18.11.2024, Universität Wien
So regenerieren Meereswürmer verlorene Körperteile
Die Rückkehr von Zellen in einen stammzellähnlichen Zustand als Schlüssel zur Regeneration
Viele Lebewesen sind in der Lage, beschädigtes oder verlorenes Gewebe zu regenerieren, aber warum einige das besonders gut können und andere nicht, ist nicht restlos geklärt. Einen wichtigen Beitrag zur Klärung dieser Frage lieferten nun die Molekularbiolog*innen Alexander Stockinger, Leonie Adelmann und Florian Raible von den Max Perutz Labs an der Universität Wien in einer neuen Studie. Darin erklären sie den molekularen Mechanismus der Regeneration bei Meereswümern und schaffen damit besseres Verständnis für die natürliche Reprogrammierungsfähigkeit von Zellen. Die Studie ist aktuell im renommierten Fachmagazin Nature Communications erschienen.
Die Fähigkeit zur Regeneration – von einzelnen Zelltypen bis hin zu ganzen Organen oder komplexen Geweben – ist für alle lebenden Arten von entscheidender Bedeutung. Auch der menschliche Körper regeneriert sich, kurz gesagt werden dabei abgestorbene Zellen durch neu produzierte ersetzt. Beim Menschen ist das zum Beispiel in der Darmschleimhaut oder der Leber der Fall. Andere Lebewesen haben aber noch viel stärkere Regenerationsfähigkeiten. So etwa Ringelwürmer wie Platynereis dumerilii: Diese können ganze Teile ihres Hinterkörpers nach Verletzungen regenerieren. Die molekularen Mechanismen, die diesen Prozess steuern, waren bisher kaum bekannt. Eine neue Studie unter Leitung des Molekularbiologen Florian Raible von den Max Perutz Labs an der Universität Wien bringt nun neue Erkenntnisse. Damit schaffen die Wissenschafter*innen nicht nur ein besseres Verständnis für die Biologie im Allgemeinen, sondern auch für die natürliche Reprogrammierungsfähigkeit von Zellen.
Das Wachstum neuer Segmente (Körperteile) bei den Meereswürmern wird durch eine spezielle Sprossungszone gesteuert, in der sich besondere Stammzellen befinden, aus deren Teilung dann die Segmente hervorgehen. Aber was passiert, wenn eben jene Sprossungszone durch eine Verletzung verloren geht? In ihrer neuen Studie zeigen die Erstautor*innen Alexander Stockinger und Leonie Adelmann zusammen mit dem Team des Raible-Labors, durch welche molekularen Mechanismen eine verlorene Sprossungszone erneuert werden kann, sodass die Meereswürmer wieder neue Segmente bilden können. Das Besondere bei Platynereis dumerilii: Im Gegensatz zu anderen Arten greift die Regeneration beim Meereswurm nicht auf existente Stammzellen zurück. Stattdessen unterziehen sich nach der Entfernung der Sprossungszone spezialisierte Zellen einer sogenannten Dedifferenzierung. „Das heißt, dass diese Zellen bereits innerhalb weniger Stunden beginnen, in einen stammzellähnlichen Zustand zurückzukehren, um schnellstmöglich eine neue Sprossungszone aufzubauen“, erklärt Leonie Adelmann, eine der beiden Erstautor*innen der Studie.
Die Forscher*innen fanden außerdem heraus, dass sich die Genexpression in diesen neu gebildeten Stammzellen tatsächlich von ihren Vorläuferzellen unterscheidet. „Spannenderweise spielen hier auch Faktoren wie die Transkriptionsfaktoren Myc und Sox2 eine Rolle, die man auch in der modernen Medizin nutzt, um aus spezialisierten menschlichen Zellen Stammzellen herzustellen“, so Alexander Stockinger, der andere Erstautor der Studie.
„Das Konzept der Dedifferenzierung wurde bereits vor über 60 Jahren vorgeschlagen, aber den Forscher*innen fehlten damals die Instrumente, um diese Idee zu testen. Jetzt haben wir Werkzeuge entwickelt, um die Dedifferenzierung auf molekularer Ebene zu verstehen und sie mit dieser sogenannten „Reprogrammierung“ von Zellen in der modernen Medizin zu vergleichen. Das schafft eine solide Grundlage für zukünftige Studien“, fasst Florian Raible, Leiter der Arbeitsgruppe an der Universität Wien, zusammen.
Eine besondere Strategie der Wissenschafter*innen war die Erforschung der Zellzustände mit der neuen Methode der Einzelzell-RNA-Sequenzierung. Diese Technik lieferte einen neuartigen Datensatz zur Untersuchung der Geweberegeneration. „Die Einzelzell-Transkriptomik ermöglicht es uns, Zelltypen und ihre Zustände zu identifizieren und aufzuzeigen, wie sie auf individueller Ebene auf den Verlust von Körperteilen reagieren. In unserer Studie haben wir diese Technik zusätzlich mit Daten von französischen Kolleg*innen kombiniert, die durch die fluoreszente Markierung von Zellen halfen, aufzudecken, welche Gewebe letztlich aus bestimmten Stammzellen hervorgehen“, erklärt Stockinger. „Dabei haben wir mindestens zwei verschiedene Stammzellpopulationen entdeckt – eine, die Gewebe wie Epidermis und Neuronen regeneriert, und eine andere, die Muskeln und Bindegewebe bildet“, so Adelmann.
Originalpublikation:
Stockinger AW, Adelmann L, Fahrenberger M, Ruta C, Özpolat BD, Milivojev N, Balavoine G, Raible F. Molecular profiles, sources and lineage restrictions of stem cells in an annelid regeneration model. Nat Comms.
DOI: 10.1038/s41467-024-54041-3
https://doi.org/10.1038/s41467-024-54041-3
18.11.2024, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg
Klimawandel setzt Heringslarven unter Stress
Das Auftreten mehrerer Stressfaktoren hebelt die Akklimatisierungsstrategien junger Heringe aus: Wenn Larven der Schwarmfische mehreren Stressfaktoren gleichzeitig ausgesetzt sind, verringert sich ihre Fähigkeit, auf molekularbiologischer Ebene auf diese Veränderungen zu reagieren. Experimente eines Teams aus Oldenburg und Kiel zeigen, dass dafür schon eine Kombination aus zwei Faktoren ausreicht.
Wenn Heringslarven mehreren Stressfaktoren gleichzeitig ausgesetzt sind, vermindert sich ihre Fähigkeit, auf molekularbiologischer Ebene auf diese Veränderungen zu reagieren: Bereits bei einer Kombination aus zwei Faktoren bleibt eine schützende Antwort aus. Das ist das Ergebnis eines Experiments, das ein Team um Dr. Andrea Franke vom Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität an der Universität Oldenburg (HIFMB) in Kiel durchführte. Die Forschenden setzten Heringslarven aus der Ostsee Stress durch erhöhte Temperaturen, Bakterien und eine Kombination aus beidem aus. Die Ergebnisse veröffentlichten sie in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Science of the Total Environment“. An der Studie waren außerdem Forschende des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel und der Universität Kiel beteiligt.
Die Forschenden schauten sich in ihrem Experiment drei Arten von Reaktionen an, um herauszufinden, wie die Heringslarven auf verschiedene Kombinationen von Umweltveränderungen reagierten. Zum einen untersuchten sie die Aktivität aller Gene der Larven, die sogenannte Genexpression. Zum zweiten untersuchte das Team sogenannte microRNA. Dabei handelt es sich um kurze Moleküle, die im komplexen Prozess der Herstellung von Proteinen eine hemmende oder unterstützende Wirkung haben können. Über die Genexpression und über die microRNA verfügt ein Organismus über Möglichkeiten, die Bildung von Proteinen zu regulieren und somit auf Umweltveränderungen zu reagieren. Als drittes betrachteten die Forschenden das Mikrobiom der Heringslarven: Sie ermittelten anhand von Genanalysen, welche Mikroben auf und in den Tieren leben.
Bei allen drei Analysen konnten sie Veränderungen feststellen. Besonders eindrücklich zeigte sich eine Reaktion der Larven bei der Genexpression: Waren die Tiere einer Hitzewelle oder Bakterien ausgesetzt, konnten die Forschenden beobachten, dass ein großer Teil der Gene herunterreguliert war. Dies werten die Wissenschaftler*innen als zelluläre Stressantwort, die dem Schutz von Proteinen und der Erbsubstanz DNA dient und dazu beiträgt, irreversible Zellschäden zu vermeiden.
Überraschend war für die Forschenden allerdings, dass diese Stressantwort komplett ausblieb, wenn die Larven einer Hitzewelle und gleichzeitig den Bakterien ausgesetzt waren. „Wir hatten nicht erwartet, dass die Larven keine Reaktion auf der Ebene der Genexpression mehr zeigen, wenn mehreren Stressfaktoren gleichzeitig auftreten. Das kann bei den Larven zum Beispiel zu Proteinschädigungen und Zellschäden führen und ihr Wachstum und Überleben langfristig beeinträchtigen“, so Erstautorin Franke. Für den Heringsbestand der westlichen Ostsee, der bereits stark dezimiert ist und sich auf einem historischen Tief befindet, wären das schlechte Nachrichten.
Bisher wurde in vergleichbaren Experimenten meist nur der Effekt einzelner Stressfaktoren auf Fischlarven untersucht. Das entspreche allerdings nicht unbedingt der Realität, betont Franke: „Der Klimawandel führt oft dazu, dass Meereslebewesen und Ökosysteme mehreren Belastungen gleichzeitig ausgesetzt sind.“ Mögliche Nachfolgestudien unter Klimawandelbedingungen könnten Franke zufolge untersuchen, ob sich die Beobachtungen auch bei längerfristig angelegten Experimenten bestätigen und welche Konsequenzen das für die Überlebensfähigkeit der Fische hat.
Das Helmholtz-Institut für Funktionelle Marine Biodiversität wurde 2017 als institutionelle Kooperation zwischen der Universität Oldenburg und dem Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) gegründet. Es erforscht die marine Biodiversität und ihre Bedeutung für die Funktion der marinen Ökosysteme. Dabei entwickelt es die wissenschaftlichen Grundlagen für den Meeresnaturschutz und das Ökosystemmanagement.
Originalpublikation:
Franke, A., Bayer, T., Clemmesen, C., Wendt, F., Lehmann, A., Roth, O., Schneider, R. F.: „Climate challenges for fish larvae: Interactive multi-stressor effects impair acclimation potential of Atlantic herring larvae”. Science of The Total Environment, 953. https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2024.175659
19.11.2024, Veterinärmedizinische Universität Wien
Goffin-Kakadus zeigen Gewichtspräferenzen beim Heben und Tragen von Gegenständen in Transportaufgaben
Neue Studie baut auf früheren Erkenntnissen auf, wonach Goffin-Kakadus Schimpansen und Kapuzineraffen in Bezug auf Gewichtserkennung übertreffen.
In einer neuen Studie haben Forscher:innen beobachtet, dass Goffin-Kakadus beim Transport von optisch identischen Gegenständen mit unterschiedlichem Gewicht selektiv leichtere Objekte gegenüber schwereren bevorzugen, was neue Einblicke in ihre Entscheidungsstrategien bietet. Die von einer Forschergruppe der Veterinärmedizinischen Universität Wien und der Universität Oxford durchgeführte Studie zeigt, dass diese Vögel leichtere Gegenstände auf eine Weise bevorzugen, die eine ausgeklügelte Energiesparstrategie widerspiegelt.
Die Studie baut auf früheren Erkenntnissen auf, wonach Goffin-Kakadus Primaten wie Schimpansen und Kapuzineraffen bei Gewichtserkennungsaufgaben übertreffen. Die Forscher:innen vermuteten, dass die Flugfähigkeit der Kakadus zu ihrer Fähigkeit beitragen könnte, Gewicht zu erkennen, da der Transport eines schweren Objekts im Flug ein erhebliches Energiemanagement erfordert.
In den Experimenten wurden den Kakadus zwei optisch identische, hantel- und kugelhantelförmige Objekte präsentiert, die sich nur im Gewicht unterschieden. Bei jedem Versuch mussten die Vögel einen der Gegenstände über eine kurze Distanz transportieren, um eine Belohnung zu erhalten. Der Versuchsaufbau umfasste zwei Situationen: eine „Gehsituation“, in der eine Brücke die Plattformen verband, und eine „Flugsituation“, in der keine Brücke zur Verfügung stand und die Vögel fliegen mussten, um das von ihnen gewählte Objekt zu befördern. Wichtig war, dass jedes Objekt die gleiche Belohnung brachte, wodurch sichergestellt wurde, dass die Präferenzen der Vögel ausschließlich auf Gewichtsüberlegungen beruhten. Selbst bei einem geringfügigen Gewichtsunterschied von 30% entwickelten die meisten Kakadus schnell eine Vorliebe für die leichtere Option. Celestine Adelmant, Co-Erstautorin und Forscherin an der Universität Oxford, erinnert sich an die Stärke dieser Vorlieben bei bestimmten Vögeln: „Manchmal waren die Vögel so unnachgiebig bei der Wahl des leichteren Gegenstandes, dass sie das schwerere Objekt quer über den Tisch warfen, bevor sie das leichtere für die Belohnung transportierten!“
In einer zweiten Phase der Studie hatten die Vögel die Wahl zwischen zwei hantelförmigen Objekten mit gleichem Gesamtgewicht, aber ungleichmäßiger Gewichtsverteilung. Entgegen den Erwartungen zeigten die Kakadus keine signifikante Präferenz zwischen den Objekten mit gleichmäßiger und ungleichmäßiger Gewichtsverteilung, was darauf hindeutet, dass für ihre Transportaufgaben eher das Gesamtgewicht als die Gewichtsverteilung der entscheidende Faktor bei ihren Entscheidungen ist. „Während das Gewicht von Objekten zur Bestimmung des Nährstoffgehalts von Nüssen und Samen in natürlichen Populationen herangezogen werden kann, hat die Gewichtsverteilung von Objekten nur geringe ernährungsphysiologische Relevanz, sodass Vögel möglicherweise keine Mechanismen entwickelt haben, um diesen Hinweis zu erkennen oder ihm entgegenzuwirken“, so Adelmant.
Während der Versuche zeigten die Kakadus oft ein „Wechselverhalten“, indem sie ein Objekt aufnahmen, es dann absetzten und zum anderen zurückkehrten, hin und her, bevor sie eine endgültige Entscheidung trafen. Antonio Osuna-Mascaró, Co-Erstautor vom Messerli Forschungsinstitut der Vetmeduni, interpretiert dies als Zeichen ihres Entscheidungsprozesses: „Wenn Kakadus zwischen Objekten wechseln, kann dies auf Unsicherheit hindeuten – ein Verhalten, das wir in früheren Studien festgestellt haben. Dieses Wechseln könnte metakognitives Bewusstsein widerspiegeln, was darauf hindeutet, dass die Vögel ihr eigenes Wissen erforschen, um beide Optionen zu bewerten.“
Entgegen den Erwartungen zeigten die Kakadus beim Fliegen (eine Aktivität mit höherem Energieverbrauch) keine stärkere Vorliebe für leichtere Objekte als beim Gehen. Die Forscher:innen vermuten, dass dies auf einen Kompromiss zwischen der körperlichen Anstrengung beim Tragen schwerer Gegenstände und der kognitiven Belastung durch das Treffen einer fundierten Entscheidung zurückzuführen sein könnte. „Diese kleinen Kerle lieben es, Dinge schnell zu erledigen. Ein interessantes Ergebnis unserer Studie ist, dass die Vögel beim Transport auf das Gewicht achten, es ihnen aber egal war, ob sie laufen oder fliegen mussten“, fügt Osuna-Mascaró hinzu.
Alice Auersperg, Leiterin des Goffin Lab der Vetmeduni in Wien, reflektiert die Ergebnisse: „Die Vorliebe der Kakadus für leichtere Objekte passt gut zur Theorie der optimalen Nahrungssuche und deutet auf eine Strategie zur Energieeffizienz hin, die für ihr natürliches Futtersuchverhalten von entscheidender Bedeutung sein könnte. Darauf aufbauend könnten zukünftige Experimente untersuchen, wie diese Vögel den Transport von Werkzeugen handhaben, wenn sie mit Objekten unterschiedlicher Gewichtsverteilung konfrontiert sind oder wenn das Gewicht die Funktionalität des Werkzeugs beeinträchtigt. Solche Studien könnten noch mehr darüber verraten, wie Vögel bei komplexen Aufgaben das Gleichgewicht zwischen körperlicher Anstrengung und kognitiven Anforderungen finden.“ „Zu sehen, wie die Vögel diese kleinen Kugelhanteln anhoben und wieder losließen, war, als würde man die Goffins bei einem Fitness-Workout beobachten!“, so Adelmant abschließend.
###
Der Artikel „Goffin’s cockatoos use object mass but not balance cues when making object transport decisions“ von Celestine Adelmant, Antonio J. Osuna-Mascaró, Remco Folkertsma und Alice M. I. Auersperg wurde in Scientific reports veröffentlicht.
Originalpublikation:
Der Artikel „Goffin’s cockatoos use object mass but not balance cues when making object transport decisions“ von Celestine Adelmant, Antonio J. Osuna-Mascaró, Remco Folkertsma und Alice M. I. Auersperg wurde in Scientific reports veröffentlicht.
https://www.nature.com/articles/s41598-024-76104-7#:~:text=We%20also%20found%20that%20Goffin%27s,mechanism%20of%20overcoming%20the%20effects.
19.11.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Was weiß (und kann) der Geier? GAIA verbindet natürliche & künstliche Intelligenz für Wildtierforschung & Artenschutz
Um das Verhalten von Tieren und den Zustand der Umwelt aus der Ferne zu erfassen und zu bewerten, entwickelte die GAIA-Initiative eine künstliche Intelligenz (KI), die verschiedene Verhaltensweisen von Geiern anhand von Tiersender-Daten in Echtzeit automatisch und korrekt identifiziert. Da Geier als Aasfresser immer auf der Suche nach Kadavern sind, können die Forschenden mithilfe besenderter Tiere und eines weiteren KI-Algorithmus jetzt Tierkadaver in weitläufigen Landschaften lokalisieren. Die im „Journal of Applied Ecology“ beschriebenen Algorithmen sind ein wichtiger Baustein eines Frühwarnsystems für Umweltveränderungen.
Die GAIA-Initiative ist ein Zusammenschluss aus Forschungsinstituten, Naturschutzorganisationen und Unternehmen mit dem Ziel, ein High-Tech-Frühwarnsystem für ökologische Veränderungen und kritische Ereignisse in der Umwelt zu schaffen. Die neuen KI-Algorithmen wurden am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS und dem Tierpark Berlin entwickelt und sind ein wichtiger Baustein eines Frühwarnsystems, mit dem kritische Veränderungen oder Ereignisse in der Umwelt wie Dürren, Krankheitsausbrüche oder illegale Tötungen von Wildtieren schnell und zuverlässig erkannt werden können.
Der Tod von Tieren ist ein wichtiger Vorgang in Ökosystemen – unabhängig davon, ob er einen Regelfall darstellt wie bei der erfolgreichen Jagd eines Raubtieres oder einen Ausnahmefall, verursacht durch den Ausbruch einer Wildtierkrankheit, den Eintrag von Umweltgiften in die Landschaft oder die illegale Tötung durch Menschenhand. Für die Erforschung und den Schutz von Tiergemeinschaften und Ökosystemen ist es daher von großer Bedeutung, die Regel- und Ausnahmefälle des Sterbens systematisch zu erfassen und zu analysieren. Die GAIA-Initiative nutzt dafür eine Kombination aus den natürlichen Fähigkeiten von Weißrückengeiern (Gyps africanus) und hoch-entwickelten Biologging-Technologien und Künstlicher Intelligenz (KI). „Diese Synergie aus drei Intelligenzen – tierischer, menschlicher und künstlicher – ist der Kern unseres neuen I³-Ansatzes, mit dem wir das großartige Wissen der Tiere über ihre Ökosysteme nutzen wollen“, sagt Dr. Jörg Melzheimer, GAIA-Projektleiter und Wissenschaftler am Leibniz-IZW.
Geier sind evolutionär perfekt darauf angepasst, zuverlässig und schnell Kadaver aufzuspüren. Sie verfügen über einen herausragenden Sehsinn und eine ausgefeilte Kommunikation, sodass sie im Verbund vieler Individuen sehr große Landstriche „überwachen“ können. Geier erfüllen damit eine wichtige ökologische Funktion, weil sie Landschaften von Aas reinigen und die Ausbreitung von Wildtierkrankheiten eindämmen. „Für uns als Forschende für den Artenschutz sind das Wissen und die Fähigkeiten der Geier als Wächtertiere relevant, um problematische Ausnahmefälle des Tiersterbens schnell erkennen und zügig angemessene Maßnahmen initiieren zu können“, sagt Dr. Ortwin Aschenborn, gemeinsam mit Melzheimer GAIA-Projektleiter im Leibniz-IZW. „Um das Wissen der Geier für uns nutzbar zu machen, brauchen wir eine Schnittstelle – und diese Schnittstelle bildet bei GAIA die Kombination aus Tiersendern und künstlicher Intelligenz.“
Die Tiersender, mit denen GAIA unter anderem Weißrückengeier in Namibia ausstattete, zeichnen mindestens zwei Gruppen von Daten auf. Der GPS-Sensor liefert zu einem bestimmten Zeitpunkt die genaue Position eines Tieres, der sogenannte ACC-Sensor (ACC steht für acceleration, englisch für Beschleunigung) erfasst detaillierte Bewegungsprofile des Senders – und damit des Tieres – entlang der drei räumlichen Dimensionen zum selben Zeitpunkt. Beides nutzt ein am Leibniz-IZW entwickelter Algorithmus, der Modelle des Maschinenlernens verwendet, die zu den Modellen der künstlichen Intelligenz (KI) gehören. „Jedes Verhalten ist mit spezifischen Beschleunigungsmustern verknüpft und erzeugt deshalb bestimmte Signaturen in den ACC-Daten der Sensoren“, erklärt Wildtierbiologe und KI-Spezialist Wanja Rast vom Leibniz-IZW. „Um diese Signaturen erkennen und zuverlässig bestimmten Verhalten zuweisen zu können, haben wir eine KI mit Hilfe von Referenzdaten trainiert. Diese Referenzdaten stammen von zwei Weißrückengeiern, die wir im Tierpark Berlin mit Sendern ausgestattet hatten, sowie von 27 wilden Geiern in Namibia.“ Zusätzlich zu den ACC-Daten der Sender nahmen die Forschenden Daten zum Verhalten der Tiere auf – im Tierpark durch Videoaufnahmen und im Freiland unter anderem durch Beobachtung der Tiere nach der Besenderung. „Wir erhielten auf diese Weise rund 15.000 Paare von ACC-Signaturen und verifiziertem Verhalten der Geier, unter anderem aktiver Flug, Gleitflug, Fressen und Stehen. Damit konnten wir eine sogenannte Support Vector Machine, einen KI-Algorithmus, trainieren, der mit hoher Zuverlässigkeit ACC-Daten bestimmtem Verhalten zuordnet“, erklärt Rast.
In einem zweiten Schritt kombinierten die Forschenden diese so gewonnenen Verhaltensinformationen mit den GPS-Daten der Tiersender. Mit speziellen KI-Algorithmen zum räumlichen „Clustering“ identifizierten sie Positionen, an denen sich bestimmte Verhalten häuften. Auf diese Weise erhielten sie räumlich und zeitlich fein aufgelöste Ortungen, an denen Geier gefressen hatten. „Die GAIA-Feldwissenschaftler und Kooperationspartner vor Ort konnten mehr als 500 dieser aus den Senderdaten abgeleiteten Verdachtsstellen für Kadaver überprüfen, ebenso wie mehr als 1300 Cluster anderer Verhaltensweisen ohne Kadaver“, sagt Aschenborn. Die vor Ort verifizierten Funde von Kadavern dienten schließlich als Grundlage für die Identifikation eindeutiger Signaturen für Fress-Stellen der Geier im letzten KI-Trainingsdatensatz der Forschenden – dieser Algorithmus zeigt also mit hoher Präzision Orte an, an denen höchstwahrscheinlich ein Tier gestorben ist und ein Kadaver liegt. „Wir konnten sehen, dass die Vorhersage für Kadaver mit 92 Prozent Trefferquote sehr genau ist und ein System, welches die Geier, Tiersender und KI verbindet, sehr gut zur großräumigen ‚Überwachung‘ von tierischen Todesfällen eingesetzt werden kann“, so Aschenborn.
Diese KI-basierte Verhaltensklassifikation und Kadavererkennung ist ein zentraler Baustein für das GAIA-Frühwarnsystem für kritische Veränderungen oder Vorfälle in der Umwelt. „Bislang erfolgt dieser methodische Schritt im GAIA-I³-Rechenzentrum im Leibniz-IZW in Berlin“, sagt Melzheimer. „In der in unserem Konsortium entwickelten neuen Generation von Tiersendern werden KI- Analysen direkt auf dem Tiersender implementiert. Damit entsteht die verlässliche Information darüber, ob und wo ein Tierkadaver liegt, unmittelbar und ohne Zeitverlust am Tier.“ Der Transfer aller GPS- und ACC-Rohdaten ist dann nicht mehr erforderlich, sodass auch Kommunikationsverbindungen mit deutlich niedrigerer Bandbreite genügen, um relevante Informationen zu übermitteln. Dies ermöglicht es, statt terrestrischem Mobilfunk eine Satellitenverbindung zu verwenden, die komplett unabhängig von lokaler Infrastruktur eine Abdeckung auch in entlegenen Wildnisregionen garantiert. Auch dort könnten dann kritische Veränderungen oder Vorfälle in der Umwelt – wie Krankheitsausbrüche, Dürren oder illegale Tötungen von Wildtieren – ohne Zeitverzögerung erkannt und übermittelt werden.
In den letzten Jahrzehnten sind die Bestände vieler Geierarten stark zurückgegangen, sie sind nun akut vom Aussterben bedroht. Die Hauptursachen dafür sind der Verlust von Lebensraum und Nahrung in vom Menschen geprägten Landschaften sowie eine hohe Anzahl direkter oder indirekter Vergiftungen. Der Bestand des Weißrückengeiers ist beispielsweise innerhalb von nur drei Generationen um etwa 90 Prozent zurückgegangen – das entspricht einem durchschnittlichen Rückgang von 4 Prozent pro Jahr. „Aufgrund ihrer ökologischen Bedeutung und ihres raschen Rückgangs ist es notwendig, unser Wissen über und Verständnis von Geiern deutlich zu verbessern, um sie besser schützen zu können“, sagt Aschenborn. „Unsere Forschungen mit Hilfe KI-basierter Analysemethoden geben uns nicht nur neuartige Einblicke in Ökosysteme, sie werden auch unser Wissen darüber erweitern, wie Geier kommunizieren, interagieren und kooperieren, nach Nahrung suchen, Jungen ausbrüten und aufziehen und wie sie Wissen von einer Generation an die nächste weitergeben.“ GAIA stattete bislang mehr als 130 Geier in unterschiedlichen Teilen Afrikas mit Sendern aus, der Großteil in Namibia. Die Forschenden analysierten daraus bislang mehr als 95 Millionen GPS-Datenpunkte und 13 Milliarden ACC-Datensätze.
Originalpublikation:
Rast W, Portas R, Shatumbu GI, Berger A, Cloete C, Curk T, Götz T, Aschenborn OHK, Melzheimer J (2024): Death detector: Using vultures as sentinels to detect carcasses by combining bio-logging and machine learning. Journal of Applied Ecology. DOI: 10.1111/1365-2664.14810
20.11.2014, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Weder öde noch leer: Tiefseeboden wimmelt von Leben
Die Tiefsee der Arktis birgt bedeutende Öl- und Erdgasreserven sowie wertvolle Ressourcen wie seltene Erden und Metalle. Der Klimawandel und das schmelzende Eis erleichtern den Zugang, was wirtschaftliche Chancen, aber auch große ökologische Gefahren mit sich bringt. Ein Forschungsteam zeigt in einer Übersichtsstudie, dass der Arktische Ozean eine große Vielfalt an Lebensräumen und Organismen aufweist. Hierfür wertete das Team 75.000 Datensätze zu 2.637 Tiefseearten aus. Die Forschenden betonen die Notwendigkeit intensiverer Forschung und internationaler Zusammenarbeit, um angesichts wachsender wirtschaftlicher Interessen den Schutz des empfindlichen Ökosystems sicherzustellen.
Schätzungen zufolge könnten in der Tiefsee bis zu 13 Prozent der noch unentdeckten globalen Öl- und 30 Prozent der Erdgasreserven liegen. Auch deswegen steht der Arktische Ozean zunehmend im Fokus von Politik und Wirtschaft. Neben den Vorkommen von fossilen Brennstoffen bietet die Tiefsee rund um den Nordpol eine Vielzahl wertvoller Ressourcen wie seltene Erden und Metalle. Auch eine Beschleunigung des globalen Handels durch den Transport entlang neuer Nordost- und Nordwestpassagen, sowie ein steigendes Interesse am Arktis-Tourismus sind von wirtschaftlichem Interesse. „Der Klimawandel und das Abschmelzen des Eises ermöglichen zunehmend die Erschließung des Arktischen Ozeans, was jedoch hohe ökologische Risiken birgt“, erklärt Prof. Dr. Angelika Brandt vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und weiter: „Obwohl wir mit Hilfe neuartiger Technologien und Infrastrukturen beachtliche Fortschritte gemacht haben, das arktische Ökosystem sehr viel besser zu verstehen, gibt es immer noch große Wissenslücken zu den am Meeresboden lebenden Tiefseegemeinschaften – das zeigt unsere neue Studie deutlich.“
Unter der Federführung von Dr. Eva Ramirez-Llodra und Heidi K. Meyer vom Institute of Marine Research im norwegischen Bergen haben die Senckenbergerinnen Dr. Hanieh Saeedi, Prof. Dr. Angelika Brandt, Prof. Dr. Saskia Brix und sieben weitere Forscher*innen, namentlich Dr. Stefanie Kaiser, Severin A. Korfhage, Karlotta Kürzel, Dr. Anne Helene S. Tandberg, Dr. James Taylor, Franziska I. Theising und Carolin Uhlir, mit Forschenden des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) und einem internationalen Team eine Übersicht zu den benthisch lebenden Organismen im Arktischen Ozean erstellt. Hierfür werteten die Wissenschaftler*innen 75.404 Datensätze zu 2.637 verschiedenen Tiefsee-Arten von frei zugänglichen Datenbanken, Informationseinrichtungen sowie nicht digitalisierter wissenschaftlicher Literatur aus. „Wir haben uns dabei auf das Gebiet nördlich des 66. Breitengrades Nord und unterhalb von 500 Metern Tiefe beschränkt“, erläutert Brix. „Die häufigsten Einzelnachweise stellte mit 21.405 Treffern der Stamm der Gliederfüßer, zu denen beispielsweise Asseln oder Ruderfußkrebse gehören, dahinter folgen die Ringelwürmer und Schwämme. Letztere werden beim Artenreichtum von den Mollusken übertroffen“, fährt Saeedi fort.
Eine Zusammenstellung von Lebensraumkarten zeigt zudem, dass die Arktis eine große Vielfalt an geomorphologischen Strukturen aufweist – von unterseeischen Canyons und Kontinentalhängen bis hin zu Seebergen und biologisch erzeugten Erhebungen wie ausgedehnten Kaltwasserkorallenriffen. „Wir haben nicht nur wichtige Tiefseedaten umfassend digitalisiert und in frei zugänglichen Datenbanken veröffentlicht, sondern auch neue Tiefseedaten erhoben, kontrolliert und umfassend analysiert. So konnten wir zeigen, dass der Arktische Ozean entgegen der landläufigen Meinung tatsächlich eine sehr reiche Organismen-Vielfalt aufweist“, so Saeedi. Durch die Verknüpfung von Faunengruppen mit Gebieten unterschiedlicher Geomorphologie konnte das Forschungsteam Regionen identifizieren, für die es besonders wenig Daten – regelrechte Datenlücken – gibt. Brix fügt hinzu: „Die generationenübergreifende Zusammenarbeit im Rahmen der UN-Ozeandekade und die internationale Kooperation mit Tiefseeexpert*innen sowie dem AWI waren entscheidend für diese Studie.“
„Es ist unbestritten, dass die Tiefsee im Arktischen Ozean weit davon entfernt ist, der leblose, eintönige Lebensraum zu sein, als welcher sie von ihren frühen Entdeckern beschrieben wurde. Wir benötigen aber eine intensivierte, internationale Netzwerk- und Zusammenarbeit sowie ein aktives Monitoring der Umweltparameter und der faunistischen Zusammensetzung. Nur so können wir die Struktur und Funktion des Arktischen Ökosystems besser verstehen und Maßnahmen zur Erhaltung dieses einzigartigen und für die Nordhemisphäre so wichtigen Ökosystems sicherstellen. Gerade im Hinblick auf die steigenden wirtschaftlichen und politischen Interessen, stellt der Mangel an Daten zur benthischen Biodiversität – insbesondere in den tiefen Becken des zentralen Arktischen Ozeans – ein erhebliches Problem für belastbare Management- und Schutzmaßnahmen dar“, warnt Saeedi.
Originalpublikation:
Ramirez-Llodra, E, et al. 2024. The emerging picture of a diverse deep Arctic Ocean seafloor: From habitats to ecosystems. Elem Sci Anth, 12: 1. DOI: https://online.ucpress.edu/elementa/article/12/1/00140/203384/The-emerging-pictu…
21.11.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Eichhörnchen passen ihre tageszeitlichen Aktivitäten sehr flexibel an Menschen, Haustiere und Wildtiere in der Stadt an
Forschungen vor und während des CoVid-19-Lockdowns im Jahr 2020 in Berlin zeigen, dass in der Stadt lebende Eichhörnchen geschickte Anpassungstalente sind und ihre tageszeitlichen Aktivitäten äußerst flexibel an der Anwesenheit von Menschen, Hunden, Katzen und Beutegreifern wie Steinmardern ausrichten. Mit Hilfe von Wildtierkameras zeichneten Forscher*innen des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und Bürgerwissenschaftler*innen in privaten Gärten und Grundstücken die Aktivitäten der Nager über längere Zeiträume auf und verglichen diese zwischen den verschiedenen Tages- und Jahreszeiten.
Welche räumlichen und zeitlichen Nischen die Eichhörnchen besetzen, dass sie vor allem freilaufende Katzen fürchten und während des Lockdowns aktiver waren als vorher, ist in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift „Frontiers in Ecology and Evolution“ beschrieben.
Das Eurasische Eichhörnchen (Sciurus vulgaris), gemeinhin als Eichhörnchen bekannt, begegnet im städtischen Raum einer Vielzahl von Herausforderungen. Gleichzeitig bieten Kleingärten, Hinterhöfe und Parkanlagen durchaus geeignete Lebensräume für Wildtiere. Eine wesentliche Überlebens-Strategie der Eichhörnchen besteht darin, ihre Aktivitäten an die Präsenz von Menschen und deren Haustiere sowie an Beutegreifer anzupassen, um Nahrungs-Ressourcen effizient zu nutzen und dabei das eigene Sterblichkeitsrisiko zu minimieren. Insbesondere die ständige Störung durch Haustiere wie freilaufende Katzen zwingt die kleinen Nager, ihren Aktionsradius räumlich und zeitlich deutlich zu beschränken. Sie meiden dabei bestimmte Gebiete gänzlich und sind in anderen Gebieten nur in kurzen Zeiträumen aktiv.
Das Team unter der Leitung von Prof. Stephanie Kramer-Schadt, Leiterin der Leibniz-IZW-Abteilung für Ökologische Dynamik und Professorin an der Technischen Universität Berlin, analysierte Daten von Wildtierkameras des Berliner Citizen-Science-Projekt „Wildtierforscher“, die in den Jahren 2019 und 2020 in vier Erhebungsphasen, darunter Frühling und Herbst vor und während der SARS-CoV-2-Lockdowns, aufgezeichnet wurden. Im Fokus der Untersuchungen standen die saisonalen und tageszeitlichen Aktivitätsmuster von Eichhörnchen in verschiedenen urbanen Kontexten sowie die Reaktionen der Tiere auf die Anwesenheit von Menschen, Katzen, Hunden und Beutegreifern wie Steinmardern. „Unsere Untersuchung zeigt, dass Eichhörnchen in erster Linie ihr Verhalten ändern, um Beutegreifern auszuweichen und nicht den Menschen“, fasst Kramer-Schadt zusammen. „Sie zeigen ein klares Risikoverhaltensmuster und eine Anpassung ihrer zeitlichen Aktivität. Wenn keine Beutegreifer auf den Bildern zu sehen waren, sahen wir einen Anstieg ihrer Aktivität, und die Eichhörnchen nutzten die Zeit, um sich auf dem Boden nach Nahrung umzusehen. Sind jedoch Beutegreifer anwesend, reduzieren sie ihre Aktivität, um das Risiko, selbst gefressen zu werden, zu minimieren.“
Katzen stellten die größte Bedrohung für Eichhörnchen dar, stellten die Forschenden fest und bestätigten damit frühere Untersuchungen, die negative Auswirkungen von Katzen auf Eichhörnchen und andere Wildtiere zeigen. „Im Gegensatz dazu können Eichhörnchen bei Steinmardern – deren Anwesenheit tagsüber selten und vor allem auf die Nacht beschränkt ist – wieder zu ihrem normalen Verhalten zurückkehren, wenn diese nicht mehr präsent sind“, sagt Sinah Drenske, Doktorandin am Leibniz-IZW und Erstautorin des wissenschaftlichen Artikels. „Die ständige Präsenz von Katzen zwingt Eichhörnchen jedoch dazu, permanent wachsam zu sein und sich laufend anzupassen.“ Hunde gelten oft als Stellvertreter für menschliche Aktivitäten, da Menschen mit ihnen spazieren gehen oder sie meist nur in den Garten lassen, wenn jemand zu Hause ist, zumindest in Berlin. „In unseren stündlichen und saisonalen Analysen zeigte sich kein signifikanter Einfluss von Hunden auf das Verhalten von Eichhörnchen“, so Drenske weiter.
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass das Leben von Eichhörnchen ein dynamischer Balance-Akt zwischen Nahrungsaufnahme und Risikominimierung ist. „Wir konnten belegen, dass während der Covid-Lockdowns die Aktivität der Eichhörnchen in Gärten zunahm. In dieser Zeit blieben die meisten Menschen zu Hause und einige nutzten die Gelegenheit, ihre Gärten mit lokalen Pflanzenarten oder Vogel- und Eichhörnchenfutterstellen wildtierfreundlicher zu gestalten. Die zusätzlichen Nahrungsquellen könnten Eichhörnchen dazu ermutigt haben, eher Gärten mit Futterstellen aufzusuchen“, sagt Drenske. Diese Beobachtung unterstreiche die Bedeutung von Garten- und Stadtgestaltung für das Wohlergehen urbaner Wildtiere – und das durchaus im positiven Sinne. So biete beispielsweise regelmäßige Anwesenheit von Menschen in städtischen Gärten einen Schutz vor Greifvögeln, die in der Stadt häufig vorkommen und sich von Menschen weitaus stärker fernhalten als Eichhörnchen.
Die Arbeit führt Analysen der Aktivität von Wild- und Haustieren auf der Basis von Wildtierkameras in Berlin und Forschungen zu Eichhörnchen in der Stadt fort, die Kramer-Schadt‘s Team bereits zuvor publizierte:
• Eine 2021 im „Journal of Animal Ecology“ erschienene Forschungsarbeit beleuchtete beispielsweise, wie städtische Füchse, Waschbären, Steinmarder und Hauskatzen miteinander umgehen und wie gut sie mit dem Menschen auskommen. Alle drei Wildtierarten nutzten dieselben Orte – vorrangig in den Nachtstunden und zu unterschiedlichen Zeiten. Während der Lockdowns wurden sie häufiger fotografiert, vor allem nachts. Zudem meiden alle Wildtierarten die Hauskatzen, so das Ergebnis der damaligen Untersuchungen. Mit der aktuellen Analyse kann dieser Befund auf die Eichhörnchen erweitert werden. Weitere Informationen dazu in einer Pressemitteilung des Leibniz-IZW vom 23. Dezember 2021: https://www.izw-berlin.de/de/pressemitteilung/wildtierkameras-zeigen-wie-wildtie….
• In einer im Herbst 2022 publizierten Forschungsarbeit untersuchten und modellierten die Forschenden die Lebensräume der Eichhörnchen in Berlin mit Hilfe von Computermodellen und Eichhörnchen-Sichtungen von Bürgerwissenschaftler*innen. Eichhörnchen gehören zu den in Großstädten am häufigsten gesichteten Wildtieren, die Verteilung ihrer Lebensräume gleiche jedoch eher einem Flickenteppich. Die Modelle führen die Sichtungen mit verschiedenen Umweltparametern zusammen und sind so ein wichtiges Instrument für die Stadtplanung, da sie Gegenden identifizieren, in denen Korridore zur Verbindung fragmentierter Lebensräume fehlen. Die Arbeit ist in der Fachzeitschrift „Frontiers in Ecology and Evolution“ erschienen.
Die Reaktion von Wildtieren aus allen Teilen der Welt während auf die “Anthropause” der CoVid-Lockdowns zeichnete der Dokumentarfilm „Plötzlich Stille“ von Susanne Maria Krauß nach. Dr. Julie Louvrier, Wissenschaftlerin in der Leibniz-IZW-Abteilung für Ökologische Dynamik, stellte darin erste Ergebnisse der Covid-Lockdown-Studie mit den Wildtierkameras dar. Der Film ist verfügbar in der ARD-Mediathek: https://www.ardmediathek.de/video/naturfilme/ploetzlich-stille-wildtiere-in-der-…
Originalpublikation:
Drenske S, Louvrier J, Grabow M, Landgraf C, Kramer-Schadt S, Planillo A (2024): Human and predator presence shape diel activity of urban red squirrels. FRONT. ECOL. EVOL. Vol. 12 – 2024. DOI: 10.3389/fevo.2024.1455142
21.11.2024, Forschungsinstitut für Nutztierbiologie (FBN)
Neue Studie am FBN entschlüsselt Genom des Afrikanischen Raubwelses
Forscher des Instituts für Nutztierbiologie (FBN) in Dummerstorf haben in Zusammenarbeit mit internationalen Partnern das Genom des Afrikanischen Raubwelses (Clarias gariepinus) entschlüsselt.
Die Studie (Nguinkal JA et al., Sci Data 11, 2024), die kürzlich in der Fachzeitschrift Scientific Data veröffentlicht wurde, stellt einen Meilenstein für die genetische Forschung an dem Tier und die Haltung in Aquakulturen dar.
Das Erbgut des Afrikanischen Raubwelses entschlüsselt
Der Afrikanische Raubwels ist eine der wichtigen Arten in der weltweiten Fischproduktion. Aufgrund seiner schnellen Wachstumsrate und seiner Anpassungsfähigkeit an verschiedene Umweltbedingungen und seiner Resistenz gegen Krankheiten ist er in der Aquakultur weit verbreitet. Trotz seiner Bedeutung war das Genom dieser Art bisher nur teilweise entschlüs-selt. Mit Hilfe modernster Sequenziertechnologien ist es nun gelungen, das Erbgut im Detail zu entschlüsseln und vollständig zu analysieren.
In der aktuellen Studie wurde eine haplotypaufgelöste, nahezu vollständige (T2T, „Telomere-to-Telomere“) Genomassemblierung durchgeführt, welche das Genom zu 99,96% darstellt. Dies ermöglicht es, die ererbten elterlichen Chromosomen unabhängig voneinander zu be-trachten, was besonders wichtig für das Verständnis der genetischen Vielfalt ist. Das Genom des Afrikanischen Raubwelses umfasst etwa 969,62 Millionen Basenpaare und sein diploider Chromosomensatz besteht aus 56 Chromosomen.
Werkzeug für weitere Forschung
„Die Genomentschlüsselung ermöglicht uns nicht nur die Züchtung und Haltung des Afrikani-schen Raubwelses in der Aquakulturweiter zu verbessern, sondern liefert auch wertvolle Ein-blicke in die Evolutionsbiologie von Fischen, so Prof. Dr. Tom Goldammer, Leiter der Arbeits-gruppe Fischgenetik am FBN. „Mit unserer Forschung haben wir einen großen Schritt zur weiteren Erforschung dieser faszinierenden Spezies gemacht. Die Daten sind ein wertvolles Werkzeug für zukünftige Studien und werden der wissenschaftlichen Gemeinschaft weltweit zur Verfügung gestellt“, so Goldammer weiter.
Genomprojekt stärkt Welszucht in Mecklenburg-Vorpommern
Der Afrikanische Raubwels ist besonders anpassungsfähig und hat neben der Kiemenatmung auch die Fähigkeit entwickelt, Sauerstoff aus der Luft zu nutzen. Die 50 Gene, die diesen Mechanismus steuern, sind nun identifiziert, was die Evolutionsforschung weiter voranbringen kann und spannende Forschungsansätze zu dieser physiologischen Besonderheit ermöglicht. Nach dem Referenzgenom für den Zander (Nguinkal et al., Genes (Basel) 10, 2019) hat das FBN mit dem Afrikanischen Wels jetzt für eine weitere wirtschaftlich relevante Aquakultur-fischart die Grundvoraussetzung für moderne Zuchtansätze dieser Art geschaffen.
In Deutschland produziert beispielsweise die Nutrition & Food GmbH in Mecklenburg-Vorpommern jährlich rund 500 Tonnen dieser Fischart für Großküchen, Krankenhäuser, Schulen und Restaurants. Die gewonnenen Erkenntnisse werden zukünftig dazu beitragen, das Tierwohl in der Fischhaltung des Afrikanischen Welses zu verbessern und Emissionen in der Produktion zu reduzieren.
Originalpublikation:
https://www.nature.com/articles/s41597-024-03906-9
21.11.2024, Universität Zürich
«Genetische Zeitmaschine» enthüllt komplexe Kultur der Schimpansen
Schimpansen sind für ihre bemerkenswerte Intelligenz und ihren Werkzeuggebrauch bekannt. Aber könnte sich ihre Kultur im Laufe der Zeit genauso entwickelt haben wie die des Menschen? Eine neue multidisziplinäre Studie der Universität Zürich deutet darauf hin, dass einige der komplexeren Verhaltensweisen über Generationen weitergegeben und verfeinert wurden.
In den letzten Jahrzehnten hat die Forschung eindeutig gezeigt, dass Schimpansen wie wir Menschen komplexe kulturelle Errungenschaften, wie den Gebrauch von Werkzeugen, von Generation zu Generation weitergeben. Die menschliche Kultur hat sich jedoch von der Steinzeit bis zum Weltraumzeitalter durch die Integration neuer Errungenschaften erheblich weiterentwickelt. Schimpansenkulturen hingegen scheinen sich nicht in diesem Masse zu verändern, weshalb man davon ausging, dass nur Menschen die bemerkenswerte Fähigkeit besitzen, im Laufe der Zeit komplexere Kulturen aufzubauen.
Wissenschaftler:innen, die Schimpansen in freier Wildbahn studiert haben, widersprechen dieser Hypothese und vermuten, dass einige der komplexeren Technologien der Schimpansen – bei denen sie mehrere Werkzeuge nacheinander benutzen, um versteckte Nahrungsquellen zu erreichen – wahrscheinlich auf Vorwissen beruhen, das sie sich im Laufe der Zeit angeeignet haben.
Genetische Verbindungen zurückverfolgt
«Da die meisten Werkzeuge der Schimpansen, wie Stöcke und Pflanzenstängel, vergänglich sind, gibt es kaum Aufzeichnungen über ihre Geschichte, die diese Hypothese bestätigen könnten – im Gegensatz zu menschlichen Beispielen wie der Entwicklung des Rades oder der Computertechnologie», sagt die Erstautorin Cassandra Gunasekaram vom Institut für Evolutionäre Anthropologie der Universität Zürich.
Für die neue Studie hat sich ein Team aus Anthropolog:innen, Primatolog:innen, Physiker:innen und Genetiker:innen von Universitäten und Forschungseinrichtungen in Zürich, St. Andrews, Barcelona, Cambridge, Konstanz und Wien zusammengeschlossen, um genetische Verbindungen zwischen Schimpansenpopulationen über Jahrtausende hinweg zurückzuverfolgen. Dabei wurden neue Erkenntnisse der Genetik genutzt, um Schlüsselelemente der Kulturgeschichte der Schimpansen in bisher nicht gekannter Weise aufzudecken.
Frühe kumulative Kultur bei Schimpansen
Die Forschenden sammelten Informationen über Marker von genetischer Ähnlichkeit – genetische Hinweise auf Verbindungen zwischen verschiedenen Schimpansengruppen – und über eine Reihe von Verhaltensweisen bei der Nahrungssuche, die zuvor als kulturell erlernt beschrieben wurden, von insgesamt 35 Studienstandorten von Schimpansen in Afrika. Sie unterteilten diese Verhaltensweisen in solche, die keine Werkzeuge erfordern; solche, die einfache Werkzeuge erfordern, wie zum Beispiel die Verwendung eines Schwamms, der aus einem Blatt hergestellt wird, um Wasser aus einer Baumspalte zu sammeln; und die komplexesten Verhaltensweisen, die auf einer Kombination von Werkzeugen beruhen.
Weitergabe komplexer Werkzeugsätze
Gunasekeram erklärt, dass Schimpansen im Kongo zum Beispiel mit einem dicken Stock einen tiefen Tunnel durch harten Boden graben, um zu einem unterirdischen Termitennest zu gelangen. Anschliessend fertigten sie ein Werkzeug an, um die Termiten herauszufischen, indem sie einen langen Pflanzenstängel durch die Zähne zögen, um so ein bürstenartiges Ende auszufransen. Das Ende pressten sie zu einer Spitze zusammen, die sie geschickt in den Tunnel einführten, um sie schliesslich herauszuziehen und die Termiten abzuknabbern, die sich daran festgebissen hätten.
«Wir haben die überraschende Entdeckung gemacht, dass die komplexesten Technologien der Schimpansen – die Verwendung ganzer Werkzeugsätze – am engsten mit heute weit entfernten Populationen verbunden sind», sagt die Letztautorin Andrea Migliano, Professorin für Evolutionäre Anthropologie an der UZH. «Dies entspricht genau der Vorhersage, dass solche fortschrittlichen Technologien selten erfunden oder verbessert werden und daher wahrscheinlich zwischen verschiedenen Gruppen weitergegeben werden.»
Weibliche Migration bringt kulturelle Innovationen
Bei Schimpansen sind es die geschlechtsreifen Weibchen, die in neue Gemeinschaften abwandern, um Inzucht zu vermeiden. So verbreiten sich Gene zwischen benachbarten Gruppen und über Jahrhunderte und Jahrtausende auch in weiter entfernte Regionen. Die Autor:innen der neuen Studie erkannten, dass dieselben weiblichen Migrationsbewegungen auch kulturelle Erfindungen in Gemeinschaften einführen könnten, die diese noch nicht besitzen.
Die Studie zeigte auch, dass Orte, an denen sowohl komplexe Werkzeugsätze als auch die Komponenten dieser Werkzeugsätze an verschiedenen Standorten verwendet werden, in der Vergangenheit durch Migration von Weibchen miteinander verbunden waren. «Diese bahnbrechenden Entdeckungen bieten eine neue Möglichkeit zu zeigen, dass Schimpansen eine kumulative Kultur besitzen, wenn auch in einem frühen Entwicklungsstadium», fügt Migliano hinzu.
Originalpublikation:
Gunasekaram, C., Battiston, F., Sadekar, O., Padilla-Iglesias, C., van Noordwijk, M. A., Furrer, R., Manica, A., Bertranpetit, J., Whiten, A., van Schaik, C. P., Vinicius, L. & Migliano, A. B. (2024) Population connectivity explains the distribution and complexity of chimpanzee cumulative culture. Science. 21 November 2024. DOI:
https://doi.org/10.1126/science.adk3381