16.09.2024, Eberhard Karls Universität Tübingen
Die Evolution des Großen Pandas begann als Allesfresser
Team des Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen untersucht Ernährung der Raubtiere aus der Menschenaffen-Fundstelle Hammerschmiede
Die einzige Bärenart aus der etwa 11,5 Millionen Jahre alten Fundstelle Hammerschmiede im Allgäu war ein Verwandter des Großen Pandas, seine Ernährung ähnelte jedoch eher der pflanzlich-tierischen Mischkost heutiger Braunbären. Das hat ein internationales Forschungsteam aus Hamburg, Frankfurt, Madrid und Valencia unter der Leitung von Professorin Madelaine Böhme vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen bei der Untersuchung der Ernährungs- und Lebensgewohnheiten von 28 inzwischen ausgestorbenen Raubtierarten aus der Hammerschmiede festgestellt. Zur Untersuchung dieser Funde sind zwei Publikationen in den Fachjournalen Papers in Palaeontology und Geobios erschienen.
Die Hammerschmiede wurde 2019 durch den rund 11,5 Millionen Jahre alten Fund des bereits aufrecht gehenden Menschenaffen Danuvius guggenmosi, genannt Udo, bekannt. Die jüngsten Ausgrabungen in der Hammerschmiede unter der Leitung von Madelaine Böhme haben eine außergewöhnliche Vielfalt an 166 fossilen Tierarten zutage gefördert. „Solch ein blühendes Ökosystem bietet eine Fülle von ökologischen Nischen für die darin lebenden Arten“, sagt Böhme. Viele der entdeckten Tiere hätten sowohl im Wasser als auch an Land gelebt oder eine kletternde Lebensweise gehabt. „So konnten sie sich an den bewaldeten Fluss anpassen, der zu jener Zeit in der Region vorhanden war“, sagt die Forscherin.
Was die Zähne verraten
Die einzige Bärenart der Hammerschmiede mit dem Namen Kretzoiarctos beatrix wird als ältester Verwandter des modernen Großen Pandas angesehen, da die Form und Gestalt seiner Zähne Ähnlichkeiten mit denen des chinesischen Bären aufweist, der sich fast aus-schließlich von Bambus ernährt. Kretzoiarctos beatrix war kleiner als moderne Braunbären, wog aber mehr als 100 Kilogramm. „Die heutigen Großen Pandas gehören in der zoologischen Systematik zu den Fleischfressern. Tatsächlich ernähren sie sich aber ausschließlich von Pflanzen. Sie haben sich auf harte pflanzliche Nahrung, insbesondere Bambus spezialisiert“, berichtet Dr. Nikolaos Kargopoulos von der Universität Tübingen und der University of Cape Town, der Erstautor der neuen Studien. Wissenschaftlich interessant sei, wie sich bei ursprünglichen Fleischfressern eine Anpassung an eine solch extreme pflanzliche Ernährungsweise entwickelte.
In einer ersten Studie untersuchte das Forschungsteam die Ernährung von Kretzoiarctos anhand der Makro- und Mikromorphologie der gefundenen Zähne. Auf der Makroebene ändert sich die Form der Zähne je nach ihrer Rolle bei der Nahrungsverarbeitung, was Aufschluss über die allgemeine Hauptnahrung eines Tieres gibt. Auf der Mikroebene der Zahnoberfläche kann man Kratzer und Grübchen erkennen, die durch Kontakt von Nahrungspartikeln mit dem Zahn verursacht werden. „Die Merkmale dieser Oberflächenveränderungen können Aufschluss über die Ernährungsgewohnheiten eines Tieres während eines kurzen Zeitraums vor seinem Tod geben“, sagt der Wissenschaftler.
Das Forschungsteam verglich die Makro- und Mikromorphologie der Zähne von Kretzoiarctos mit Braunbären, Eisbären, südamerikanischen Brillenbären sowie heutigen und ausgestorbenen Großen Pandas. Es kam zu dem Schluss, dass der Bär aus der Hammerschmiede weder ein Spezialist für harte Pflanzen war noch ein reiner Fleischfresser wie der Eisbär. Die Ernährung der ausgestorbenen Art ähnelte eher der eines modernen Braunbären und enthielt sowohl pflanzliche als auch tierische Bestandteile. „Diese Ergebnisse sind wichtig für unser Verständnis der Evolution von Bären und der Entwicklung des Veganismus bei den Großen Pandas. Kretzoiarctos beatrix, die ältesten Großen Pandas, waren demnach Generalisten. Eine Spezialisierung in der Ernährung der Pandas erfolgte erst spät in ihrer Evolution“, sagt Böhme.
Die Vielfalt der Raubtiere aus der Hammerschmiede
Neben dem Panda wurden bisher in der Hammerschmiede weitere 27 Raubtierarten gefunden, berichten die Forscher in einer zweiten Studie. Die Räuber reichen von winzigen, wie-selartigen Tieren, die weniger als ein Kilogramm wogen, bis hin zu großen Hyänen und Säbelzahnkatzen, die mehr als 100 Kilogramm auf die Waage gebracht haben dürften. „Ihre jeweilige Hauptnahrung deckt eine große Bandbreite ab: Es gab reine Fleischfresser wie die Säbelzahnkatzen, Fischfresser wie die Otter, Knochenfresser wie die Hyänen und Insektenfresser wie die Zibetkatze. Einige andere Arten wie Pandas und Marder ernährten sich opportunistisch von Pflanzen und Tieren unterschiedlicher Größe“, fasst Kargopoulos zusammen. Die entdeckten Arten seien auch hinsichtlich ihrer bevorzugten Lebensräume sehr unterschiedlich: „Die Otterartigen waren gute Schwimmer, Bären, Hyänen und andere hielten sich auf dem Land auf oder lebten grabend wie die Stinktiere. Besonders viele Arten waren Baumkletterer wie die Marder, die Katzenartigen, die Schleichkatzen und die Katzenbären“, erläutert der Forscher.
„Eine derart vielfältige Raubtierpopulation ist nicht nur fossil äußerst selten; es gibt wohl auch kaum einen modernen Lebensraum mit ähnlich vielen Arten“, sagt Böhme. Diese Artenvielfalt an der Spitze der Nahrungskette zeige, dass das Ökosystem der Hammer-schmiede sehr gut funktioniert haben muss. Mehr noch, es gebe sogar Arten, die nebeneinander her bestanden, obwohl sie sehr ähnliche Nischen besetzten, so die Forscherin. „Zum Beispiel gab es vier verschiedene fischotterartige Tiere gleicher Größe und Art der Ernährung. Sie würden normalerweise um die natürlichen Ressourcen in ihrer Umgebung konkurrieren. Aber es scheint, dass die Ressourcen der Hammerschmiede reich genug waren, um den Bedarf aller Arten zu decken.“
Die Hammerschmiede
In der Grube bei Pforzen im Allgäu führen die Universität Tübingen und das Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment seit 2011 wissenschaftliche Grabungen unter Leitung von Prof. Dr. Madelaine Böhme durch. Seit 2017 finden diese auch als Bürgergrabungen in einem Citizen-Science-Projekt statt und werden seit 2020 finanziell vom Freistaat Bayern unterstützt. Rund 40.000 Fossilien von 150 Wirbeltierarten konnten bisher geborgen werden, darunter die beiden Menschenaffen Danuvius guggenmosi und Buronius manfredschmidi.
Originalpublikation:
Nikolaos Kargopoulos, Juan Abella, Alexander Daasch, Thomas Kaiser, Panagiotis Kampouridis, Thomas Lechner, Madelaine Böhme: The primitive giant panda Kretzoiarctos beatrix (Ursidae, Carnivora) from the hominid locality of Hammerschmiede: dietary implications. Papers in Palaeontology, https://doi.org/10.1002/spp2.1588
Nikolaos Kargopoulos, Alberto Valenciano, Juan Abella, Michael Morlo, George E. Konidaris, Panagiotis Kampouridis, Thomas Lechner, Madelaine Böhme: The carnivoran guilds from the Late Miocene hominid locality of Hammerschmiede (Bavaria, Germany). Geobios, https://doi.org/10.1016/j.geobios.2024.02.003
16.09.2024, Deutsche Wildtier Stiftung
Igel futtern sich Winterspeck an, Maulwürfe füllen ihre Vorratskammern mit Regenwürmern
Letzte Chance, das Tier des Jahres und den Maulwurf in ganz Deutschland zu zählen
Naturfreunde aufgepasst: Vom 20. bis 30. September findet das zweite deutschlandweite Monitoring für Igel und Maulwürfe in diesem Jahr statt. Wer in diesen elf Tagen einen oder mehrere der beiden Insektenfresser entdeckt, kann das im Rahmen der bundesweiten Aktion „Deutschland sucht Igel und Maulwurf“ melden. „Die Sichtungen sollen dabei helfen, ein genaueres Bild über die Verbreitung und den Gefährdungsstatus der beiden Arten zu erhalten. Denn bisher ist die Datenlage dazu noch lückenhaft“, sagt Lea-Carina Mendel, Artenschützerin bei der Deutschen Wildtier Stiftung.
Ob ein Igel im Park oder frisch aufgeworfene Maulwurfshügel im Garten, ob lebende, tote oder verletzte Tiere – alle Meldungen der Teilnehmer des großen Citizen-Science-Projekts sind wertvoll. So wurden in den vergangene beiden Monitoring-Phasen über 16 600 Igel und 3 200 Maulwurfshügel gesichtet. „Dank der aktuellen Informationen über Vorkommen und Bestandstrend können wir wirksame Schutzmaßnahmen leichter entwickeln und durchsetzen. Unser großes Dankeschön gilt daher all jenen, die bei der Aktion mitmachen und sie unterstützen“, sagt Mendel. Ein Beispiel für wirksame Schutzmaßnahmen der Deutschen Wildtier Stiftung sind beispielsweise Igeltore in Zäunen, die Gärten und damit Lebensräume vernetzen.
Die Chancen, das Tier des Jahres, den Igel, in den Dämmerungsstunden zu entdecken, stehen momentan sehr gut: „Bis Ende Oktober heißt es für Igel: Futtern, was das Zeug hält. Sie müssen Speck anfressen, um dick und satt in den Winterschlaf gehen zu können“, so Mendel. Zudem sind im August die meisten Jungen zur Welt gekommen. Viele Igelweibchen sind daher in Gärten und Parks zusammen mit dem Nachwuchs unterwegs. Gesunde Igel brauchen kein Extrafutter durch den Menschen – effektiver ist es, den Garten so naturnah wie möglich zu gestalten. Dann finden Igel auf eigene Faust nahrhafte Würmer, Larven, Käfer und Raupen.
Maulwürfe hingegen sind das ganze Jahr über aktiv. Solange der Boden nicht gefroren ist, graben sie ihre Tunnel und Höhlen in einer Tiefe von zehn bis zwanzig Zentimetern. Für den Winter legen sie in tieferen Erdschichten Vorratskammern an, in denen sie Regenwürmer und andere Nahrung lagern.
„Deutschland sucht Igel und Maulwurf“ ist ein gemeinsames Projekt der Deutschen Wildtier Stiftung, der NABU|naturgucker, dem Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung, der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft 1822 e. V., dem NABU Bundesverband und dem Landesbund für Vogel- und Naturschutz in Bayern (LBV). Ziel ist, ein langfristiges Monitoring zu Verbreitung und Vorkommen von Igel und Maulwurf in Deutschland zu etablieren. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse erlauben zukünftig eine Bewertung der Bestandssituation von Igel und Maulwurf. Darauf aufbauend können gezielte Artenschutzmaßnahmen initiiert werden.
Sichtungen zu Igeln und Maulwurfshügeln, aber auch Meldungen über keine Funde können über www.igelsuche.de, in Bayern über www.igel-in-bayern.de, abgegeben werden.
16.09.2024, Deutsche Wildtier Stiftung
Gemeinsam für den Schreiadler! Mehr Lebensraum, mehr Nahrung, mehr Jungvögel: Nationales Artenhilfsprogramm für Deutschlands meistbedrohten Adler startet
Der Schreiadler ist Deutschlands kleinster und auch am meisten bedrohter Adler. Sein unverwechselbarer „Tjück-tjück“-Ruf ist nur noch selten zu hören, noch etwa 130 Paare brüten in den Wäldern von Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Schreiadler brauchen zum Leben naturnahe Wälder und gleich nebenan nahrungsreiche Wiesen und Weiden – mit diesen Ansprüchen an ihren Lebensraum gehören sie zu den ausgesprochenen Verlierern des Landschaftswandels. Heute stellt auch der Ausbau der Erneuerbaren Energien für die Weltenbummler, die den Winter im südlichen Afrika verbringen, ein großes Risiko dar.
Um den Schreiadler zu retten, hat die Deutsche Wildtier Stiftung gemeinsam mit der NABU-Stiftung Nationales Naturerbe und der Stiftung Umwelt- und Naturschutz Mecklenburg-Vorpommern ein Nationales Artenhilfsprogramm gestartet. Gefördert wird es vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV). Das Gesamtvolumen des Projekts beträgt über neun Millionen Euro. Dr. Jan-Niclas Gesenhues, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium, übergab den Förderbescheid heute an die Projektpartner auf Gut Klepelshagen in Mecklenburg-Vorpommern. „Ich freue mich, dass die Umsetzung des Nationalen Artenhilfsprogramms nun Tempo aufnimmt und wir damit mehr für den Schutz dieser und vieler weiterer Arten tun“, so Gesenhues.
Nun geht es an die Umsetzung der ersten Maßnahmen. „Ein besonderer Fokus des Artenhilfsprogramms wird auf der Zusammenarbeit mit Landwirten und Horstbetreuern liegen, also den handelnden Akteuren in den Brutrevieren des Schreiadlers,“ sagt Dr. Andreas Kinser, Leiter Natur- und Artenschutz bei der Deutschen Wildtier Stiftung und Initiator des Artenhilfsprogramms. „Gemeinsam mit ihnen können wir Lebensräume optimieren und der Schreiadler-Population eine gute Perspektive bieten.“ Ziel ist es, Nahrungsflächen wie Grünland, Ackerfutteranbau oder Brachflächen in der Nähe der Brutwälder für den Schreiadler schnell aufzuwerten. „Denn je kürzer der Weg der Schreiadler-Eltern zwischen ihrem Nest und den nahrungsreichen Jagdgründen ist, desto höher ist die Überlebenschance des Jungvogels“, so Kinser.
Neben temporären Maßnahmen sind auch langfristig wirkende Renaturierungen geplant: Die Verbundpartner werden auf einigen ihrer Flächen den Wasserstand anheben, erste Messarbeiten dafür laufen bereits. Sie wollen Wälder und Moore renaturieren und neue Hecken und Sträucher in der Nähe von Schreiadler-Brutwäldern pflanzen. Denn Feuchtgebiete wie auch Strukturelemente in der Agrarlandschaft bieten Lebensraum. „Davon profitieren auch andere Arten wie Reptilien und Amphibien, die dem Adler als Nahrung dienen. Auch der seltene Schwarzstorch wird unterstützt“, so Bjørn Schwake, Geschäftsführer der Stiftung Umwelt- und Naturschutz Mecklenburg-Vorpommern.
Um den Schreiadler zu retten, braucht es vor allem auch eine höhere Reproduktionsrate – also mehr überlebende Jungvögel. Darum werden im Rahmen des Projekts in Brandenburg auch Maßnahmen des Jungvogelmanagements ergriffen. Dabei wird aus einigen Schreiadler-Nestern ein überzähliges Ei entnommen und in einer Brutstation ausgebrütet. Denn von Natur aus überlebt aus jedem Gelege nur ein Adlerküken. „Mit den so zusätzlich aufgezogenen Jungadlern können wir den Bruterfolg der Schreiadler in Brandenburg kurzfristig steigern“, erklärt Christian Unselt, Vorsitzender der NABU-Stiftung Nationales Naturerbe.
Das Projekt „Gemeinsam für den Schreiadler“ läuft bis ins Jahr 2028.
17.09.2024, Universität Wien
Warum Seekühe und Delfine ähnliche Ohren haben, obwohl sie nur entfernt verwandt sind
Evolutionsbiolog*innen konnten zeigen, dass ähnliche Fortbewegung und Lebensräume für die Ohrform entscheidender sind als evolutionäre Verwandtschaft
Eine neue Studie zeigt die überraschende Evolution im Innenohr von Säugetieren. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Nicole Grunstra von der Universität Wien und Anne Le Maître vom Konrad-Lorenz-Institut (KLI) für Evolutions- und Kognitionsforschung (Klosterneuburg) hat gezeigt, dass Arten der morphologisch sehr vielfältigen Säugetiergruppe namens Afrotheria viel größere Ähnlichkeiten im Innenohr zu evolutionär weit entfernten, aber ökologisch ähnlichen Säugetierarten aufweisen als zu ihren nahen Verwandten. Die Studie wurde kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.
Prinzipiell lässt sich an der Form des Innenohrs die evolutionäre Abstammung von Tieren ablesen: Eng verwandte Arten haben tendenziell ähnlichere Innenohrformen als entfernt verwandte Arten. Zusätzlich gibt es die Annahme, dass die Unterschiede in der komplexen Form des Innenohrs Anpassungen an unterschiedliche Umgebungen und Fortbewegungsarten sind. In ihrer aktuellen Studie kamen die Evolutionsbiolog*innen zu einem überraschenden Ergebnis: Die Form des Innenohrs ist bei Säugetieren mit vergleichbarem Lebensraum und Fortbewegungsweise ähnlicher als bei direkten Verwandten.
Klärung durch virtuelle 3D-Modelle
Das Team aus Evolutionsbiolog*innen und Paläontolog*innen unter Beteiligung des Naturhistorischen Museums Wien untersuchte die Form des Innenohrs der Afrotheria. Diese Säugergruppe besteht aus evolutionär relativ nahe miteinander verwandten Arten, die sich jedoch in ihrer Anatomie und ihren Lebensräumen stark unterscheiden, darunter Erdferkel, Elefanten, nagetierähnliche Elefantenspitzmäuse und Seekühe. Die Forscher*innen verglichen die Ohrform der Afrotheria mit anderen Säugetieren, die in Anatomie, Ökologie und/oder Fortbewegungsverhalten ähnlich, aber nur sehr entfernt mit ihnen verwandt sind, darunter Ameisenbären, Igel und Delfine. Dazu führte das Team Mikrocomputertomografie an Schädeln aus Museumssammlungen durch, aus denen sie virtuelle 3D-Modelle des Innenohrs rekonstruierten. Anschließend verglichen sie die Form des Innenohrs von Afrotheria und ihren ökologischen Analoga und setzten die Ohrform in Beziehung zu ihrem Lebensraum und ihrer Fortbewegung.
Konvergente Evolution durch ähnlichen Selektionsdruck
„Wir haben festgestellt, dass die Form des Innenohrs zwischen Arten mit vergleichbarem Lebensraum und Fortbewegung ähnlicher ist als zwischen näher verwandten Arten mit unterschiedlicher Ökologie“, erklärt Nicole Grunstra von der Universität Wien, Erstautorin der Studie. So ähnelt die Ohrform von Seekühen weniger der von Elefanten oder Schliefern (nahe verwandten Afrotheria) und mehr der eines nur weitläufig verwandten Delfins – zurückführen lässt sich das auf Anpassungen an den marinen Lebensraum. Die Studie fand ähnliche Ohrformen auch bei anderen entfernt verwandten Arten mit ähnlicher Ökologie oder Ernährungsweise, beispielsweise bei unterirdisch lebenden Arten oder solchen, die in Bäumen leben. „Wir konnten auch zeigen, dass ähnliche Innenohrformen bei sich ökomorphologisch entsprechenden Arten nicht zufällig entstanden sind, sondern als Anpassung an gemeinsame ökologische Nischen oder die Fortbewegung“, interpretiert die Letztautorin Anne Le Maître die Daten. Dies ist ein starkes Indiz für konvergente Evolution, also den Prozess, bei dem ursprünglich unterschiedliche Ohrformen aufgrund eines gemeinsamen Selektionsdrucks unabhängig voneinander ähnliche Formen entwickeln.
Innere Ohrform könnte sich bei Säugetieren leichter verändern als in anderen Wirbeltiergruppen
Die neue Studie steht scheinbar im Widerspruch zu früheren Arbeiten über Vögel, Reptilien und auch einige Säugetiere, die Zweifel daran aufkommen lassen, inwieweit adaptive Prozesse die Variation des Innenohrs bei Wirbeltieren geprägt haben. Eine mögliche Erklärung ist, dass Anpassungsunterschiede in der Innenohrform nur bei ökologisch stark unterschiedlichen Arten gut sichtbar sind, wie im Fall der Afrotheria oder auch vielen anderen Säugetieren. Eine alternative Erklärung könnte in der Struktur des Säugetierohrs zu finden sein.
Innerhalb der Wirbeltiere ist das Säugetierohr besonders komplex. Im Vergleich zu Vögeln, Krokodilen oder Eidechsen hat das Säugetierohr durch die evolutionäre Verkleinerung und Umwandlung der Kieferknochen und ihre anschließende Integration in das Mittelohr mehrere zusätzliche Komponenten erhalten (während diese bei Vögeln und Reptilien Teil des Kiefers geblieben sind). Dank dieser Besonderheit können Säugetiere ein viel breiteres Spektrum an Geräuschen wahrnehmen, insbesondere hohe Töne. Wichtig ist auch, dass dadurch die anatomische, genetische und entwicklungsbiologische Komplexität des Ohrs zunimmt, was der Theorie zufolge die Bandbreite der möglichen Ohrformen vergrößert, die sich entwickeln können. „Eine Zunahme der genetischen und entwicklungsbiologischen Faktoren eines Merkmals gibt der natürlichen Auslese mehr Knöpfe, an denen sie drehen kann, was die Evolution verschiedener Anpassungen erleichtert“, so Philipp Mitteröcker von der Universität Wien, einer der beiden Letztautor*innen. Dies könnte eine wichtige Rolle für die Evolution der groβen morphologischen und ökologischen Vielfalt gespielt haben, die Säugetiere heute aufweisen.
Originalpublikation:
Grunstra, NDS, Hollinetz, F, Bravo Morante, G, Zachos, FE, Pfaff, C, Winkler, V, Mitteroecker, P & Le Maître, A. (2024). Convergent evolution in Afrotheria and non-afrotherians demonstrates high evolvability of the mammalian inner ear. Nature Communications.
DOI: 10.1038/s41467-024-52180-1
https://www.nature.com/articles/s41467-024-52180-1
17.09.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Europas biologischer Vielfalt auf der Spur: Forschende aus 33 Ländern erstellen Referenzgenome von 98 Arten
Wissenschaftler:innen aus ganz Europa ist es im Rahmen des Pilotprojekts des European Reference Genome Atlas (ERGA) gelungen, hochwertige Referenzgenome für 98 Arten zu erstellen. Dies ist ein wichtiger Meilenstein in ihrem Vorhaben, eine Referenzgenom-Datenbank für alle europäischen Tiere, Pflanzen und Pilze zu schaffen. Die ehemalige ERGA-Vorsitzende Dr. Camila Mazzoni vom Leibniz-IZW initiierte das Pilotprojekt im Jahr 2021 als dezentrales Kooperationsprojekt mit dem Input aller Genomforschenden in Europa. Dieses neuartige, integrative Vorgehen zeigt, welche Herausforderungen und welche Chancen mit einem solchen Gemeinschaftsprojekt in der Biodiversitätsgenomik verbunden sind.
Das Pilotprojekt wird in einem heute in der Fachzeitschrift „npj Biodiversity“ veröffentlichten Artikel vorgestellt. In der neuen wissenschaftlichen Veröffentlichung gibt der European Reference Genome Atlas (ERGA) den Erfolg seines Pilotprojekts bekannt. ERGA baute ein großes Kooperationsnetzwerk von Wissenschaftler:innen und Institutionen aus 33 Ländern auf, um hochwertige Referenzgenome von 98 europäischen Arten zu erstellen. Das Pilotprojekt brachte wertvolle Erkenntnisse und zeigte die wichtigsten Herausforderungen für ein solches Vorhaben auf, sodass es als Modell für dezentrale, integrative und gleichberechtigte Initiativen in der Biodiversitätsgenomik auf der ganzen Welt dienen kann.
Zu den Meilensteinen des Projekts gehören die ersten Genom-Assemblierungen auf Chromosomenebene – bei diesem Vorgang werden die Nukleotidsequenzen in die richtige Reihenfolge gebracht – von Arten aus Griechenland, einem der Länder mit der größten biologischen Vielfalt in Europa. Arten wie die Kreta-Mauereidechse (Podarcis cretensis) und der Aristoteles-Wels (Silurus aristotelis) wurden von einheimischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Griechenland beprobt, um Genome zu erstellen, die nun für jedermann auf der ganzen Welt frei zugänglich sind und untersucht werden können. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, was erreicht werden kann, wenn sich eine internationale Gemeinschaft von Forschenden zur biologischen Vielfalt zusammenschließt und die Zusammenarbeit innerhalb von und zwischen Ländern fördert. Das ERGA-Pilotprojekt legte den Schwerpunkt auf Gleichberechtigung und Inklusion – mit dem Ziel, dass die Genomforschung und die dafür notwendigen Ressourcen für alle zugänglich sind, unabhängig von geografischen Grenzen. Für viele der teilnehmenden Wissenschaftler:innen und Länder bot das Projekt zum ersten Mal die Möglichkeit, aktiv an der Erstellung von Referenzgenomen mitzuwirken und hochmoderne Ressourcen zur „Kartierung“ ihrer heimischen biologischen Vielfalt zu nutzen.
Das ERGA-Pilotprojekt trägt zudem dazu bei, die wachsende Bedeutung der Genomforschung für die biologischen Vielfalt in Europa und darüber hinaus zu verdeutlichen. Genomische Daten bergen ein immenses Potenzial für Erhaltungsmaßnahmen für gefährdete Arten, aber auch für Entdeckungen zum Vorteil für die menschliche Gesundheit, Bioökonomie, Biosicherheit und für viele andere Anwendungen. Zu den im Rahmen des Projekts sequenzierten Arten gehört zum Beispiel der Goldlachs (Argentina silus), eine kommerziell wichtige Fischart aus dem Nordatlantik. Das neue Referenzgenom des Goldlachses wird es Forschenden ermöglichen, den genetischen Status von Populationen dieser Art genauer zu bewerten und letztendlich Managemententscheidungen zu treffen, die verantwortungsvolle und nachhaltige Fischereipraktiken sicherstellen.
Eine der Arten, zu denen nun ebenfalls erstmalig ein qualitativ hochwertiges Referenzgenom vorliegt, ist der Seeadler (Haliaeetus albicilla). Mit diesem Referenzgenom wird zukünftig beispielsweise möglich sein, Erbkrankheiten zu erforschen, für die bislang nur die Symptome bekannt sind. Dies gelte insbesondere für das so genannte „pinching-off syndrome“, so Greifvogel-Experte Dr. Oliver Krone vom Leibniz-IZW. Bei dieser Krankheit sind die Schwung- und Steuerfedern junger Seeadler missgebildet und machen das Fliegen unmöglich. Die Ursachen für diese Missbildung der Federn ist genetisch bedingt und wird in einem rezessiven Erbgang von beiden Elternvögel an die Jungvögel weitergegeben. Darüber hinaus gebe es viele Möglichkeiten, das Genom der Adler für phylogenetische Fragestellungen zu nutzen, so Krone weiter. Beispielsweise könnten Subpopulationen voneinander abgegrenzt oder isolierte Populationen identifiziert werden.
Überall auf der Welt gibt es ambitionierte Bestrebungen, das volle Potenzial von Genomdaten zu erschließen. Dabei spielt Vernetzung innerhalb der Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Das ERGA- Pilotprojekt demonstriert, wie solche Kooperationsprojekte erfolgreich funktionieren und handfeste Vorteile für die biologische Vielfalt bringen können. Darüber hinaus hilft das etablierte Netzwerk Wissenschaftler:innen auf allen Karrierestufen, Möglichkeiten für die Weiterbildung, Partnerschaften und Finanzierung zu finden und auszutauschen. Das ERGA-Pilotprojekt wurde Anfang 2021 von der damaligen ERGA-Vorsitzenden Dr. Camila Mazzoni vom Leibniz-IZW und dem Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research (BeGenDiv) mitinitiiert, die Calls mit hunderten Genomforschenden leitete, um das inklusiv und dezentral organisierte Kooperationsprojekt zu planen und aufzubauen.
ERGA ist der europäische Knoten des global aufgestellten Earth BioGenome Project (EBP). Um sein ehrgeiziges Ziel – die Sequenzierung des gesamten eukaryotischen Lebens auf der Erde – zu erreichen, braucht das EBP unbedingt eine weltweite Beteiligung und neue, dezentrale Modelle der Erstellung von Referenzgenomen. Das ERGA-Pilotprojekt konnte zeigen, dass ein vollständig verteiltes, kollaboratives und koordiniertes Modell der Genomerstellung nicht nur machbar, sondern auch effektiv ist – selbst auf kontinentaler Ebene und ohne eine zentrale Finanzierungsquelle. Der größte Teil des Projektbudgets wurde von einzelnen Mitgliedern und Partnerinstitutionen vor Ort aufgebracht, mit zusätzlicher Unterstützung durch Sequenzierungspartner und kommerzielle Sequenzierungsunternehmen, die Zuschüsse, Rabatte und Sachleistungen gewährten.
Das ERGA-Pilotprojekt trug dazu bei, die zahlreichen Herausforderungen bei der Arbeit auf internationaler Ebene zu ermitteln und Strategien für den Umgang mit diesen zu entwickeln. Zu den Herausforderungen gehören beispielsweise rechtliche und logistische Hürden des grenzüberschreitenden Transports biologischer Proben, Gefälle in der Ressourcenausstattung zwischen den Ländern und die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Dezentralisierung und der Notwendigkeit der Standardisierung. Eine Standardisierung ist nötig um zu gewährleisten, dass im Rahmen des Projekts nur Referenzgenome erstellt werden, die den Qualitätsstandards des EBP entsprechen.
Der dezentralisierte Ansatz von ERGA ist vielversprechend für die Zukunft der Biodiversitätsgenomik. Der Erfolg des Pilotprojekts beim Aufbau einer Eigendynamik und der Zusammenführung von Forschern zeigt die Stärke dieses Modells, schließen die Beteiligten in dem Beitrag in der Fachzeitschrift. Durch die Förderung der internationalen Zusammenarbeit und die Konzentration auf Inklusion und Gleichberechtigung setze ERGA neue Maßstäbe für die Biodiversitätsgenomik. Die im Rahmen des Pilotprojekts gewonnenen Erkenntnisse und bewältigten Herausforderungen werden die Grundlage für künftige Bemühungen bilden, um robuste und standardisierte Arbeitsabläufe und eine umfassende genomische Datenbank für Arten in Europa und darüber hinaus zu fördern.
Originalpublikation:
McCartney AM, Formenti G, Mouton A, […], Mazzoni CJ (2024): The European Reference Genome Atlas: piloting a decentralised approach to equitable biodiversity genomics. Npj Biodiversity 3,28(2024). DOI: 10.1038/s44185-024-00054-6
24.09.2024, Universität Basel
Wie eine Schmetterlingsinvasion die genetische Vielfalt minimiert
Der Karstweissling war bis vor einigen Jahren nördlich der Alpen kaum anzutreffen. Dann trat er eine europaweite Invasion an. Dabei hat sich das Insekt nicht nur massenhaft ausgebreitet – gleichzeitig ist die genetische Vielfalt innerhalb der Art rapide zurückgegangen.
Bis der Zoologe Daniel Berner bemerkte, dass eine eigentlich ortsfremde Schmetterlingsart in seinem Garten heimisch ist, dauerte es eine Weile. Aber plötzlich sah er ihn überall: Pieris mannii, auch bekannt als Karstweissling. Etwa vier Zentimeter Flügelspannweite, weisse Flügel mit grossen schwarzen Flecken.
Eigentlich gab es in der Schweiz bis vor wenigen Jahren nur einige kleine lokale Populationen dieser hauptsächlich mediterranen Art im Wallis und im Tessin. Doch irgendwann um das Jahr 2005 begann der Schmetterling seine Reise nach Norden und Osten. Mittlerweile wurde das Tier an der Nordsee und in Tschechien nachgewiesen.
Vergleich mit Museumsobjekten
Mit seiner Ausbreitung ging allerdings ein grosser genetischer Verlust einher. «Wir konnten nachweisen, dass der Karstweissling auf seinem Invasionszug lokale Populationen seiner eigenen Art genetisch vereinheitlicht hat», erzählt PD Dr. Daniel Berner von der Universität Basel. Gemeinsam mit Forschenden der Universität Greifswald und dem Senckenberg Deutschen Entomologischen Institut Müncheberg hat er im Fachjournal «Current Biology» eine Studie veröffentlicht, die untersucht, wie sich die Ausbreitung des Schmetterlings auf die innerartliche Vielfalt ausgewirkt hat.
Dabei verglichen die Forschenden das Erbgut frisch eingefangener Tiere mit jenem von Museumsobjekten, die deutlich älter sind, also vor Beginn der Invasion eingefangen und konserviert wurden. So konnten sie nachweisen, dass die genetische Zusammensetzung der untersuchten lokalen Populationen sich stark verändert hat: ein grosser Teil des ursprünglichen Erbguts ist jetzt ersetzt durch dasjenige der Population, die sich ausgebreitet hat.
«Ohne den Vergleich mit den Museumsobjekten wäre uns diese genetische Veränderung nicht aufgefallen», so Berner. Die Forschenden konnten für ihre Untersuchungen Tiere aus der Sammlung des Naturhistorischen Museums Bern sequenzieren und so die Schmetterlinge genetisch charakterisieren. Ein grosses Glück war, dass der Schmetterlingskundler Heiner Ziegler ausgerechnet vom Karstweissling über Jahrzehnte eine umfangreiche Belegsammlung zusammengetragen hatte, die hier genutzt werden konnte.
Lieblingspflanzen in Gärten
Bei seiner schnellen Ausbreitung kommt dem Schmetterling die Urbanisierung entgegen. Eigentlich fliegt der Karstweissling nicht gern weite Wege. Stattdessen flattert er während der rund drei Wochen seines Lebens in bescheidenem Radius in seinem Geburtsort umher, in dem auch die Nahrungspflanzen der Raupen gedeihen – Rucola und vor allem die Schleifenblume. Gerade letzterer ist in Gärten im Siedlungsgebiet weit verbreitet. Die fortschreitende Ausdehnung des Siedlungsraumes schuf somit für den Karstweissling die Gelegenheit, sich weit auszubreiten.
Hinzu kommt, dass sich der Karstweissling nicht nur in einer, sondern in fünf bis sechs Generation pro Jahr fortpflanzt. «So schafft es diese Art, im neu besiedelten Gebiet rasch individuenreiche Populationen aufzubauen, was die Besiedlung von Neuland über grosse Strecken begünstigt», erklärt Daniel Berner. Es sei sehr wahrscheinlich, dass dieser Schmetterling sich noch weiter ausbreitet, sofern seine Nahrungspflanzen verfügbar sind. «Die Schmetterlingsforscher in England warten jedenfalls nur darauf, den ersten zu sichten.».
Ausbreitung und genetische Vermischung – Verlust oder Gewinn?
Aus der Sicht des Naturschutzes ist die Ausbreitung des Karstweisslings zwiespältig. Da die Art im neu besiedelten Raum weitgehend vom Menschen gestaltete Lebensräume nutzt, ist Konkurrenz mit einheimischen Schmetterlingen nicht zu erwarten. Ausserdem ist diese Schmetterlingsart aktuell dank der Ausbreitung insgesamt viel individuenreicher, was generell ihr Aussterbe-Risiko vermindert. Diesen positiven Aspekten steht allerdings das Verschwinden von über Jahrtausende entstandener genetischer Vielfalt gegenüber: «Es gehört zwar zum Schicksal von Lebewesen, dass lokale Gruppen aussterben können. Besonders an der Situation des Karstweisslings ist aber, dass der Verlust an ursprünglicher Populationsvielfalt mit der Ausweitung des Siedlungsraumes einhergeht, und somit menschgemacht ist.»
Weshalb gerade der Karstweissling zu einer grossen Expansion aufgebrochen ist und wo sie genau begann, wissen die Forschenden noch nicht. «Auf der Seite des Schmetterlings ist vermutlich nichts fundamentales Neues passiert: Wir finden soweit keine Anzeichen grosser genetischer Veränderung in der expansiven Population. Und der Klimawandel scheint in diesem Fall auch keine Schlüsselrolle zu spielen», so Berner. Diesen Fragen wollen die Forschenden weiter nachgehen. Eine Vermutung für den Ausgangsort haben sie allerdings schon: Die Invasion könnte im Osten Frankreichs begonnen haben.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1016/j.cub.2024.09.006
27.09.2024, Deutsches Primatenzentrum GmbH – Leibniz-Institut für Primatenforschung
Waldverlust zwingt Languren zu Kreuzungen zwischen Arten
Neue Gefahr für bedrohte Primaten
Forschungsergebnisse des Deutschen Primatenzentrums – Leibniz-Institut für Primatenforschung – zeigen eine bedrohliche Entwicklung für zwei gefährdete Primatenarten in Bangladesch: Phayre-Brillenlanguren (Trachypithecus phayrei) und Kappenlanguren (Trachypithecus pileatus). In gemischten Gruppen dieser beiden Arten wurden bereits Hybride gefunden und genetisch bestätigt. Wenn die Hybridisierung anhält, könnte dies das Aussterben einer oder beider Arten bedeuten (International Journal of Primatology).
Fünf Jahre lang (2018-2023) untersuchte ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Tanvir Ahmed, Doktorand am Deutschen Primatenzentrum, die Langurenpopulationen im Nordosten Bangladeschs. Sie fanden heraus, dass acht der 98 untersuchten Langurengruppen aus Phayre- und Kappenlanguren bestanden und in drei Gruppen einige Individuen als eine Mischung der beiden Arten auftraten. Später analysierten die Forscher genetische Proben dieser Tiere im Labor des Deutschen Primatenzentrums und bestätigten einen Fall von Hybridisierung. Dieser Langur hatte eine Kappenlanguren-Mutter und einen Phayre-Brillenlanguren-Vater. Ein anderes Weibchen, das wie ein Hybrid aussah, zeigte Anzeichen von Mutterschaft, was darauf hindeutet, dass zumindest weibliche Hybriden fruchtbar sind und Junge zur Welt bringen können.
Hybridisierung: Ein noch seltenes, aber weltweit wachsendes Problem
Hybridisierung ist bei Primaten im Allgemeinen selten, kommt aber in Gebieten vor, in denen sich die Verbreitungsgebiete verwandter Arten überschneiden. Menschliche Aktivitäten wie die Abholzung von Wäldern, die Fragmentierung von Lebensräumen und Jagd führen zu einer Ausdünnung der Populationen und schränken die Wanderungen von Individuen zwischen lokalen Populationen ein. Dies kann das Risiko von Hybridisierung erhöhen. Tanvir Ahmed, Hauptautor der Studie, sagt: „Die Existenz fruchtbarer Hybriden ist besonders alarmierend, weil sie darauf hindeutet, dass der Genfluss zwischen diesen beiden gefährdeten Arten ihre künftige genetische Zusammensetzung irreversibel beeinflussen könnte”. Christian Roos, leitender Wissenschaftler der Studie, unterstreicht die globale Bedeutung der Forschungsergebnisse: „Dies ist nicht nur ein lokales Problem. Wenn Lebensräume zerstört werden, bilden Tiere häufig gemischtartliche Gruppen, und es kann zu Hybridisierung kommen. Dies kann sogar das Aussterben einer oder beider Arten bedeuten.“
Dringender Handlungsbedarf: Waldschutz und Forschung als Schlüssel für Erhaltungsstrategien
Die Studie hat auch gezeigt, dass gut geschützte Wälder eine höhere Populationsdichte von Languren aufweisen als weniger geschützte Wälder. Allerdings sind diese Wälder oft zu klein, zu isoliert und fragmentiert, um das langfristige Überleben der Arten zu sichern. „Der Schutz der Wälder muss zu einer nationalen Priorität in Bangladesch werden. Wenn wir jetzt nicht handeln, laufen wir Gefahr, nicht nur zwei Affenarten zu verlieren, sondern auch einen wichtigen Teil der biologischen Vielfalt Bangladeschs“, sagt Tanvir Ahmed. Neben dem Schutz der Wälder ist kontinuierliche Forschung erforderlich, um die Auswirkungen der Hybridisierung besser zu verstehen und geeignete Schutzstrategien zu entwickeln. Dietmar Zinner, Mitautor der Studie, fasst zusammen: „Diese Studie ist ein Weckruf. Wir brauchen mehr Daten, um wirksame langfristige Erhaltungsstrategien für betroffene Arten zu entwickeln. Weitere Forschungen werden uns helfen, das Ausmaß der Hybridisierung und die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten zu verstehen und die schlimmsten Folgen zu verhindern“.
Mit weniger als 500 Phayre-Brillenlanguren und 600 Kappenlanguren im Nordosten Bangladeschs läuft die Zeit für diese Arten ab. Ihr Überleben hängt von sofortigen Maßnahmen ab, die sowohl die Erhaltung der Wälder als auch die Schaffung von Ausbreitungskorridoren zwischen den Wäldern für die beiden Arten umfassen.
Die nächsten Schritte
Im Rahmen seines vom Deutschen Primatenzentrum und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst geförderten Promotionsprojekts konzentriert sich Tanvir Ahmed nun auf eine groß angelegte genetische Untersuchung von Langurenpopulationen und deren Anfälligkeit für den Klimawandel. Die Ergebnisse sollen zu einem angepassten Aktionsplan für den Schutz der Languren in Bangladesch beitragen.
Originalpublikation:
Ahmed T, Hasan S, Nath S, Biswas S, Mithu AI, Debbarma H, Debbarma R, Alom K, Sattar A, Akhter T, Bari M, Siddik AB, Muzaffar SB, Zinner D, Roos C. (2024). Mixed-species groups and genetically confirmed hybridization between sympatric Phayre’s langur (Trachypithecus phayrei) and capped langur (T. pileatus) in northeast Bangladesh. International Journal of Primatology. https://doi.org/10.1007/s10764-024-00459-x
27.09.2024, Universität Bielefeld
Rückkehr der See-Elefanten: von wenigen zu Tausenden
Studie belegt genetische Auswirkungen der Jagd auf Robbenart
Eine neue internationale Studie hat die genetischen Auswirkungen der Jagd auf die Nördlichen See-Elefanten nachgewiesen. Die heute (27.09.2024) in der Fachzeitschrift „Nature Ecology and Evolution“ veröffentlichte Studie zeigt, dass diese Robbenart nur knapp dem Aussterben durch die Jagd entgangen ist, was nachhaltige genetische Auswirkungen auf die heutige Population hat. 15 deutsche, britische und US-amerikanische Wissenschaftler*innen von sieben Universitäten und vier Forschungseinrichtungen arbeiteten für diese Studie unter der Leitung der Universität Bielefeld zusammen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen die Nördlichen See-Elefanten kurz davor, durch die Jagd ausgerottet zu werden. „Genetische Analysen deuten darauf hin, dass die Population zu dieser Zeit wahrscheinlich auf weniger als 25 Tiere reduziert war“, erklärt Professor Dr. Joseph Hoffman, Hauptautor der Studie und Leiter der Arbeitsgruppe Evolutionäre Populationsgenetik an der Universität Bielefeld. Ein solch drastischer Rückgang der Population kann die genetische Vielfalt einer Art auslöschen, was das Risiko der Inzucht erhöht und ihr Überleben bedroht. Die Population der Nördlichen See-Elefanten hat sich inzwischen wieder auf etwa 225.000 Individuen erholt. Die in der Zeitschrift „Nature Ecology and Evolution“ veröffentlichte Studie untersucht, wie sich das Beinahe-Aussterben auf die genetische Vielfalt und die Gesundheit der Art auswirkte.
Anpassungsfähigkeit in Gefahr
Für ihre Analysen kombinierten die Forschende genetische Daten, Gesundheitsdaten, Modellierungen der Populationsgrößen und genetische Simulationen. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass der starke Rückgang der Population zum Verlust vieler nützlicher und schädlicher Gene aus dem Genpool des Nördlichen See-Elefanten geführt hat. Dieses Muster wurde bei den eng verwandten Südlichen See-Elefanten nicht beobachtet, die keinen so drastischen Rückgang durchmachten.
„Die stark reduzierte genetische Vielfalt, einschließlich des Verlusts nützlicher Genkopien, könnte die Fähigkeit der Nördlichen See-Elefanten beeinträchtigen, mit künftigen Umweltveränderungen zurechtzukommen – einschließlich derjenigen, die durch den anthropogenen Klimawandel, den Wandel des Lebensraums der Art oder sogar durch natürliche Bedrohungen wie Krankheitsausbrüche verursacht werden“, warnt der Erstautor der Studie, Professor Dr. Kanchon K. Dasmahapatra von der University of York, Großbritannien.
Überraschende Ergebnisse zur Inzucht
Alle Individuen einer Art tragen einige schädliche Mutationen in sich, auch wenn ihre Auswirkungen in der Regel verborgen bleiben. Bei Inzuchttieren kann es jedoch zu Gesundheitsproblemen kommen, wenn diese Mutationen sichtbar werden. „Wir untersuchten mehrere wichtige Gesundheitsmerkmale dieser Robben, darunter Körpergewicht, Speckdicke und Krankheitsanfälligkeit. Zu unserer Überraschung fanden wir keine Anzeichen für Gesundheitsprobleme, die auf Inzucht zurückzuführen sind“, sagt Joseph Hoffman. „Wir vermuten, dass der starke Rückgang der Population viele schädliche Mutationen beseitigt haben könnte.“
Bedeutung für Artenschutz
„Unsere Studie zeigt, wie die einzigartige Populationsgeschichte einer Art ihre genetische Vielfalt prägt“, sagt Dasmahapatra. Die Ergebnisse bieten wichtige Erkenntnisse für den Artenschutz und das Management von Ökosystemen. Hoffman ergänzt: „Unsere Forschung unterstreicht, wie wichtig es ist, die Geschichte einer Spezies zu verstehen, wenn man Artenschutzstrategien plant. Jede Art reagiert anders auf Bedrohungen, so dass individuelle Ansätze unerlässlich sind.“
Originalpublikation:
Joseph I. Hoffman, David L. J. Vendrami, Kosmas Hench, Rebecca Chen, Martin A. Stoffel, Marty Kardos, William Amos, Joern Kalinowski, Daniel Rickert, Karl Köhrer, Thorsten Wachtmeister, Mike E. Goebel, Carolina A. Bonin, Frances M. D. Gulland, Kanchon K. Dasmahapatra: Genomic and fitness consequences of a near-extinction event in the northern elephant seal. Nature Ecology & Evolution, https://www.nature.com/articles/s41559-024-02533-2, veröffentlicht am 27. September 2024.
27.09.2024, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
Mausmakis neu sortiert
Ein Konsortium aus 36 internationalen Forschenden analysierte alle bisher verfügbaren Daten zur Klassifizierung unterschiedlicher Mausmaki-Arten. In einer wissenschaftlichen Veröffentlichung stellen sie jetzt ein System vor, neue Arten zu definieren.
Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit eine neue Art als solche anerkannt werden kann? Um diese zentrale Frage zu beantworten, fügte ein Konsortium aus 36 europäischen, nordamerikanischen und madagassischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Forschungsdaten zusammen, die sie in den vergangenen fünf Jahrzehnten zu Mausmakis der Gattung Microcebus erhoben hatten. „Es entstand dabei einer der umfangreichsten Datensätze, der jemals für eine nicht-menschliche Primatengattung gesammelt und analysiert wurde“, berichtet Professorin Dr. Ute Radespiel aus dem Institut für Zoologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo). Die Forschenden nutzten für ihre Datensammlung die Forschungsergebnisse von mehr als 20 Institutionen – unter anderem des Instituts für Zoologie der TiHo. Sie kombinierten genomische und morphologische Daten mit Erkenntnissen zur akustischen Kommunikation, der Fortpflanzungsaktivität und des geografischen Vorkommens von Mausmakis, um ein neues Methodenspektrum zu erhalten, mit dem sie Artgrenzen gerade auch für äußerlich unscheinbare, sogenannte kryptische Arten, systematisch bewerten können. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen veröffentlichte das Forschungskonsortium jetzt im renommierten Fachmagazin Nature Ecology & Evolution.
Mausmakis sind nachtaktiv und kommen nur auf Madagaskar vor. Die Insel ist für ihre reiche biologische Vielfalt und die zahlreichen Tier- und Pflanzenarten bekannt, die nur dort vorkommen (Endemismus). Aufgrund der biologischen Besonderheit ist Madagaskar ein geeignetes Modell, um zu erforschen, wie neue Arten entstehen – zahlreiche neue Arten wurden dort in den vergangenen Jahrzehnten entdeckt und beschrieben. Einige Mausmaki-Arten wurden aufgrund geringer DNA-Unterschiede zwischen wenigen beprobten Tieren einer Population als neue Spezies eingeordnet. Wann die Unterschiede zwischen Populationen ausreichen, um sie als unterschiedliche Arten einzuordnen, ist in der Wissenschaft nicht eindeutig definiert. Einig ist sich die Forschungswelt jedoch, dass ein einzelnes unterschiedliches Merkmal nicht ausreicht, um eine neue Art zu begründen – vor allem, wenn nur wenige Tiere oder Tiere an wenigen Orten beprobt wurden. „Wir haben jetzt einen systematischen und standardisierten Werkzeugkasten erschaffen, der eine gute Entscheidungsgrundlage schafft“, sagt Radespiel. „Wir berücksichtigen dabei auch die geographische Situation von Populationen. So sind im Fall der Mausmakis die Lebensräume häufig durch natürliche Barrieren voneinander abgegrenzt.“ Um als eigenständige Art gelten zu können, müssen nach dem neuen System die Unterschiede zwischen Populationen größer sein als aufgrund der räumlichen Distanz zu erwarten ist.
„Anhand unserer jetzigen Analysen und des neu entwickelten Systems haben wir gemeinsam die ursprüngliche Klassifikation revidiert und schlagen vor, die Zahl der Mausmaki-Arten von 25 auf 19 zu reduzieren. In mehreren Fällen kann die zuvor als Artgrenze interpretierte Differenzierung durch eine kontinuierliche Isolation über räumliche Distanz erklärt werden und rechtfertigt deshalb nicht, die jeweiligen Populationen als getrennte Arten einzustufen“, erklärt Doktorand Tobias van Elst von der TiHo, der einen großen Teil der genomischen Analysen für diese Studie durchführte.
Kryptische Arten
Mausmakis stellen die Forschenden vor eine besondere Herausforderung, weil sie sich äußerlich kaum voneinander unterscheiden. Man bezeichnet Arten, die sich nur genetisch oder in anderen biologischen Merkmalen unterscheiden, morphologisch aber gleich aussehen, als kryptische Arten. Zusätzlich zur Klassifizierung untersuchten die Forschenden, warum sich alle Mausmaki-Arten größtenteils ähneln. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass Mausmakis, obwohl sie in sehr unterschiedlichen madagassischen Wäldern leben, weiterhin ähnliche ökologische Nischen nutzen und ihr Aussehen sich während der Evolution deshalb nicht stark veränderte.
Artenschutz
Die menschlichen Einflüsse gefährden das Überleben der Mausmakis. Der kleinste Primat der Erde, Microcebus berthae, könnte bereits ausgestorben sein. Die Artenschutzmaßnahmen konzentrierten sich in den vergangenen Jahren hauptsächlich auf Arten. „Um die gesamte Vielfalt der Mausmakis zu erhalten, haben wir jetzt zusätzliche Einheiten innerhalb aller Arten identifiziert, die es zu schützen gilt.“
Die Originalpublikation
Integrative taxonomy clarifies the evolution of a cryptic primate clade
van Elst, Sgarlata, Schüßler et al.
Nature Ecology & Evolution, DOI: 10.1038/s41559-024-02547-w
https://www.nature.com/articles/s41559-024-02547-w