackhafte Arten durchsetzen, beeinflusst das die Baumartenzusammensetzung langfristig “, erklärt Jörg Müller, Lehrstuhlinhaber für Naturschutzbiologie und Waldökologie. „Wo sich Rehdichten nicht ausreichend kontrollieren lassen, sollten betroffene Flächen für mehrere Jahre eingezäunt werden, um das natürliche Potenzial für mehr Vielfalt zu nutzen.“
Die Ergebnisse liefern wichtige Hinweise für ein integratives Wildtier- und Waldmanagement. Sie zeigen zugleich, dass Licht und Verbiss nicht unabhängig voneinander betrachtet werden dürfen, wenn es um die Resilienz unserer zukünftigen Wälder geht.
Nächste Forschungsschritte
Im nächsten Schritt untersucht das Team, wie Rehverbiss und Lichtverhältnisse die Vegetation im Unterwuchs und zentrale Ökosystemfunktionen beeinflussen – etwa den Holzabbau, die mikrobielle Bodenatmung, Regenwurmpopulationen und die Vielfalt von Gliederfüßern.
Kooperationspartner und Förderung
An der Studie waren Forschende der Universität Würzburg, des German Centre for Integrative Biodiversity Research (iDiv) Halle–Jena–Leipzig, der Universitäten Göttingen, Oslo und Zürich beteiligt.
Gefördert wurde die Arbeit durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE, Projekt MainPro) sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG-Forschergruppe BETA-FOR).
Originalpublikation:
Ludwig Lettenmaier, Atle Mysterud, Oliver Mitesser, Christian Ammer, Torsten Hothorn, Simone Cesarz, Nico Eisenhauer, Daniel Kraus, Soumen Mallick, Jörg Müller, Kerstin Pierick: “Light and ungulate browsing interact in shaping future woody plant diversity through natural regeneration”; in Journal of Applied Ecology, 5 November 2025, doi: 10.1111/1365-2664.70211

06.11.2025, Institut für ökologische Wirtschaftsforschung GmbH, gemeinnützig
Weltweiter Biodiversitätsverlust – Wie die EU naturverträglichen Konsum fördern kann
Gemeinsame Pressemitteilung des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und des Instituts für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu) ► Europäische Konsummuster tragen maßgeblich zum Verlust der Biodiversität im Globalen Süden bei. Neue Studie von IÖW und ifeu zeigt die Auswirkungen des Konsums von Soja, Palmöl und Shrimps. Forschende geben Empfehlungen für eine koordinierte EU-Politik, um den globalen Fußabdruck zu verringern und nachhaltige Ernährung zu fördern, und zeigen: an Suffizienz führt kein Weg vorbei.
14 Tonnen Materialverbrauch pro Kopf – so groß ist laut Eurostat (2024) der Fußabdruck des Konsumverhaltens der Menschen in Europa. Ziel wären 5,5 bis 8 Tonnen, so das Umweltprogramm der Vereinten Nationen. Dieser Verbrauch trägt zum weltweiten Verlust von Biodiversität bei, besonders im Globalen Süden. Eine neue Studie vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und vom Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu) beleuchtet die Rolle der Produktion von Soja, Palmöl und Shrimps. Die Forschenden geben Empfehlungen für eine EU-Politik im Einklang mit Zielen des Biodiversitätsschutzes. Diese Woche wurden die Ergebnisse der Studie „Towards nature-friendly consumption“ im Auftrag des Bundesamts für Naturschutz (BfN) auf einer Onlinekonferenz mit internationalen Expert*innen diskutiert.
Zielgerichtete EU-Politik kann globalen Fußabdruck verringern
„Der Verlust der biologischen Vielfalt ist keine unvermeidliche Folge des Konsums, sondern das Ergebnis politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen“, so Projektleiterin Julia Fülling, die am IÖW zu nachhaltigen Lebensstilen forscht. „Die EU kann ihren globalen Ressourcen-Fußabdruck erheblich verringern – mit koordinierten, auf Gerechtigkeit ausgerichteten Maßnahmen, die suffiziente Lebensstile attraktiv und umsetzbar machen.“
Shrimps, Soja und Palmöl als Treiber der Umweltzerstörung
Die drei Fallbeispiele der Studie verdeutlichen:
• Der Konsum von Shrimps ist in der EU stark gestiegen und die Zucht führte und führt weiterhin zu massiver Zerstörung von Mangrovenwäldern. Der europäische Shrimpskonsum benötigte 2018 rund 463.000 Hektar – eine Fläche fast doppelt so groß wie Luxemburg. Intensive Aquakulturmethoden verursachen erhebliche Umweltschäden. Durch deren Abwasser gelangen Nährstoffe, Chemikalien und Antibiotika in die Umwelt und schaden Ökosystemen. Dabei gäbe es Alternativen: nachhaltigere Zuchtmethoden könnten den ökologischen Fußabdruck zumindest verringern.
• Der Großteil des in der EU konsumierten Sojas wird als Tierfutter verwendet. Oft wird der Sojaanbau mit der Abholzung des Amazonas verbunden – dort ging die Entwaldung jedoch in den letzten Jahren zurück. Das Soja stammt nun zunehmend aus Monokulturen in empfindlichen Lebensräumen wie dem Cerrado und den Pampas in Südamerika. 2023 beanspruchte der Sojaanbau für EU-Importe rund 4,8 Millionen Hektar (entspricht circa der Fläche der Slowakei) und gefährdete die Biodiversität durch den Einsatz von Herbiziden und die Zerstörung natürlicher Ökosysteme durch Landumwandlung.
• Die Produktion von Palmöl führte in der Vergangenheit zur großflächigen Umwandlung tropischer Regenwälder. Heute gefährdet vor allem die Entwässerung tropischer Moore zahlreiche Arten und führt zu erheblichen CO₂-Emissionen. Die Emissionen werden neben der Entwässerung auch durch Moorbrände erhöht. Für den Import von Palmöl in die EU wurden 2023 1,5 Millionen Hektar Fläche benötigt, das entspricht etwa einem Drittel der Fläche von Estland.
„Der Konsum von Shrimps, Soja und Palmöl in der EU hat verheerende Auswirkungen auf die Biodiversität weltweit – etwa durch die Vernichtung von Biodiversitäts-Hotspots wie Mangrovenwäldern, Mooren und Savannen“, erklärt Susanne Köppen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am ifeu, und betont: „Diese Entwicklung muss gestoppt werden.“
Ganzheitlicher Ansatz für Biodiversität und Klimaschutz: Suffizienz statt technischer Lösungen
Der Verlust der biologischen Vielfalt und der Klimawandel sind untrennbar miteinander verbunden und erfordern eine ganzheitliche Herangehensweise, empfehlen die Forschenden in ihrer Studie. Einzelne Ökosysteme oder Rohstoffe zu schützen, kann dazu führen, dass Umweltbelastungen lediglich verlagert werden, anstatt die zugrundeliegenden Probleme zu lösen. Darüber hinaus kann eine mangelhafte Nachhaltigkeitspolitik globale Ungleichheiten verschärfen, was als „grüner Kolonialismus“ bezeichnet wird. Um dies zu vermeiden, sollte Biodiversitätsschutz gemeinsam mit Akteuren der betroffenen Regionen gestaltet werden. Des Weiteren sind technische Lösungen wie Effizienzsteigerungen oder Substitution nicht ausreichend, um eine echte Transformation zu erreichen – das Leitprinzip sollte Suffizienz sein.
Politische Maßnahmen für eine nachhaltigere EU-Politik
Um eine tatsächliche Veränderung herbeizuführen, sollte die EU die Entwaldungsverordnung wirksam und sozialverträglich umsetzen sowie die EU-Richtlinie über Umweltaussagen (Green Claims Directive) zeitnah verabschieden. Darüber hinaus sollten schädliche Subventionen abgeschafft und durch preisliche Anreize für eine pflanzenbetontere Ernährung ersetzt werden. Der große Hebel, den die öffentliche Beschaffung bietet, sollte genutzt werden, indem dort Nachhaltigkeitskriterien verpflichtend gemacht werden. Eine effektive Nachhaltigkeitskommunikation an Konsument*innen muss zudem über generische Botschaften hinausgehen und sich auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Verbraucher*innen konzentrieren.
Weitere Informationen:
• Fülling, J., Pentzien, J., Lutz, K., Köppen, S., Bolte, V., Giest, F. (2025): Towards nature-friendly consumption – Biodiversity impacts and policy options for shrimp, soy, and palm oil. Bundesamt für Naturschutz (BfN), Bonn, DOI: [10.19217/brs255en] https://www.ioew.de/publikation/towards_nature_friendly_consumption
• Pentzien, J., Fülling, J. (2025): EU Deforestation Regulation in Action: Towards Just and Effective Implementation. Policy Brief #01/2025. Bundesamt für Naturschutz (BfN), Bonn. https://www.ioew.de/publikation/eu_deforestation_regulation_in_action
• Fülling, J., Pentzien, J. (2025): Sufficiency for biodiversity: Governing consumption within ecological limits. Bundesamt für Naturschutz (BfN), Bonn. https://www.ioew.de/publikation/sufficiency_for_biodiversity
• Köppen, S., Brasil, B., Cosse Braslavsky, C., Carcamo, R., Clark, G., Wulf, S. (2024): Implementing GBF Target 16: Addressing Biodiversity Impacts of Food Consumption. Bundesamt für Naturschutz (BfN), Bonn. DOI: [10.19217/pol244en] https://www.ioew.de/publikation/implementing_gbf_target_16
• Köppen, S., Giest, F. (2025): Europas wachsende Lust auf Garnelen. Ein Blick auf die Biodiversitätskrise. Bundesamt für Naturschutz (BfN), Bonn. https://www.ifeu.de/projekt/konsum-naturvertraeglich-gestalten-handlungsempfehlu…
• Köppen S., Giest, F. (2025): Palmöl und die EU. Wie europäischer Alltagskonsum den Verlust tropischer Torfmoore befeuert. Bundesamt für Naturschutz (BfN), Bonn. https://www.ifeu.de/projekt/konsum-naturvertraeglich-gestalten-handlungsempfehlungen
• Köppen S., Giest, F. (2025): Die wahren Kosten von Soja. Wie der EU-Konsum die Biodiversität Südamerikas gefährdet. Bundesamt für Naturschutz (BfN), Bonn. https://www.ifeu.de/projekt/konsum-naturvertraeglich-gestalten-handlungsempfehlu…
• Weitere Publikationen des One Planet networks: https://www.oneplanetnetwork.org/knowledge-centre/resources

05.11.2025, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Forschende entdecken „Ganzkörper-Gehirn“ bei Seeigeln
Eine internationale Forschungsgruppe unter Beteiligung des Museums für Naturkunde Berlin hat ein überraschend komplexes Nervensystem bei Seeigeln entdeckt. Die Tiere verfügen über eine Art „Ganzkörper-Gehirn“, dessen genetische Organisation der des Wirbeltiergehirns ähnelt. Zudem fanden die Forschenden lichtempfindliche Zellen im gesamten Körper der Seeigel – vergleichbar mit Strukturen der menschlichen Netzhaut.
Die Studie, gefördert vom Human Frontiers Science Program, wurde in Zusammenarbeit mit der Stazione Zoologica Anton Dohrn (Neapel), dem Laboratoire de Biologie du Développement de Villefranche-sur-Mer und dem Institut de Génomique Fonctionnelle de Lyon durchgeführt. Ziel war es, zu verstehen, wie das Genom eines Tieres zwei so unterschiedliche Körperformen hervorbringt: die Larve mit einer zweiseitigen Körperform und das erwachsene Tier mit einer fünfstrahligen Körperform – und welche Zelltypen an diesem Wandel beteiligt sind.
Ein Körper, der nur aus „Kopf“ besteht
Mittels modernster Einzelzell- und Genaktivitätsanalysen kartierte das Team die Zelltypen junger Seeigel nach der Metamorphose. Dabei zeigte sich, dass ihr Körperbau überwiegend „kopfähnlich“ ist. Gene, die bei anderen Tieren typische Rumpfstrukturen kennzeichnen, sind bei Seeigeln lediglich in inneren Organen wie Darm oder Ambulakralsystem aktiv – eine echte Rumpfregion fehlt.
Ein „Ganzkörper-Gehirn“ statt einfachem Nervennetz
Besonders bemerkenswert ist die Vielfalt neuronaler Zelltypen: Hunderte verschiedene Nervenzellen sind aktiv: sowohl stachelhäuterspezifische „Kopf“-Gene als auch konservierte Gene, die sonst im Zentralnervensystem von Wirbeltieren vorkommen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Seeigel kein einfaches, dezentrales Nervennetz besitzen, sondern ein integriertes, gehirnähnliches System, das den gesamten Körper durchzieht.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Tiere ohne klassisches zentrales Nervensystem eine gehirnähnliche Organisation entwickeln können“, sagt Dr. Jack Ullrich-Lüter, einer der beiden Erstautoren der Studie am Museum für Naturkunde Berlin. „Das verändert unser Verständnis der Evolution komplexer Nervensysteme grundlegend.“
Sehen ohne Augen
Darüber hinaus entdeckte das Team zahlreiche lichtempfindliche Zellen (Photorezeptoren), die verschiedene Opsine – lichtsensitive Proteine – exprimieren. Ein besonderer Zelltyp kombiniert Melanopsin und Go-Opsin, was auf eine komplexe Wahrnehmung und Verarbeitung von Lichtreizen sowie auf ein bislang unterschätztes Sehvermögen hinweist. Außerdem scheinen große Teile des Nervensystems der Seeigel lichtsensitiv und möglicherweise durch Lichtimpulse gesteuert zu sein.
Neue Perspektiven auf die Evolution des Gehirns
Die Ergebnisse stellen traditionelle Annahmen über die Einfachheit des Nervensystems der Stachelhäuter in Frage und liefern neue Ansätze, um zu verstehen, wie sich komplexe Nerven- und visuelle Systeme im Tierreich entwickeln können – auch ohne zentrales Gehirn oder eigentliche Augen.
Originalpublikation:
Paganos, P., Ullrich-Lüter, J., Almazán, A., Voronov, D., Carl, J., Zakrzewski, A.-C., Zemann, B., Rusciano, M.L., Sancerni, T., Schauer, S., Akar, O., Caccavale, F., Cocurullo, M., Benvenuto, G., Croce, J.C., Lüter, C., Arnone, M.I. (2025). Single Nucleus Profiling Highlights the All-Brain Echinoderm Nervous System, Science Advances. DOI: 10.1126/sciadv.adx7753

07.11.2025, Justus-Liebig-Universität Gießen
Korallen-Skelette als Fenster in die Vergangenheit
Wie Umweltbedingungen die Gemeinschaften von Mikroalgen und Korallen beeinflussen
Die Baumringe des Meeres: Ein internationales Forschungsteam um die Meeresbiologin Prof. Dr. Maren Ziegler von der Justus-Liebig-Universität Gießen (JU) hat mit Hilfe von Bohrungen in Korallenskeletten eine innovative Methode entwickelt, um die Vergangenheit von Korallen und ihrer Symbiosen mit Algen zu rekonstruieren. Die Ergebnisse, die in „Global Change Biology“ veröffentlicht wurden, bieten neue Einblicke in die Veränderungen der symbiotischen einzelligen Algenarten, die für den Bestand von Korallenriffen entscheidend sind.
Symbiodiniaceae und Korallenriffe
Korallenriffe gehören zu den artenreichsten und ökologisch wichtigsten Ökosystemen der Welt. Ihre Gesundheit hängt von der Symbiose zwischen Steinkorallen und einzelligen Algenarten, den sogenannten Symbiodiniaceae, ab. Diese Symbiose ermöglicht die Verkalkungsprozesse, die die Riffstruktur aufbauen. Allerdings ist diese Symbiose auch anfällig für Hitzestress, der zu Korallenbleiche führen kann. Bei diesem Phänomen verliert die Koralle ihre Symbionten und gefährdet damit ihre Nahrungsversorgung und ihr Wachstum.
Neue Methode zur Rekonstruktion historischer Symbiodiniaceae-Gemeinschaften
Die Forschenden nutzten Bohrkerne von Korallenskeletten in Palau und Papua-Neuguinea, um die Dynamiken der Symbiodiniaceae-Gemeinschaften über die letzten 110 Jahre zu rekonstruieren. „Mit unserer Methode können wir die Symbiodiniaceae-Gemeinschaften in Korallenskeletten analysieren und so einzigartige Einblicke in die Vergangenheit dieser symbiotischen Partnerschaft gewinnen“, erklärt Studienleiterin Prof. Ziegler. Die Bohrkerne wurden im Rahmen der internationalen Tara-Pazifik-Expedition zu den Korallenriffen im Pazifik gesammelt.
Die Studie zeigt, dass die rekonstruierten Symbiodiniaceae-Gemeinschaften deutlich zwischen den verschiedenen Arten und Standorten variieren. Besonders auffällig sind die Dynamiken in den Proben aus Palau, wo historische Hitzestress-Ereignisse mit Veränderungen in den Algen-Gemeinschaften zusammenhängen. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Korallenskelett-Rekonstruktionen nicht nur Hinweise auf vergangene Umweltbedingungen liefern, sondern auch aufzeigen können, wie sich die Symbiodiniaceae im Laufe der Zeit anpassen“, sagt Prof. Ziegler.
Bedeutung für die zukünftige Forschung
Die neue Methode eröffnet zahlreiche Möglichkeiten für die Erforschung der Geschichte und Dynamik von Korallenriffen – ähnlich wie Baumringe auf dem Land. „Durch die Kombination der Daten erkennen wir deutliche Zusammenhänge zwischen den Veränderungen der Symbiodiniaceaen und vergangenen Umweltbedingungen“, erklärt die Forscherin.
Die Informationen können Prognosen über den Zustand und die Gesundheit von Korallenriffen verbessern – etwa unter den Bedingungen des Klimawandels. In diesem Bereich wird das Team auch künftig forschen.
Originalpublikation:
Jose F. Grillo, Vanessa Tirpitz, Jessica Reichert, Marine Canesi, Stéphanie Reynaud, Eric Douville, Maren Ziegler: Coral Skeletal Cores as Windows Into Past Symbiodiniaceae Community Dynamics, Global Change Biology, 07 November 2025
https://doi.org/10.1111/gcb.70575

07.11.2025, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
„Entwaldete Genome“: Umweltzerstörung hinterlässt Spuren im Erbgut von Faultieren
Die Dreifinger-Faultiere Bradypus torquatus und Bradypus crinitus in Brasiliens Atlantischem Regenwald sehen sich zum Verwechseln ähnlich, ihr Erbgut erzählt jedoch zwei unterschiedliche Geschichten: Die Arten waren in der Vergangenheit sehr spezifischen Umweltbedingungen ausgesetzt – und sind heute mit unterschiedlichen Bedrohungen für ihren Fortbestand konfrontiert. In der Fachzeitschrift „Molecular Ecology“ legen Forschende dar, dass B. crinitus, die derzeit stärker gefährdete Art, eine geringere genetische Vielfalt aufweist, bei B. torquatus jedoch ein rascher Anstieg der Inzucht in den letzten Jahrzehnten zu beobachten ist.
Die Ergebnisse der Forschenden des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in Zusammenarbeit mit der brasilianischen NGO Instituto Tamanduá zeigen, dass Genomstudien wichtige Erkenntnisse für den Schutz gefährdeter Arten liefern können.
Vom 10. bis zum 21. November treffen sich conservation leaders aus aller Welt in Brasilien zur 30. Conference of the parties (COP30) des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC). Das Land beherbergt mehrere Biodiversitäts-Hotspots von globaler Bedeutung, Regionen, die nicht nur eine große Artenvielfalt aufweisen, sondern auch zu einem stabilen Weltklima beitragen – wenn sie ausreichend geschützt werden. Eine neue Studie des Leibniz-IZW und des Instituto Tamanduá liefert wichtige Erkenntnisse für den Schutz der Biodiversität in den tropischen Wäldern Brasiliens.
Der Atlantische Regenwald „Mata Atlântica“, Südamerikas artenreicher tropischer Küstenwald, bedeckte einst große Teile von Brasiliens küstennahen Regionen. Aufgrund menschlicher Aktivitäten wie Rodungen für die Landwirtschaft und Urbanisierung sind heute nur noch etwa 8 Prozent seiner ursprünglichen Fläche erhalten. Auch wenn er stark reduziert und fragmentiert ist, dient der Mata Atlântica nach wie vor als Lebensraum für eine Vielzahl faszinierender – und widerstandsfähiger – Arten. Dazu gehören auch verschiedene Arten von Dreifinger-Faultieren, die nirgendwo sonst auf der Welt zu finden sind.
In enger Zusammenarbeit mit der brasilianischen Naturschutzorganisation Instituto Tamanduá gelang es Forschenden des Leibniz-IZW, die vollständigen Genome zweier eng verwandter Faultierarten aus dem Atlantischen Regenwald Brasiliens zu sequenzieren: des Kragenfaultiers (Bradypus torquatus) und seines südlichen Verwandten Bradypus crinitus. Sie leben in unterschiedlichen Regionen des Mata Atlântica. Das Genom einer Art entspricht ihrem genetischen „Bauplan“; bei der Genomsequenzierung werden die in der DNA enthaltenen Informationen in Daten umgewandelt, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler analysieren können. Durch die Untersuchung der Genome der Faultiere konnten sie ermitteln, wie frühere Umwelt- und Klimaveränderungen und aktuelle menschliche Eingriffe in die Lebensräume die genetische Vielfalt, die Populationsgeschichte und den Erhaltungszustand der Arten beeinflusst haben.
Erkenntnisse aus der Genomik sind von großem Nutzen für den Artenschutz
Zentrale Ergebnisse der Genomanalysen zeigen, dass Bradypus crinitus, das derzeit stärker vom Aussterben bedroht ist, im Vergleich zu seinen nördlichen Verwandten eine geringere genetische Vielfalt und auch eine geringere historische Populationsgröße aufweist. Diese Eigenschaften des Genoms spiegeln die unterschiedlichen Umwelt- und Klimabedingungen wider, denen die beiden Regionen und die dort lebenden Faultiere in der Vergangenheit ausgesetzt waren.
Aber auch für das Kragenfaultier Bradypus torquatus, die nördliche der beiden Arten, ist die Lage besorgniserregend: Trotz seiner höheren genetischen Vielfalt und größeren aktuellen Population hat Inzucht durch die Paarung verwandter Individuen in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Dies ist wahrscheinlich auf die gegenwärtige Entwaldung und Fragmentierung seines Lebensraums zurückzuführen. Die Studie zeigt zudem, dass die nördliche Linie der beiden Dreifinger-Faultiere eine höhere genetische Belastung (d. h. mehr nachteilige Genvarianten) aufweist. Dies könne für die Population zur Gefahr werden, wenn sich der Trend des Rückgangs des Bestands nicht umkehrt. „Durch das Aufdecken wichtiger Aspekte der genetischen Gesundheit der Arten ermöglichen uns diese Erkenntnisse, Schutzmaßnahmen zu entwickeln, die wirklich auf das ausgerichtet sind, was die Arten am dringendsten benötigt“, sagte Larissa Arantes, Wissenschaftlerin am Leibniz-IZW, die die Arbeit leitete.
Diese wichtigen Erkenntnisse, die tief im Genom der Faultiere verborgen sind, zeigen, dass es für beide Arten jeweils individuelle Herausforderungen für ihren Schutz und Erhalt gibt, die sowohl durch tiefgreifende historische Umweltveränderungen als auch durch aktuelle Bedrohungen für ihren tropischen Lebensraum geprägt werden.
Untersuchung liefert konkret anwendbare Erkenntnisse für den Arten- und Umweltschutz
Diese Studie ermöglicht Einblicke in das vollständige Genom von Arten, die in einem der weltweit am stärksten bedrohten Biodiversitäts-Hotspots leben. Trotz der Bedeutung dieser megadiversen Regionen wie des Mata Atlântica sind solche Daten nur für eine sehr begrenzte Anzahl der dort vorkommenden Arten verfügbar. Die Arbeit liefert genetische Informationen, aus denen unmittelbar Maßnahmen für das Management gefährdeter Populationen abgeleitet werden können. Die Ergebnisse unterstreichen insbesondere die Dringlichkeit, die genetische Vielfalt zu erhalten, Inzucht zu verringern und die Fragmentierung der Lebensräume für das langfristige Überleben dieser Faultiere zu stoppen oder umzukehren.
„Die Erosion des Genoms stellt eine ernsthafte Bedrohung für Populationen dar, die unter Druck stehen, insbesondere angesichts zunehmender Inzucht. Dies ist eine klare Warnung, dass die Fragmentierung die Überlebenschancen des dieser Faultierarten verringert, insbesondere in der nördlichen Region von Bahia. Wir werden unsere enge Zusammenarbeit mit dem Instituto Tamanduá fortsetzen, um das Ausmaß der Auswirkungen auf die genomische Gesundheit dieser Arten zu bewerten“, sagt Camila Mazzoni, Gruppenleiterin für Evolutions- und Naturschutzgenomik am Leibniz-IZW und Senior-Autorin des Aufsatzes.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der brasilianische NGO Instituto Tamanduá sammelten nicht nur die Proben, die diese Genomstudie ermöglicht haben, sondern verfügen auch über jahrelange Erfahrung mit einer Vielzahl praktischer Maßnahmen zum Schutz dieser und anderer Arten von Faultieren und Ameisenbären. Von der Beschreibung einer neuen Faultierart bis zur Wiederherstellung ihres natürlichen Lebensraums durch Wiederaufforstung – alle Maßnahmen der Organisation sind wissenschaftlich fundiert und liefern neue wissenschaftliche Erkenntnisse, darunter auch Studien wie diese.
Originalpublikation:
Arantes LS, De Panis D, Miranda FR, Santos FR, Hiller M, Mazzoni CJ (2025): Genomic Signatures in Maned Three‐Toed Sloths From Ancient to Recent Environmental Changes in Brazil’s Threatened Atlantic Forest. Molecular Ecology, e70148. DOI: 10.1111/mec.70148

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