02.06.2025, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Kulturelles Erbe erhalten, Lebensräume schützen: Ehemalige Dorfstrukturen bieten Zufluchtsorte für Amphibien
In den ruhigen Bergdörfern des nordportugiesischen Peneda-Gerês-Nationalparks haben jahrhundertealte steinerne Wasserbecken und Bewässerungskanäle eine überraschende neue Bestimmung gefunden: Einst im Mittelpunkt des traditionellen Dorflebens, sind sie heute wichtige Zufluchtsorte und Brutstätten für Amphibien, da natürliche Feuchtgebiete durch Klima- und Landnutzungsänderungen zunehmend unter Druck geraten. Das zeigt eine in der Fachzeitschrift Ecosphere veröffentlichte Studie, die von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) geleitet wurde.
Im Peneda-Gerês-Nationalpark, Portugals erstem Schutzgebiet und einzigem Nationalpark, verschmelzen unberührte Ökosysteme mit traditionellen Dörfern, die seit Generationen bestehen. Während das ländliche Leben verblasst und viele dieser Dörfer weitgehend verlassen sind, bleiben die gemeinschaftlichen Wasserbecken, Steinbrunnen und Bewässerungskanäle, die einst das Dorfleben aufrechterhielten, erhalten.
„Angesichts des zunehmenden Drucks auf natürliche Lebensräume kann der Erhalt dieser vom Menschen geschaffenen Rückzugsräume für den Schutz gefährdeter Arten von entscheidender Bedeutung sein“, sagt Dr. Jose Valdez, der Hauptautor der Studie. Um festzustellen, ob die historischen Strukturen Amphibienpopulationen unterstützen könnten, untersuchte das Forschungsteam unter der Leitung von Jose Valdez und Prof. Dr. Henrique Pereira von iDiv und der MLU eine Feldstudie 162 Gewässer in den Dörfern des Nationalparks, darunter natürliche Strukturen wie Teiche und Bäche, aber auch künstliche wie Wasserbecken, Brunnen und Bewässerungskanäle. Die Forschenden erfassten an jedem Ort die vorkommenden Amphibien sowie deren Brutaktivität, um den ökologischen Wert der Gewässer zu bewerten.
Historische Strukturen beherbergen eine überraschend große Artenvielfalt
Während natürliche Bäche und Teiche in der Regel eine größere Anzahl von Arten beherbergen, zeigt die Studie, dass auch die künstlichen Gewässer eine unerwartet wichtige Rolle für Amphibien spielen. Vor allem historische Steinbecken erwiesen sich als beliebte Lebensräume: In zwei Dritteln dieser Becken lebten Amphibien, ein Viertel wurde sogar als Brutstätte genutzt. Überraschenderweise beherbergten die Wasserbecken sogar eine größere Artenvielfalt als natürliche Gewässer. Die Forschenden wiesen zudem nach, dass endemische Arten wie der Marmormolch (Triturus marmoratus) und der Bosca-Molch (Lissotriton boscai) häufiger in den historischen Strukturen Eier ablegten als in den nahegelegenen natürlichen Teichen oder Bächen. „Im Gegensatz zu natürlichen Feuchtgebieten, die stark vom Klimawandel beeinflusst werden, bieten die künstlichen Becken eine stabile, sichere Umgebung für die empfindlichen Eier und Larven lokaler Amphibienarten”, erklärt Jose Valdez.
Eine Ergänzung, aber kein Ersatz
Die Forschungsergebnisse unterstreichen zwar die ökologische Rolle künstlicher Gewässer im Peneda-Gerês-Nationalpark, doch das Team warnt davor, diese künstlichen Strukturen als Ersatz für natürliche Lebensräume zu betrachten. Natürliche Ökosysteme, insbesondere Ausbuchtungen in Bächen und Teiche, bleiben für viele Amphibienarten unersetzlich. So wurden beispielsweise der Iberische Frosch (Rana iberica) und der Feuersalamander (Salamandra salamandra) fast ausschließlich in natürlichen Gewässern gefunden. Künstliche Strukturen könnten jedoch in Gebieten, die von Landflucht, Trockenheit und Lebensraumverlust betroffen sind, als wichtiger Puffer dienen.
„In Peneda-Gerês ist die Landschaft auf seltene Art und Weise sowohl von der Natur als auch von Generationen von Dorftraditionen geprägt“, sagt Henrique Pereira, Seniorautor der Studie und ehemaliger Direktor des Parks. „Unsere Ergebnisse zeigen, wie das kulturelle Erbe eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung der lokalen Amphibienpopulationen spielen kann. Indem wir solche von Menschenhand geschaffenen Strukturen gemeinsam mit den natürlichen Lebensräumen schützen, bewahren wir nicht nur das kulturelle Erbe, sondern sichern auch eine Zukunft für die Artenvielfalt in diesem Nationalpark.“
Originalpublikation:
Jose W. Valdez, Jeremy Dertien, Haruna Fimmel, Tim Eric Kaufmann, Carolin Kremer, Leonie Schilling, Lena Hartmann, Isabell Hummel, Horst Paul Uellendahl, Asha Majeed, Henrique M. Pereira (2025). Traditional water structures in villages support amphibian populations within a protected landscape. Ecosphere, doi: http://dx.doi.org/10.1002/ecs2.70294
02.06.2025, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Salamander leiden unter steigenden Temperaturen
Amphibien – die am meisten bedrohte Wirbeltierklasse der Erde – stehen unter enormem Druck, da bereits 41 Prozent aller Arten vom Aussterben bedroht sind. Eine neue Studie des Fachbereichs Biowissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt zeigt, dass zunehmende Extremwetterereignisse wie Hitzewellen und Dürren die Krise weiter verschärfen und direkt mit dem Rückgang der Amphibienbestände zusammenhängen. Besonders betroffen sind Regionen wie Europa, das Amazonasgebiet und Madagaskar. Die Ergebnisse verdeutlichen die Dringlichkeit gezielter Schutzmaßnahmen, um die gefährdeten Arten und ihre Lebensräume zu erhalten.
Lebensraumverlust, Krankheiten, Umweltverschmutzung und der Klimawandel setzen Amphibien – also Fröschen, Salamandern und den in den Tropen heimischen Schleichenlurchen – schon heute massiv zu. Die neue Studie vom Institut für Ökologie, Evolution und Diversität zeigt, dass Extremwetterereignisse als zusätzlicher Stressfaktor diese Krise weiter verschärfen. Hierfür analysierten die Wissenschaftler*innen globale Wetterdaten der letzten 40 Jahre. Die Regionen mit signifikant erhöhten Hitzewellen, Dürren und Kältewellen verglichen sie mit der geographischen Verbreitung von mehr als 7.000 Amphibienarten und deren Gefährdungsstatus auf der „Roten Liste“. Die Roten Listen werden seit 1964 von der Naturschutzorganisation IUCN (International Union for the Conservation of Nature and Natural Resources) veröffentlicht und gelten als wichtiges Instrument zur Bewertung des Gefährdungsstatus von Tier- und Pflanzen- und Pilzarten weltweit.
Kritisches Zusammenspiel verschiedener Faktoren
Das Ergebnis ist eindeutig: Dort, wo Hitzewellen und Dürren zugenommen haben, verschlechterte sich auch der Bedrohungsstatus der Amphibien auf der Roten Liste seit 2004 signifikant. „Die Abhängigkeit der Amphibien von temporären Feuchtgebieten zur Fortpflanzung macht sie besonders verwundbar gegenüber Dürren und Temperaturverschiebungen, die ihre Brutgebiete vorzeitig austrocknen lassen“, erklärt Dr. Evan Twomey, Erstautor der Studie. „Unsere Analysen zeigen den direkten Zusammenhang zwischen der Zunahme extremer Wetterereignisse und dem Rückgang der Amphibienbestände.“
Regionale Schwerpunkte
Besonders betroffen sind drei Regionen: Europa, das Amazonasgebiet und Madagaskar. Während in Südamerika der Großteil der dort vorkommenden Amphibien – meist Frösche – zunehmenden Hitzewellen ausgesetzt ist, sind es in Europa vor allem Dürren, die den Tieren zu schaffen machen. Hier sind es hauptsächlich Salamander, die unter den veränderten Bedingungen leiden. Die Situation in Mitteleuropa gibt dabei Anlass zur Sorge. Zukünftige Klimaprognosen zeigen, dass Dürreperioden in Zentraleuropa sowohl in Dauer als auch Intensität wahrscheinlich zunehmen werden. Prof. Lisa Schulte, Leiterin der Abteilung Wild- und Zootierbiologie und Systematik warnt: „Bereits die Hälfte der in Mitteleuropa heimischen Echten Salamander ist heute zunehmend Dürreperioden ausgesetzt – und das wird sich in Zukunft wahrscheinlich noch verschärfen.“
Dringender Handlungsbedarf
Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen die Dringlichkeit gezielter Schutzmaßnahmen. Verschiedene Ansätze aus der Amphibienforschung könnten bedrohten Arten helfen. Dazu gehören zum Beispiel die Schaffung kleiner Schutzgebiete, in denen Amphibien Zuflucht finden können, sowie die Verbesserung von Feuchtgebieten, um optimale Lebensbedingungen zu gewährleisten. Auch die Schaffung feuchter Rückzugsorte, etwa durch den Einsatz von Rohren oder Brettern, bietet diesen Tieren Möglichkeiten, sich während trockener Perioden zurückzuziehen.
Die Studie liefert wichtige Grundlagen für angepasste Schutzstrategien in den besonders betroffenen Regionen. Amphibien gelten als Indikatoren für die Gesundheit von Ökosystemen – ihr Schutz ist daher von übergeordneter Bedeutung für den Erhalt der Biodiversität.
Originalpublikation:
Twomey, E., Sylvester, F., Jourdan, J., Hollert, H., & Schulte, L. M. (2025). Quantifying exposure of amphibian species to heatwaves, cold spells, and droughts. Conservation Biology, e70074. https://doi.org/10.1111/cobi.70074
02.06.2025, Deutsche Wildtier Stiftung
Was lockt die Fledermäuse zum Lüneburger Kalkberg? Deutsche Wildtier Stiftung vermutet einzigartiges Höhlensystem im Berg
Von außen wirkt der 56 Meter hohe, graue Kalkberg in Lüneburg unscheinbar – doch sein Inneres könnte ein bislang ungelüftetes Geheimnis bergen: Ein Massenwinterquartier seltener Fledermausarten und möglicherweise ein einzigartiges Höhlenökosystem, ähnlich wie im bekannteren Segeberger Kalkberg. Aber wie es wirklich im Inneren des Lüneburger Kalkbergs aussieht, wissen bisher nur die Fledermäuse, die sich auch jetzt im Frühsommer vermehrt dort aufhalten, die vielen Karstspalten im Gestein inspizieren und darin Schutz suchen. „Wir können am Lüneburger Kalkberg ein hochintensives Schwarmverhalten von Mitte August bis in den Dezember hinein beobachten. Im Frühsommer sind regelmäßig viele Männchen zu sehen, während die Weibchen sich in sogenannten Wochenstubengesellschaften meist in Baumhöhlen auf die Geburt der Jungen vorbereiten. All das sind wichtige Indizien dafür, dass dieser Ort eine große Bedeutung als Fledermauswinterquartier hat“, sagt der Biologe Florian Gloza-Rausch. Er untersucht mit seinem Team im Rahmen eines Projekts der Deutschen Wildtier Stiftung das Fledermausvorkommen in Lüneburg.
Um die Nutzungsdynamik der Fledermäuse am Lüneburger Kalkberg zu erforschen und herauszufinden, wie es im Inneren aussieht, wenden die Wissenschaftler verschiedene Methoden an: Ein Artenspürhund erschnüffelt Fledermausgeruch und liefert Hinweise auf verborgene Spalten und Zugänge zum Inneren. Videokameras dokumentieren ausfliegende Fledermäuse, und Lichtschranken an Spalten im Berg sollen ab Mitte August ein- und ausfliegende Tiere zählen. Ein Ultraschallaufnahmegerät registriert die Rufe der fliegenden Fledermäuse, die anschließend von einem KI-gestützten Analysesystem den einzelnen Arten zugeordnet werden. Auch rund um den Kalkberg und außerhalb Lüneburgs erfassen die Forscher Fledermausvorkommen: Dort wo sich besonders viele Tiere aufhalten, fangen sie einige mit Netzen, um die am Kalkberg mit Ringen markierten Fledermäuse zu identifizieren. So lassen sich Rückschlüsse auf das Einzugsgebiet des Kalkbergs ziehen. Außerdem hängen die Wissenschaftler Fledermauskästen auf. Damit werden die Lebensbedingungen für die fliegenden Säugetiere verbessert. Zudem lässt die Besiedelung der Kästen Rückschlüsse auf die Entwicklung der Bestände zu.
Bereits Ende des Sommers sollen erste Ergebnisse vorliegen. „Wenn wir wissen, an welchen Orten die Lüneburger Fledermäuse ihre Sommer verbringen, können wir dort Flächeneigentümer zu Schutzmaßnahmen beraten und Besucher auf die faszinierenden Tiere aufmerksam machen – verbunden mit der Bitte, die Fledermäuse möglichst nicht zu stören“, sagt Julia-Marie Battermann, Projektleiterin bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Die Forschungsergebnisse könnten künftig bei der Stadtplanung und dem Schutzgebietsmanagement hilfreich sein. So könnte sich Lüneburg langfristig zu einem bedeutenden Standort für Fledermäuse in Norddeutschland entwickeln.
Nicht nur in und um Lüneburg ist die Deutsche Wildtier Stiftung für Fledermäuse aktiv: Am Schullandheim Haus Wildtierland in Gehren (Mecklenburg-Vorpommern) hat sie einen Fledermausgarten angelegt, um Besuchern zu zeigen, wie ein optimal gestalteter Lebensraum aussehen kann. Ein Teich, ein Nachtfaltergarten und eine Trockenwiese sorgen dort den ganzen Sommer über für reichlich Insekten-Beute. Nachahmen lohnt sich, denn jede Fledermaus im eigenen Garten ist ein Grund zur Freude – schließlich kann ein einziges Tier in nur einer Nacht Tausende Mücken verspeisen.
05.06.2025, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Was 60 Millionen Jahre stabile Ökosysteme über den heutigen Artenverlust lehren
Von Mastodonten über urzeitliche Nashörner bis zu Riesenhirschen: Große Pflanzenfresser prägen seit Millionen von Jahren die Landschaften der Erde. Eine neue Studie unter Leitung der Universität Göteborg mit Beteiligung von Forschenden aus dem Museum für Naturkunde Berlin und Spanien zeigt nun, wie diese Giganten auf tiefgreifende Umweltveränderungen reagierten – und wie ihre Ökosysteme es dennoch schafften, stabil zu bleiben, obwohl viele Arten verschwanden.
Große Pflanzenfresser wie Elefanten oder Nashörner sind nicht nur eindrucksvolle Tiere – sie sind zentrale Ökosystemingenieure. Ihr Rückgang im Zuge des sechsten Massenaussterbens bedroht ganze Lebensräume, weil sie Landschaften formen, Artenvielfalt fördern und natürliche Kreisläufe am Laufen halten.
Das Forschungsteam, geleitet von Dr. Fernando Blanco, Gastwissenschaftler am Museum für Naturkunde Berlin, analysierte Fossildaten von über 3.000 Arten großer Pflanzenfresser aus den vergangenen 60 Millionen Jahren. „Wir stellten fest, dass diese Ökosysteme über lange Zeiträume erstaunlich stabil geblieben sind, obwohl Arten dazu kamen und andere ausstarben“, sagt Blanco, der die Forschungen im Rahmen seiner Doktorarbeit 2018 bis 2022 am Amniota Lab des Berliner Naturkundemuseums durchführte. „Zweimal in den letzten 60 Millionen Jahren war der Umweltdruck allerdings so groß, dass sich das gesamte System global neu ordnete.“
Die erste Neuordnung des Systems geschah vor etwa 21 Millionen Jahren durch die Schließung des Tethys-Meeres und die Entstehung einer Landbrücke zwischen Afrika und Eurasien, was eine massive Artenwanderung zur Folge hatte. Die Vorfahren moderner Elefanten, Hirsche, Schweine, Nashörner und vieler anderer großer Pflanzenfresser drangen in neue Lebensräume vor und veränderten dort das ökologische Gleichgewicht.
Die zweite Neuordnung des Ökosystems erfolgte vor etwa zehn Millionen Jahren durch eine weltweite Abkühlung und durch die massive Ausbreitung von Graslandschaften. Die Ausbreitung der Graslandschaften und das damit einhergehende Zurückweichen der Wälder führten zum Aufstieg von Grasfressern und zum allmählichen Verschwinden vieler waldbewohnender Arten. Dies war der Beginn eines anhaltenden Rückgangs der funktionellen Vielfalt dieser Tiere und ihrer ökologischen Rollen. Trotz dieser Verluste stellten die Forschenden fest, dass die grundlegende ökologische Struktur der Pflanzfresser-Gemeinschaften erstaunlich stabil blieb. Selbst als viele der größten Arten – wie Mammuts und riesige Nashörner – in den letzten 129.000 Jahren ausstarben, blieb das funktionelle Gerüst der Ökosysteme erhalten.
„Es ist, als würde eine Fußballmannschaft während eines Spiels die Spieler auswechseln, ohne dass sich die Aufstellung wesentlich verändert“, erklärt Dr. Ignacio A. Lazagabaster vom CENIEH (Centro National de Investigacion Sobre la Evolucion Humana, Spanien), Mitautor der Studie. „Es kamen neue Arten ins Spiel und die Gemeinschaften veränderten sich, aber die neuen Spieler erfüllten ähnliche ökologische Aufgaben – dadurch blieb die Struktur insgesamt stabil.“
Diese Widerstandskraft überstand Eiszeiten und andere Umweltkrisen bis in die Gegenwart. Die Forschenden warnen jedoch: „Unsere Ergebnisse zeigen, wie enorm anpassungsfähig Ökosysteme sein können“, so Dr. Juan L. Cantalapiedra vom spanischen MNCN (Museo Nacional de Ciencias Naturales) und Gastwissenschaftler am Museum für Naturkunde Berlin. „Aber es gibt Grenzen. Wenn wir weiterhin so massiv wie in der Gegenwart Arten und ihre ökologischen Rollen verlieren, könnten wir bald einen dritten globalen Kipppunkt erreichen – und wir Menschen tragen dazu aktiv bei.“
Die vollständige Studie wurde in Nature Communications veröffentlicht (Open Access).
Originalpublikation:
https://www.nature.com/articles/s41467-025-59974-x
06.06.2025, Deutsche Wildtier Stiftung
Augen auf im Großstadtdschungel: Zu unseren Füßen nisten Wildbienen und Wespen
Ein Plädoyer für mehr Sand- und Erdfugen zwischen Pflastersteinen
Wer in der warmen Jahreszeit durch die Stadt läuft und dabei seinen Blick aufmerksam nach unten richtet, kann oft Überraschendes entdecken: kleine Löcher oder winzige Sandhügel in den Fugen zwischen Pflastersteinen oder Gehwegplatten, in denen dann und wann geflügelte Insekten verschwinden. Denn sie sind Eingänge zu verborgenen Kinderstuben – den Niströhren von bodennistenden Wildbienen- und Wespenarten. Mitten in der Stadt, unter Asphalt und Stein, finden sie wertvollen Lebensraum. Wie bedeutend diese Fugen, die leicht übersehen werden, für die Stadtnatur sind, zeigt eine Untersuchung der Berliner Biologin Sophie Lokatis. Die Artenschützerin der Deutschen Wildtier Stiftung hat mit ihrem Team für ein Projekt der Freien Universität Berlin die Gehwege in Berliner Wohnvierteln genauer unter die Lupe genommen – und dabei die enorme Vielfalt bodennistender Arten erfasst.
„Oft nisten gleich mehrere Wildbienenarten an einem Ort, und im Laufe des Sommers kommen verschiedene Grab- und Wegwespen hinzu“, sagt Lokatis. Wenn Ende März an warmen Tagen die ersten Sandhäufchen zwischen den Gehwegplatten auftauchen, sind dies Zeichen für frühfliegende Arten wie die Frühlingssandbiene oder die Fuchsrote Sandbiene. Etwas später erscheint die imposante Hosenbiene mit ihren aufgeplusterten, gelben Hosenbeinen, in denen sie Pollen von Ferkelkräutern und Wegwarten sammelt. Jetzt im Juni wird der Bienenwolf aktiv: Seine Nester erkennt man an den elliptisch geformten Aushub-Hügelchen. Und manchmal liegen um das Nest herum tote Honigbienen. Denn die räuberische Grabwespenart hat sich auf Honigbienen als Beute spezialisiert, die sie durch die beliebte Stadtimkerei im Überfluss findet. Knotenwespen dagegen haben es auf Rüsselkäfer abgesehen, die sie an Pflanzen jagen und dann in ihre Nester tragen.
Über den Eingängen der verschiedenen Nester ziehen weitere Gehwegbewohner ihre Kreise: parasitierende Kuckucksbienen, Goldwespen und Satellitenfliegen. Sie alle versuchen ihre eigenen Eier in ein Nest eines Gehwegbewohners zu schmuggeln. Die Blutbienen etwa parasitieren bei ihren nesterbauenden Verwandten. Die in schönsten Farben glänzenden Goldwespen versuchen ihre Eier in die Nester von Knotenwespen zu schmuggeln. Aber auch Ameisen gehören zum kleinen Ökosystem unter den Trottoirs. Sie sind die fleißige Müllabfuhr, verspeisen Essensreste und Aas.
Entscheidend für eine dichte Besiedelung der Sandfugen ist nicht, dass in der Umgebung besonders viele oder große Grünflächen liegen. „Die Qualität einer Fläche ist wichtig“, sagt Lokatis. Befinden sich in der Nähe eines gepflasterten Gehwegs artenreiche Blühflächen oder insektenfreundliche Gärten mit unterschiedlichen Strukturen und einem großen Blühangebot, nisten viele Insekten in den Fugen. Auch mit Wildpflanzen und Moosen bewachsene Gehwege bieten für die Insektenvielfalt eine Chance.