Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

20.03.2025, Technische Universität Berlin
Schwindende Artenkenntnisse und Naturverbundenheit unter der Jugend
Forschende untersuchten das Wissen über einheimische Pflanzen, Vögel und Schmetterlinge und konstatieren einen Zusammenhang zwischen Alter und der Bereitschaft, sich für Fauna und Flora einzusetzen
Die Kenntnis häufiger Tier- und Pflanzenarten, die Naturverbundenheit unter den Generationen und deren Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen, nehmen von älteren zu jüngeren Menschen ab. Das ist ein wesentliches Ergebnis der Studie „From nature experience to pro-conservation action: How generational amnesia and declining nature-relatedness shape behaviour intentions of adolescents and adults“. Unter Leitung von Prof. Dr. Tanja Straka und Prof. Dr. Ingo Kowarik wurde erstmals systematisch untersucht, wie sich Jugendliche, junge Erwachsene und ältere Erwachsene hinsichtlich ihres Naturkontakts, der Artenkenntnis, der Naturverbundenheit und der Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen, unterscheiden. Durchgeführt wurde die Studie am Institut für Ökologie der TU Berlin.
An der Studie nahmen insgesamt 600 Menschen teil: darunter 252 Berliner Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren sowie 215 junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren und 133 ältere Erwachsene zwischen 30 and 76 Jahren aus ganz Deutschland.
Phänomen der Generationenamnesie
Eine weitere wichtige Erkenntnis: Trotz der Unterschiede zwischen den Altersgruppen bestand durchgängig eine direkte (oder indirekte) Verbindung zwischen Artenkenntnis, Naturverbundenheit und der Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen. Demnach fördert ein gutes Artenwissen die Naturverbundenheit, also die emotionale, kognitive und erfahrungsbezogene Verbundenheit mit der Natur. Ist diese erhöht, steigt wiederum die Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen. „Es lohnt sich also, die Artenkenntnis und Naturverbundenheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu fördern. Dabei sollte auch die Chance genutzt werden, Wissen und Erfahrungen über Natur über Generationen hinweg weiterzugeben“, sagt Prof. Dr. Tanja Straka, die Erstautorin der Studie. Mittlerweile lehrt und forscht sie an der FU Berlin.
Wie notwendig das ist, belegen die abnehmenden Artenkenntnisse im Übergang von älteren zu jüngeren Teilnehmenden der Studie. Verschiedene Organismengruppen sind zudem unterschiedlich gut bekannt: Schmetterlinge weniger als Vögel, und Vögel weniger als Pflanzen. So können 73 Prozent der Jugendlichen die Brombeere richtig benennen, aber nur 29 Prozent die Elster und nur noch 3 Prozent den Tagfalter Kleiner Fuchs. Im Vergleich dazu erkennen immerhin 22 Prozent der älteren Erwachsenen diesen in Deutschland verbreiteten Schmetterling, 61 Prozent die Elster und 84 Prozent die Brombeere. Das bestätigt das Phänomen der ‚generational amnesia‘, das einen Verlust an Kenntnissen über die Natur im Übergang von älteren zu jüngeren Generationen annimmt.
Den Tagfalter Kleiner Fuchs kennt kaum jemand
Insgesamt sollten die 600 Teilnehmenden zwölf Arten bestimmen: Bei der Gruppe der Vögel das Rotkehlchen, die Amsel, die Elster, den Haussperling. Als Schmetterlinge den Kleinen Kohlweißling, den Zitronenfalter, das Tagpfauenauge, den Kleinen Fuchs und bei den Pflanzen die Brombeere, die Brennnessel, die Silber-Birke sowie die Rosskastanie als wichtigen Stadtbaum. Die Arten, die über alle drei Gruppen hinweg am häufigsten richtig benannt wurden, waren Brennnessel (86 Prozent), Haussperling (67,3 Prozent) und Zitronenfalter (58,2 Prozent). Die Arten, die über alle drei Gruppen hinweg am seltensten richtig benannt wurden, waren die Rosskastanie (52,8 Prozent), die Elster (41,5 Prozent) und der Kleine Fuchs (10,8 Prozent). Keine der zwölf Arten wurde von allen Teilnehmenden richtig benannt.
Weiterhin sollten die Teilnehmenden Angaben zur Häufigkeit ihrer Grünflächenbesuche machen sowie dazu, inwieweit sie sich mit der Natur verbunden fühlen und sich für sie einsetzen würden. Während es bei der Häufigkeit der Grünflächenbesuche keine Unterschiede zwischen den Altersgruppen gab, nahmen die Naturverbundenheit und die Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen, signifikant von älteren hin zu jüngeren Teilnehmenden ab. Der Wert für Naturverbundenheit sank von 3,98 auf 3,09, und der Wert für die Bereitschaft, sich für die Natur einzusetzen, betrug 3,76 bei älteren Erwachsenen, aber nur noch 2,82 bei Jugendlichen.
Veränderte Lebensstile von Kindern und Jugendlichen
„Der Schutz der biologischen Vielfalt ist eine Herausforderung für heutige und zukünftige Generationen – auf globaler wie lokaler Ebene. Viele Studien haben nachgewiesen, wie wichtig Naturerfahrungen, eine emotionale Verbindung zur Natur sowie Wissen über Tier- und Pflanzenarten sind, damit Menschen sich für die Natur einsetzen. Allerdings wurde auch gezeigt, dass aufgrund veränderter Lebensstile Kinder und Jugendliche häufig weniger Kontakt zur Natur haben und auch weniger als Erwachsene über Natur wissen. Damit wird die Befürchtung verbunden, dass sich zukünftige Generationen weniger für die Erhaltung der Natur einsetzen werden“, sagt Prof. Dr. Tanja Straka.
Ein überraschendes Ergebnis der Berliner Studie kam bei der Auswertung der Häufigkeit des Grünflächenbesuchs zutage, ein etablierter Indikator für Naturerfahrungen. Anders als erwartet, gab es hier keine Unterschiede zwischen den Altersgruppen. „Die Bereitstellung von Grünflächen und anderen naturnahen Gebieten in Städten reicht nicht aus, wenn wir Naturerfahrungen und die damit verbundenen positiven Effekte für Naturverbundenheit und Einsatzbereitschaft für die Natur fördern wollen“, sagt Prof. Dr. Ingo Kowarik, der von 1999 bis 2021 das Fachgebiet Ökosystemkunde, insbes. Pflanzenökologie der TU Berlin leitete. Insofern lege die Berliner Studie, so der Ökologe, zwei Konsequenzen nahe: „Die erste ist, verstärkt Zugänge zur Kenntnis unterschiedlicher Organismengruppen zu vermitteln, vom Kindergarten bis hin zur universitären Ausbildung. Die zweite Schlussfolgerung: Besonders Kinder und Jugendliche sollten darin unterstützt werden, sich nicht nur im Grünen aufzuhalten, sondern dort auch über die Natur zu lernen und positive emotionale Erfahrungen mit Natur zu gewinnen.“
Weiterführende Informationen:
Link zur online frei verfügbaren Veröffentlichung „From nature experience to pro-conservation action: How generational amnesia and declining nature-relatedness shape behaviour intentions of adolescents and adults: https://link.springer.com/article/10.1007/s13280-025-02135-7

20.03.2025, Universität Hohenheim
Insektizide: Neonikotinoide bedrohen Biodiversität stärker als gedacht
Auswirkungen auf Nicht-Zielinsekten drastisch unterschätzt, zeigt aktuelle Studie der Uni Hohenheim am Beispiel ökologisch wichtiger Weichwanzen
Das Insektizid Acetamiprid ist für bestimmte Insekten über 11.000-mal giftiger, als die vorgeschriebenen Empfindlichkeitstests, zum Beispiel an Honigbienen, vermuten lassen. Zu diesem Ergebnis kommt einer Studie, in der Forschende der Universität Hohenheim in Stuttgart die gravierenden Folgen dieses Insektizids für Nicht-Zielinsekten aufgedeckt haben. Im Fokus ihrer Untersuchungen standen Weichwanzen, eine ökologisch wichtige Insektengruppe, die besonders empfindlich auf Insektizide reagiert. Bereits geringe Mengen – wie sie durch Abdrift oder Oberflächenkontamination entstehen – führen zu massiven Rückgängen dieser empfindlichen Tiere. Das Fazit der Forschenden: Die aktuelle Risikobewertung von Pestiziden in Europa muss dringend reformiert werden, um langfristige Gefahren für Insektenpopulationen und die biologische Vielfalt auszuschließen.
Mit einem Kescher in der Hand streift Jan Erik Sedlmeier durch Äcker und Wiesen, den Blick aufmerksam auf das Gras gerichtet. Denn die „Beute“ des Doktoranden ist im Gegensatz zu Bienen oder bunten Schmetterlingen leicht zu übersehen: Weichwanzen (Miridae). Sie stehen stellvertretend für eine ganze Tiergruppe, pflanzenfressende Insekten, die im Ökosystem eine Schlüsselrolle einnehmen. Doch weltweit zeigen Studien Rückgänge in Biomasse, Vielfalt und Anzahl von Insekten, unter anderem durch den intensiven Einsatz von Insektiziden.
Naturnahe Lebensräume sind zunehmend mit Pestiziden belastet – selbst in nicht landwirtschaftlich genutzten Gebieten und Naturschutzgebieten. Bislang gibt es nur wenige Studien, die die Auswirkungen von Pflanzenschutzmaßnahmen auf sogenannte Nicht-Zielinsekten, also andere als die zu bekämpfenden Arten, unter realen Feldbedingungen untersuchen.
Untersuchtes Acetamiprid ist einziges in EU zugelassenes Freiland-Neonikotinoid
Forschende der Universität Hohenheim haben nun in einer Reihe von Feld-, Gewächshaus- und Laborexperimenten untersucht, welchen Einfluss das Neonikotinoid-Insektizid Mospilan®SG (Wirkstoff: Acetamiprid) auf Weichwanzen haben kann. Acetamiprid wird weltweit neben anderen Neonikotinoiden eingesetzt, in der Europäischen Union ist es jedoch das einzige Neonikotinoid, das noch für den Einsatz im Freiland zugelassen ist.
Mospilan®SG wird durch Sprühen ausgebracht und in Feldkulturen wie Raps und Kartoffeln, in Obstgärten, im Weinbau und in der Blumenzucht insbesondere gegen beißend-saugende Schädlinge eingesetzt. Als Nervengift wirkt Acetamiprid sowohl als Kontakt- sowie auch als systemisches Insektizid, da die Chemikalie von Pflanzen aufgenommen und in ihrem Gewebe verteilt werden kann. Pflanzenfressende Insekten nehmen die Substanz dann mit ihrer Nahrung auf.
Untersuchte Weichwanzen stehen beispielhaft für vielseitige Insektenfamilien
Im Fokus der Untersuchungen standen Weichwanzen, da diese eine vielfältige und weit verbreitete Familie mit vielen pflanzenfressenden Insekten darstellt, die oft auf Gräser als Nahrungsquelle spezialisiert sind. „Die große Vielfalt und Häufigkeit dieser Gruppe lässt auf eine zentrale Funktion für das Ökosystem schließen“, sagt Prof. Dr. Georg Petschenka, Entomologe an der Universität Hohenheim. „Sie sind mit Sicherheit eine wichtige Nahrungsquelle für Vögel und eine Vielzahl räuberischer wirbelloser Tiere.“
Bei ihren Untersuchungen fokussierten sich die Forschenden auf drei in Deutschland häufig vorkommende Arten: Zweifleck-Weichwanze (Stenotus binotatus), die Langhaarige Dolchwanze oder Graswanze (Leptopterna dolabrata) und die Große Graswanze (Megaloceroea recticornis). Sie können als repräsentativ für pflanzenfressende Nicht-Ziel-Insekten betrachtet werden.
Alarmierende Ergebnisse zeigen systematisch unterschätzte Gefahr
Die Ergebnisse alarmieren, weil sich das Neonikotinoid auf die Weichwanzen als Beispielinsekten um ein Vielfaches verheerender auswirkte, als Zulassungstests vermuten lassen. „Insektizide sollen gezielt gegen Schädlinge wirken und Nützlinge möglichst schonen, deshalb wurden Neonikotinoide zum Beispiel auch an Honigbienen getestet“, erläutert Jan Erik Sedlmeier. „Unsere Versuche zeigen jedoch, dass das Insektizid Acetamiprid für manche Weichwanzen über 11.000-mal toxischer ist als für Honigbienen.“
Zu diesem Ergebnis kamen die Forschenden durch Laborexperimente mit dem sogenannten LD50 Vergleich. Dabei wird untersucht, welche Dosis notwendig ist, um 50 Prozent der Individuen einer Population zu töten.
Auch im Feldexperiment reagierten alle vorkommenden Weichwanzenarten sehr empfindlich auf das Neonikotinoid. So nahm ihre Anzahl nach nur zwei Tagen in Flächen, die Feldränder von behandelten Flächen simulierten um bis zu 92 Prozent ab. „Dabei werden an den Feldrändern geschätzt nur zwischen 30 und 58 Prozent der Pestizidmenge im Feld erreicht – Konzentrationen, die normalerweise nicht als derart gefährlich angesehen werden“, betont Jan Erik Sedlmeier.
Langfristige Gefährdung von Lebensräumen und ganzen Insektenpopulationen
Selbst bei Weichwanzen, die mit den Insektizid gar nicht unmittelbar in Berührung kommen, beobachteten die Forschenden starke Einbußen, wenn sie die Insekten auf Wirtspflanzen setzten, die zwei Tage zuvor mit nur 30 Prozent der üblichen Insektizidkonzentration behandelt worden waren. Die Zweifleck-Weichwanze überlebte in diesem Szenario gar nicht.
Darüber hinaus konnten die Forschenden Rückstände des Wirkstoffs bis zu 30 Tage nach der Anwendung in den Geweben der behandelten Pflanzen nachweisen. Der Doktorand hebt die Problematik hervor: „Eine ständige Einwirkung von Neonikotinoiden kann somit nicht nur ganze Populationen von Weichwanzen drastisch verringern. Sie kann auch die Zusammensetzung von Insektengemeinschaften verändern, indem insektizidtolerantere Arten mit der Zeit dominieren könnten.“
Aktuelle Zulassungsverfahren erlauben keine guten Prognosen
Auffällig war außerdem, dass die Sterblichkeit der Weichwanzen je nach Art stark variierte. Vor allem die kleinste der drei untersuchten Arten, die Zweifleck-Weichwanze, reagierte signifikant empfindlicher auf das Insektizid als die beiden anderen Arten. Ein weiterer alarmierender Befund: Bei zwei der getesteten Arten waren die Männchen 20-mal empfindlicher als die Weibchen.
„Idealerweise sollen sich moderne Insektizide möglichst zielgenau gegen konkrete Zielschädlinge richten und möglichst gegenüber Nicht-Zielinsekten weniger giftig sein. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Empfindlichkeit gegenüber Insektiziden selbst zwischen eng verwandten Arten sehr stark variiert. Wie giftig ein Insektizid gegenüber Nicht-Zielinsekten tatsächlich ist, lässt sich daher auf Basis vereinzelter Empfindlichkeitstests nur schwer vorherzusagen“, fasst Jan Erik Sedlmeier seine Ergebnisse zusammen.
Hinzu kommt, dass die Giftigkeit für pflanzenfressende Insekten derzeit noch gar nicht überprüft wird: „Das derzeitige EU-Registrierungsprotokoll für Insektizide verlangt zwar Empfindlichkeitstests für eine begrenzte Anzahl von Nicht-Zielinsekten, wie die Honigbiene, parasitische Wespen, Raubmilben und einzelne Vertreter von Käferfamilien. Doch ausgerechnet pflanzenfressende Insekten wurden weitgehend vernachlässigt, obwohl sie weltweit etwa 50 Prozent aller Insektenarten ausmachen“, bedauert Prof. Dr. Petschenka.
Fazit der Forschenden wirft grundlegende Fragen zur Risikobewertung auf
Angesichts der Verlängerung der Zulassung von Acetamiprid bis 2033 fordern die Forschenden eine grundlegende Reform des europäischen Risikobewertungssystems.
Ein wichtiger Schritt ist die Ausweitung der Empfindlichkeitstests auf weitere Insektengruppen, darunter besonders auf pflanzenfressende Insekten.
Darüber hinaus müsse der bisherige Unsicherheitsfaktor in den Empfindlichkeitstests von 10 auf mindestens 1.000 angehoben werden, um artspezifische und geschlechtsspezifische Unterschiede angemessen zu berücksichtigen. Ebenso sollten Feldränder verstärkt geschützt werden, um die für das ökologische Gleichgewicht entscheidende Biodiversität langfristig zu sichern.
Besonders problematisch ist aus Sicht der Forschenden, dass in Deutschland Feldränder mit einer Breite von weniger als drei Metern aktuell nicht als schützenswerte Habitate gelten, obwohl sie als wichtige Rückzugsorte innerhalb moderner Agrarlandschaften fungieren. „Dadurch bleiben zahlreiche Lebensräume dieser Insekten ungeschützt, obwohl sie einer hohen Belastung durch Abdrift und Oberflächenkontamination ausgesetzt sind“, schließt der Experte.
Weitere Informationen
Publikation: Sedlmeier J.E., Grass I., Bendalam P., et al.: Neonicotinoid insecticides can pose a severe threat to grassland plant bug communities. Communications Earth & Environment https://doi.org/10.1038/s43247-025-02065-y

20.03.2025, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Frosch, Kakao und Weidevieh: Wie das Zusammenleben von Menschen und Amphibien funktionieren kann
Ein kolumbianisch-deutsches Forschungsteam untersuchte, wie verschiedene Landnutzungssysteme die Amphibienvielfalt in den kolumbianischen Anden beeinflussen. Sie zeigen in ihrer Studie, dass Agroforstsysteme mit schattenspendenden Pflanzungen die höchste Artenvielfalt aufweisen. Intensivlandwirtschaft, insbesondere die Rinderhaltung, hat hingegen negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt. Die Erhaltung der Amphibienvielfalt ist nur durch eine Kombination aus weniger intensiven Agroforstsystemen und der Vernetzung natürlicher Waldfragmente in einer Mosaik-Matrix-Struktur möglich ist. Isolierte Schutzgebiete zeigen dagegen nicht die gewünschte Wirkung.
Kaffee, Kakao, Bohnen, Mais, Kartoffeln sowie Milch- und Fleischproduktion – die Landwirtschaft in den kolumbianischen Anden ist ein bedeutender Wirtschaftszweig. „Aufgrund der Höhenlagen, die von 1.000 bis über 3.000 Meter über dem Meeresspiegel reichen, gibt es unterschiedliche landwirtschaftliche Zonen mit spezifischen Anbaukulturen. Landwirtschaftliche Kleinerzeuger*innen spielen eine entscheidende Rolle in der Produktion, oft mit nachhaltigen Anbaumethoden, die auf traditionellen Techniken basieren. So entstehen viele kleine Mikrohabitate“, erklärt PD Dr. Raffael Ernst von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen in Dresden und weiter: „Aufgrund ihrer besonderen Biologie und der Vielfalt ihrer Fortpflanzungsstrategien sind Amphibien oft schon von kleinen Veränderungen in ihren Lebensräumen betroffen. Das macht sie auch besonders anfällig für die Auswirkungen von Landnutzungsänderungen. Dennoch hat sich gezeigt, dass von Menschen modifizierte Agroforstsysteme eine erhebliche Amphibienvielfalt bewahren können.“
Nur wenige Studien haben bislang systematisch untersucht, wie Frosch und Co. auf verschiedene Bewirtschaftungsformen innerhalb dieser Agroforstsysteme reagieren. Ernst hat sich diesem Thema nun mit einem kolumbianisch-deutschen Team angenommen. Sie untersuchten die Zusammensetzung von Amphibiengemeinschaften und ihre taxonomische, funktionelle und phylogenetische Vielfalt in den nördlichen Anden Kolumbiens. Dabei nahmen sie Berg- und Uferwälder sowie sechs verschiedene Landnutzungssysteme entlang von 34 unabhängigen Probeflächen – sogenannten Transekten – unter die Lupe.
„Insgesamt dokumentierten wir – während 320 Transektstunden – 3.796 Individuen, die 14 Arten aus sieben Amphibien-Familien angehören“, erzählt Ernst und fährt fort: „Agroforstsysteme mit schattenspendenden Pflanzungen – in den kolumbianischen Anden werden in den Kaffee- und Kakaoproduktionssystemen meist Bananen als temporäre Schattenpflanzen eingesetzt – wiesen die höchste Gesamtartenvielfalt an Amphibien auf. Die funktionelle und phylogenetische Vielfalt war in Feuchtgebieten und einem Uferwaldfragment am höchsten.“
Die Ergebnisse der neuen Studie lassen jedoch auch keinen Zweifel an den schädlichen Auswirkungen hochintensiver Formen der Landwirtschaft auf die biologische Vielfalt, beispielsweise der Intensivtierhaltung, so das Autor*innenteam. Ernst warnt: „Die Rinderhaltung in unseren Untersuchungsgebieten hat zu einer strukturellen Verarmung der Landschaften und einer Verringerung des Artenreichtums geführt. Dies steht im Einklang mit einer überwältigenden Anzahl von Belegen, die zeigen, dass die Landwirtschaft – insbesondere die Viehzucht – eine der Hauptursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt in Agrarlandschaften ist. Die neu festgelegten und rechtlich verbindlichen Ziele des ‚Global Biodiversity Framework (GBF)‘ werden erneut verfehlt, wenn die Viehhaltung nicht deutlich reduziert wird oder alternative, weniger belastende Weidewirtschaftsformen eingeführt werden.“
Zusammenfassend erklärt das Forschungsteam, dass die Amphibienvielfalt nicht allein durch isolierte Schutzgebiete innerhalb einer intensiven Nutzungsmatrix geschützt werden kann. Während diversifizierte Agroforstsysteme vielfältige Möglichkeiten für eine nachhaltige Koexistenz von Menschen und Amphibien böten, sei die Vernetzung natürlicher Waldfragmente und nachhaltiger Agroforstsysteme in einer Mosaik-Matrix-Struktur entscheidend für die Erhaltung der Vielfalt, sowohl innerhalb als auch außerhalb von Schutzgebieten. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass vom Menschen veränderte Agroforstsysteme, insbesondere schattige Plantagen, eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung der Amphibienvielfalt auf allen Ebenen spielen können. Durch den Schutz der verbliebenen Vegetation und die Einbindung heimischer Pflanzenarten in Plantagen wäre es zudem möglich, den kommerziellen Wert verschiedener Anbausysteme – etwa für Kakao- oder Kaffee – zu erhalten und gleichzeitig die (amphibische) Vielfalt zu fördern. „Unser Ziel sollte es sein, eine Mosaiklandschaft zu erhalten, die nachhaltige agroforstwirtschaftliche Systeme mit gut vernetzten Waldfragmenten kombiniert. Es benötigt einen integrierten Ansatz zum Schutz der Matrix anstelle von wenigen, isolierten Naturschutzgebieten. Dies könnte eine vielversprechendere Strategie für den Amphibienschutz in sozial-ökologischen Produktionslandschaften wie den kolumbianischen Anden darstellen“, resümiert Ernst.
Originalpublikation:
José Pinzón, Leydy Aceros, Björn Reu, Martha Patricia Ramírez-Pinilla, Raffael Ernst (2025): Matrix-protection rather than protected area conservation can safeguard multilevel amphibian diversity in Colombian agroforestry systems. Agriculture, Ecosystems & Environment, Volume 386
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S016788092500091X

21.03.2025, Philipps-Universität Marburg
Graben als Überlebensstrategie in extremen Umwelten und Zeiten
Neue Studie zeigt ökologische und evolutionäre Vorteil grabender Säugetiere
Ob Wühlmaus, Fuchs oder Murmeltier – Säugetiere, die graben oder zumindest teilweise unter der Erde leben, sind besonders gut an widriges und stark schwankendes Klima angepasst. Forschende der Philipps-Universität Marburg um die Biolog*innen Dr. Stefan Pinkert und Prof. Dr. Nina Farwig zeigen in einer neuen Studie, dass diese Tiere überdurchschnittlich artenreich in kalten, wenig produktiven und saisonalen Klimazonen sind. Damit weichen sie nicht nur von der Norm ab, sondern reagieren sogar entgegengesetzt zu nicht-grabenden Säugetierarten. Gleichsam kam es in der Evolutionsgeschichte der Säugetiere gerade in Zeiten großer klimatischer Umbrüche zu einer markanten Zunahme von grabenden Gruppen, wie die Forschenden in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins „Current Biology“ berichten.
Das Forschungsteam analysierte hierfür die Lebensweise und Verbreitung von über 4.400 Säugetierarten weltweit sowie deren Diversifikation im Verlauf der Evolutionsgeschichte der Säugetiere. Hierbei stellten sie fest, dass grabende Arten in Zeiten starker Umweltveränderungen höhere Diversifikationsraten als nicht-grabende aufweisen. So überlebten scheinbar besonders grabende Gruppen das Massenaussterben vor 66 Millionen Jahren – als die Dinosaurier ausstarben – und legten damit die Grundlage für den weltweiten Siegeszug der Säugetiere. Auch während späterer Kaltzeiten kam es zu einer verstärkten Ausbreitung dieser Tiere und es entstanden besonders viele evolutionäre Linien von grabenden Säugern.
„Der Untergrund bietet Schutz vor Prädatoren, am Tag und während der Winterruhe, aber auch in widrigem und stark schwankendem Klima“, erklärt der Leitautor der Studie, Dr. Stefan Pinkert. „Das ist besonders gut im äthiopischen, tibetischen und chilenischen Hochland zu beobachten, wo wir intensiv forschen. Unsere Ergebnisse zeigen nun, dass dieses Verhalten eine entscheidende Komponente von Überlebensstrategien sehr vieler Arten ist, und es maßgeblich sowohl die Diversitätsmuster als auch die Evolution von Säugetieren beeinflusst hat.“
Die Studie zeigt, dass heute mindestens 40 Prozent aller landlebenden Säugetiere (ohne Fledermäuse) grabend leben. „Viele von ihnen sind von entscheidender Bedeutung für terrestrische Ökosystem der Erde. Als Ökosystem-Ingenieure verbessert ihre Grabaktivität die Bodenstruktur, beeinflusst Wasserflüsse und schafft Rückzugsorte für zahlreiche andere Arten“, ergänzt die Seniorautorin, Prof. Dr. Nina Farwig. Dies macht sie nicht nur zu einem zentralen Bestandteil vieler Ökosysteme, sondern könnte auch eine wichtige Rolle in der Widerstandsfähigkeit von Landschaften gegenüber dem Klimawandel spielen.
Die in der Studie gezeigten, unterschiedlichen und sogar gegenläufigen Reaktionen von grabenden und nicht-grabenden Säugetieren auf räumliche und zeitliche Klimaschwankungen unterstreichen, dass Verhaltensweisen wie das Graben in Zukunft stärker in Biodiversitätsprognosen und Schutzstrategien einbezogen werden sollten.
Originalpublikation:
Stefan Pinkert, et al. (2025) Current Biology (DOI: https://doi.org/10.1016/j.cub.2025.02.064)

21.03.2025, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich)
Ursprung des Lebens: Wie Mikroben den Grundstein für komplexe Zellen legten
Wer sind unsere Vorfahren? Möglicherweise eine spezielle Gruppe von Einzellern, die ein Zellskelett haben, das dem von komplexen Lebewesen wie Tieren und Pflanzen ähnelt. Dies zeigen ETH-Forschende in einer neuen Studie auf.
Vor zehn Jahren wusste noch niemand, dass sie existieren: die Asgard-Archaeen. Doch 2015 fanden Forschende in Norwegen in Sedimenten aus der Tiefsee Erbgut-Bruchstücke, die auf eine neue und bisher unbekannte Form von Einzellern deuteten.
Anhand solcher Bruchstücke setzten die Forschenden am Computer das gesamte Genom wie ein Puzzle zusammen. Erst dann realisierten sie, dass sie es mit einer bis dahin unbekannten Gruppe von Archaeen zu tun hatten.
Archaeen sind wie Bakterien einzellige Lebewesen. Sie unterscheiden sich jedoch genetisch, hinsichtlich ihrer Zellwand und ihres Stoffwechsels deutlich von ihnen.
Durch weiteres Nachsuchen fanden Mikrobiolog:innen dann auch die entsprechenden Organismen, beschrieben sie und teilten sie in eine eigene Untergruppe der Archaeen ein: die Asgard-Archaeen, benannt nach dem Götterhimmel aus nordischen Sagen, weil der erste Fundort in der Nähe eines Schwarzen Rauchers namens Loki’s Castle, auf dem mittelatlantischen Rücken zwischen Norwegen und Spitzbergen, liegt.
Für die Forschung waren die Asgard-Archaeen tatsächlich so etwas wie ein Geschenk des Himmels: Sie entpuppten sich als «Missing Link» zwischen Archaeen und Eukaryoten, also den Organismen, deren Zellen einen Zellkern besitzen und zu denen auch Pflanzen und Tiere gehören.
Baum des Lebens mit einem Ast weniger
In den vergangenen Jahren fanden Wissenschaftler:innen immer mehr Hinweise darauf, dass Asgard-Archaeen und Eukaryoten nah verwandt sein müssen – und dass letztere möglicherweise aus ersteren hervorgegangen sind. Die Einteilung aller Lebewesen in die drei Domänen Bakterien, Archaeen und Eukaryoten hielt der überraschenden Entdeckung nicht stand.
Mittlerweile schlagen einige Forscher:innen vor, die Eukaryoten als eine Gruppe innerhalb der Asgard-Archaeen zu betrachten. Dies würde die Anzahl der Domänen des Lebens von drei auf zwei reduzieren: Archaeen einschliesslich der Eukaryoten und Bakterien.
Auch Martin Pilhofer, Professor an der ETH Zürich, und sein Team sind von den Asgard-Archaeen fasziniert und beschäftigen sich seit mehreren Jahren mit den mysteriösen Mikroben.
In einer Publikation in der Fachzeitschrift externe SeiteNature vor zwei Jahren befassten sich die ETH-Forschenden erstmals mit Details der Zellstruktur und -architektur von Lokiarchaeum ossiferum, einem Asgard-Archaeon, das Forschende aus der Arbeitsgruppe von Christa Schleper der Universität Wien aus Sedimenten eines Brackwasserkanals in Slowenien isoliert hatten.
Damals zeigte Pilhofer mit seinen Postdoktoranden Jingwei Xu und Florian Wollweber, dass Lokiarchaeum ossiferum einige Strukturen aufweist, die auch für Eukaryoten typisch sind. «Wir haben in dieser Art ein Aktin-Protein gefunden, das dem von Eukaryoten sehr ähnlich sieht – und in fast allen bisher bekannten Asgard-Archaeen vorkommt», sagt Pilhofer.
Dank der Kombination verschiedener Mikroskopiemethoden konnten sie in der ersten Studie zeigen, dass dieses Loki-Aktin genannte Protein fadenförmige Gerüststangen bildet. Diese sind in den zahlreichen tentakelähnlichen Zellärmchen der Mikroben häufig. «Sie bilden somit das Skelett für die komplexe Zellarchitektur der Asgard-Archaeen», ergänzt Florian Wollweber.
Neben Aktin-Filamenten besitzen Eukaryoten auch Mikrotubuli. Diese röhrenförmigen Gebilde sind der zweite wichtige Baustein des Zellskeletts und bestehen aus zahlreichen Tubulin-Proteinen. Diese Mini-Röhren sind wichtig für den Transport innerhalb der Zelle oder die Aufteilung von Chromosomen bei der Zellteilung.
Kleinere Mikrotubuli als in Eukayroten
Der Ursprung der Mikrotubuli war bis jetzt unklar. In einer jetzt neu publizierten Studie in der Fachzeitschrift externe SeiteCell fanden die ETH-Forschenden nun verwandte Strukturen in Asgard Archaeen und klärten ihre Struktur auf. Diese Experimente zeigen, dass die Asgard-Varianten zwar sehr ähnliche, aber kleinere Mikrotubuli als ihre eukaryotischen Verwandten bilden
Allerdings bilden nur wenige Lokiarchaeum-Zellen diese Mikrotubuli aus. Im Gegensatz zu Aktin findet man die Tubulin-Proteine ausserdem nur in sehr wenigen Vertretern der Asgard-Archaeen.
Warum Tubuline bei Loki-Archaeen nur selten vorkommen und wozu die Zellen sie brauchen, wissen die Wissenschaftler:innen derzeit noch nicht. In Eukaryoten sind Filamente aus Tubulin für Transporte innerhalb der Zelle verantwortlich. Zum Teil gibt es auch Motorproteine, die an ihnen «entlang wandern». Solche Motorproteine haben die ETH-Forschenden in den Asgard-Archaeen noch nicht beobachtet.
«Wir haben aber nachgewiesen, dass die aus Tubulinen zusammengesetzten Röhrchen an einem Ende wachsen. Wir vermuten daher, dass sie ähnliche Transportfunktionen wie Mikrotubuli in Eukaryoten übernehmen», so Jingwei Xu, zweiter Erstautor der Cell-Studie. Er hat die Tubuline in Zellkultur mit Insektenzellen hergestellt und ihre Struktur untersucht.
An der Studie haben Forschende aus der Mikrobiologie, Biochemie, Zellbiologie und Strukturbiologie eng zusammengearbeitet. «Ohne diesen interdisziplinären Ansatz wären wir nie so weit gekommen», betont Pilhofer nicht ohne Stolz.
Zellskelett als Voraussetzung für Weiterentwicklung?
Trotz offener Fragen ist für die Forschenden klar, dass das Zellskelett für den Entwicklungsschritt hin zu Eukaryoten wichtig war. Ein Schritt, der möglicherweise so zustande kam: Vor Urzeiten umschlang ein Asgard-Archaeon mit seinen Fortsätzen ein Bakterium. Im Lauf der Evolution entwickelte sich aus diesem Bakterium das Mitochondrium, das modernen Zellen als Kraftwerk dient. Mit der Zeit entwickelten sich dann der Zellkern und weitere Zellkompartimente – die eukaryotische Zelle entstand.
«Das besondere Zellskelett stand wahrscheinlich am Anfang dieser Entwicklung. Es könnte den Asgard-Archaeen ermöglicht haben, Fortsätze zu bilden, die ihnen dabei geholfen haben dürften, ein Bakterium zu ergreifen und es sich einzuverleiben», sagt Pilhofer.
Nach Asgard-Archaeen fischen
Pilhofer und seine Mitarbeitenden möchten als Nächstes erforschen, welche Funktion die Aktin-Filamente und das Archaeen-Tubulin sowie die daraus aufgebauten Mikrotubuli haben.
Weiter möchten sie die Proteine identifizieren, die die Forschenden auf der Oberfläche der Mikroben entdeckt haben. Pilhofer hofft, dass sie Antikörper entwickeln können, die haargenau auf diese Proteine passen. Damit möchten die Forschenden dann in gemischten Mikrobenkulturen gezielt nach Asgard-Archaeen fischen.
«Bezüglich der Asgard-Archaeen bestehen noch viele offene Fragen, gerade was ihre Verwandtschaft mit Eukaryoten und ihre besondere Zellbiologie angeht», sagt Pilhofer. «Es ist faszinierend, den Geheimnissen dieser Mikroben auf die Spur zu kommen.»
Originalpublikation:
Wollweber F, Xu J, et al. Microtubules in Asgard archaea, Cell, published online March 21 2025, DOI:10.1016/j.cell.2025.02.027

21.03.2025, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Artenreiche Tiefsee-Gemeinschaften in einem durch den Abbruch des Eisberges A-84 neu freigelegten Gebiet entdeckt
Ein internationales Forschungsteam – unter ihnen Senckenberg-Wissenschaftler Prof. Dr. Pedro Martínez Arbizu – hat die seltene Gelegenheit genutzt, die sich durch das Abbrechen des riesigen Eisbergs A-84 ergab, um eine zuvor unzugängliche Meeresbodenfläche zu erkunden. Die Expedition war die erste detaillierte, umfassende und interdisziplinäre Untersuchung einer so großen Fläche, die zuvor von einem Schelfeis bedeckt war. Mit ferngesteuerten Fahrzeugen entdeckten die Forschenden in bis zu 1300 Metern Tiefe überraschend artenreiche Ökosysteme. Die Expedition liefert neue Erkenntnisse über das Leben unter antarktischen Schelfeisen und zu den Auswirkungen des Klimawandels.
Am 13. Januar dieses Jahres löste sich der gigantische Eisberg A-84 vom George-VI-Schelfeis und treibt seitdem entlang der Küste der Antarktis. Ein internationales Forschungsteam an Bord des Forschungsschiffs R/V Falkor (too) des Schmidt Ocean Institute, das zu dem Zeitpunkt in der Bellingshausensee arbeitete, änderte daraufhin kurzerhand seine Forschungspläne, um ein Gebiet zu untersuchen, das bis vor Kurzem noch unter Eis lag. „Wir haben die Gelegenheit sofort genutzt, unseren Expeditionsplan geändert und sind losgezogen, um zu erforschen, was in den Tiefen unter den Eismassen geschieht“, so die Expeditionsleiterin Dr. Patricia Esquete vom Centre for Environmental and Marine Studies (CESAM) und dem Department of Biology (DBio) an der Universität Aveiro, Portugal. „Am 25. Januar haben wir den durch den Abbruch neu freigelegten Meeresboden erreicht. Wir waren damit die ersten Menschen, die dieses nie zugängliche Gebiet erkunden konnten. Der Eisberg hatte eine Fläche von 510 Quadratkilometern – etwa so groß wie Chicago – und legte eine ebenso große Meeresbodenfläche frei“, fügt Expeditionsteilnehmer Prof. Dr. Pedro Martínez Arbizu von Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven hinzu.
Mit dem ferngesteuerten Fahrzeug ROV SuBastian des Schmidt Ocean Institute beobachtete das Team den Tiefseeboden über einen Zeitraum von acht Tagen und entdeckte artenreiche Ökosysteme in Tiefen von bis zu 1300 Metern. Die Aufnahmen zeigten große Korallen und Schwämme, die eine Vielzahl von Lebewesen beherbergen, darunter Eisfische, riesige Seespinnen und Oktopusse. Diese Entdeckung liefert neue Erkenntnisse darüber, wie Ökosysteme unter den schwimmenden Abschnitten des antarktischen Eisschilds funktionieren. „Wir hatten nicht erwartet, ein so schönes, blühendes Ökosystem zu finden. Aufgrund der Größe der Tiere gehen wir davon aus, dass diese Gemeinschaften seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Hunderten von Jahren existieren“, erläutert Esquete. Martínez Arbizu ergänzt: „Wir waren überrascht von der erheblichen Biomasse und Biodiversität der Ökosysteme und sind uns sicher, dass es auf diesem nun zugänglichen Gebiet zahlreiche neue Arten zu entdecken gibt.“
Über das Leben unter den schwimmenden Schelfeisen der Antarktis ist nur wenig bekannt. 2021 berichteten Forscher*innen des British Antarctic Survey erstmals über Anzeichen von bodenbewohnenden Organismen unter dem Filchner-Ronne-Schelfeis im südlichen Weddellmeer. Die Expedition mit der Falkor (too) war jedoch die erste, die ein ferngesteuertes Fahrzeug einsetzte, um diese abgelegene Region zu erkunden. Tiefsee-Ökosysteme sind normalerweise auf Nährstoffe angewiesen, die langsam von der Oberfläche zum Meeresboden absinken. Diese antarktischen Ökosysteme waren jedoch seit Jahrhunderten von 150 Meter mächtigem Eis bedeckt und somit völlig von Oberflächennährstoffen abgeschnitten. „Möglich ist es, dass die dortige Fauna über Meeresströmungen versorgt wird, welche ebenfalls Nährstoffe transportieren können. Der genaue Mechanismus, der diese Ökosysteme versorgt, ist jedoch noch nicht vollständig verstanden“, so der Wilhelmshavener Meeresforscher.
Die neu freigelegte antarktische Meeresbodenfläche ermöglichte es dem internationalen Team – mit Wissenschaftler*innen aus Portugal, Großbritannien, Chile, Norwegen, Neuseeland, den Vereinigten Staaten und Deutschland – entscheidende Daten über die Vergangenheit des antarktischen Eisschilds zu sammeln, das in den letzten Jahrzehnten aufgrund des Klimawandels an Masse und Ausdehnung verloren hat.
„Der Eisverlust in der Antarktis ist ein bedeutender Faktor für den weltweiten Anstieg des Meeresspiegels“, erklärt Expeditionsleiter Dr. Sasha Montelli vom University College London (UCL). „Unsere Arbeit ist entscheidend, um den langfristigen Kontext dieser jüngsten Veränderungen zu liefern und unsere Fähigkeit zur Prognose zukünftiger Entwicklungen zu verbessern – Vorhersagen, die als Grundlage für politische Maßnahmen dienen können. Wir werden zweifellos weitere wichtige Entdeckungen machen, während wir unsere Daten analysieren.“ Neben der Sammlung biologischer und geologischer Proben setzte das Wissenschaftsteam autonome Unterwasserfahrzeuge, sogenannte Glider, ein, um die Auswirkungen von Schmelzwasser auf die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Region zu untersuchen. Erste Daten deuten auf eine hohe biologische Produktivität und einen starken Schmelzwasserfluss vom George-VI-Schelfeis hin.
„Das George-VI-Schelfeis verliert schon seit Jahrzehnten Eis. Erste Beobachtungen stammen aus den 1940er-Jahren. Im Gegensatz zu vielen anderen Schelfeisen liegt es zwischen der Antarktischen Halbinsel und der Alexander-Insel, was es bisher einigermaßen stabil gehalten hat. Trotzdem zieht es sich langsam zurück. Es ist zu befürchten, dass das schützende Meereis immer weiter schwindet und Abbrüche wie der von A-84 häufiger werden“, warnt Martínez Arbizu.
„Das Wissenschaftsteam war ursprünglich in dieser entlegenen Region, um den Meeresboden und das Ökosystem an der Schnittstelle zwischen Eis und Meer zu untersuchen“, erklärt Dr. Jyotika Virmani, Geschäftsführerin des Schmidt Ocean Institute. „Die Tatsache, dass wir genau zu dem Zeitpunkt dort waren, als sich dieser Eisberg vom Schelfeis löste, bot eine seltene wissenschaftliche Gelegenheit. Zufällige Entdeckungsmomente sind Teil der Faszination der Meeresforschung – sie ermöglichen es uns, als Erste die unberührte Schönheit unserer Welt zu erleben.“

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