25.08.2025, Universität Greifswald
Assel-Schutzschild: Kellerasseln setzen bei Spinnenangriff chemische Waffen ein
Im evolutionären Wettrüsten zwischen Fressfeind und Beute setzen Beutetiere oft chemische Abwehrmechanismen ein, um sich zu schützen. Ein Team um den Biologen Dr. Andreas Fischer von der Universität Greifswald und Kolleg*innen der Simon Fraser University, Kanada, hat nun entdeckt, dass die gewöhnliche Kellerassel (Porcellio scaber) einen Cocktail aus vier Chinolin-basierten Chemikalien absondert, sobald sie von einer räuberischen Spinne angegriffen wird. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der Fachzeitschrift The Journal of the Royal Society Interface publiziert.
Wenn die Assel von einem Fressfeind attackiert wird, gibt sie über Drüsen an ihrer Körperseite eine Flüssigkeit ab. Diese Flüssigkeit wird sofort klebrig-viskos. Sobald der Fressfeind damit in Berührung kommt, lässt er umgehend von der Assel ab. „Wir waren fasziniert davon, dass die häufig vorkommenden Kellerasseln kaum von Fressfeinden gejagt werden. Gleichzeitig ist sehr wenig über die Abwehrmechanismen von Krebstieren bekannt“, sagt Dr. Andreas Fischer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Zoologie an der Universität Greifswald. Im Gegensatz zu Insekten, bei denen chemische Verteidigungsstrategien gut untersucht sind, fanden Fischer und seine Kolleg*innen keine Studie, die die chemische Verteidigung bei Krebstieren unter die Lupe nahm. „Daher wollten wir herauszufinden, ob auch Asseln über ein chemisches Arsenal verfügen und woraus dieses besteht“, erklärt Dr. Andreas Fischer.
Im Laborexperiment konnte Fischer zeigen, dass Spinnen der Art Steatoda grossa zwar bereitwillig Käfer (Tenebrio molitor) erbeuteten, aber chemisch geschützte Kellerasseln verschmähten. Wurden Käfer künstlich mit Asselsekreten behandelt, lehnten die Spinnen auch diese Beute ab. Das gab den Anlass für das Team, mithilfe moderner Analysenverfahren die Sekrete zu untersuchen. Die Forschenden identifizierten mittels Gas- und Flüssigchromatographie in Kombination mit Massenspektrometrie vier chemische Verbindungen. Drei davon waren in der Natur bislang unbekannt.
„Mit unserem Experiment konnten wir zeigen, dass Landasseln über eine chemische Verteidigung verfügen – ähnlich wie viele Insekten“, sagt Dr. Andreas Fischer. „Diese Ergebnisse liefern wichtige Einblicke in die Evolution von Abwehrmechanismen bei Krebstieren und erweitern unser Wissen über chemische Strategien im Überlebenskampf zwischen Räuber und Beute.“
Weitere Informationen
Publikation: Fischer Andreas, Gries Regine, Roman-Torres Camila A., Devireddy Anand and Gries Gerhard 2025. Glandular quinoline-derivates protect crustacean woodlice from spider predation J. R. Soc. Interface. 2220250260, http://doi.org/10.1098/rsif.2025.0260
26.08.2025, Universität Konstanz
Warum das Zwerg-Seepferdchen eine Stupsnase hat
Eine deutsch-chinesische Forschungsgruppe um den Konstanzer Evolutionsbiologen Axel Meyer hat das Genom des Zwerg-Seepferdchens sequenziert. Sie konnten dabei unter anderem Genverluste identifizieren, welche für die verkürzte Nase verantwortlich sind – und deren erstaunliche Camouflage und Mimikry zu ihrer Gastkoralle ermöglichen.
Zwerg-Seepferdchen (Hippocampus bargibanti) sind Meister der Tarnung. Sie gehören zu den kleinsten Wirbeltieren, sind gerade einmal so groß wie ein Daumennagel und leben in Korallenriffen des westlichen Pazifiks. Dort leben sie in einer Symbiose mit einer bestimmten Korallenart und haben sich in Körperform und Farbe verblüffend an diese angepasst. Ein Forschungsteam der Universität Konstanz und des South China Sea Institute of Oceanology in Guanghzhou in China hat das Genom dieser Seepferdchen analysiert und herausgefunden, wie ihnen die erstaunliche Ähnlichkeit zu ihren Korallen gelingt.
Nachahmung in Farbe und Form
Noch vor 45 Jahren waren die Zwerg-Seepferdchen völlig unbekannt. Dank ihrer extrem guten Tarnung waren sie vorher schlicht nicht entdeckt worden. Auch heute noch ist das Wissen um ihre Biologie nur fragmentarisch, denn es ist weiterhin schwer, sie ausfindig zu machen oder gar in Aquarien zu halten. Die Farbe und Struktur ihrer Haut entspricht exakt dem Aussehen der Koralle, an der sie sich Tag und Nacht mit ihrem Schwanz festhalten und warten, dass das Futter an ihnen vorbeischwimmt.
Im Laufe der Evolution haben diese Tiere kleine Knötchen auf ihrer Haut ausgebildet, welche die Polypen der Koralle in Form und Farbe imitieren, und selbst ihr Maul ist auf Polypenlänge verkürzt, um weniger aufzufallen. „Üblicherweise haben Seepferdchen eine langgezogene Schnauze, die einem Pferd (Griechisch „hippos“) ähnelt. Daher auch der wissenschaftliche Name von Seepferdchen: Hippocampus. Damit würde das Zwerg-Seepferchen sich aber von der Bauart der Koralle abheben. Für uns war es daher interessant zu erfahren, in welchem Entwicklungsstadium dieses abweichende Aussehen des Zwerg-Seepferdchens zugunsten der besseren Tarnung verursacht wird und welche Gene dafür verantwortlich sind“, erklärt Axel Meyer. Er ist Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Konstanz und zusammen mit Professor Lin Qiang vom Institut der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Guangzhou in China Leadautor der Studie. Um der Frage nach den verantwortlichen Genen auf den Grund zu gehen, haben sie sich zusammen mit ihrem Team das Expressionsmuster der Gene des Zwerg-Seepferdchens in verschiedenen Phasen der Entwicklung in der Maulregion angesehen.
Ewiges Kindchenschema
In frühen Entwicklungsstadien ist bei allen Seepferdchen-Arten der Kopf noch kurz und entspricht zusammen mit den gedrungenen Gesichtsproportionen dem seit Konrad Lorenz bekannten Kindchenschema. Dieser Niedlichkeitsfaktor im jungen Alter ist auch von Säugetieren bekannt. „Normalerweise bewirkt ein Zusammenspiel verschiedener genetischer Komponenten, dass ab einem bestimmten Alter die Nase eines Seepferdchens proportional schneller wächst und damit länger wird als andere Teile des Körpers. Beim Zwerg-Seepferdchen haben wir nun aber festgestellt, dass diese unterschiedlichen Wachstumsgeschwindigkeiten unterdrückt sind, weil das hoxa2b Gen bei ihm verloren gegangen ist“, sagt Meyer.
Statt das Wachstum anzuregen, fehlt daher diese Funktion und verhindert damit die weitere Verlängerung des Mauls. „Dies konnten wir auch mit CRISPR-Cas9 Experimenten am Zebrafisch nachweisen. Der Kopf des Zwerg-Seepferdchens bleibt im ,kindlich‘ früheren Entwicklungsstadium stecken. Das passt zur Camouflage an die Koralle und macht es schwieriger für Fressfeinde, diese Tiere auf der Koralle zu entdecken“, erklärt Meyer. „Erst mit der kurzen Schnauze verschmilzt das Zwerg-Seepferdchen optisch quasi mit der Koralle. Eine lange Nase würde hingegen deutlich hervortreten und die Tarnung erschweren.“
Viele verlorene Gene
Das Forschungsteam hat neben der Kopfform auch die genetische Basis der Hautfarbe, die Ausbildung der Hautknötchen und das Immunsystem der Tiere untersucht. Unter anderem fanden sie dabei heraus, dass die Zwerg-Seepferdchen im Laufe ihrer Evolution, die etwa 18 Millionen Jahre separat von anderen Seepferdchen ablief, eine außergewöhnlich große Zahl an Immun-Genen verloren haben. Sie entdeckten, dass diese Fische in puncto Immunsystem den kleinsten bisher bekannten Gensatz von allen Wirbeltieren haben.
„Wahrscheinlich ist diese Tatsache darauf zurückzuführen, dass Korallengifte von den Zwerg-Seepferdchen toleriert werden können und sogar Schutz vor Mikroben bieten. Ihr Immunsystem braucht die dafür notwendigen Gene daher nicht mehr selbst. Ferner wurden bei Seepferdchen die Geschlechterrollen getauscht, denn Männchen brüten in ihrer Bruttasche die Eier aus. Weil aber die Eier natürlich nicht genetisch identisch zu den Zellen des Körpers der Männchen sind, würden sie normalerweise abgestoßen werden. Daher ist die Immunreaktion abgeschwächt und die dafür verantwortlichen Gene sind verloren gegangen“, sagt Meyer.
Damit sind die Zwerg-Seepferdchen ein Paradebeispiel der Evolution: Was zum Überleben von Vorteil ist, setzt sich durch oder wird verstärkt. Was hingegen zum Nachteil oder unnötig ist, verschwindet im Laufe der Generationen. „Bei den Zwerg-Seepferdchen sehen wir bei allen diesen Anpassungen Beispiele für massiven Verlust von Genen und eine damit zunächst paradox erscheinende Freisetzung von evolutionärer Kreativität, die schließlich das ungewöhnliche Aussehen und die bemerkenswerte Biologie dieser Kreaturen erklären“, schließt Meyer.
•Originalpublikation: M. Qu, Y. Zhang, J. Woltering, Y. Liu, Z. Liu, S. Wan, H. Jiang, H. Yu, Z. Chen, X. Wang, Z. Zhang, G. Qin, R. Schneider, A. Meyer, Q. Lin (2025): Symbiosis with and mimicry of corals were facilitated by immune gene loss and body remodeling in the pygmy seahorse, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 122 (35) e2423818122. DOI: 10.1073/pnas.2423818122
27.08.2025, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Zwei große Schritte Richtung aufrechten Gangs
Das Becken spielt eine Schlüsselrolle in der Evolution des aufrechten Gangs des Menschen. Über Millionen von Jahren hat sich seine Anatomie radikal verändert und letztlich zum Gang auf zwei Beinen geführt. Eine neue internationale Studie unter Leitung von Wissenschaftler:innen der Harvard University – mit wesentlichen Beiträgen des Museums für Naturkunde Berlin – konnte nun die Schritte entschlüsseln, die das menschliche Becken im Laufe von Millionen von Jahren so veränderten, dass zweibeiniges Gehen möglich wurde. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.
Während unsere nächsten Verwandten, Menschenaffen wie Schimpansen und Gorillas, ein hohes, schmales Becken besitzen, das perfekt zum Klettern geeignet ist, hat der Mensch ein schüsselförmiges Becken. Es bietet Ansatzstellen für die Muskeln, die es Menschen erlauben, beim Gehen und Laufen auf zwei Beinen das Gewicht gleichmäßig von einem Bein aufs andere zu verlagern und das Gleichgewicht zu halten.
Die Studie zeigt nun, dass die Veränderungen in der Anatomie des Beckens maßgeblich in zwei Schritten erfolgten. Zum einen durch die Rotation einer Wachstumsfuge um 90 Grad, die dazu führte, dass das menschliche Illium (Darmbein, ein Knochen des Beckens) eine breite, statt eine hohe Form hat. Anschließend kam es zu einer Veränderung in der zeitlichen Abfolge der Knochenformation während der Embryonalentwicklung, bei der die vollständige Verknöcherung des Beckens um ganze 16 Wochen verzögert wurde. Dies führte dazu, dass die Form des Beckens im Wachstum beibehalten werden konnte und die finale Geometrie fundamental verändert wurde.
Die integrative Studie identifizierte nicht nur über 300 Gene, die diese Veränderungen auf molekularer Ebene steuern, sondern analysierte sie auch im Kontext menschlicher Gendefekte, die die Beckenform beeinflussen. Außerdem spielte die Analyse von mehr als 120 embryonalen Gewebeproben von Menschen und anderen Primatenarten – darunter auch wertvolles historisches Material von pränatalen Schimpansen aus der embryologischen Sammlung des Museums für Naturkunde Berlin eine Schlüsselrolle für die Studie, die mit histologischen und bildgebenden Verfahren untersucht wurden. Mit Hilfe von CT-Scans konnten die Forschenden diese historischen Proben neu auswerten und in die Studie integrieren.
„Die Studie zeigt eindrucksvoll, wie wertvoll naturkundliche Sammlungen sind und wie selbst historisches Material neue Antworten auf grundlegende Fragen zur Evolution liefern können“, betont Dr. Vivien Bothe, Wissenschaftlerin am Museum für Naturkunde und Mitautorin der Studie.
Die Ergebnisse legen nahe, dass der erste Schritt – die Rotation der Wachstumsfuge im Becken – bereits vor fünf bis acht Millionen Jahren stattfand, zu der Zeit, als sich die menschliche Linie von den der Linie der afrikanischen Menschenaffen abspaltete. Mit der folgenden evolutiven Zunahme der Gehirngröße in der menschlichen Linie kam dann noch ein weiterer wichtiger Faktor hinzu und machte einen evolutiven Kompromiss notwendig: zwischen einem schmalen Becken geeignet für effizientes Laufen und einem breiten Becken für die Geburt von großköpfigem Nachwuchs. Die Studie legt nahe, dass die zweite Veränderung, die Verzögerung der Verknöcherung des Beckens, in den letzten zwei Millionen Jahren der menschlichen Evolution auftrat.
„Unsere Arbeit integriert genetische, entwicklungsbiologische und paläontologische Ansätze und erzählt so eine umfassende Geschichte, wie der Mensch zum Zweibeiner wurde“, erklärt Hauptautorin Dr. Gayani Senevirathne von der Harvard University.
Die Studie zeigt, wie die Integration verschiedener Datensätze und methodischer Ansätze und internationale Zusammenarbeit zu einem Verständnis großer evolutiver Veränderungen beitragen und belegt die wichtige Rolle, die naturkundliche Sammlungen für diese Forschung spielen.
Originalpublikation:
ZEITSCHRIFT Nature DOI10.1038/s41586-025-09399-9
27.08.2025, Deutsches Primatenzentrum GmbH – Leibniz-Institut für Primatenforschung
Lemuren auf Madagaskar: Vielfalt durch wiederholte Evolutionsschübe
Die Artenvielfalt der Lemuren entstand nicht durch eine einmalige „Explosion der Artenzahl“, auch Radiation genannt, sondern dynamisch durch mehrere Radiationen und Hybridisierung.
Lemuren gehören zu den bekanntesten Vertretern der Tierwelt Madagaskars. Sie machen mehr als 15 Prozent aller heute lebenden Primatenarten aus – und das, obwohl die Insel weniger als ein Prozent der Landoberfläche der Erde einnimmt. Ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Deutschen Primatenzentrums – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ) hat nun gezeigt: Die Artenvielfalt der Lemuren ist nicht das Ergebnis einer einmaligen großen „Artenentstehung“, auch Radiation genannt, wie es oft bei Tieren auf Inseln vermutet wird. Stattdessen entstanden die Arten in mehreren zeitlich gestaffelten Radiationen – und zwar immer wieder bis in das mittlere und jüngere Pleistozän hinein (vor rund 500.000 Jahren). Bemerkenswert ist zudem, dass Kreuzungen zwischen verschiedenen Lemurenarten – sogenannte Hybridisierungen – keine evolutionären Sackgassen darstellen, sondern sogar zur Entstehung neuer Arten beigetragen haben (Nature Communications).
Lemuren gehören zu den Feuchtnasenprimaten – einer frühen Linie in der Primatenevolution, die sich vor mehr als 70 Millionen Jahren von den Affen, Menschenaffen und Menschen abspaltete. Ihre Vorfahren kamen vor rund 53 Millionen Jahren nach Madagaskar. Dort passten sie sich an sehr unterschiedliche Lebensräume an: von Regenwäldern über Trocken- und Dornenwälder bis hin zu Berg- und Küstenwäldern. Heute sind mehr als 100 Lemurenarten bekannt. Mindestens 16 weitere sind in den letzten 2.000 Jahren ausgestorben, seit Menschen die Insel besiedeln.
Wie neue Arten entstanden
Die Wissenschaftler*innen analysierten das Erbgut von 79 Lemurenarten und stellten dabei fest: Vor etwa fünf bis sechs Millionen Jahren kam es über einen längeren Zeitraum zu einer besonders starken Zunahme an neuen Arten, besonders bei drei Gattungen: den Mausmakis (Microcebus), den Großen Makis (Eulemur) und den Wieselmakis (Lepilemur). Das überraschte die Forschenden, denn normalerweise verlangsamt sich die Artenbildung nach einer ersten, schnellen Phase, die bei Lemuren vor rund 53 Millionen Jahren begann. Diese drei Gattungen zeigten aber nicht nur eine hohe Rate neuer Arten lange nach den ersten Radiationen, sondern tauschten auch intensiv genetisches Material zwischen Arten einer Gattung aus.
„Unsere Analysen zeigen, dass sich Lemuren deutlich häufiger in neue Arten aufspalteten als beispielsweise ihre nächsten Verwandten, die Loris in Afrika und Asien. Wir konnten auch zeigen, dass der genetische Austausch, also die Hybridisierung zwischen Arten, ein wichtiger Motor dieser Vielfalt war“, erklärt Dietmar Zinner, Primatenforscher in der Abteilung Kognitive Ethologie am DPZ. Gemeinsam mit seinen Kollegen Peter Kappeler, Abteilung Verhaltensökologie und Soziobiologie, und Christian Roos, Abteilung Primatengenetik, hat er an der Studie mitgearbeitet.
Während Lemuren durchschnittlich 0,44 neue Arten pro Million Jahre hervorbrachten, lag dieser Wert bei den Loris nur bei 0,15 neuen Arten pro Million Jahre. In einigen Artengruppen waren bei Lemuren Hybrid-Arten sogar viermal häufiger entstanden als Arten, die sich durch Aufspaltung einer Art in zwei neue entwickelt haben.
Die neuen Erkenntnisse helfen, ihre Entwicklungsgeschichte besser zu verstehen und damit auch zukünftige Schutzmaßnahmen gezielter zu planen. Hybridisierung kann einerseits Vielfalt schaffen, andererseits aber auch dazu führen, dass seltene Arten verloren gehen. „Schutzkonzepte müssen künftig auch die genetische Vielfalt und die Rolle von Hybridisierungen berücksichtigen“, betont Dietmar Zinner.
Wie Wissen über Gene zur Arterhaltung beitragen kann
Heute gelten rund 95 Prozent aller Lemurenarten als bedroht: Ihre Lebensräume werden zerstört, der Klimawandel bedroht sie. Dass Lemuren ein großes Potenzial zur Artbildung haben, ist aus Sicht der Forschenden eine gute Nachricht. „Dennoch ist das kein Freibrief, den Artenschutz zu vernachlässigen“, sagt Christian Roos. „Ohne Schutzmaßnahmen werden viele der Lemurenarten aussterben bevor sie dieses Potenzial ausschöpfen können.“
Für die Forschung bedeutet dies, dass weitere Genomanalysen dringend nötig sind, um die Rolle von Hybridisierungen und Umweltfaktoren bei der Artbildung noch genauer zu verstehen. Für den Schutz der Lemuren ist für Roos klar: „Je mehr wir über ihre Evolutionsgeschichte und genetische Vielfalt wissen, desto besser können wir ihre Zukunft sichern.“
Originalpublikation:
Everson KM, Pozzi L., Barrett MA, Blair ME, Donohue ME, Kappeler PM, Kitchener AC, Lemmon AR, Lemmon EM, Pavón-Vázquez CJ, Radespiel U, Randrianambinina B, Rasoloarison RM, Rasoloharijaona S, Roos C, Salmona J, Yoder AD, Zenil-Ferguson R, Zinner D, Weisrock DW (2025): Multiple bursts of speciation in Madagascar’s endangered lemurs. Nature Communications 16: 7070. DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-025-62310-y
27.08.2025, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Wenn Haie ihren Biss verlieren
Der Klimawandel lässt die Ozeane zusehends saurer werden. Dies kann für Haie zum Problem werden, wie ein Biologenteam unter Leitung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) herausgefunden hat. In der Fachzeitschrift Frontiers in Marine Science beschreibt das Forschungsteam, dass eine saurere Umgebung die Zähne der Haie schwächt, die so leichter brechen können, so dass die Räuber an Bisskraft einbüßen.
Je mehr des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) freigesetzt wird und in die Atmosphäre gelangt, desto mehr nehmen davon auch die Ozeane auf. Die Folge: Der sogenannte pH-Wert des Meereswassers sinkt, es wird saurer. Die Säure hat das Potenzial, Mineralien anzugreifen – so auch das Zahnmaterial von Meeresbewohnern.
Haie sind dafür bekannt, dass sie ihre Zähne ersetzen können, da immer neue nachwachsen, wenn die aktuellen Zähne abgenutzt sind. Diese Fähigkeit ist für ihr Überleben von entscheidender Bedeutung, denn sie sind für den Beutefang auf ihre Zähne angewiesen.
Ein Forschungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Sebastian Fraune vom Institut für Zoologie und Organismische Interaktionen der HHU hat zusammen mit Biologen des Meerwasseraquariums Sealife Oberhausen untersucht, welche Auswirkungen die Ozeanversauerung auf Haizähne hat. Sie legten dazu die Haizähne in unterschiedlich saures Wasser: Zum einen solchem mit dem pH-Wert der heutigen Ozeane; und zum anderen solchem, das den voraussichtlichen pH-Wert im Jahr 2300 widerspiegelt.
„Haifischzähne bestehen aus hochmineralisierten Phosphaten, sie sind aber anfällig für Korrosion. Das saurere Wasser des simulierten 2300er-Szenarios beschädigte die Haifischzähne, einschließlich Wurzeln und Kronen, deutlich stärker als heutiges Wasser. Globale Veränderungen reichen also bis in die Mikrostruktur der Haifischzähne hinein“, sagt Maximilian Baum, früherer HHU-Student und heute freiberuflicher Taucher, Fotograf und Referent. Er ist der Erstautor der Studie.
Prof. Fraune, der Korrespondenzautor: „Die Zähne sind hochentwickelte Waffen, die zum Schneiden von Fleisch gebaut sind, aber nicht zum Widerstand gegen eine Versauerung der Meere. Unsere Ergebnisse zeigen, wie anfällig selbst die schärfsten Waffen der Natur sein können. Möglicherweise reicht die Fähigkeit, Zähne nachwachsen zu lassen, für die Haie nicht aus, um den Belastungen einer sich verändernden Umwelt standzuhalten.“
Für die Untersuchungen wurden abgeworfene Zähne von Schwarzspitzen-Riffhaien (Carcharhinus melanopterus) genutzt, die im Sealife Oberhausen gehalten werden. Diese Zähne wurden jeweils acht Wochen lang in getrennte Wasserbehälter gelegt, die einmal Meerwasser mit einem pH-Wert von 8,1 enthielten – entspricht dem heutigen Zustand – und einmal mit einem Wert von 7,3, wie es im Jahr 2300 erwartet wird. Baum: „Dieser Wert entspricht einer fast zehnfachen Versauerung gegenüber heute.“
Anschließend wurden die Zähne am Center for Advanced Imaging der HHU mikroskopisch untersucht. Fraune: „Wir beobachteten bei einem pH-Wert von 7,3 Oberflächenschäden wie Risse und Löcher, erhöhte Wurzelkorrosion und strukturelle Verschlechterungen. Darüber hinaus war die Oberflächenstruktur unregelmäßiger, was die Zähne strukturell schwächer und anfälliger für Brüche machen kann.“
Timo Haussecker, der biologische Leiter von Sealife Oberhausen und Koautor der Studie: „Da wir nur abgeworfene Zähne untersuchten, berücksichtigt die Studie keine Reparaturprozesse, die in lebenden Organismen stattfinden können. Bei lebenden Haien kann die Situation somit komplexer sein, da sie beschädigte Zähne möglicherweise remineralisieren können, aber mit einem erhöhten Energieaufwand.“
„Selbst moderate pH-Abfälle können empfindlichere Arten mit langsamen Zahnreplikationszyklen beeinträchtigen oder im Laufe der Zeit kumulative Auswirkungen haben“, ergänzt Baum: „Für Haie ist es sicherlich von großer Bedeutung, dass der pH-Wert der Ozeane nahe dem aktuellen Durchschnitt von 8,1 bleibt.“
Maximilian Baum und Prof. Fraune schließen: „Unsere Forschung erinnert daran, dass sich menschengemachte Veränderungen auf gesamte Nahrungsnetze und Ökosysteme auswirken.“
Originalpublikation:
Baum M., Haussecker T., Walenciak O., Köhler S., Bridges CR. and Fraune S.. Simulated ocean acidification affects shark tooth morphology. Front. Mar. Sci. 12: 1597592 (2025).
DOI: 10.3389/fmars.2025.1597592
26.08.2025, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Tiersender können Vergiftung von Geiern aufdecken und Massensterben bei bedrohten Geierarten verhindern
Todesfälle durch Verzehr vergifteten Tierkadavern tragen wesentlich zum Rückgang der Bestände vieler Geierarten bei. Da Geier bei der Nahrungssuche interagieren und einander folgen, sterben an einem vergifteten Kadaver mitunter hunderte Exemplare bedrohter Arten wie dem Weißrückengeier. Forschende der GAIA-Initiative am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) konnten nun zeigen, dass Sender an Geiern es ermöglichen, Vergiftungsfälle rasch zu erkennen und den Kadaver zu entfernen.
Geier sind als Aasfresser resistent gegenüber vielen in der Umwelt vorkommenden Krankheitserregern und erfüllen unter anderem die ökologisch wichtige Funktion, Landschaften von im Aas vorkommenden Pathogenen wie dem Milzbranderreger Bacillus anthracis zu befreien. Gegenüber künstlichen Giften wie Agrarpestiziden sind sie jedoch extrem anfällig und sterben oft unmittelbar nach der Aufnahme, zum Beispiel über einen vergifteten Kadaver in der Landschaft. Vergiftete Kadaver sind keine Seltenheit, sie werden beispielsweise in Mensch-Wildtier-Konflikten zur Bekämpfung von Raubtieren auf Farmland oder zum Verschleiern illegaler Aktivitäten wie Wilderei ausgebracht. Ob Geier Kollateralschaden oder direktes Ziel der Vergiftungen sind – der Effekt ist häufig ein Massensterben der Vögel an einem einzigen Ort. Diese Ereignisse spielen eine große Rolle bei den zum Teil dramatischen Bestandsrückgängen, etwa um bis zu 90% innerhalb von drei Generationen beim Weißrückengeier (Gyps africanus).
Besendern von 5 Prozent der Tiere kann 45 Prozent der weiteren Todesfälle verhindern
Forschende der GAIA-Initiative identifizierten nun ein mutmaßlich wirksames Rezept zur Eindämmung des Massensterbens von Geiern an vergifteten Kadavern: Sie wiesen anhand der Daten von besenderten Weißrückengeiern im Etosha-Nationalpark in Namibia nach, dass die Auswertung der Daten von Tiersendern die frühzeitige Erkennung von Vergiftungsfällen und ein schnelles Eingreifen ermöglicht. Wird der vergiftete Kadaver innerhalb von zwei Stunden entfernt, kann ein beträchtlicher Anteil der nachfolgenden Todesfälle verhindert werden. Die Forschenden berechneten das Verhältnis von Aufwand und Nutzen: „Dieses Verhältnis ist in unserem Modell gut ausbalanciert, wenn fünf Prozent der Geierpopulation (25 Individuen in unserem simulierten System) mit Senderdaten verfolgt werden“, sagt Teja Curk, Wissenschaftlerin am Leibniz-IZW und Erstautorin der Studie. „Dieser Ansatz kann 45 Prozent der vergiftungsbedingten Todesfälle verhindern, wenn innerhalb von zwei Stunden eingegriffen wird. Unsere Ergebnisse zeigen also, dass es zur Verringerung der vergiftungsbedingten Sterblichkeit ausreicht, einen kleinen Teil der Geierpopulation mit Tiersendern auszustatten, der als Wächter für den Rest der Population fungieren würde.“
Je kürzer die Zeitspanne bis zum Entfernen des Kadavers, desto mehr Todesfälle können verhindert werden – wird innerhalb einer Stunde eingegriffen, können mehr als 50 Prozent der Todesfälle verhindert werden; bei einer Reaktionszeit von 12 Stunden sinkt die Zahl auf 25 Prozent. Zudem ist der Zusammenhang zwischen dem Anteil der besenderten Geier und der Anzahl potenziell geretteten Tiere nicht linear, das bedeutet beispielsweise mit verdoppeltem Aufwand (Geier am Sender) wird erheblich weniger als der doppelte Nutzen erzielt.
Analysen verbinden Tiersenderdaten, Verhaltensbeobachtungen und Simulationen
Die Analysen stützen sich auf Daten über einen Zeitraum von 13 Monaten von 30 mit Sendern ausgestatteten Weißrückengeiern in Namibia. Die Sender zeichneten minütlich Positionsdaten (GPS) und Bewegungsdaten über den sogenannten ACC-Sensor auf. ACC-Daten sind Beschleunigungsdaten in drei räumlichen Dimensionen und erlauben sehr genaue Rückschlüsse auf Körperbewegungen der Tiere an einer Position. „Mit den von der GAIA-Initiative entwickelten, auf Künstlicher Intelligenz beruhenden Analyseverfahren konnten sowohl das Verhalten der Geier (beispielsweise das Fressen) als auch die Position von Kadavern in der Landschaft zuverlässig abgeleitet werden“, erklärt GAIA-Projektleiter Jörg Melzheimer vom Leibniz-IZW.
Mit diesen Daten zu Kadaverstandorten sowie Geier-Bewegungen sowie auf Basis von Informationen und Erfahrungen aus vergangenen Studien simulierten die Forschenden die Nahrungssuche von Geiern in sogenannten agenten-basierten Modellen. Die Modelle berücksichtigten unter anderem die Größe des Streifgebiets der Etosha-Population der Weißrückengeier, die täglichen Aktionszeiten und -radien, die Flugbewegungen der Tiere bei der Nahrungssuche sowie unterschiedliche Szenarien für soziale Nahrungssuche.
Kadaver und Tiere wurden zu Beginn einer Simulation zufällig in der Landschaft verteilt und in vorher festgelegten Verhältnissen zufällig als vergiftet/nicht vergiftet respektive als besendert/nicht besendert klassifiziert. Mit unterschiedlicher Parametrisierung ließen die Forschenden die Modelle insgesamt 360 Male laufen und analysierten die Ergebnisse.
Soziale Strategien bei der Nahrungssuche machen Geier anfälliger für Massenvergiftungen
Das Gruppenverhalten von Geiern bei der Nahrungssuche wirkt sich stark auf das individuelle Risiko einer Vergiftung aus. Dies belegten drei unterschiedliche Modelle für drei Strategien bei der Nahrungssuche: die nicht-soziale Futtersuche, bei der jeder Geier allein darauf angewiesen ist, selbst Kadaver in der Landschaft aufzuspüren; die Strategie der „lokalen Anreicherung“, bei der Geier nicht nur von Kadavern angelockt werden, sondern auch durch die direkte Beobachtung von fressenden Artgenossen; und die Strategie der „Geierkette“, bei der die Geier nacheinander anderen Geiern am Himmel folgen, die sich möglicherweise auf dem Weg zu einem Kadaver befinden. In einer früheren Studie wies das GAIA-Team nach, dass soziale Strategien bei der Nahrungssuche für Geier mehr Vorteile als Nachteile haben – im Hinblick auf das Vergiftungsrisiko sind Kooperation und Interaktion jedoch Nachteile, wie die aktuelle Studie im Detail aufzeigt. Beide soziale Strategien hatten zur Folge, dass nach einem Tag nahezu alle Geier an einem Kadaver fraßen, während es in dem nicht-sozialen Modell nur rund 60 Prozent der Geier waren. Dies hat erheblich höhere Anteile von vergifteten Geiern zur Folge, unabhängig davon wie hoch der Anteil der vergifteten Kadaver in der Simulation war.
„In den letzten Jahrzehnten sind die Bestände vieler Geierarten stark zurückgegangen, sie sind nun akut vom Aussterben bedroht“, sagt Ortwin Aschenborn, GAIA-Projektleiter am Leibniz-IZW. „Die Hauptursachen dafür sind der Verlust von Lebensraum und Nahrung in vom Menschen geprägten Landschaften sowie eine hohe Anzahl direkter oder indirekter Vergiftungen. Der Bestand des Weißrückengeiers ist beispielsweise innerhalb von nur drei Generationen um etwa 90 Prozent zurückgegangen – das entspricht einem durchschnittlichen Rückgang von 4 Prozent pro Jahr.“ Der Erhaltungszustand des Weißrückengeiers wurde in der Roten Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN) im Jahr 2007 von „least concern“ (nicht gefährdet) auf „near threatened“ (potenziell gefährdet) verändert. Nur fünf Jahre später wurde die Art als stark gefährdet eingestuft und im Oktober 2015 wurde ihr Status erneut auf „vom Aussterben bedroht“ geändert, da der anhaltende Rückgang schneller und gravierender ist als vorher vermutet wurde.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Curk T, Santangeli A, Rast W, Portas R, Shatumbu G, Cloete C, Beytell P, Aschenborn O, Melzheimer J (2025): Using animal tracking for early detection of mass poisoning events. Journal of Applied Ecology Volume 62, Issue 8 (2025). DOI: 10.1111/1365-2664.70128
Originalpublikation:
Journal of Applied Ecology Volume 62, Issue 8 (2025). DOI: 10.1111/1365-2664.70128