Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

14.10.2025, Veterinärmedizinische Universität Wien
One Health: Fliegen bedrohen Hausschweine mit Staphylococcus aureus
Das Bakterium Staphylococcus aureus ist allgegenwärtig und in der Regel harmlos. Allerdings kann das Bakterium auch pathogen sein und seine resistenten Formen sind als „Krankenhauskeim“ bekannt. Mitverantwortlich für die Resistenzen sind Viehzucht und Landwirtschaft – ein klassisches Szenario von One Health, wo die Gesundheit von Umwelt, Tier und Mensch im Zusammenhang gesehen wird. Eine aktuelle Studie der Veterinärmedizinischen Universität Wien zeigt nun, dass Fliegen bei der Entwicklung der Resistenzen eine wichtige Rolle spielen. Sie fungieren bei Hausschweinen als Überträger.
Das Bakterium Staphylococcus aureus, insbesondere seine Methicillin-resistente Form (MRSA), stellt aufgrund seiner Resistenz gegen β-Lactam-Antibiotika und seiner häufigen Multiresistenz eine erhebliche Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar. MRSA aus der Tierhaltung (LA-MRSA), insbesondere der klonale Komplex 398 (CC398), ist in der Schweinehaltung zu einem mehr oder weniger fixen Bestandteil des Keimspektrums geworden.
Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Fliegen als Überträger fungieren könnten. „Wir untersuchten deshalb das Vorkommen und die molekulare Charakterisierung von MRSA bei Stubenfliegen (Musca domestica) und Stechfliegen (Stomoxys calcitrans) in österreichischen Schweinezucht-Betrieben. Uns ging es darum, mehr über ihre Rolle bei der Übertragung von MRSA und der Verbreitung von Resistenzen zu erfahren“, umreißt Studien-Letztautor Lukas Schwarz vom Klinischen Zentrum für Populationsmedizin bei Fisch, Schwein und Geflügel der Vetmeduni.
Hoher Anteil von Multiresistenzen in MRSA aus Schweinebetrieben
MRSA wurde in 41,7 % der 24 untersuchten Schweinezuchtbetriebe nachgewiesen, wobei Isolate in Stubenfliegen (53,2 %), Stechfliegen (19,1 %), Stiefelstrumpfproben (17,0 %) und Staubwischproben (10,6 %) identifiziert wurden. „Alle Isolate waren Cefoxitin-resistent und gehörten zu CC398, wobei sie verschiedene Resistenzgene trugen“, erklärt Studien-Erstautorin Flora Hamar.
Die Rsistenz beschränkte sich nicht auf β-Lactame. Die Forscher:innen wiesen eine Resistenz gegen Tetracyclin (100 %), Erythromycin (74 %), Clindamycin (74 %) und Ciprofloxacin (32 %) sowie Trimethoprim-Sulfamethoxazol (17 %) nach. Bei 94 % der Isolate wurde eine Multiresistenz (MDR) festgestellt. Über die Ursache des Erwerbs der Multiresistenz kann nur gemutmaßt werden, soll aber in einem Folgeprojekt näher untersucht werden.
Stubenfliegen gefährlicher als Stechfliegen, One-Health-Maßnahmen gefordert
Stubenfliegen (26 %) waren häufiger Überträger von MRSA als Stechfliegen (9,4 %), was auf ihr Potenzial als bedeutende Vektoren hinweist. Umweltproben (Stiefelstrumpf- und Staubwischproben) bestätigten die weit verbreitete Kontamination in Ställen. „Unsere Studie belegt die hohe Prävalenz von LA-MRSA in österreichischen Schweineproduktionsbetrieben und identifiziert Fliegen als Vektoren, die zu seiner Verbreitung beitragen“, betont Lukas Schwarz. „Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung robuster Biosicherheitsmaßnahmen, einschließlich einer wirksamen Fliegenbekämpfung und strenger Hygieneprotokolle, um MRSA-Risiken in landwirtschaftlichen Umgebungen zu mindern.“ Strategien im Bereich der öffentlichen Gesundheit sollten sich laut den Wissenschafter:innen auf einen sorgsamen Einsatz von Antibiotika und einen One-Health-Ansatz konzentrieren, um die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen bei Menschen, Tieren und in der Umwelt merklich einzudämmen. Dafür gibt es integrierte Kontrollmaßnahmen um beispielsweise Stubenfliegen- und Wadenstecherpopulationen in Viehställen zu kontrollieren und somit die Verbreitung von Resistenzen über den Vektor Fliege zu anderen Ställen und/oder in die Umwelt zu reduzieren.
Originalpublikation:
Der Artikel „MRSA in pig farming: the emerging role of flies in antimicrobial resistance: a cross-sectional study“ von Flora Hamar, Igor Loncaric, Tanja Bernreiter-Hofer, Adriana Cabal Rosel, Anna Stöger, Monika Palle-Reisch, Werner Ruppitsch, Annemarie Kaesbohrer, Andrea Buzanich-Ladinig, Michael Bluemlinger und Lukas Schwarz wurde in „Porcine Health Management“ veröffentlicht. https://porcinehealthmanagement.biomedcentral.com/articles/10.1186/s40813-025-00…

15.10.2025, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Von mutigen Meisen und scheuen Kranichen – warum manche Vögel Neues fürchten
In einer großen Verhaltensstudie an über 130 Vogelarten untersuchte ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU), warum verschiedene Arten sich sehr unterschiedlich gegenüber Unbekanntem verhalten. Das ManyBirds-Projekt fand heraus, dass die Ernährungsweise und das Zugverhalten die Scheu vor Neuem (die sogenannte Neophobie) maßgeblich beeinflusst, wie die Forschenden nun in der Fachzeitschrift PLoS Biology berichten. Diese Ergebnisse können für die Planung von Naturschutzprogrammen relevant werden.
Vögel verhalten sich höchst unterschiedlich, wenn ihnen Neues begegnet: Während Meisen und Spatzen sich neugierig um den Gartentisch tummeln – es könnte ja etwas Leckeres herunterfallen –, nehmen andere Vögel Reißaus, sobald ein Mensch den Garten betritt.
Studienleiterin Dr. Rachael Miller von der Anglia Ruskin University und der University of Cambridge in UK: „Neophobie hat Vor- und Nachteile. Neophobe Reaktionen können ein Individuum vor potenziellen Risiken schützen, aber auch die Möglichkeiten verringern, neue Ressourcen wie unbekannte Nahrungsquellen oder Nistplätze zu nutzen.“
Warum manche Vögel neugierig und mutig sind, während andere das Neue meiden, wollten Forschende im ManyBirds-Projekt herausfinden. Das Projekt wurde 2021 von Dr. Rachael Miller und Dr. Megan Lambert (Veterinärmedizinische Universität Wien) gegründet. Insgesamt sind 129 Forscherinnen und Forscher aus 77 Institutionen beteiligt. Dr. Kai R. Caspar vom Institut für Zellbiologie der HHU gehört zum „Leadership Team“ des Projekts, er war in die Konzeption und Organisation eingebunden und an der Datenaufnahme und -analyse beteiligt.
Sowohl in Zoos und Laborhaltungen als auch in freier Wildbahn in 24 Ländern auf sechs Kontinenten beobachtete ManyBirds insgesamt 1.439 einzelne Vögeln aus 136 Arten und 25 taxonomischen Ordnungen. In Deutschland studierten Caspar und Kollegen Vögel unter anderem in Zoos und Tierparks in Detmold, Krefeld und Wuppertal, darunter den Sekretär (Sagittarius serpentarius), den Königspinguin (Aptenodytes patagonicus) und den Karibischen Flamingo (Phoenicopterus ruber).
In einem standardisierten Beobachtungsverfahren wurde jedem Vogel ein vertrautes, begehrtes Futterstück präsentiert, einmal allein und beim anderen Mal zusammen mit einem neuartigen Objekt. Dieses Objekt hatte eine einheitliche Farbe und Textur und war der Größe der jeweiligen Art angepasst.
Caspar: „Wir maßen dann die Zeit, die die Vögel in beiden Szenarien benötigten, um das Futter zu berühren. Den Zeitunterschied zwischen den Situationen interpretierten wir als Maß für die Neophobie. Das Verhalten war reproduzierbar, einzelne Individuen zeigten also konstante Reaktionen auch nach einigen Wochen Pause.“
Die Forschenden stellten fest, dass Ernährungsspezialisierung und Wanderverhalten das Maß der Neophobie maßgeblich beeinflussen. Sie vermuten, dass Arten, die nur wenige ausgesuchte Dinge essen – hierzu zählen Flamingos –, möglicherweise weniger Umweltveränderungen ausgesetzt sind und deshalb Ungewohntes als bedrohlicher wahrnehmen. Dagegen erkunden ernährungsmäßig breit aufgestellte Arten, beispielsweise Stare, schneller verschiedene Nahrungsarten und nutzen sie. Wandernde Arten wie Kraniche wiederum sind erhöhten Risiken ausgesetzt, weil sie mit vielen potenziell gefährlichen neuen Objekten und Umgebungen interagieren müssen. Für sie kann Neophobie evolutionär vorteilhaft sein.
Dr. Miller sieht Anwendungspotenziale in den Forschungsergebnissen: „Neophobie hilft zu beurteilen, wie Arten auf Veränderungen reagieren. Arten, die Unbekanntem gegenüber vorsichtiger sind, haben unter Umständen Schwierigkeiten, sich an Faktoren wie den Klimawandel oder die Urbanisierung anzupassen. Arten mit geringerer Neophobie sind dagegen flexibler oder widerstandsfähiger.“
Dr. Lambert, die Ko-Leiterin von ManyBirds, ergänzt: „Unsere Ergebnisse wirken sich insbesondere für Arten aus, die einen Lebensraumwandel erleben oder aus Zuchtprogrammen ausgewildert werden. Wenn wir deren Verhaltenstendenzen verstehen, können Naturschützer Strategien entwickeln, um die Überlebenschancen gefährdeter Arten zu verbessern.“
Dr. Caspar: „Bisher konzentrierte sich die Kognitionsforschung nur auf sehr wenige Vogelarten, etwa die Haustaube und bestimmte Rabenvögel. ManyBirds ist ein wichtiger Schritt, um bisher ignorierte Vogelgruppen in den wissenschaftlichen Blick zu nehmen und so die Evolution kognitiver Fähigkeiten besser zu verstehen.“
Originalpublikation:
Miller R, Šlipogor V, Caspar KR, Lois-Milevicich J, Soulsbury C, Reber SA, et al. (2025) A large-scale study across the avian clade identifies ecological drivers of neophobia. PLoS Biology 23(10): e3003394.
DOI: 10.1371/journal.pbio.3003394

15.10.2025, Universität Konstanz
Synchron im Geiste: Die neuronale Grundlage des Schwarmverhaltens
Wenn Tiere in Schwärmen, Herden oder Gruppen gemeinsam unterwegs sind, passiert etwas im Gehirn der Tiere: Ihre Gehirn-Aktivitäten synchronisieren sich in Form einer geteilten mentalen Repräsentation des Raums. Dies legt eine neue Studie von Forschenden der Universität Konstanz nahe. Die Ergebnisse stellen gängige Theorien darüber infrage, wie kollektive Bewegung in der Natur entsteht.
Wenn hunderte Vögel als riesiger Schwarm über den Himmel ziehen, bietet sich uns ein faszinierendes Naturschauspiel. Doch wie entsteht dieses kollektive Bewegungsverhalten, das nicht nur Schwärme von Vögeln, sondern zum Beispiel auch Heuschrecken, Fische und viele andere Arten an den Tag legen?
Mohammad Salahshour und Iain Couzin vom Exzellenzcluster Kollektives Verhalten (CASCB) der Universität Konstanz und dem Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie haben ein theoretisches Modell entwickelt, das neurobiologische Prinzipien integriert und bestehende Annahmen über die Entstehung von Schwarmverhalten infrage stellt. In ihrem aktuellen Artikel in Nature Communications zeigen sie, dass Schwarmverhalten auf natürliche Weise aus einer einfachen und im Tierreich weit verbreiteten neuronalen Architektur entstehen kann – dem sogenannten Ring-Attraktor-Netzwerk. Anders als seit Jahrzehnten angenommen, wären die Tiere eines Kollektivs also während des Schwarmverhaltens nicht auf das Befolgen starrer Verhaltensregeln angewiesen.
Ein Paradigmenwechsel in der Schwarmforschung
Zu Schwarmverhalten kommt es, so das neue Modell, weil sich die Gehirnprozesse der einzelnen Tiere über ihre Wahrnehmung miteinander verknüpfen. Dabei verarbeitet jedes Individuum seine Umgebung mithilfe eines Ring-Attraktors: Wir können uns dies wie eine Art kreisförmiges neuronales Netzwerk vorstellen, das Richtungen zu wahrgenommenen Objekten im Raum verfolgt. Auf diese Weise kann ein Tier seine Peilung zu den anderen Tieren der Gruppe im Verhältnis zu stabilen Umgebungsmerkmalen aufrechterhalten. Sobald viele Individuen miteinander interagieren, synchronisieren sich ihre neuronalen Aktivitäten, wie die Forschenden nun herausfanden. Dies führt wiederum dazu, dass die Tiere sich aneinander ausrichten, wodurch eine kollektive Bewegung entsteht.
Das bedeutet, dass koordinierte Gruppenbewegungen – anders als in bestehenden Theorien angenommen – direkt aus Navigations-Prozessen im Gehirn entstehen können. Seit den 1970er-Jahren ging man davon aus, dass die synchronisierten Bewegungen von Tiergruppen auf einfachen Verhaltensregeln beruhen – etwa sich an direkten Nachbarn auszurichten, Kollisionen zu vermeiden oder nahe beisammenzubleiben. Zwar konnten solche Regeln in Computermodellen schwarmähnliches Verhalten nachbilden, doch sie berücksichtigten nicht, wie Tiere ihre Umgebung tatsächlich wahrnehmen und verarbeiten. Wie das neue Modell zeigt, entsteht kollektive Bewegung, wenn Individuen die Richtungen anderer in Bezug auf stabile Umgebungsmerkmale repräsentieren und somit eine umgebungsbezogene, als „allozentrisch“ bezeichnete Perspektive einnehmen. Die Forschenden sprechen daher von „allozentrischem Schwarmverhalten“.
Ein Mechanismus, unzählige kollektive Verhaltensweisen
Entscheidend dabei ist, dass das Ring-Attraktor-Netzwerk nicht nur einfache Schwarmbildung ermöglicht, sondern eine Vielzahl kollektiver Verhaltensweisen hervorrufen kann – von plötzlichen Ausdehnungen des Schwarms bis zu reibungslosen, koordinierten Richtungswechseln. Empirische Studien, die an Fischen und Heuschrecken untersuchten, wie Tiergruppen scheinbar mühelos auf ihre Umgebung reagieren, unterstützen die Annahmen des neuen Modells. „Es ist eine elegante Lösung“, erklärt Salahshour. „Statt für jedes Verhalten neue Regeln zu benötigen, nutzen Tiere ein flexibles, integriertes System, das aus Einfachheit Komplexität schafft.“
Tiere müssen sich jedoch nicht auf eine einzige Art der Raumwahrnehmung verlassen. Sie können zwischen einer allozentrischen (umweltbezogenen) und einer egozentrischen (körperbezogenen) Perspektive wechseln – also zwischen der Repräsentation von Richtungen relativ zu stabilen, externen Umweltmerkmalen bzw. relativ zur Ausrichtung des eigenen Körpers. Ein schneller Wechsel zwischen diesen beiden Perspektiven verbesserte in Simulationen des Modells die Koordination und Stabilität des Schwarms, denn die Vorteile beider Systeme werden kombiniert: Die allozentrische Perspektive fördert die globale Ausrichtung der Schwarmmitglieder, während die egozentrische Sicht es den Tieren erlaubt, auf direkte Nachbarn zu reagieren und Kollisionen zu vermeiden.
„Diese Flexibilität ist das Geheimnis ihrer Anpassungsfähigkeit“, betont Couzin. „Das Gehirn bevorzugt nicht das eine oder das andere System – es nutzt beide, um in der Dynamik eines sich bewegenden Schwarms zu navigieren.“
Neue Perspektiven für die Schwarmrobotik
Komplexe Gruppenbewegungen können aus grundlegenden Navigationsfähigkeiten entstehen, die im Ring-Attraktor-Netzwerk des Gehirns kodiert sind. Diese Erkenntnis der Forschenden deutet darauf hin, dass für Schwarmverhalten keine spezialisierten neuronalen Schaltkreise erforderlich sind. Dies wiederum legt nahe, dass sich kollektives Verhalten möglicherweise mühelos aus einem universellen neuronalen Mechanismus entwickelt hat, der bereits bei solitär lebenden Vorfahren vorhanden war. Allozentrisches Schwarmverhalten schließt die Lücke zwischen Gehirn und Verhalten. Es zeigt, wie individuelle Kognition kollektive Intelligenz hervorbringt – und wie Ordnung aus Interaktion entstehen kann. Über das Tierreich hinaus kann dies künftig für die Robotik und künstliche Systeme relevant werden.
Das Modell eröffnet beispielsweise Perspektiven für die Schwarmrobotik, indem biologische und künstliche neuronale Netzwerke zusammengedacht werden. Roboter könnten sich so zum Beispiel dynamisch koordinieren – ohne GPS oder zentrale Steuerung –, indem sie das duale Navigationssystem des Gehirns nachahmen. Flexibel erlaubt es das Modell zudem, Funktionen wie Lernen, kollektive Wahrnehmung und Entscheidungsfindung zu integrieren. Vor allem jedoch, so die Forschenden, bietet es eine neue Perspektive auf die Ursprünge kollektiver Bewegung: als natürliches Ergebnis einer gemeinsamen räumlichen Wahrnehmungsperspektive im Gehirn.
• Originalpublikation: Mohammad Salahshour, Iain D. Couzin (2025) Allocentric Flocking. Nature Communications DOI: 10.1038/s41467-025-64676-5

15.10.2025, Universität Bern
Ein Funke Evolution: Wenn Unterschiede im Zusammenleben neue Arten schaffen
Schon minimale Unterschiede in der Artenzusammensetzung können den Lauf der Evolution verändern: Ein Forschungsteam der Universität Bern und der University of British Columbia in Kanada zeigt, dass das Vorkommen einer einzigen anderen Fischart ausreicht, um bei Stichlingen die Entstehung neuer Arten anzutreiben.
Seit Langem wird vermutet, dass die Anpassung an unterschiedliche Lebensräume eine wichtige Rolle für die Entstehung neuer Arten spielt. Wie gross dieser Einfluss aber tatsächlich ist – insbesondere für den Beginn des Artbildungsprozesses – und welche ökologischen Unterschiede dabei eine entscheidende Rolle spielen, gehört bis heute zu den grossen offenen Fragen der Evolutionsforschung.
Für die aktuelle Studie untersuchte das Forschungsteam Populationen von Stichlingen aus kleinen Seen Westkanadas, die nach dem Abschmelzen der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit, also vor weniger als 12’000 Jahren, entstanden sind. Vom Meer aus eroberte der Dreistachlige Stichling – ein nur etwa fingergrosser Fisch – diese jungen Gewässer. Obwohl sich die meisten dieser Seen in ihren Umweltbedingungen stark ähneln, gibt es einen entscheidenden Unterschied: In manchen lebt neben dem Stichling eine weitere Fischart, die Stachlige Groppe, in anderen nicht.
Dieses scheinbar kleine ökologische Detail hat grosse Folgen: In Seen mit Groppen haben sich Stichlingspopulationen in evolutiv kürzester Zeit zu schlanken, im Freiwasser lebenden Formen entwickelt, in Seen ohne Groppen dagegen zu gedrungeneren, bodenorientierten Formen. «Unsere Studie liefert neue Einblicke, wie neue Arten entstehen und welche Bedeutung solche ökologischen Unterschiede dabei haben», sagt Dr. Marius Rösti vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern. Rösti ist Erstautor der Studie, die soeben in der Fachzeitschrift PNAS erschienen ist. Er initiierte das Forschungsprojekt während seines mehrjährigen Postdoktorats an der University of British Columbia in Kanada, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützt wurde, und schloss die Arbeiten an der Universität Bern ab.
Paarungsverhalten als entscheidender Schritt auf dem Weg zu neuen Arten
Um herauszufinden, ob unterschiedliche Anpassung von Stichlingen aus Seen mit und ohne Groppen tatsächlich zur Entstehung neuer Arten führt, setzten die Forschenden Hunderte Fische aus mehreren Seen beider Typen in grosse Versuchsteiche. Eine genetische Analyse von über 400 Nachkommen brachte Überraschendes zutage: Stichlinge paarten sich bevorzugt mit Partnern aus demselben Seentyp. In manchen Fällen war diese Partnerwahl so ausgeprägt, dass sich Populationen aus unterschiedlichen Seentypen vollständig voneinander trennten.
Rösti erklärt: «Dieser direkte Nachweis der Entstehung neuer Arten gelang nur dank des experimentellen Ansatzes. Indem wir evolutiv sehr junge Populationen unter kontrollierten Bedingungen zusammenbrachten, konnten wir zeigen, dass sie trotz vorhandener Paarungsmöglichkeiten weitgehend reproduktiv getrennt blieben – und damit den entscheidenden Schritt auf dem Weg hin zu neuen Arten vollzogen haben.»
Interaktion mit einer einzigen, ökologisch ähnlichen Art entscheidend
Wie die Studie zudem belegen konnte, hing der Grad der Isolation von der Stärke der Anpassung an die Groppe ab. Kurz gesagt, Populationen aus unterschiedlichen Seentypen, die sich in Körperform und Erbgut besonders stark unterschieden, paarten sich kaum noch miteinander. «Bemerkenswert ist, dass die Groppe kaum in direkter Wechselwirkung mit dem Stichling steht: Sie frisst ähnliche Beutetiere und hat dieselben Fressfeinde. Die beiden Arten beeinflussen sich also vor allem indirekt», erklärt Rösti. Bislang galt vor allem der Einfluss enger, direkter Beziehungen – etwa zwischen Wirt und Parasit oder Pflanze und Bestäuber – als Motor schneller Artbildung. «Unsere Studie zeigt, dass auch indirekte ökologische Interaktionen ausreichen können, um den Artbildungsprozess in Gang zu setzen», so Rösti.
Die Ergebnisse machen deutlich, dass ökologische Unterschiede auch zwischen geografisch isolierten Populationen ein wichtiger Motor der Artbildung sein können. Zwar gilt geografische Isolation häufig als Voraussetzung für den Beginn der Artbildung, doch ist umstritten, welche Bedeutung Unterschiede in der ökologischen Anpassung dabei tatsächlich haben. «Unsere Studie zeigt, dass neue Arten nicht zwingend durch lange geografische Trennung und zufällige Veränderungen entstehen – manchmal genügt schon die Anpassung an scheinbar kleine ökologische Unterschiede, um den Artbildungsprozess in erstaunlich kurzer Zeit anzustossen», sagt Rösti.
Empfindliches Zusammenspiel von Arten
Die Studie verdeutlicht, dass selbst kleine ökologische Unterschiede das Potenzial haben, die biologische Vielfalt langfristig zu prägen. Sie macht dadurch auch deutlich, wie empfindlich das Zusammenspiel von Arten für deren Evolution und biologische Vielfalt ganz allgemein ist: Je nach Veränderung können neue Arten entstehen oder bestehende Arten verschwinden. «Vor Kurzem haben wir erfahren, dass eine der untersuchten Stichlingspopulationen inzwischen ausgestorben ist, nachdem eine räuberische, fremde Fischart in ihren See eingeführt wurde. Ein trauriges Beispiel, das zeigt, wie stark auch menschliche Eingriffe, die das Zusammenleben von Arten verändern, natürliche Evolutionsprozesse tiefgreifend und dauerhaft beeinflussen können», sagt Rösti.
Die Forschenden führen ihre Untersuchungen zur Artbildung fort – auch in heimischen Gewässern wie im Bodenseeraum, wo sich der Stichling ebenfalls an unterschiedliche Lebensräume angepasst hat. Im Mittelpunkt steht dabei das Ziel, die Mechanismen der Artbildung unter naturnahen Bedingungen mit Feldexperimenten besser zu verstehen. Durch die Kombination solcher Experimente mit hochauflösenden Laboranalysen wollen die Forschenden weitere Einblicke in die Entstehung biologischer Vielfalt gewinnen.
Das Institut für Ökologie und Evolution / Departement für Biologie
Das Institut für Ökologie und Evolution an der Universität Bern widmet sich der Forschung und Lehre in allen Aspekten von Ökologie und Evolution und versucht eine wissenschaftliche Basis für das Verständnis und die Erhaltung der lebenden Umwelt zu bieten. Es werden die Mechanismen untersucht, durch die Organismen auf ihre Umwelt reagieren und mit ihr interagieren, einschliesslich phänotypischer Reaktionen auf individueller Ebene, Veränderungen in Häufigkeiten von Genen und Allelen auf Populationsebene, wie auch Veränderungen in der Artenzusammensetzung von Gemeinschaften bis hin zur Funktionsweise von ganzen Ökosystemen.
Originalpublikation:
Roesti, M., J. S. Groh, F. C. Jones, C. L. Peichel and D. Schluter. 2025. A species interaction kick-starts ecological speciation in allopatry. Proceedings of the National Academy of Sciences (USA): in press.
DOI: 10.1073/pnas.2506625122
https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2506625122

16.10.2025, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Ungefährliches Krokodil in Gefahr: Erstmaliger IUCN Green Status stuft Gavial als „kritisch dezimiert” ein
Der Gavial ist ein besonderes Krokodil. Er ist für den Menschen ungefährlich und hat ein bemerkenswertes Sozialleben. So pflegen die Tiere gemeinschaftliche Kinderstuben, in denen bis zu 1.000 Jungtiere leben. Solche großen Zusammenkünfte sind heute selten geworden; Gerade hat die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) den Gavial nach dem „Green Status” als „kritisch dezimiert” eingestuft. Zu den Co-Autorinnen dieser Expertenbewertung zählt Dr. Phoebe Griffith vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Diese Bewertung unterstreicht, wie wichtig der Schutz von frei fließenden Flüsse in Südasien ist.
Der IUCN Green Status of Species ergänzt die bekannte Rote Liste, den globalen Standard zur Bewertung des Aussterberisikos einzelner Arten. In der Roten Liste ist der Gavial (Gavialis gangeticus) als „vom Aussterben bedroht“ (CR) aufgeführt. Der „Green Status” schätzt ein, wie weit die Art von einer vollständigen Erholung entfernt ist, und berücksichtigt dabei auch die bisherigen Naturschutzbemühungen sowie das Potenzial für eine zukünftige Erholung in verschiedenen Regionen. Diese Regionen sind sorgfältig ausgewählte räumliche Einheiten, die im Rahmen der Bewertung zugewiesen werden. In dieser erstmaligen Bewertung des Green Status wurde der Gavial nun als „kritisch dezimiert” eingestuft.
Krokodil mit hoher biologischer und kultureller Relevanz:
„Gaviale, die auch als Ghariale bezeichnet werden, sind aufgrund ihrer langen Schnauzen und der knolligen ‚Ghara‘-Struktur am Schnauzenende der erwachsenen Männchen sehr besondere Krokodile. Der Name stammt von dem Wort für eine lokal gebräuchliche Topfform, der sie äußerlich ähneln”, erklärt Phoebe Griffith.
Auch aus ökologischer und evolutionärer Sicht ist diese Art ziemlich einzigartig. Wenn man außerdem auf die Geschichte Südasiens blickt, kann man in Kunstwerken aus den letzten 5.000 Jahren schwimmende Gaviale entdecken. „Dies zeigt, dass diese Art auch ein wichtiger Teil des kulturellen Erbes ist, mit dem die Menschen die Flüsse über Jahrtausende hinweg gefahrlos geteilt haben. Erst mit dem Aufkommen großflächiger Flussinfrastrukturen seit der Kolonialzeit ging es für die Gaviale bergab“, sagt Phoebe Griffith, die im Schwerpunkt die Süßwasser-Megafauna erforscht, also aquatische Tierarten mit über 30 Kilogramm Körpergewicht. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Forschung ist die biokulturelle Vielfalt; Sie betrachtet die verschiedenen kulturellen Rollen von Süßwasser-Megafauna-Arten als Schlüsselaspekt ihrer Erhaltung.
Zukünftige Schutzmaßnahmen sollten sich auf den Schutz und die Wiederherstellung von Lebensräumen konzentrieren:
Gaviale sind wichtige Leit- und Schirmarten in den Flüssen Indiens und Nepals. Der Schutz ihrer Lebensräume kommt auch vielen anderen Arten zugute. Dank der bisherigen Schutzbemühungen ist der Gavial nicht vollständig verschwunden, wie die Autorinnen und Autoren betonen. Ohne Schutzgebiete und Verbote für die Fischerei mit Kiemennetzen, die Jagd und das Sammeln von Eiern wäre der Gavial jedoch mit ziemlicher Sicherheit bereits ausgestorben. „Die Bewertung hilft uns, einen Blick auf die Zukunft des Gavialschutzes zu werfen und bestehende Populationen zu identifizieren, deren Erholung durch innovative, evidenzbasierte Schutzmaßnahmen gefördert werden könnte“, erklärt Phoebe Griffith. Sie ist Co-Vorsitzende des European Croc Network und des Early-Career Croc Network und gehört dem Lenkungsausschuss der IUCN SSC Crocodile Specialist Group an.
Laut dem Bewertungsteam gibt es noch Hoffnung für den Gavial. Die Schutzmaßnahmen müssen jedoch strategisch dort ansetzen, wo sie die größte Wirkung erzielen, insbesondere beim Schutz und der Wiederherstellung von Lebensräumen sowie bei Maßnahmen zur Förderung der Koexistenz mit dem Menschen.
Originalpublikation:
https://iucn.org/resources/conservation-tool/iucn-green-list-protected-and-conse…

16.10.2025, Universität Wien
Verborgene Lebensgeschichten in Fischohren
Forscher*innen entschlüsseln mittels Elektronenmikroskop „Tagebucheinträge“ von fossilen Fisch-Gehörsteinchen
Fossile Gehörsteinchen von Fischen, sogenannte Otolithen, können weit mehr verraten als bisher angenommen: In einer Studie zeigte ein Team von Paläontolog*innen unter der Leitung der Universität Wien, dass eine optimierte Elektronenmikroskopie-Technik feinste Wachstumsringe sichtbar macht, die das Leben der Fische auf Ebene weniger Stunden abbilden könnten – ein entscheidender Schritt für das Verständnis von Fischwachstum, Biomineralisation und Umweltveränderungen über Jahrtausende hinweg. Die Studie wurde aktuell im Journal Limnology and Oceanogryphy: Methods veröffentlicht.
Alle Fische besitzen in ihrem Innenohr winzige mineralische Gehörsteinchen, sogenannte Otolithen. „Diese Strukturen speichern das gesamte Leben eines Fisches in Form von Wachstumsringen – ähnlich wie die Jahresringe eines Baumes. Aus ihnen lassen sich Alter, Wachstumsphasen und sogar Hinweise auf Umweltbedingungen ablesen“, erklärt Erstautorin Isabella Leonhard vom Institut für Paläontologie der Universität Wien.
In der modernen Meeresbiologie und Fischerei-Forschung sind Otolithen daher seit Jahrzehnten ein unverzichtbares Werkzeug um Wachstum, Migration und Bestandsentwicklung von Fischen zu untersuchen. In der Paläontologie hingegen wurden Otolithen lange nur am Rande berücksichtigt. „Das ändert sich aber gerade, denn durch neue technische Möglichkeiten – von hochauflösender Bildgebung bis hin zu chemischen Analysen – lassen sich immer mehr Methoden, die in der Biologie seit Jahren etabliert sind, auch auf Jahrtausende bis Jahrmillionen alte Fossilien übertragen“, so Leonhard. Damit rücken die Gehörsteinchen auch in der Paläontologie immer stärker ins Zentrum und eröffnen einzigartige Einblicke in frühere Fischpopulationen.
„Tagebucheinträge“ von Fischen
Besonders aufschlussreich sind die mikroskopisch feinen Wachstumsringe der Gehörsteinchen, die wie die „Tagebucheinträge“ eines Fisches gelesen werden können. In fossilen Otolithen waren diese Strukturen bislang oft schwer zu erkennen – einerseits, weil das Material je nach Erhaltungszustand und Ablagerungsbedingungen unterschiedlich gut konserviert ist, andererseits, weil Lichtmikroskopie und klassische Elektronenmikroskopie hier an ihre Grenzen stießen.
Das Team um die Nachwuchswissenschafterin Leonhard optimierte nun jedoch eine in der Geologie etablierte Technik für die Erforschung dieser Wachstumsringe: Mittels Backscatter Electron Imaging (BSE) werden die unterschiedlichen Rückstreuungen von Elektronen im Material genutzt, um feinste Unterschiede in der Struktur darstellen zu können. Durch gezielt optimierte Einstellungen konnten die Forschenden extrem fein gebänderte Wachstumsringe in Otolithen der Schwarzgrundel (Gobius niger) aus der nördlichen Adria, die teils seit über 7.600 Jahren im Meeresboden lagerten, sichtbar machen, die mit Standardmethoden schlicht übersehen worden wären. Insgesamt wurden so bis zu 275 Prozent mehr Wachstumsringe erkannt.
„Mit dem Elektronenmikroskop konnten wir so auch die feinsten Wachstumsringe sichtbar machen“, erklärt Leonhard. Normalerweise lagern sich die feinen Ringe in einem täglichen Rhythmus ab. Zusätzlich gibt es aber auch Mikroinkremente, die unabhängig von diesem Tagesrhythmen entstehen können, etwa durch Nahrungsaufnahme, Wanderbewegungen, Veränderungen in der Umgebung oder Stressfaktoren. „Wir haben nun auch extrem feine Strukturen gefunden, die sich periodisch ablagern, jedoch in deutlich kürzeren Zeiträumen als täglich. Ihre Regelmäßigkeit deutet darauf hin, dass auch sie einem biologischen Rhythmus folgen. Was genau dahintersteckt, müsste allerdings erst geklärt werden, beispielsweise über kontrollierte Wachstums-Experimente“, so die Paläontologin und Kooperations-Partnerin Emilia Jarochowska von der Utrecht Universität.
Mittels fossiler Otolithen heutige Veränderungen besser einordnen
Mithilfe der optimierten Backscatter Electron Imaging Methode können Forscher*innen künftig fossile und moderne Fischpopulationen detailliert miteinander vergleichen und damit auch heutige Veränderungen in einen größeren zeitlichen Kontext stellen. „Gerade in Zeiten von Klimawandel und Überfischung ist es wichtig, die Entwicklung von Fischbeständen über lange Zeiträume hinweg nachvollziehen zu können“, betont Martin Zuschin, Leiter des Instituts für Paläontologie und ebenfalls einer der Studienautor*innen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass fossile Otolithen ein enormes, bisher ungenutztes Potenzial bergen – und dass sie helfen können, heutige Veränderungen besser einzuordnen.“
Die Studie ist Teil des ÖAW-geförderten Dissertationsprojekt von Isabella Leonhard (Survival oft the smallest? The long-term impact of climate change on non-commercial fishes in the Adriatic Sea; Supervision: Martin Zuschin) am Institut für Paläontologie an der Universität Wien. Isabella ist Doktorantin an der VDSEE (Vienna Doctoroal School of Ecology and Evolution).
Originalpublikation:
Isabella Leonhard, Emilia Jarochowska, et al (2025): Revealing growth increments in fossil and modern otoliths with backscatter electron imaging. In Limnology and Oceanogryphy: Methods.
DOI: 10.1002/lom3.70006
https://aslopubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/lom3.70006

16.10.2025, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg
Flughunde nutzen „globale“ Kompassneuronen zum Navigieren in freier Wildbahn
Studie in Science: Ein Forschungsteam aus Israel, Tansania und Deutschland hat erstmals Gehirnaktivitäten von Säugetieren in freier Natur aufgezeichnet. Dabei zeigte sich, dass die untersuchten Nilflughunde über einen neuronalen Kompass verfügen, der ihnen stabile Richtungsinformationen liefert und nicht vom Mond oder den Sternen abhängt. Das Erdmagnetfeld spielt bei der Navigation der Tiere wahrscheinlich keine Rolle. Die Untersuchungen fanden auf einer kleinen, unbewohnten Insel im Indischen Ozean statt.
Rund 40 Kilometer östlich der Küste von Tansania in Ostafrika liegt Latham Island, eine felsige, unbewohnte Insel mit einer Fläche von etwa sieben Fußballfeldern. Auf diesem entlegenen Fleckchen Erde zeichneten Forschende vom Weizmann Institute of Sciences in Rehovot (Israel) erstmals Gehirnaktivitäten von Säugetieren in freier Wildbahn auf. An ihrer Studie, die heute in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde, war auch der Biologe Prof. Dr. Henrik Mouritsen von der Universität Oldenburg beteiligt.
Das Team nutzte winzige Datenlogger, um die Aktivität einzelner Nervenzellen von Nilflughunden aufzuzeichnen, während die Tiere über die Insel flogen. Die Forschenden fanden heraus, dass die mit den Fledermäusen verwandten Tiere über einen neuronalen Kompass verfügen, der ihnen auf der gesamten Insel stabile Richtungsinformationen liefert und nicht vom Mond oder den Sternen abhängt. Experimente in Israel, die Mouritsen gemeinsam mit Dr. Shir Maimon vom Weizmann Institute durchführte, zeigten zudem, dass das Erdmagnetfeld bei der Navigation der Nilflughunde wahrscheinlich keine Rolle spielt. Dabei sei es durchaus denkbar, dass die Flughunde zum Navigieren den gleichen neuronalen Mechanismus verwenden wie Menschen.
Prof. Dr. Nachum Ulanovsky vom Weizmann Institut, verantwortlicher Autor der Studie und einer der führenden Wissenschaftler des von Mouritsen geleiteten Sonderforschungsbereichs „Magnetrezeption und Navigation in Vertebraten“, begann bereits 2018 mit der Suche nach einer passenden Umgebung, um die Navigation von Säugetieren in freier Wildbahn zu erforschen. Nach einer längeren Sondierung stieß der Forscher auf Latham Island, eine isolierte, unbewachsene Insel im Indischen Ozean mit genau der richtigen Größe, um die Flüge von Flughunden verfolgen und die Tiere nach einer gewissen Zeit wieder einfangen zu können.
Die erste Expedition des Teams fand 2023 statt, eine zweite 2024. Die Forschenden führten auf Latham Island Experimente mit sechs aus Tansania stammenden Nilflughunden (Rousettus aegyptiacus) durch, denen sie zuvor winzige Datenlogger implantiert hatten. Diese Vorrichtungen zeichneten die Gehirnaktivität, GPS-Signale und weitere Daten auf. Die Forschenden hatten die Datenlogger – die kleinsten ihrer Art auf der Welt – speziell für die Studie entwickelt. Das Team ließ die Tiere zunächst in einem großen Zelt auf der Insel frei, damit sie sich an ihre neue Umgebung gewöhnen konnten.
Danach flog jeder Flughund nachts einzeln für jeweils 30 bis 50 Minuten über die Insel. Währenddessen zeichneten die Forschenden die Aktivität von mehr als 400 Nervenzellen im Gehirn auf – in Regionen, von denen bekannt ist, dass sie bei der Navigation eine Rolle spielen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass jedes Mal eine spezielle Gruppe von Nervenzellen aktiv wurde, wenn der Kopf der Fledertiere beim Fliegen in eine bestimmte Richtung zeigte. Auf diese Weise entstand ein interner Kompass, der den Tieren anzeigte, in welcher Richtung sie gerade unterwegs waren. Navigation anhand solcher Richtungsneuronen, der sogenannten Kopfrichtungszellen, war schon zuvor im Labor beobachtet worden. Wie die Forschenden schreiben, liefert die Studie erstmals Beweise dafür, dass dieser Mechanismus in freier Natur genauso abläuft.
Daten von unterschiedlichen Orten auf Latham Island belegten, dass die Aktivität der Kopfrichtungszellen auf der gesamten Insel konsistent und verlässlich ist. Dies ermöglicht es den Flughunden, sich auf einer großen geografischen Fläche zu orientieren.
„Eine der großen Fragen der Säugetiernavigation ist, ob Kopfrichtungszellen als lokaler oder globaler Kompass funktionieren“, erklärt Ulanovsky. „Mit anderen Worten: Zeigt eine bestimmte Gruppe von Zellen immer in die gleiche Richtung, etwa nach Norden, oder orientiert sich der gesamte Kompass je nach lokaler Umgebung um?“ Die Studie habe ergeben, dass der Kompass global ist. „Wo auch immer sich der Flughund auf der Insel befindet und was auch immer er sieht – spezifische Zellen zeigen immer in die gleiche Richtung. Nord bleibt Nord und Süd bleibt Süd.“ Auch wenn sich ein Flughund von der Westküste der Insel zur Südküste bewegte und die Küstenlinie somit ihre Richtung änderte, störte dies den Kompass nicht. Flughöhe und Geschwindigkeit spielten ebenfalls keine Rolle.
Als nächstes untersuchte das Team, auf welchen Informationen der Kompass der Flughunde beruht, die sich anders als Fledermäuse nicht mittels Echoortung orientieren können. Die Forschenden prüften etwa, ob die Nilflughunde zur Orientierung ähnlich wie Zugvögel das Magnetfeld der Erde nutzen. Untersuchungen von Mouritsen und Mitgliedern aus Ulanovskys Team in einem speziell errichteten Flugtunnel in Israel zeigten, dass die Richtung des Magnetfeldes relativ zur Flugrichtung keinen Einfluss darauf hatte, wie diese in den Kompasszellen kodiert wurde. Beobachtungen auf Latham Island lieferten weitere Belege dafür, dass die Fledermäuse das Magnetfeld der Erde wahrscheinlich nicht als Grundlage für ihre Kompassneuronen nutzen. Unter anderem beobachtete das Team, wie der neuronale Kompass der Tiere einen Lernprozess durchlief und erst nach drei Nächten zuverlässig funktionierte. Daraus schlossen die Forschenden, dass sich die Flughunde an Landmarken wie Klippen oder großen Felsen orientieren. „Für die Flughunde ist das Sehen der wichtigste Sinn; er reicht auch am weitesten in die Ferne“, erklärt Ulanovsky. Anders als die Navigation anhand des Erdmagnetfeldes erfordere das Lernen von Landmarken eine komplexe Verarbeitung neuronaler Signale und dauere daher einige Nächte.
Die Forschenden untersuchten weiterhin, ob die Flughunde Sonne, Mond oder Sterne zum Navigieren nutzen. Messungen der Aktivität der Kopfrichtungszellen lieferten jedoch keinen Hinweis darauf. Das Team hält es indessen für möglich, dass Mond oder Sterne dazu dienen könnten, den neuronalen Kompass zu kalibrieren.
Kopfrichtungszellen bilden den grundlegendsten Navigationsmechanismus von Säugetieren, sie entstehen schon während der frühesten Stadien der Gehirnentwicklung. „Indem wir die Navigation von Säugetieren untersuchen, können wir Hypothesen dazu aufstellen, wie Navigationsmechanismen im menschlichen Gehirn funktionieren und wie sie gestört werden, etwa durch neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer“, betont Ulanovsky. Dafür seien Studien in komplexen, natürlichen Umgebungen unerlässlich, die dank technologischer Fortschritte erst seit kurzem möglich seien.
Shaked Palgi, der Erstautor der Studie, ist Doktorand im Sonderforschungsbereich „Magnetrezeption und Navigation in Vertebraten“. Neben den bereits erwähnten Forschenden waren Dr. Liora Las, Yuval Waserman, Liron Ben-Ari, Dr. Tamir Eliav, Dr. Avishag Tuval und Chen Cohen vom Weizmann Institut sowie Dr. Julius Keyyu vom Tanzania Wildlife Research Institute und Dr. Abdalla Ali von der Staatlichen Universität von Sansibar an der Studie beteiligt.
Originalpublikation:
Shaked Palgi et al.: „Head-direction cells as a neural compass in bats navigating outdoors on a remote oceanic island“, Science 16. Oktober 2025, DOI: 10.1126/science.adw6202

17.10.2025, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
Mit dem Klimawandel Schritt halten: Genetischer Austausch ermöglicht schnelle Anpassung bei Singvögeln
Austausch genetischer Vielfalt zwischen Arten beschleunigt die evolutionäre Anpassung
Der Klimawandel verändert unsere Umwelt in rasantem Tempo – und stellt viele Tierarten vor große Herausforderungen. Ob sie sich anpassen können, hängt entscheidend von ihrer genetischen Vielfalt ab. Eine internationale Studie mit Beteiligung von Forschenden des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) zeigt nun, wie eng genetische Vielfalt und Anpassungsfähigkeit miteinander verknüpft sind. Die Arbeit ist im Fachmagazin Science erschienen und wurde unter Leitung der Schweizerischen Vogelwarte durchgeführt.
Das Forschungsteam untersuchte die evolutionäre Entstehung der Gefiederfärbung bei Steinschmätzern (Gattung Oenanthe). Dabei zeigte sich: Nahe verwandte Arten konnten sich durch den Austausch von Erbanlagen, die für die Gefiederfarbe verantwortlich sind, schnell an neue Umweltbedingungen anpassen.
Farben erzählen evolutionäre Geschichten
Veränderungen in einem einzigen Gen – dem sogenannten Agouti Signaling Protein (ASIP) – führten beim Balkansteinschmätzer (Oenanthe melanoleuca) zu einem weißen Gefieder an Kehle und Rücken. Die zugrundeliegenden Mutationen entstanden im natürlichen Verlauf der Evolution und wurden durch umfassende Genomvergleiche und populationsgenetische Analysen identifiziert.
Diese genetischen Varianten wurden anschließend durch Kreuzung an den Maurensteinschmätzer (Oenanthe hispanica) weitergegeben. In beiden Arten ersetzte schließlich die weiße Rückenfärbung die ursprünglich schwarze. Die Kehlen zeigen heute beide Färbungen – schwarz und weiß –, was mit unterschiedlichen Nahrungsnischen der Tiere zusammenhängt.
„Unsere Ergebnisse zeigen eindrucksvoll, dass evolutionäre Innovationen oft das Ergebnis eines genetischen Mosaiks sind“, sagt Prof. Alexander Suh, Leiter des Zentrums für Molekulare Biodiversitätsforschung und der Sektion Molekulare Biodiversität am LIB. „Durch den Austausch von Erbinformationen über Artgrenzen hinweg entstehen neue Kombinationen genetischer Module – ein Prozess, der dazu beitragen kann, dass Arten sich rasch an neue Umweltbedingungen anpassen.“
Evolution als genetisches Mosaik
Während der schnelle genetische Austausch zwischen nah verwandten Arten kurzfristige Anpassungen ermöglicht, war für die langfristige Evolution der Gefiederfärbung in entfernter verwandten Steinschmätzern die Entstehung völlig neuer genetischer Varianten entscheidend. Die Forschenden betonen daher, wie wichtig es ist, genetische Vielfalt sowohl innerhalb als auch zwischen Arten zu bewahren – um die Anpassungsfähigkeit der Natur im Klimawandel zu sichern.
Originalpublikation:
Dave Lutgen et al. (2025): “A mosaic of modular variation at a single gene underpins convergent plumage coloration”, Science. https://doi.org/10.1126/science.ado8005

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