Der Urson in Brehms Tierleben

Urson (Brehms Tierleben)

In der nördlichen Hälfte Amerikas werden die Kletterstachelschweine durch den Urson (Erethizon dorsatum, Hystrix dorsata, pilosa, hudsonia) vertreten. Ihn und seinen einzigen bekannten Verwandten unterscheiden der gedrungene Leib und der kurze, abgeflachte oder breitgedrückte, oberseits mit Stacheln, unterseits mit Borsten besetzte Schwanz von den südamerikanischen Kletterstachelschweinen. Der Urson erreicht eine Länge von 80 Centim., wovon der Schwanz 19 Centim. wegnimmt. Der Kopf ist kurz, dick und stumpf, die Schnauze abgestutzt, die kleinen Nasenlöcher sind durch eine halbmondartige Klappe mehr oder weniger verschließbar. Die Vorderfüße sind vierzehig und daumenlos, die hinteren fünfzehig, die Krallen lang und stark, die Sohlen nackt, mit netzförmig geriefter Haut bekleidet. Ein dicker Pelz, welcher auf dem Nacken bis 11 Centim. lang wird und an der Unterseite und Schwanzspitze in scharfe Borsten sich verwandelt, bedeckt den Leib. Zwischen den Haaren und Borsten stehen auf der ganzen Oberseite bis 8 Centim. lange Stacheln, welche größtentheils von den Haaren überdeckt werden. Die Färbung ist ein Gemisch von Braun, Schwarz und Weiß; die Haare der Oberlippe sind gelblichbraun, die der Wange und Stirn lederbraun, schwarz und weiß gemischt, die langen Rumpfhaare ganz schwarz oder ganz weiß, oder schwarz an der Wurzel, weiß an der Spitze, die des Unterleibes braun, die des Schwanzes gegen die Spitze hin schmutzig-weiß.

Cartwright, Audubon, Bachmann und Prinz Max von Wied haben uns das Leben und Treiben des Ursons ausführlich geschildert. Das Thier bewohnt die Waldungen Nordamerikas, vom 67. Grad nördl. Breite an bis Virginien und Kentucky, und von Labrador bis zu den Felsgebirgen. In den Waldgegenden westlich vom Missouri ist es nicht gerade selten, in den östlichen Ländern dagegen fast ausgerottet.

»Der Urson,« sagt Cartwright, »ist ein fertiger Kletterer und kommt im Winter wahrscheinlich nicht zum Boden herab, bevor er den Wipfel eines Baumes entrindet hat. Gewöhnlich bewegt er sich im Walde in einer geraden Linie, und selten geht er an einem Baume vorüber, es sei denn, daß derselbe zu alt sei. Die jüngsten Bäume liebt er am meisten: ein einziger Urson richtet während des Winters wohl hunderte zu Grunde. Der mit den Sitten dieser Thiere Vertraute wird selten vergeblich nach ihm suchen; denn die abgeschälte Rinde weist ihm sicher den Weg.« Audubon versichert, daß er durch Wälder gekommen sei, in welchem alle Bäume vom Urson entrindet worden waren, so daß der Bestand aussah, als ob das Feuer in ihm gewüthet habe. Namentlich Ulmen, Pappeln und Tannen waren arg mitgenommen worden. Mit seinen braunen, glänzenden Zähnen schält er die Rinde so glatt von den Zweigen ab, als hätte er die Arbeit mit einem Messer besorgt. Man sagt, daß er regelmäßig auf dem Wipfel der Bäume beginne und niederwärts herabsteige, um die Zweige und zuletzt auch den Stamm abzuschälen. Man darf mit ziemlicher Sicherheit rechnen, ihn monatelang alltäglich in derselben Baumhöhlung zu finden, welche er sich einmal zum Schlafplatze erwählt hat. Einen Winterschlaf hält er nicht; doch ist es wahrscheinlich, daß er sich während der kältesten Wintertage in gedachte Schlupfwinkel zurückzieht.

In solchen Baumlöchern oder in Felsenhöhlen findet man auch das Nest und in ihm im April oder Mai die Jungen, gewöhnlich zwei an der Zahl, seltener drei oder vier.

Wie uns Prinz von Wied mittheilt, glauben die Indianer, daß die Mutter keine Zitzen habe, also ihre Jungen nicht säugen könne und infolge dessen genöthigt sei, sie sofort nach ihrer Geburt von sich zu treiben und somit zu zwingen, vom ersten Tage ihres Lebens an die harte, nagende Arbeit zu beginnen.

Die Jungen, welche aus dem Neste genommen und in Gefangenschaft gehalten werden, gewöhnen sich bald an ihren Herrn und an die Umgebung. Man ernährt sie mit allerhand Pflanzenstoffen, auch verzehren sie Brod sehr gern. Wenn man sie im Garten frei umherlaufen läßt, besteigen sie die Bäume und fressen hier Schale und Blätter. Audubon erzählt, daß ein von ihm gepflegter Urson nur dann sich erzürnt habe, wenn man ihn von einem Baume des Gartens, den er regelmäßig bestieg, entfernen wollte. Unser Gefangener war nach und nach sehr zahm geworden und machte selten von seinen Spitzen Gebrauch, konnte deshalb auch gelegentlich aus seinem Käfige befreit und der Wohlthat eines freien Spazierganges im Garten theilhaftig gemacht werden. Er kannte uns; wenn wir ihn riefen und ihm eine süße Kartoffel oder einen Apfel vorhielten, drehte er sein Haupt langsam gegen uns, blickte uns mild und freundlich an, stolperte dann langsam herbei, nahm die Frucht aus unserer Hand, richtete sich auf und führte diese Nahrung mit seinen Pfoten zum Munde. Oft kam er, wenn er die Thür geöffnet fand, in unser Zimmer, näherte sich uns, rieb sich an unseren Beinen und blickte uns bittend an, in der Absicht, irgend eine seiner Leckereien zu empfangen. Vergeblich bemühten wir uns, ihn zu erzürnen: er gebrauchte seine Stacheln niemals gegen uns. Anders war es, wenn ein Hund sich näherte. Dann hatte er sich augenblicklich in Vertheidigungszustand gesetzt. Die Nase niederwärts gebogen, alle Stacheln aufgerichtet und den Schwanz hin und her bewegend, zeigte er sich vollkommen fertig zum Kampfe.

»Ein großer, wüthender, im höchsten Grade streitlustiger Bullenbeißer aus der Nachbarschaft hatte die Gewohnheit, sich unter der Umzäunung unseres Gartens durchzugraben und hier von Zeit zu Zeit seine unerwünschten Besuche zu machen. Eines Morgens sahen wir ihn in der Ecke des Gartens einem Gegenstande zulaufen, welcher sich als unser Urson erwies. Dieser hatte während der Nacht einen Ausflug aus seinem Käfige gemacht und trollte noch gemüthlich umher, als der Hund sich zeigte. Seine gewöhnliche Drohung schien den Bullenbeißer nicht abzuhalten; vielleicht glaubte er auch, es mit einem Thiere zu thun zu haben, welches nicht stärker als eine Katze sein könne: kurz, er sprang plötzlich mit offenem Maule auf den Gewappneten los. Der Urson schien in demselben Augenblicke auf das doppelte seiner Größe anzuschwellen, beobachtete den ankommenden Feind scharf und theilte ihm rechtzeitig mit seinem Schwanze einen so wohlgezielten Schlag zu, daß der Bullenbeißer augenblicklich seinen Muth verlor und schmerzgepeinigt laut aufschrie. Sein Mund, die Zunge und Nase waren bedeckt mit den Stacheln seines Gegners. Unfähig die Kinnladen zu schließen, floh er mit offenem Maule unaufhaltsam über die Grundstücke. Wie es schien, hatte er eine Lehre für seine Lebenszeit erhalten; denn nichts konnte ihn später zu dem Platze zurückbringen, auf welchem ihm ein so ungastlicher Empfang bereitet worden war. Obgleich die Leute ihm sofort die Stacheln aus dem Munde zogen, blieb der Kopf doch mehrere Wochen lang geschwollen, und Monate vergingen, bevor der Mund geheilt war.«

Prinz Max von Wied fing einen Urson am oberen Missouri. »Als wir ihm zunahe kamen«, sagt er, »sträubte das Thier die langen Haare vorwärts, bog seinen Kopf unterwärts, um ihn zu verstecken, und drehte sich dabei immer im Kreise. Wollte man es angreifen, so kugelte es sich mit dem Vorderleibe zusammen und war alsdann wegen seiner äußerst scharfen, ganz locker in der Haut befestigten Stacheln nicht zu berühren. Kam man ihm sehr nahe, so rüttelte es mit dem Schwanze hin und her und rollte sich zusammen. Die Haut ist sehr weich, dünn und zerbrechlich, und die Stacheln sind in ihr so lose eingepflanzt, daß man sie bei der geringsten Berührung in den Händen schmerzhaft befestigt findet.«

Von der Wahrheit vorstehender Angaben Audubons und des Prinzen von Wied belehrte mich ebenso empfindlich als überzeugend ein Urson, welchen Freund Finsch für mich in Nordamerika angekauft und mir überbracht hatte. Derselbe war verhältnismäßig gezähmt und gutmüthig, wie alle Verwandte aber reizbar im hohen Grade und dann jederzeit geneigt, auch Bekannten einen Schlag zu versetzen. Während er sonst zusammengekauert mit glatt angelegten Stacheln und Haaren auf seinem Platze saß, sträubte er bei irgendwelcher Erregung sofort die Haut der ganzen Oberseite, so daß alle Stacheln sich aufrichteten und sichtbar wurden, legte auch gleichzeitig den breiten abgeplatteten Schwanz zum Schlage zurecht. Zu Gunsten der Leser dieses Werkes sollte er von Herrn Mützel gezeichnet werden und wurde zu dem Ende aus seinem Käfige herausgenommen und auf einen Baumstamm gesetzt, um ihm Gelegenheit zu geben, ungezwungene Stellungen anzunehmen. Nach einigem Sträuben saß er ganz ruhig. Ich streichelte ihn mit der Hand am Kopfe; er knurrte zwar, erhob jedoch die Stacheln des Rückens nicht. Ich ging weiter, untersuchte die Weichheit seines wolligen Felles auch hier und kam so nach und nach mit der Hand bis an die Schwanzspitze; kaum aber berührte ich diese, so schlug er schnell den breiten Plattschwanz von unten nach oben, und ein stechender Schmerz in meinen Fingerspitzen belehrte mich, daß seine Abwehr nur zu gut geglückt war. Achtzehn Stacheln waren so tief in meine Fingerspitzen eingedrungen, daß ich selbst nicht im Stande war, sie herauszuziehen, vielmehr Herrn Mützel bitten mußte, mir zu Hülfe zu kommen. Von nun an wurden fernere Versuche nur mittels eines Stöckchens ausgeführt und dabei bemerkt, daß der Schlag mit dem Schwanze heftig genug war, um die Stacheln auch in das harte Holz des Versuchstäbchens einzutreiben. Bedenkt man, daß der ganze Unterrücken mit ebenso feinen Stacheln wie der Schwanz bedeckt ist und letzterer gegen den Unterrücken geschlagen wird, so wird man zu der Ueberzeugung kommen müssen, daß es nicht leicht eine furchtbarere Bewaffnung geben kann, als der Urson solche besitzt. Wehe dem unglücklichen Raubthiere, welches mit seiner Schnauze oder auch nur mit einer seiner Pranken zwischen diese beiden natürlichen, im rechten Augenblicke gegeneinander klappenden Hecheln geräth: es ist, wie der von Audubon erwähnte Hund, bestraft für immer!

Abgesehen von diesen Schwanzschnellen vermochte der Urson mir wenig Theilnahme einzuflößen. Still und langweilig saß er über Tags auf ein und derselben Stelle, ein dicker Kugelballen ohne Bewegung und Leben. Erst nach Sonnenuntergang gefiel er sich, ein wenig im Käfige umherzuklettern. Obwohl hierin keineswegs ungeschickt, bewegte er sich doch weder mit Sicherheit, noch auch mit der Gewandtheit der Greifstachler, bewies vielmehr eine ähnliche Hast, wie die Bodenstachelschweine beim Laufen sie zeigen. Ein höchst unangenehmer Geruch, welcher dem von Greifstachlern ausgehenden entschieden ähnlich war, verstänkerte den Käfig und machte das Thier auch denen widerwillig, welche es mit Theilnahme betrachteten. An die Nahrung stellt der Urson keine Ansprüche, und seine Haltung verursacht deshalb keine Schwierigkeiten; doch verträgt er größere Hitze nicht. »Als der Frühling vorschritt«, berichtet Audubon, »überzeugten wir uns, daß unser armes Stachelschwein nicht für warme Länder geschaffen war. Wenn es heiß wurde, litt es so, daß wir es immer in seine kanadischen Wälder zurückwünschten. Es lag den ganzen Tag über keuchend in seinem Käfige, schien bewegungslos und elend, verlor seine Freßlust und verschmähete alle Nahrung. Schließlich brachten wir es nach seinem geliebten Baume, und hier begann es auch sofort, Rinde abzunagen. Wir betrachteten dies als ein günstiges Zeichen; aber am anderen Morgen war es verendet.« Auch mein gefangener Urson, welcher während des Winters sich wohlbefunden zu haben schien, ertrug die Wärme des Frühlings nicht. Ohne eigentlich bestimmte Krankheitserscheinungen zu bekunden, lag er eines Tages todt in seinem Käfige, unbetrauert von seinem Wärter und, ehrlich gestanden, auch unbeklagt von mir.

Der Urson wird von Jahr zu Jahr seltener. »Im westlichen Connecticut«, so erzählte William Case unserem Audubon, war das Thier noch vor einigen Jahren so häufig, daß ein Jäger gelegentlich der Eichhornjagd sieben oder acht im Laufe eines Nachmittags erlegen konnte, und zwar in einer Entfernung von drei oder vier Meilen von der Stadt, während man jetzt vielleicht nicht ein einziges dort finden würde. Sie werden mit erstaunlicher Schnelligkeit ausgerottet, hauptsächlich aus Rache von den Jägern wegen den Verletzungen, welche sie den Jagdhunden beibringen. Außer dem Menschen dürften nur wenige Feinde dem wohlgewaffneten Thiere gefährlich werden. Audubon erhielt einen kanadischen Luchs, welcher den Angriff auf ein Stachelschwein schwer hatte büßen müssen. Das Raubthier war dem Tode nahe, sein Kopf heftig entzündet und der Mund voll von den scharfen Stacheln. Derselbe Naturforscher hörte wiederholt, daß Hunde, Wölfe, ja selbst Kuguare an ähnlichen Verletzungen zu Grunde gegangen sind.

Den erlegten Urson wissen nur die Indianer entsprechend zu benutzen. Das Fleisch des Thieres wird von ihnen sehr gern gegessen und soll auch den Weißen munden. Das Fell ist, nachdem die Stacheln entfernt sind, seiner angenehmen Weiche halber brauchbar; die Stacheln werden von den Wilden vorzugsweise zum Schmuck ihrer Jagdtasche, Stiefeln usw. verwendet.

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