07.10.2024, Universität Münster
Forschungsteam entschlüsselt Gift der Schwarzen Witwe
Das für Menschen gefährliche α-Latrotoxin verursacht starke Muskelkontraktionen und Krämpfe. Ein Team der Universität Münster zeigte im Detail, wie das Molekül aufgebaut ist und wie es auf die Nervenzellen wirkt. Dazu setzte es Hochleistungs-Kryo-Elektronenmikroskopie und Molekulardynamik-Computersimulationen ein.
Die Schwarze Witwe gehört zu den gefürchteten Spinnenarten. Ihr Gift ist ein Cocktail aus sieben verschiedenen Toxinen, die das Nervensystem angreifen. Diese sogenannten Latrotoxine lähmen gezielt Insekten und Krebstiere, allerdings zielt eines von ihnen, das α-Latrotoxin, auf Wirbeltiere ab und ist auch für den Menschen giftig. Es greift in die Signalübertragung des Nervensystems ein. Sobald α-Latrotoxin an spezifische Rezeptoren der Synapsen bindet – die Kontakte zwischen Nervenzellen oder zwischen Nervenzellen und Muskeln –, strömen Kalzium-Ionen unkontrolliert in die präsynaptischen Membranen der signalübermittelnden Zellen. Dies verursacht eine dauerhafte Freisetzung von Neurotransmittern, was starke Muskelkontraktionen und Krämpfe auslöst. Trotz der scheinbaren Einfachheit dieses Vorgangs verbirgt sich dahinter ein hochkomplexer Mechanismus. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Universität Münster haben nun die Struktur des α-Latrotoxins vor und nach der Einlagerung in die Membran in nahezu atomarer Auflösung entschlüsselt.
Um den Mechanismus des Kalzium-Einstroms in die präsynaptische Membran besser zu verstehen, haben Experten des Centers für Soft Nanoscience der Universität Münster unter der Leitung von Prof. Dr. Christos Gatsogiannis (Institut für Medizinische Physik und Biophysik) und Prof. Dr. Andreas Heuer (Institut für Physikalische Chemie) zusammengearbeitet. Sie setzten Hochleistungs-Kryo-Elektronenmikroskopie (Kryo-EM) und Molekulardynamik- (MD-) Computersimulationen ein. Sie zeigten: Beim Binden an den Rezeptor durchläuft das Toxin eine bemerkenswerte Umwandlung. Ein Teil des giftigen Moleküls formt sich zu einem Stiel, der wie eine Spritze in die Zellmembran eindringt. Als eine Besonderheit bildet dieser Stiel in der Membran eine kleine Pore, die als Kalzium-Kanal fungiert. MD-Simulationen legten offen, dass Kalzium-Ionen durch einen seitlich gelegenen selektiven Eingang direkt oberhalb der Pore in die Zelle strömen können.
Dank dieser Ergebnisse lässt sich nun den Wirkmechanismus von α-Latrotoxin verstehen. „Das Toxin ahmt auf hochkomplexe Weise die Funktion natürlicher Calcium-Kanäle der präsynaptischen Membran nach“, erklärt Christos Gatsogiannis. „Es unterscheidet sich damit in jeder Hinsicht von allen bislang bekannten Toxinen.“ Die neuen Erkenntnisse eröffneten vielfältige Anwendungsmöglichkeiten: Latrotoxine hätten ein erhebliches biotechnologisches Potenzial, darunter die Entwicklung verbesserter Gegengifte, Behandlungen für Lähmungen sowie neue Biopestizide.
Die Forschungsergebnisse sind aktuell in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht. In vorangegangenen Arbeiten hatte die Forschungsgruppe um Christos Gatsogiannis bereits die Struktur von insektenspezifischen Latrotoxinen im Gift der Schwarzen Witwe vor der Einlagerung in die Membran entschlüsselt.
Die Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützte die Arbeit im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1348 „Dynamische zelluläre Grenzflächen“ finanziell.
Originalpublikation:
BU Klink, A Alavizargar, KK Subramaniam, M Chen, A Heuer, C Gatsogiannis (2024): Structural basis of α-latrotoxin transition to a cation selective pore. Nature Communications 15, 8551; DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-024-52635-5
07.10.2024, Universität Zürich
Schädlinge mit Biodiversität statt Insektiziden bekämpfen
Nicht immer braucht es Pestizide: Forschende der Universität Zürich zeigen in einer umfangreichen Feldstudie, dass die Biodiversität innerhalb einer Pflanzenart zur Schädlingsbekämpfung genutzt werden kann. Denn Arten mit verschiedenen Genotypen arbeiten zusammen, um die Angriffe von pflanzenfressenden Insekten abzuwehren.
Pflanzen interagieren mit den Individuen, die sie umgeben – genauso wie Menschen. Sind beispielsweise Personen im Umfeld anfällig für Infektionen, steigt das eigene Risiko sich anzustecken. Sind sie jedoch resistent, sinkt es. Das Gleiche gilt für Pflanzen: Wenn verschiedene genetische Typen derselben Art zusammen angepflanzt werden, sind gewisse Kombinationen resistenter gegen Schädlinge und Krankheiten. Dieser positive Effekt auf die biologische Vielfalt wird als assoziative Resistenz bezeichnet.
Nahrungssicherheit und Schutz der Artenvielfalt
Eine der Herausforderungen moderner Gesellschaften ist es, die Nahrungssicherheit mit dem Umweltschutz und der biologischen Vielfalt in Einklang zu bringen. Schädlinge und Krankheiten bedrohen die Ernten, weshalb in der Landwirtschaft chemische Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden. Pestizide können jedoch die Vielfalt der Insektenarten verringern. «Hier könnte die assoziative Resistenz als Anbaumethode, um die Nahrungsmittelproduktion zu sichern und gleichzeitig die Artenvielfalt zu erhalten, Abhilfe schaffen», sagt Kentaro Shimizu, Direktor des Instituts für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich (UZH).
Doch welche Kombinationen von Pflanzen mit unterschiedlichen Genotypen – den individuellen genetischen Ausstattungen – sollten in Mischbeständen gepflanzt werden, um Schädlinge und Krankheiten abzuwehren? Will man beispielsweise zwei aus insgesamt 199 Genotypen auswählen, gibt es 19’701 mögliche Kombinationen. UZH-Forschende haben nun mit Hilfe eines physikalischen Modells eine neue Methode entwickelt, um mögliche Interaktionen zwischen Individuen auf genetischer Ebene vorhersagen zu können.
Ausgedehnte Feldarbeit auf dem Campus Irchel
Die Forschenden führten zwei Jahre lang gross angelegte Versuche auf dem Campus Irchel der UZH sowie in Japan durch. Für die 199 weltweit gesammelten Genotypen der Pflanze Arabidopsis thaliana lagen bereits die Genomsequenzen vor. Die Forschenden mischten nach dem Zufallsprinzip mehr als 30 Individuen von jedem der 199 Genotypen und pflanzten insgesamt 6’400 Individuen an. «Um 52’707 Insekten auf 6’400 Pflanzen zu zählen, verbrachte der leitende Forscher Yasuhiro Sato die Sommermonate im Forschungsgarten auf dem Irchel. Sein immenser Datensatz, der dank des Forschungsgartens der Universität auf dem Campus Irchel gesammelt werden konnte, war der Schlüssel zu dieser Studie», sagt UZH-Professor Shimizu.
Bisher gab es keine Analysemethoden, um die Wechselwirkungen auf Stufe des Genoms – der gesamten Erbinformation – zwischen benachbarten Pflanzenindividuen zu untersuchen. Das Team um Dr. Sato entwickelte deshalb ein neues Computerverfahren: eine genomweite Assoziationsstudie namens «Neighbor GWAS». Diese basiert auf einem Modell der Physik, das zur Analyse von Wechselwirkungen zwischen Magneten verwendet wird. Das Team analysierte damit, wie der Schädlingsbefall durch die Kombination von nebeneinanderstehenden Individuen mit unterschiedlichem Genotyp beeinflusst wird. Parallel dazu berücksichtigten die Forschenden die Ergebnisse der Feldversuche.
Schädlingsreduktion von bis zu 25 Prozent
Die Analyse zeigte, dass zahlreiche Gene an den Interaktionen mit den umliegenden Individuen beteiligt sind. Mithilfe maschinellen Lernens konnten die Pflanzenwissenschaftler mit dem Modell die Schäden von Pflanzenfressern voraussagen und vorteilhafte Kombinationen von Genotyp-Paaren identifizieren, die über eine assoziierte Resistenz verfügen.
Während zwei Jahren wurde ein weiterer gross angelegter Feldversuch durchgeführt und rund 2’000 Pflanzenindividuen paarweise mit jenen Genotypen angepflanzt, für die drei Stufen der assoziativen Resistenz vorhergesagt wurden. Die Resultate aus dem Feldversuch zeigten, dass – im Vergleich zur Anpflanzung eines einzelnen Genotyps – die Mischung von zwei Genotypen die Schäden durch Pflanzenfresser bei der höchsten bzw. zweithöchsten Stufe assoziativer Resistenz um 24,8 Prozent bzw. 22,7 Prozent verringerte.
Künftige Entwicklungen
«Diese Studie ist ein Meilenstein in der Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Pflanzenindividuen. Sie zeigt, wie wichtig Biodiversität ist: Erstens kann die genetische Vielfalt der Kulturpflanzen selbst den Schädlingsbefall reduzieren. Zweitens tragen weniger Pestizide in der Landwirtschaft dazu bei, die biologische Vielfalt einschliesslich der Insekten zu erhalten», fasst Kentaro Shimizu zusammen.
Metastudien, bei denen Bernhard Schmid beteiligt war*, zeigen, dass etwa bei Weizen und Reis zwischen 4 bis 16 Prozent höhere Erträge erzielt werden, wenn Genotypen zufällig gemischt werden. Gemäss Shimizu könnte die neue Methode dank der Genominformationen, die bei diesen Kulturarten verfügbar sind, durch Vorhersagen von assoziierten Resistenzen die Auswahl von Genotypmischungen optimieren und somit die Erträge dieser landwirtschaftlich wichtigen Pflanzenarten sogar noch weiter erhöhen, unter gleichzeitiger Reduktion des Pestizideinsatzes.
Das Projekt wurde vom Universitären Forschungsschwerpunkt «Globaler Wandel und Biodiversität» der UZH, dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und der Japan Science and Technology Agency in Zusammenarbeit mit der Ryukoku University, der Hokkaido University, der Keio University und der Yokohama City University in Japan unterstützt.
*https://doi.org/10.1007/s13593-024-00964-6
Originalpublikation:
Yasuhiro Sato, Rie Shimizu-Inatsugi, Kazuya Takeda, Bernhard Schmid, Atsushi J. Nagano, Kentaro K. Shimizu.
Reducing herbivory in mixed planting by genomic prediction of neighbor effects in the field. XX September 2024. Nature Communications. doi: https://doi.org/10.1038/s41467-024-52374-7
08.10.2024, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Elefanten erinnern sich nach vielen Jahren an Tierpfleger
Studie der Uni Kiel zum sozialen Langzeitgedächtnis der Rüsseltiere
– Afrikanische Elefanten, die vor 13 Jahren von ihrem Tierpfleger getrennt wurden, erkennen nach dieser langen Zeit offenbar noch immer dessen Geruch
– Die Studie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) ist die erste, die untersucht, ob Elefanten sich nach langer Zeit an Individuen einer anderen Art erinnern können
– Im Experiment konnten lediglich zwei Tiere getestet werden; die Ergebnisse sind daher vorläufig
Ein Elefant vergisst nie, weiß der Volksmund. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Rüsseltiere sich noch nach Jahrzehnten an Wasserstellen erinnern, die sie einmal besucht haben. Auch Artgenossen, denen sie lange nicht begegnet sind, erkennen sie oft wieder. Doch erstreckt sich ihr exzellentes soziales Langzeitgedächtnis auch auf Vertreterinnen und Vertreter anderer Spezies?
„Es gibt spannende Geschichten von asiatischen Elefanten, die dies vermuten lassen“, sagt Martin Kränzlin. Er hat die Studie im Rahmen seiner Bachelorarbeit unter Betreuung von Prof. Dr. Christine Böhmer (Arbeitsgruppe: Zoologie und Funktionsmorphologie der Vertebraten) am Zoologischen Institut der CAU durchgeführt. „So soll es schon vorgekommen sein, dass die Tiere einen ehemaligen Besitzer, den sie nicht mochten, bei einem Wiedersehen viele Jahre später mit Steinen beworfen haben. Das sind aber nur anekdotische Berichte; wissenschaftlich untersucht wurde diese Frage bislang noch nicht.“
Vor 13 Jahren von Berlin nach Niedersachsen umgezogen
Die in der Zeitschrift Zoobiology publizierten Ergebnisse liefern nun erste fundierte Hinweise darauf, dass Elefanten zumindest den Geruch ihrer Pflegerinnen und Pfleger noch nach langer Zeit erkennen können. Durchgeführt wurde die Studie in Kooperation mit dem Serengeti-Park im niedersächsischen Hodenhagen. Dort leben zwei Elefantenkühe, die vor 13 Jahren aus dem Berliner Zoo nach Hodenhagen umgezogen sind – Bibi und Panya.
„Wir haben zu den ehemaligen Berliner Pflegern Kontakt aufgenommen, insgesamt drei Männern“, sagt Kränzlin, der inzwischen am Zoologisch-Botanischen Garten in Stuttgart arbeitet. „Für unser Experiment haben sie acht Stunden lang ein T-Shirt getragen, das wir dann später als Geruchsreiz verwandten. Außerdem zeichneten wir einen kurzen gesprochenen Satz von ihnen auf und fertigten Portraitfotos von ihnen an.“
Im eigentlichen Experiment bauten die Forschenden außerhalb des Geheges nebeneinander zwei Gestelle auf. Auf dem einen präsentierten sie einen Reiz von einem ehemaligen Pfleger – beispielsweise das getragene T-Shirt oder einen lebensgroßen Abzug des Portraitfotos. Auf dem anderen brachten sie dagegen den entsprechenden Reiz einer Person an, die den Elefanten unbekannt war.
Tiere interessierten sich mehr für Gerüche ehemaliger Pfleger
Die Tiere konnten beide Gestelle von ihrem Gehege aus sehen, aber nicht mit ihren Rüsseln erreichen. Dennoch versuchten sie das regelmäßig, um die präsentierten Stimuli genauer zu untersuchen. „Wir haben das Verhalten des jeweils getesteten Elefanten gefilmt“, sagt Kränzlin. „Anhand der Videos haben wir dann ausgewertet, wie oft und wie lange das Tier seinen Rüssel zu den Gestellen ausstreckte.“ Die Hypothese dahinter: Wenn dem getesteten Dickhäuter der präsentierte Reiz bekannt vorkommt, sollte das ein höheres Interesse in ihm wachrufen. Bibi und Panya sollten also solche Stimuli häufiger und länger zu erreichen versuchen.
Tatsächlich taten sie das auch – allerdings nur, wenn es sich bei dem präsentierten Reiz um ein T-Shirt handelte. Bei den Portraitfotos und den gesprochenen Sätzen gab es hingegen keine statistisch signifikanten Unterschiede. Völlig überraschend ist das nicht – die Rüsseltiere haben eine exzellente Nase, sehen aber relativ unscharf. „Unsere Ergebnisse sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich Elefanten noch nach Jahrzehnten zumindest an den Geruch ihrer damaligen Pfleger erinnern können“, sagt Prof. Dr. Christine Böhmer von der CAU, die die Studie geleitet hat. „Dennoch sind weitere Studien mit einer größeren Anzahl von Individuen nötig, um die Ergebnisse abzusichern.“
Die Resultate sind auch für die Zoohaltung von Elefanten interessant. Denn wenn die Dickhäuter sich tatsächlich so lange an ihre Pfleger erinnern, dann spricht das dafür, dass diese für die Tiere ziemlich wichtig sind. Eine stabile Beziehung zu ihren menschlichen Betreuerinnen und Betreuern kann sich daher womöglich sehr positiv auf das Wohlbefinden von Zoo-Elefanten auswirken.
Originalpublikation:
Martin Kränzlin, Idu Azogu-Sepe, Emmanuelle Pouydebat, Christine Böhmer. Do African Savanna Elephants (Loxodonta africana) Show Interspecific Social Long-Term Memory for Their Zoo Keepers? Zoobiology 2024; DOI: 10.1002/zoo.21871
https://doi.org/10.1002/zoo.21871
07.10.2024, Universität Wien
Makaken gebären leichter als Frauen: keine Müttersterblichkeit bei Geburten
Trotz gleichem Becken-Kopf-Verhältnis gibt es bei Japanmakaken keine Geburtskomplikationen wie beim Menschen
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Universität Wien und der Medizinischen Universität Wien konnte anhand demografischer Langzeitdaten von Japanmakaken – einer Affenart innerhalb der Familie der Meerkatzenverwandten – zeigen, dass es bei diesen Primaten im Gegensatz zum Menschen keine geburtsbedingte Müttersterblichkeit gibt. Die Ergebnisse der Studie wurden aktuell in der renommierten Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht.
Die evolutionäre Entwicklung des Gehirns und die damit verbundene Kopfgröße des Fötus sind entscheidende Faktoren für die Müttersterblichkeit von Primaten im Rahmen der Geburt. Für Frauen kann der im Verhältnis zum mütterlichen Geburtskanal große Kopf des Babys schwerwiegende Konsequenzen zur Folge haben, und in Ländern mit schlechter medizinischer Versorgung sterben aus diesem Grund bis zu 1,5% der Mütter bei der Geburt. Makaken weisen ein ähnliches Becken-Kopf-Verhältnis auf wie der Mensch. Daher würde man vermuten, dass bei ihnen auch ähnlich Geburtskomplikationen und dadurch bedingte Müttersterblichkeiten auftreten.
Ob das tatsächlich so ist, untersuchten nun Biolog*innen und Hebammen der Universität Wien, der Medizinischen Universität Wien, dem Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung (Klosterneuburg) und der Kyoto Universität (Japan). Als Grundlage ihrer Forschung dienten dabei Langzeitdaten von Geburts- und Sterbeereignissen aus mehreren Jahrzehnten einer semi-freilebenden Japanmakakenpopulation am Affenberg in Landskron, Kärnten, Österreich. Die semi-freien und naturnahen Haltungsbedingungen am Affenberg bieten Wissenschafter*innen optimale Bedingungen, um das Verhalten und die Reproduktion der Japanmakaken zu studieren. Seit 2019 ist der Affenberg auch Außenstelle der Universität Wien (Department für Verhaltens- und Kognitionsbiologie), und im Studienzeitraum von 27 Jahren wurden dort 281 Jungtiere von 112 Weibchen geboren.
Keine Müttersterblichkeit bei Makaken
„Wir konnten für diese Population zeigen, dass kein einziges Weibchen innerhalb der letzten 27 Jahre im Zusammenhang mit der Geburt ihres Jungtieres gestorben ist“, sagt Hebamme und evolutionäre Anthropologin Katharina Pink von der Klinischen Abteilung für Geburtshilfe und feto-maternale Medizin der Medizinischen Universität Wien und Co-Erstautorin der Studie. Dieses Ergebnis zeigt, dass Japanmakaken trotz eines ähnlich engen Becken-Schädel-Verhältnisses wie Menschen keine mit der Geburt in Zusammenhang stehende Müttersterblichkeit aufweisen.
Warum die Geburt bei Makaken im Vergleich zum Menschen weniger riskant zu sein scheint, bleibt allerdings weiterhin eine offene Frage. Das Forschungsteam liefert jedoch mögliche Erklärungen für dieses überraschende Ergebnis: „Wir vermuten, dass der Beckengürtel und die Beckenbodenmuskulatur bei Makaken im Vergleich zu Frauen während der Geburt eine größere Flexibilität aufweisen und dass die Geburtsdynamik aufgrund der unterschiedlichen Beckenmorphologie weniger stark eingeschränkt ist“, so Barbara Fischer, ebenfalls Co-Erstautorin und Wissenschafterin am Department für Evolutionsbiologie der Universität Wien sowie am Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung.
Intuitives Gebären und Bewegungsfreiheit
Wissenschaftliche Beschreibungen von Geburten freilebender, nichtmenschlicher Primaten gibt es nur wenige, da die meisten dieser Geburten während der Nacht bzw. in den frühen Morgenstunden stattfinden und daher nur schwer zu beobachten sind. Diese beschriebenen Geburten zeigen jedoch, dass nichtmenschliche Primaten intuitiv vor allem stehende oder hockende Geburtspositionen wählen und damit vermutlich die Flexibilität des Beckens ideal ausnutzen. „Diese Beobachtungen könnten künftige Studien inspirieren, um besser zu verstehen, wie die Bewegungsfreiheit bei einer physiologischen Geburt zu einer individuelleren und weniger invasiven Betreuung der Mütter führen kann,“ so Hebamme Katharina Pink.
Originalpublikation:
Pink, K.E., Fischer, B., Huffmann, M.A, Miyabe-Nishiwaki, T., Hashimoto, N.Kaneko, A., Wallner, B. & Pflüger, L.S. (2024). No birth-associated maternal mortality in Japanese macaques (Macaca fuscata) despite giving birth to large-headed neonates. PNAS (2024)
DOI: 10.1073/pnas.2316189121
09.10.2024, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Lichtverschmutzung stört Nachtfalter auch im Dunkeln
Die Lichtverschmutzung hat größere Ausmaße als gedacht: Nachtfalter verlieren nicht nur direkt unter Straßenlampen die Orientierung. Ihr Flugverhalten ist auch außerhalb der Lichtkegel gestört.
Die zunehmende Nutzung von künstlichem Licht in der Nacht gehört zu den dramatischsten menschengemachten Veränderungen auf der Erde. Straßenlampen und beleuchtete Gebäude verändern die Umwelt für nachtaktive Tiere maßgeblich.
Die Wissenschaft hat die Lichtverschmutzung als eine der Ursachen für den starken Insektenschwund der vergangenen Jahre ausgemacht: Viele nachtaktive Insekten fliegen zu den künstlichen Lichtquellen und umkreisen sie unaufhörlich. Sie werden dort zur leichten Beute für Fledermäuse und andere Räuber oder fallen irgendwann erschöpft zu Boden und sterben.
Eine Gruppe nachtaktiver Insekten, bei denen ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen ist, sind Nachtfalter. Ihr Verschwinden ist auch darum problematisch, weil sie eine Schlüsselrolle in Nahrungsnetzen und bei der Bestäubung von Pflanzen spielen.
Ergebnisse im Journal PNAS publiziert
Eine neue Studie zeigt jetzt, dass sich das Verhalten von Nachtfaltern nicht nur im Lichtkegel von Straßenlampen verändert, sondern auch außerhalb des beleuchteten Bereichs. Durchgeführt wurden die Experimente von einer Gruppe der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg in Kooperation mit Forschenden aus Berlin und Providence (USA). Die Ergebnisse sind im Fachjournal PNAS veröffentlicht.
„Wir stellten mittels Radarverfolgung fest, dass die Orientierung von Nachtfaltern auch außerhalb der Lichtkegel gestört ist: Die Flugbahnen der untersuchten drei Schwärmerarten und einer Gluckenart, für die wir sogar eine Barrierewirkung durch Straßenlampen nachweisen konnten, verliefen dort signifikant kurviger als normal“, sagt Dr. Jacqueline Degen, Leiterin einer Nachwuchsgruppe am Biozentrum der JMU.
„Überraschenderweise mussten wir unsere grundlegende Annahme, dass die meisten Individuen zu einer der Straßenlaternen fliegen würden, verwerfen“, erklärt die Würzburger Forscherin. Dies habe nur auf vier Prozent der untersuchten Individuen zugetroffen: „Dies legt nahe, dass die Auswirkungen der Lichtverschmutzung nicht nur auf die direkte Anziehung an Lichtquellen beschränkt sind, sondern deutlich weitreichender und komplexer sind als bisher vermutet.“
Flugverfolgung mit einem Radarsystem bei Marburg
Die Experimente fanden an einer Radaranlage in Großseelheim bei Marburg statt. Das harmonische Radar ist bislang das einzige Radarsystem, mit dem die Verfolgung kleiner Insekten über mehrere hundert Meter möglich ist. Die Forschungsgruppe beobachtete das Flugverhalten von insgesamt 95 Nachtfaltern bis zu einem Kilometer Entfernung zur Auflassstelle, die von insgesamt sechs Straßenlaternen in einem Abstand von 85 Metern umringt war.
Um die Insekten per Radar erfassen zu können, musste jedem einzelnen Nachtfalter ein Transponder aufgeklebt werden. Diese kleine Antenne ist 10,5 Milligramm leicht und zwölf Millimeter lang. Sie verändert das Flugverhalten der Nachtfalter in keiner Weise – das hatten die Forschenden zuvor in aufwändigen Kontrollexperimenten geklärt.
Wechselwirkung mit dem Mond
Was bei den Versuchen auch herauskam: Es gibt eine Wechselwirkung zwischen der Desorientierung der Nachtfalter durch künstliches Licht und dem Mond. Diese hängt davon ab, ob der Mond über oder unter dem Horizont steht. „Genau verstehen wir diese Wechselwirkung noch nicht“, sagt Jacqueline Degen. Doch im Lauf der weiteren Forschungen dürfte sich das ändern.
Originalpublikation:
Shedding light with harmonic radar: Unveiling the hidden impacts of streetlights on moth flight behavior. Jacqueline Degen, Mona Storms, Chengfa Benjamin Lee, Andreas Jechow, Anna Lisa Stöckl, Franz Hölker, Aryan Jakhar, Thomas Walter, Stefan Walter, Oliver Mitesser, Thomas Hovestadt, Tobias Degen. PNAS, 8. Oktober 2024, DOI 10.1073/pnas.2401215121
10.10.2024, Universität Duisburg-Essen
Automatisierte Analyse der deutschen Insektenvielfalt – DNA liefert fast 32.000 Arten
Der Insektenschwund ist kein rein ökologisches, sondern auch ein ökonomisches Problem. Doch verschwinden ganze Arten komplett? Oder gbt es in jeder Art weniger Tiere? Antworten gibt der automatisierte Laborworkflow, den Biolog:innen der UDE federführend entwickelt haben.
Wie schützt man, was man nicht kennt? Vor dieser unlösbaren Aufgabe stand die globale Gesellschaft im Hinblick auf den weltweiten Insektenschwund bisher. Biolog:innen der Universität Duisburg-Essen und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung haben nun erstmals einen kostengünstigen Workflow mit Laborrobotern entwickelt, mit dem sie fast 2.000 Proben aus Malaisefallen* nahezu in Echtzeit parallel analysieren können. Die genetischen Informationen verraten, welche der vielen Tausend Spezies wo vorkommen und geben so Schutzmaßnahmen eine Basis. Molecular Ecology Resources berichtet.
Einen Rückgang der Insekten um 75 Prozent vermeldete die „Krefelder Studie“ vor sieben Jahren, dringend benötigte gemeinsame Ziele zur Erhaltung der biologischen Vielfalt wurden unter anderem 2022 im Globalen Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal festgehalten. Doch verschwinden einzelne Arten komplett, oder wird die Anzahl der Insekten speziesunabhängig geringer? Ohne entsprechende Antworten bleiben Schutzmaßnahmen bestenfalls vage.
Ändern kann dies der Laborworkflow zur Erfassung der Artenvielfalt, entwickelt von einem Team um Dr. Dominik Buchner aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Florian Leese an der Universität Duisburg-Essen (UDE) gemeinsam mit der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Peter Haase (UDE und Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung): Grundlage ist das deutschlandweite Langzeit-Insektenmonitoring, das seit 2019 vom deutschen Netzwerk für ökosystemare Langzeitforschung, kurz LTER-D, in Zusammenarbeit mit den Nationalen Naturlandschaften (NNL) betrieben wird. In den ersten beiden Jahren haben rund 100 Mitarbeitende von der Hilfskraft bis zu Professor:innen rund 2.000 Insektenproben genommen, aufbereitet und an die UDE geschickt. Dazu waren mehr als 75 Malaisefallen über Deutschland verteilt – von Borkum an der Küste bis Berchtesgaden in den bayrischen Alpen.
In seinen Laboren an der UDE hat das Team einen Arbeitsablauf etabliert, der Laborroboter nutzt, um die Proben mit mehreren Millionen Insekten anhand des genetischen Fingerabdrucks auszuwerten. Mithilfe dieses DNA-Barcodings konnten die Forschenden 31.846 Arten für Deutschland identifizieren und geographisch zuordnen. „Bisher sind für Deutschland nur etwas mehr als 33.000 Arten beschrieben. Unsere Stichproben zeigen, dass es zahlreiche Arten gibt, die noch unbeschrieben sind oder von uns jetzt erstmals in Deutschland nachgewiesen wurden“, erklärt Buchner. Haase ergänzt: „Das deutschlandweite Insektenmonitoring von LTER-D und NNL hat somit bereits in seinen ersten beiden Jahren gezeigt, wie wichtig dieser neue Ansatz ist.“
Die größte Herausforderung für Leeses Arbeitsgruppe an der UDE war es, den logistischen und bioinformatischen Ablauf so zu strukturieren, dass sie einen einzigen Workflow ergeben, der schnell, günstig und nicht zu aufwendig ist und gleichzeitig zuverlässige Daten liefert. So kostet die Analyse einer Probe mit tausenden von Insekten nur rund 50 Euro inklusive Personalkosten.
„Der Rückgang der Artenvielfalt ist auch wirtschaftlich ein Desaster“, so Leese. „Leider wissen wir bislang nur für einen Bruchteil der Arten, wo sie vorkommen und wie sich die Verbreitungsgebiete und Bestände entwickeln.“ Mit dem in der Studie präsentierten Workflow gelang es dem Team, genau diese Daten für ein ganzes Land zusammenzutragen.
* In den zeltartigen Malaisefallen werden vor allem Fluginsekten gefangen, gelangen durch ihr natürliches Verhalten am oberen Teil der Falle in ein Gefäß mit Alkohol und werden dort konserviert.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1111/1755-0998.14023
10.10.2024, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Tanz, Gibbon, tanz!
Weibliche Schopfgibbons zeigen abgehackte, fast geometrische wirkende Bewegungsmuster. Forschende der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU), aus Oslo in Norwegen und Paris haben diese auffälligen, mit Tänzen vergleichbare Bewegungen studiert. In der Fachzeitschrift Primates beschreiben sie die Struktur der Tänze, deren Rhythmik und die Zusammenhänge, in denen die Tänze gezeigt werden.
Vielleicht haben Zoobesucher es ja schon einmal gesehen: Weibliche Schopfgibbons vollführen auffällige Abfolgen von zuckenden Bewegungen mit Rumpf, Armen und Beinen. Dies ist in Zoos zu beobachten, aber auch im Freiland. Das Video https://osf.io/x7z8c zeigt eindrücklich Tänze von Schopfgibbonweibchen.
Schopfgibbons gehören zur Familie der kleinen Menschenaffen. Das spezielle Verhalten wurde bisher kaum wissenschaftlich untersucht. Dr. Kai R. Caspar vom Institut für Zellbiologie der HHU, Dr. Camille Coye vom Institut Jean Nicod in Paris und Prof. Dr. Pritty Patel-Grosz von der Universität Oslo in Norwegen haben nun dieses bemerkenswerte Verhalten der Affen näher analysiert und stellen ihre Ergebnisse in der Zeitschrift Primates vor. Es ging ihnen dabei um die Bewegungsabfolge, die Rhythmik und die Intentionalität – also die Umstände, unter denen die Affen die Tänze aufführen.
Dr. Coye, Erstautorin der Studie: „Unsere Untersuchungen an Videomaterial aus verschiedenen Zoos und Auffangstationen belegt, dass alle Schopfgibbonarten diese Tänze zeigen. Sie stellen eine häufige und absichtsvolle Form der visuellen Kommunikation dar.“ Deren Bedeutung ist auch daraus zu ersehen, dass die Affen während eines Tanzes häufig prüfen, ob der Empfänger der Darbietung sie auch aufmerksam verfolgt.
Prof. Patel-Grosz: „Nur geschlechtsreife Weibchen tanzen. Tänze dienen innerartlich offenbar in erster Linie als Aufforderung zur Kopulation, kommen darüber hinaus aber in einer Vielzahl von Situationen im Zusammenhang mit nicht-sexueller Erregung oder Frustration vor und werden in der Zoohaltung auch häufig an Menschen gerichtet.“
Die Forschenden erkannten weiterhin, dass die Tanzbewegungen strukturiert sind. Dr. Caspar: „Häufig sind sie in Gruppen von Auf-Ab- oder aber Links-Rechts-Bewegungen organisiert und sie folgen einerm klaren Rhythmus. Je nach Individuum können die Bewegungsabfolgen unterschiedlich komplex sein.“
Die Forschenden sehen zwar Ähnlichkeiten zwischen Schopfgibbon- und menschlichen Tänzen, gehen aber davon aus, dass sich beide unabhängig voneinander entwickelt haben. Dafür spricht unter anderem, dass andere Menschenaffen kein solches Verhalten zeigen. Auch sind die Gibbontänze vermutlich angeboren, während menschlicher Tanz in erster Linie kulturell geprägt ist. Menschlicher Tanz ist zudem häufig an Musik oder Gesang gebunden, während Gibbons ihre Tänze nie so begleiten.
„Das Tanzverhalten fiel rein zufällig auf, wird aber inzwischen aus den verschiedensten Zoos berichtet“, erläutert Dr. Caspar. Unter anderem sind tanzende Schopfgibbons in den Zoos in Duisburg und im Burger‘s Zoo in Arnheim in den Niederlanden zu sehen.
Originalpublikation:
Camille Coye, Kai R. Caspar, Pritty Patel-Grosz. Dance displays in gibbons: Biological and linguistic perspectives on structured, intentional, and rhythmic body movement. Primates (2024).
DOI: 10.1007/s10329-024-01154-4
10.10.2024, Deutsche Wildtier Stiftung
Novellierung des Tierschutzgesetzes zu Mährobotern reicht nicht aus
Igelschützer lassen den Mähroboter in der Nacht stehen
„Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ So steht es in §1 im deutschen Tierschutzgesetz. Nun liegt dem Bundestag der Entwurf für eine Gesetzesnovellierung vor, durch die nachtaktive Wirbeltiere vor Verletzungen und Tod durch Mähroboter besser geschützt werden sollen. Allerdings: Der Entwurf weicht den Grundsatz im Tierschutzgesetz eher auf anstatt ihn zu unterstützen.
Denn laut Gesetzesvorlage bliebe das automatisierte Stutzen des Rasens bei Einbruch der Dämmerung und in der Nacht grundsätzlich erlaubt. Einzige Bedingung: Es müssten Maßnahmen getroffen werden, um nachtaktiven Tieren dabei keine „erheblichen“ Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen (den genauen Wortlaut lesen Sie hier: https://dserver.bundestag.de/btd/20/127/2012719.pdf).
Aber wie soll das gehen? Mähroboter arbeiten autonom und mähen mitunter bis unter die Gartenhecken. Gerade hier befinden sich die Verstecke von kleinen Wildtieren wie dem Tier des Jahres 2024, dem Igel. Noch sind keine technischen Geräte auf dem Markt, die garantiert vor jedem Lebewesen rechtzeitig stoppen. „Schon kleine Hautverletzungen enden bei Igeln häufig tödlich – die Wunde entzündet sich und der Igel stirbt so erst viel später an diesen Folgen“, sagt Dr. Anne Berger, die am Institut für Zoo- und Wildtierforschung zu Igeln forscht. Erst Anfang 2024 ist ihre Studie zu Schnittverletzungen von Igeln durch Mähroboter erschienen: Fast die Hälfte aller in Wildtier-Auffangstationen gebrachten Igel starben an den Folgen ihrer Verletzungen. Auch vermeintlich harmlose Schnittwunden können beim Igel zu erheblichen Schäden und letztendlich sogar zum Tod führen
Die Dunkelziffer der verendeten Tiere in Gebüschen dürfte hoch sein. Die Zahl der Un- und Todesfälle bei Igeln stieg in den letzten Jahren rasant an – parallel zum Anstieg der Verkaufszahlen von Mährobotern. „Darum ist eine strenge Regulierung des Einsatzes von Mährobotern während der Dämmerung und der Nacht aus Tierschutz-, aber auch aus Artenschutzsicht dringend erforderlich“, sagt Dr. Sophie Lokatis, Artenschützerin der Deutschen Wildtier Stiftung. „Wir fordern, den nächtlichen Einsatz von Mährobotern in Gärten grundsätzlich zu untersagen, solange es keine zufriedenstellende technische Lösung gibt, um Verletzungen bei Igeln und anderen Wildtieren zu verhindern“, so Lokatis.
Ausgeräumte Landschaften, Insektenschwund, erhöhter Straßenverkehr, Pestizide, Unfälle durch Gartengeräte: Der Igel wird derzeit auf der Roten Liste der Säugetiere Deutschlands in der Kategorie „Vorwarnliste“ geführt. Manche Städte und Gemeinden haben daher bereits ein Nachtfahrverbot für Mähroboter umgesetzt. Köln ist die erste deutsche Großstadt, die seit dem 1. Oktober keine Mähroboter in der Nacht mehr fahren lässt, gleiches gilt für die Gemeinden Borkheide und Nuthetal in Brandenburg. Der Bundestag hat den Novellierungsentwurf zum Tierschutzgesetz mittlerweile an den federführenden Landwirtschaftsausschuss verwiesen. Mit einem echten Nacht- und Dämmerungsfahrverbot für Mähroboter haben die Abgeordneten nun die Chance, für mehr Tier- und Artenschutz in unseren Gärten zu sorgen.
11.10.2024, Max-Planck-Institut für Chemie
Massive Korallenbleiche in Kaltwasserkorallenriffen im tropischen Ostpazifik
Die Ökosysteme von Tiefseekorallen im östlichen Pazifik sind wahrscheinlich zweifach bedroht: Warmes Wasser von oben und extrem kaltes Wasser von unten führt zu massiven Korallenbleichen und vermehrtem Absterben.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie (MPIC) in Mainz berichten über eine unerwartete Korallenbleiche und ein in der Folge massives Korallensterben in den tiefen Riffen des Clipperton-Atolls – einer abgelegenen Koralleninsel im tropischen Ostpazifik. Demnach bleichen die Korallen, da extrem kaltes Wasser aus tieferen Meereszonen in flacheres Gewässer eindringt. Die Forschenden bringen dies mit Veränderungen der Windstärke der Ostwinde im Pazifik in Verbindung. Schwankende Windstärken könnten auch in der Vergangenheit beobachtete Korallenbleichen in Flachwasserregionen im tropischen Ostpazifik erklären. Die Studie, die kürzlich in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Science of the Total Environment“ veröffentlicht wurde, verdeutlicht, dass Korallenbleichen, verursacht durch Kaltwassereinströmungen, zukünftig eine große Bedrohung für die Ökosysteme von Tiefseeriffen darstellen könnten. Bei einer Bleiche stoßen Steinkorallen ihre in Symbiose lebende Einzeller ab und können anschließend absterben.
Beunruhigende Überraschung im entlegenen Pazifikatoll
Alan Foreman und Nicolas (Nic) Duprey, zwei Postdoktoranden aus der Gruppe von Alfredo Martínez-García am Max-Planck-Institut für Chemie, segelten Anfang 2023 an Bord der S/Y Acadia im Rahmen einer wissenschaftlichen Expedition in den Ostpazifik. In Zusammenarbeit mit der Rohr Foundation entnahmen sie dort Korallenbohrkerne und Wasserproben. Die beiden Paläoklimatologen nutzen diese Proben, um die Größenveränderungen der sauerstoffarmen Zonen im östlichen Pazifik im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren. „Das Clipperton-Atoll ist ein sehr abgelegener Ort. Es liegt 800 Seemeilen südlich von Mexiko und 1.000 Seemeilen westlich von Costa Rica“, erklärt Nicolas Duprey.
Bei den ersten Tauchgängen entdeckten sie jedoch etwas Unerwartetes: „Während wir Proben unter Wasser sammelten, fiel uns zufällig eine Korallenbleiche an den tiefen Riffen in der mesophotischen Zone auf“, erinnert sich Alan Foreman. Die mesophotische Zone liegt in etwa 30 Metern Tiefe, wohin nur noch wenig Licht dringt. „Aufgrund der umgebenden Wassertemperatur vermuteten wir, dass höchstwahrscheinlich kaltes Wasser die Ursache für die Bleiche ist,“ fügt Nic hinzu. Dieser Zusammenhang ist mehr als überraschend, da das Clipperton-Atoll eigentlich in einem Gebiet des Pazifiks liegt, das für sein warmes Wasser bekannt ist. Den größten Teil des Jahres herrscht hier eine durchschnittliche Oberflächenwassertemperatur von 28 °Celsius.
Dokumentation einer massiven Korallenbleiche 30 Meter unter Wasser
Mit Unterstützung von Mark Rohr, Rose Dodwell und Guy Dodwell von der Rohr Foundation dokumentierten und quantifizierten die beiden Paläoklimatologen Foreman und Duprey die großflächige Korallenbleiche. Danach sind rund 70 Prozent der Tiefseekorallen am Clipperton-Atoll ausgebleicht und abgestorben.
Zudem fotografierten sie die gebleichten Korallen in hoher Auflösung und erstellten mithilfe von Matan Yuval von der Universität Haifa ein Fotomosaik zur weiteren Analyse. Der Vergleich der Bilder mit Temperaturmessungen der oberen 300 Meter der Wassersäule belegte, dass die Korallen des Tiefseeriffs tatsächlich aufgrund eines Kälteschocks ausbleichten und abstarben.
Im nächsten Schritt erstellte das Wissenschaftsteam mithilfe von Marielle Dumestre (MPIC) eine Übersicht über alle vergangenen Kalt- und Warmwasser-Bleichereignisse der Flachwasserriffe in der Region. „Alle Ereignisse, bei denen ungewöhnlich kaltes Wasser in die obere Wassersäule eingedrungen ist, fielen zeitlich zusammen mit Veränderungen der Ostwindstärke“, erläutert Alan Foreman. „Das lässt vermuten, dass jede Verstärkung der Ostwinde im Pazifik eine signifikante Bedrohung für mesophotische Korallensysteme darstellt.“
Mesophotische Korallenriffe werden zunehmend von oben und unten bedroht
Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass große La-Niña-Ereignisse, die mit starken Ostwinden einhergehen, in naher Zukunft sowohl stärker als auch häufiger auftreten werden. Zudem prognostizieren Modellrechnungen, dass extreme La-Niña-Ereignisse häufiger auf extreme El-Niño-Ereignisse folgen werden. Foreman und Duprey befürchten, dass die Kaltwasserbleiche die tiefen Korallenriffe dauerhaft schädigen könnte, was deren Gesundheit und Funktionalität beeinträchtigt.
„Unsere Beobachtungen und Berichte über die Warmwasserbleiche von Korallenökosystemen im Roten Meer und im Indischen Ozean zeigen, dass mesophotische Korallenriffe im Ostpazifik wohl vor einer doppelten Herausforderung stehen: Warmwasserbleiche von oben und Kaltwasserbleiche von unten“, fasst Alan Foreman zusammen.
Originalpublikation:
Severe cold-water bleaching of a deep-water reef underscores future challenges for Mesophotic Coral Ecosystems, Alan D. Foreman, Nicolas N. Duprey, Matan Yuval, Marielle Dumestre, Jennifer N. Leichliter, Mark C. Rohr, Rose C.A. Dodwell, Guy A.S. Dodwell, Eric E.G. Clua, Tali Treibitz, Alfredo Martínez-García
DOI: https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2024.175210