09.12.2024, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg
Wüstenameisen nutzen Polarität des Erdmagnetfeldes zur Navigation
Wüstenameisen verlassen sich beim Navigieren auf die Nord-Süd-Richtung des Erdmagnetfeldes, so das Ergebnis einer neuen Studie, die ein Team um Pauline Fleischmann von der Universität Oldenburg jetzt in der Zeitschrift Current Biology veröffentlicht hat. Das deute darauf hin, dass der Magnetsinn auf magnetischen Partikeln beruht und ähnlich wie eine Kompassnadel funktioniert, so die Forschenden.
Wüstenameisen der Art Cataglyphis nodus orientieren sich mit Hilfe des Erdmagnetfeldes. Die kleinen Krabbler verlassen sich dabei jedoch auf eine andere Komponente des Magnetfeldes als andere Insekten, berichtet ein Forschungsteam um Dr. Pauline Fleischmann von der Universität Oldenburg in der Zeitschrift Current Biology. Das deute darauf hin, dass die Ameisen einen anderen Mechanismus zur Magnetwahrnehmung einsetzen als die meisten bisher untersuchten Insekten, etwa die berühmten Monarchfalter. Die Forschenden vermuten, dass der Magnetsinn der Wüstenameisen auf winzigen magnetischen Partikeln beruht, etwa aus dem Eisenoxidmineral Magnetit.
Wie der Magnetsinn von Tieren genau funktioniert und welcher physikalische Mechanismus ihm zugrunde liegt, wird in Fachkreisen nach wie vor stark diskutiert. Zum einen steht ein lichtabhängiger Quanteneffekt zur Debatte, der sogenannte Radikalpaarmechanismus. Er wird wahrscheinlich von kleinen Singvögeln und womöglich auch von anderen Insekten wie den Monarchfaltern verwendet. Viele Indizien für einen solchen quantenbasierten Magnetsinn von Singvögeln hat der Sonderforschungsbereich „Magnetrezeption und Navigation von Vertebraten“ zusammengetragen, der an der Universität Oldenburg durch den Biologen Prof. Dr. Henrik Mouritsen koordiniert wird.
Zum anderen könnte die Sinneswahrnehmung bei manchen Tieren auf winzigen magnetischen Partikeln beruhen, die sich in Sinnes- oder Nervenzellen befinden und sich dort ähnlich wie eine Kompassnadel nach Norden ausrichten. Mittlerweile deutet einiges darauf hin, dass in der Natur beide Formen des Magnetsinns vorkommen. Tauben, Fledermäuse oder Meeresschildkröten etwa scheinen magnetische Partikel nutzen, um das Magnetfeld zu erspüren.
Da die vermuteten Magnetsinne auf unterschiedlichen physikalischen Prinzipien beruhen, lassen sich Verhaltensexperimente konstruieren, um herauszufinden, welches Tier welchen Mechanismus nutzt. So wird angenommen, dass Tiere mit partikelbasiertem Sinn empfindlich für die Nord-Süd-Richtung des Magnetfeldes sind, die sogenannte Polarität, während sich diejenigen, die sich auf den Radikalpaarmechanismus verlassen, die Inklination wahrnehmen, also den Winkel zwischen den gedachten Linien des Erdmagnetfeldes und der Erdoberfläche.
Um Indizien dafür zu finden, wie der Magnetsinn von Wüstenameisen funktioniert, untersuchte Fleischmann gemeinsam mit Dr. Robin Grob (inzwischen an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens in Trondheim), Johanna Wegmann und Prof. Dr. Wolfgang Rössler von der Universität Würzburg, welche Komponente des Erdmagnetfeldes diese rund einen Zentimeter großen Tiere wahrnehmen können – Inklination oder Polarität. Das Team hatte 2018 während des Promotionsprojekts der Forscherin an der Universität Würzburg erstmals festgestellt, dass Wüstenameisen über einen Magnetsinn verfügen. Seit 2022 gehört Fleischmann dem Oldenburger SFB als Research Fellow an.
Für die aktuelle Studie setzten die Forschenden die Ameisen einer Kolonie in Griechenland unterschiedlichen manipulierten Magnetfeldern aus. Sie bauten dafür Helmholtzspulen über dem Nesteingang auf und leiteten Ameisen, die aus dem Nest herauskamen, durch einen Tunnel zu einer Experimentierplattform in der Mitte der Spulen. Dort filmte das Team sie bei sogenannten Lernläufen. Dabei handelt es sich um eine Verhaltensweise, die Wüstenameisen zeigen, wenn sie das allererste Mal ihr Nest verlassen. Fleischmann hatte in ihrem Promotionsprojekt festgestellt, dass die Ameisen das Erdmagnetfeld nutzen, um sich während der Lernläufe die Richtung des Nesteingangs einzuprägen: Sie unterbrechen ihre Bewegung immer wieder, um kurz anzuhalten und dabei in Richtung des Nesteingangs zu schauen. Die Forschenden nehmen an, dass sie dabei mit Hilfe des Magnetfelds ihr visuelles Gedächtnis trainieren. Darauf deuten Ergebnisse zur Gehirnentwicklung hin, die das Team kürzlich im Fachjournal PNAS veröffentlichte.
In der aktuellen Studie setzten die Forschenden die Ameisen künstlichen Magnetfeldern aus, die in eine andere Richtung als das natürliche Erdmagnetfeld zeigten. Das Ergebnis: Veränderte das Team lediglich die senkrechte Komponente des Feldes und damit die Inklination, hatte dies keine Auswirkungen auf die Blickrichtung der Ameisen: Sie schauten bei den Lernläufen nach wie vor zur Position des Nesteingangs. War jedoch die Polarität des Feldes, also die Nord-Süd-Ausrichtung, um 180 Grad gedreht, vermuteten die Ameisen den Nesteingang an einer ganz anderen Stelle.
Die Forschenden schließen daraus, dass die Ameisen anders als Monarchfalter oder Singvögel die Inklination des Erdmagnetfeldes nicht verwenden, welche wahrscheinlich vor allem bei Langstreckenwanderungen nützlich ist. Stattdessen verwenden sie die Polarität des Feldes, um sich bei ihren Lernläufen zu orientieren. „Diese Art von Kompass ist besonders nützlich für die Orientierung über vergleichsweise kurze Distanzen“, betont Fleischmann.
Die Wüstenameisen sind schon seit längerem für ihr ausgezeichnetes Orientierungsvermögen bekannt: Sie leben in eintönigen Salzpfannen in der nordafrikanischen Sahara oder in Pinienwäldern in Griechenland und entfernen sich bei der Futtersuche manchmal Hunderte von Metern von ihrem Nest. Wenn sie etwas Essbares gefunden haben, kehren sie auf geradem Weg zum Nesteingang zurück. Die Erkenntnis, dass Ameisen, die gemeinsam mit Bienen und Wespen zur Ordnung der Hautflügler zählen, einen anderen Mechanismus zur Magnetwahrnehmung nutzen als Vertreter anderer Insektenordnungen wie Schmetterlinge oder Kakerlaken, eröffne außerdem neue Wege, um die Evolution dieser besonderen Sinneswahrnehmung im Tierreich zu erforschen.
Originalpublikation:
Robin Grob, Johanna Wegmann, Wolfgang Rössler and Pauline Fleischmann: „Cataglyphis ants have a polarity-sensitive magnetic compass“, Current Biology (2024),
https://doi.org/10.1016/j.cub.2024.11.012
09.12.2024, Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz
Blaukehlaras verfügen über eine enorme motorische Nachahmungsfähigkeit
Blaukehlaras, eine stark vom Aussterben bedrohte Papageienart, kopieren intransitive (ziellose) Bewegungen unwillkürlich. Dies hat nun ein internationales Team am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz, in Zusammenarbeit mit der Loro Parque Fundación, in einer neuen Studie gezeigt. Bisher wurde dieses Phänomen nur beim Menschen beschrieben. Die neuen Ergebnisse unterstreichen die bemerkenswerten motorischen Imitationsfähigkeiten von Papageien, zusätzlich zu ihrem bekannten Talent bei der vokalen Nachahmung. Außerdem deutet die Studie darauf hin, dass es bei Papageien – ähnlich wie beim Menschen – Spiegelneuronen geben könnte.
Nachahmung und kulturelle Evolution
Die Nachahmung zielloser intransitiver Handlungen ist ein Eckpfeiler der kulturellen Evolution des Menschen. Ein großer Teil der menschlichen Kultur umfasst die Weitergabe technischer Fertigkeiten, wie zum Beispiel dem Gebrauch von Werkzeugen. Ein weiterer wesentlicher Teil ist das Erlernen kultureller Konventionen, was das originalgetreue Kopieren von Gesten oder Bewegungen umfasst und soziale Bindungen und prosoziales Verhalten fördert. Frühere Studien haben gezeigt, dass Menschen Gesten unwillkürlich nachmachen – was als automatische Imitation bezeichnet wird. Bei Tieren beschränkten sich Belege dazu auf transitive (objekt-gerichtete) Handlungen, wie das Greifen nach Gegenständen, welches zum Beispiel bei Hunden und Wellensittichen beobachtet wurde.
Automatische Nachahmung bei Aras
Dr. Esha Haldar und Kolleg*innen der Forschungsgruppe für vergleichende Kognitionsbiologie untersuchten in Kollaboration mit der Loro Parque Stiftung im Loro Parque, Teneriffa, ob Aras die automatische Nachahmung intransitiver Handlungen zeigen. In ihrer Studie, die jetzt in iScience veröffentlicht wurde, trainierten die Forschenden Aras so, dass sie auf bestimmte Handzeichen hin zwei unterschiedliche Handlungen ausführten („Bein heben“ und „Flügel ausbreiten“). Anschließend wurden die Vögel in zwei Gruppen eingeteilt: Aras in der „kompatiblen“ Gruppe erhielten eine Belohnung, wenn sie die Handlung eines anderen Papageien nachmachten. Vögel der „inkompatiblen“ Gruppe erhielten eine Belohnung, wenn sie die Handlung nicht nachahmten, sondern genau die andere Handlung ausführten.
Die „inkompatible Gruppe“ hatte Schwierigkeiten, den Drang zur automatischen Nachahmung der Handlung zu unterdrücken. Dies führte im Vergleich zur „kompatiblen“ Gruppe zu mehr Fehlreaktionen und längeren Reaktionszeiten.
Neurobiologische Bedeutung
„Die Ergebnisse sind bemerkenswert, weil sie zum ersten Mal bei einem Tier die unwillkürliche Nachahmung intransitiver Handlungen nachweisen“, erklärt Dr. Esha Haldar, Erstautorin der Studie. „Beim Menschen wird dieses Verhalten durch neuronale Schaltkreise gesteuert, an denen Spiegelneuronen beteiligt sind. Diese sind sowohl beim Beobachten als auch während der Ausführung der Handlung aktiv. Unsere Studie beweist zwar nicht, dass es Spiegelneuronen in Papageien gibt – sie deutet jedoch stark auf ihre Beteiligung bei der motorischen Nachahmung hin.“
Auswirkungen auf soziale und kulturelle Dynamiken
„Imitation lässt sich in Papageien sehr gut untersuchen“, fügt Dr. Auguste von Bayern, leitende Autorin der Studie, hinzu. „Diese hochsozialen Tiere leben in dynamischen Gruppen zusammen, in denen sich häufig neue Untergruppen bilden. Vermutlich kann die automatische Imitation von Bewegungen und Gesten die Integration von Individuen in neu gebildete Gruppen verbessern und generell den sozialen Zusammenhalt und die Bindung fördern. Möglicherweise kann es die kulturelle Weitergabe gruppenspezifischer Verhaltensweisen unterstützen. Weitere Forschung ist notwendig, um diese spannenden Fragen zu untersuchen.“
Die Ergebnisse unterstreichen auch, dass sich die motorische Imitation bei entfernt verwandten Arten unabhängig voneinander entwickelt hat, wahrscheinlich als Folge ähnlicher sozialer und umweltbedingter Einflüsse.
Bedeutung für den Artenschutz
Der Blaukehlara (Ara glaucogularis) ist eine stark vom Aussterben bedrohte Papageienart, die in Bolivien endemisch ist. In freier Wildbahn zählt die Population weniger als 350 erwachsene Tiere. Die Loro Parque Fundación unterstützt die Erhaltung dieser Art seit mehr als zwei Jahrzehnten mit bisher mehr als zwei Millionen Dollar. Zudem war der Loro Parque das erste zoologische Zentrum, das diese Art unter menschlicher Obhut reproduzierte. Seitdem sind dort 465 Blaukehlaras geschlüpft. Die neugewonnenen Erkenntnisse könnten für mögliche Wiederansiedlungsprojekte von Bedeutung sein: Sie implizieren, dass die Tiere natürliche Verhaltensweisen von wilden Artgenossen erlernen und sich so schneller an ihre natürliche Umgebung anpassen könnten.
Originalpublikation:
Esha Haldar, Padmini Subramanya, Auguste M.P. von Bayern
Automatic imitation of intransitive actions in macaws
iScience, online December 1st, 2024
https://doi.org/10.1016/j.isci.2024.111514
11.12.2024, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart
Studie zeigt die Bedeutung von Naturschutzgebieten für Wildbienen
Erste Ergebnisse des Langzeit-Monitorings von Fluginsekten in Baden-Württemberg belegen die große Bedeutung von Naturschutzgebieten für den Erhalt der Artenvielfalt.
Stuttgart, 11.12.2024. Spätestens seit der Krefeld-Studie aus dem Jahr 2017 ist der drastische Rückgang der Insektenvielfalt in Deutschland bekannt. Expertinnen und Experten warnen vor massiven Auswirkungen auf unsere Ökosysteme, in denen Insekten Schlüsselfunktionen wie die Bestäubung von Pflanzen übernehmen. Vor diesem Hintergrund hat das Land Baden-Württemberg im Rahmen des Sonderprogramms zur Stärkung der biologischen Vielfalt im Jahr 2018 ein umfassendes, langfristig angelegtes Insekten-Monitoring gestartet. Ziel ist es, genaue und belastbare Grundlagendaten über den Insektenbestand und das Insektensterben im Land zu erheben. Das Staatliche Museum für Naturkunde Stuttgart führt einen Teil dieses Monitoring-Projektes – das „Fluginsekten-Monitoring“ durch. Erste Ergebnisse zeigen nun, dass in ausgewiesenen Naturschutzgebieten mehr Wildbienenarten vorkommen als auf anderen Flächen. Die Daten wurden jetzt von einem Forschungsteam um Dr. Tobias Frenzel, Entomologe am Naturkundemuseum Stuttgart, in der Fachzeitschrift „Insect Conservation and Diversity“ vorgestellt. Die Studie untersucht das Vorkommen von Wildbienenarten in Baden-Württemberg und zeigt die ökologische Bedeutung der bestehenden Naturschutzgebiete im Land, insbesondere für bedrohte Arten. Aufgrund der Ergebnisse sehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiteren Handlungsbedarf hinsichtlich des Ausbaus, der Pflege und der Vernetzung der Schutzgebiete, um so die Artenvielfalt langfristig zu sichern. Zugleich betonen Sie die Bedeutung des Langzeit-Monitorings.
Faktoren zur Bestimmung der Wirksamkeit von Naturschutzmaßnahmen:
In vielen Studien zum Insektensterben wurde bislang vor allem die Veränderung der Biomasse, also des Gesamtgewichts der zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort gesammelten Insekten, untersucht. Für die Beurteilung der Effektivität von Naturschutzmaßnahmen sind neben der Biomasse der gesammelten Insekten jedoch auch die Anzahl und Zusammensetzung der Arten ausschlaggebend. Die Untersuchungen des Forschungsteams zeigen, dass die Artenzahl der Wildbienen einem anderen Muster folgt als die Gesamtbiomasse der erfassten Fluginsekten. Die Biomasse kann in Naturschutzgebieten gleich oder sogar geringer sein als in anderen Gebieten, und dennoch ist die Artenvielfalt der Wildbienen größer.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Naturschutzgebiete für den Erhalt seltener Insektenarten unverzichtbar sind. Mit dem Monitoring können wir langfristig den Wandel der biologischen Vielfalt analysieren und effektive Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität ableiten.“, so der Entomologe und Direktor des Naturkundemuseums Stuttgart Prof. Dr. Lars Krogmann.
Schutzgebiete sind wichtig für den Erhalt bedrohter Arten:
Drei Jahre lang haben die Forscherinnen und Forscher an 32 Standorten in Südwestdeutschland im Rahmen einer turnusmäßigen Erhebung Bienenarten gesammelt und erfasst. „Den größten Effekt auf die Artenzahl der Wildbienen hat der Status von Flächen als Naturschutzgebiete, was selbst unter Berücksichtigung anderer Faktoren einen Unterschied von etwa 14 Arten bedeutet. Und wir sehen auch, dass in diesen Gebieten deutlich mehr Arten vorkommen, die auf der Roten Liste als stark gefährdet gelistet sind“, so Dr. Tobias Frenzel, Erstautor der Studie.
Ein weiterer Faktor, der einen großen Einfluss auf die Wildbienen hat, ist der Stickstoffgehalt im Boden und die damit verbundene Vielfalt insektenbestäubter Pflanzenarten. Die Auswertung verschiedener Umweltparameter zeigt, dass Naturschutzgebiete eine geringere Stickstoffbelastung aufweisen. Die höheren Stickstoffkonzentrationen in Nicht-Naturschutzgebieten haben einen negativen Einfluss auf die Artenvielfalt der Pflanzen und stehen vermutlich im Zusammenhang mit einer intensiveren landwirtschaftlichen Nutzung.
Wichtig ist ein langfristiges Monitoring:
Das Monitoring flugfähiger Insekten ist Teil des landesweiten Insekten-Monitorings Baden-Württemberg, das im Rahmen des Sonderprogramms zur Stärkung der biologischen Vielfalt im Jahr 2018 von der Landesregierung initiiert wurde. Mit der Konzeption wurde die LUBW Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg beauftragt. Ziel ist es, genaue und belastbare Grundlagendaten über den Insektenbestand und das Insektensterben im Land zu erheben. Der Baustein des Monitorings von Fluginsekten wird in enger Zusammenarbeit von der LUBW und dem Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart durchgeführt. Das Insekten-Monitoring in Baden-Württemberg ist als Langzeitstudie angelegt. So wird es in Zukunft möglich sein, Aussagen zu Trends über die Entwicklung von Wildbienen- und anderen Insektenarten im Land zu treffen und Naturschutzmaßnahmen zu evaluieren und zu verbessern.
Originalpublikation:
Tobias Frenzel, Sonia Bigalk, Raffaele Gamba, Sebastian Görn, Michael Haas, Maura Haas-Renninger, Andreas Haselböck, Thomas Hörren, Martin Sorg, Hubert Sumser, Florian Theves, Ingo Wendt, Lars Krogmann: “Higher bee species richness in conservation areas compared to non-conservation areas in south-west Germany. Insect Conservation and Diversity.
Publikationsdatum: 10.12.2024
DOI: https://doi.org/10.1111/icad.12796
11.12.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Schutz an falscher Stelle: Verlust der Insektenvielfalt
Senckenberg-Forschende zeigen in einer im Fachjournal „Conservation Biology“ erschienenen Studie, dass die Insektenvielfalt in Deutschland stärker auf Änderungen in der Landnutzung als auf Wetter- oder Klimaeinflüsse reagiert. Gleichzeitig belegen sie, dass Gebiete mit niedrig wachsender Vegetation bis zu 58 Prozent mehr Artenvielfalt aufweisen können als beispielsweise Wälder – viele dieser besonders artenreichen Gebiete sind aber derzeit nur unzureichend durch Schutzgebiete berücksichtigt, was zu einer weiteren Abnahme der Insektenvielfalt führen kann.
Insekten bestäuben Pflanzen, darunter viele Nutzpflanzen, zersetzen organisches Material, tragen so zur Bodenfruchtbarkeit bei und sind eine unverzichtbare Nahrungsquelle für viele Tiere. Ihr Rückgang gefährdet sowohl die Stabilität der Ökosysteme als auch die Lebensgrundlagen von uns Menschen. „Um dem Insektensterben entgegenzuwirken, müssen wir die Hauptursachen für den Rückgang der verschiedenen Arten ermitteln und feststellen, welche Insektengruppen noch nicht ausreichend geschützt sind“, erklärt Prof. Dr. Peter Haase vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Hierzu haben wir ein deutschlandweites Langzeitmonitoring der Insektenfauna etabliert. Dieses ermöglicht es, Unterschiede zwischen den Lebensräumen zu erfassen, so zum Beispiel in Städten, Wäldern oder auf landwirtschaftlichen Flächen sowie zwischen natürlichen Schwankungen und echten Trends zu unterscheiden. Eine solche Vorlage erlaubt zuverlässige Aussagen über die Entwicklung und die Ursachen des Insektenrückgangs.“
Gemeinsam mit Senckenberg-Forscher und Erstautor der Studie James S. Sinclair sowie weiteren Forschenden aus Deutschland hat Haase einen der umfangreichsten Insekten-Datensätze verwendet, um die Veränderungen in der Gesamtbiomasse der Tiere, den Artenreichtum, die zeitliche Fluktuation und Verschiebungen in der Zusammensetzung der Arten, sowie der wichtigsten Funktionsgruppen – Bestäuber, bedrohte Tiere und invasive Arten – zu erfassen. Die Daten zu Fluginsektenarten stammen aus einem Netzwerk von 75 über Deutschland verteilten Malaise-Fallen und wurden mit Hilfe von Metabarcoding ausgewertet. „Bei diesem Verfahren wird ein gemischter DNA-Pool sequenziert. Anschließend können Arten durch einen Vergleich mit Sequenzen in DNA-Referenzbibliotheken identifiziert werden. Dieses Vorgehen macht eine Einzeluntersuchung der Proben überflüssig und ermöglicht eine schnelle, kostengünstige und hochauflösende Erfassung, mit der Tausende von Insektenarten innerhalb weniger Wochen nachgewiesen werden“, erläutert Sinclair und fährt fort: „Das seit 2019 bestehende Monitoringnetzwerk wird von Senckenberg koordiniert und vom deutschen Netzwerk für ökosystemare Langzeitforschung (LTER-D) und den Nationalen Naturlandschaften (NNL) getragen. In der Vergangenheit konnten wir so beispielsweise 31.846 Insektenarten aus mehr als 2.000 Proben identifizieren, darunter rund 8.000 Arten, die bislang aus Deutschland unbekannt waren – ein Meilenstein, der zeigt, wie wenig wir in Deutschland über unsere artenreichste Tiergruppe wissen.“
Die Sammelgebiete von den bayerischen Alpen bis zur Nord- und Ostseeküste umfassen verschiedene Landnutzungstypen, Wetter- und Klimabedingungen sowie Unterschiede im Schutzstatus. In ihrer Studie zeigen die Forschenden, dass die treibenden Faktoren für die Verteilung der Insektenvielfalt derzeit weniger von Wetter- oder Klimaeinflüssen, sondern vielmehr von der Landnutzung geprägt sind. Die räumliche Variabilität der Insektenbiomasse und -zusammensetzung wird dabei in erster Linie durch die Bodenbedeckung bestimmt. Mit zunehmender Heterogenität der Vegetation und der Bodenbedeckung stieg die Insektenbiomasse um bis zu 56 Prozent und der Gesamtartenreichtum um bis zu 58 Prozent an.
„Besorgniserregend an unseren Auswertungen ist, dass viele dieser besonders artenreichen Gebiete derzeit nur unzureichend durch Schutzgebiete berücksichtigt werden, was zu einer weiteren Abnahme der Insektenvielfalt führen kann. Diese Erkenntnisse sind von großer Bedeutung für die Umsetzung des EU Nature Restoration Law und des Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, das zum Ziel hat, 30 Prozent geschützte Flächen bis 2030 zu etablieren. Für Insekten sollten hierfür unbedingt auch unbewaldete Gebiete mit hoher Habitatvielfalt in tieferen Lagen berücksichtigt werden“, so Haase.
Die Daten der Forscher*innen belegen zudem, dass der Verlust von Insektenbiomasse mit einem Rückgang der Artenvielfalt korreliert. Das Team kommt zu dem Schluss, dass der oft beobachtete Rückgang der Biomasse darauf hindeutet, dass die biologische Vielfalt abnimmt und das Ökosystem weniger stabil wird.
„Unsere Studie zeigt nicht nur, wie vielfältig und nach wie vor unbekannt die Insektenwelt Deutschlands ist, sondern auch, wie fragil ihre Lebensräume sind. Die Erkenntnisse unseres Langzeitmonitorings liefern wichtige Antworten auf die Frage, wie wir den Rückgang der Insektenvielfalt aufhalten können“, resümiert Sinclair.
Originalpublikation:
Sinclair, J. S., Buchner, D., Gessner, M. O., Müller, J., Pauls, S. U., Stoll, S., Welti, E. A. R., Bässler, C., Buse, J., Dziock, F., Enss, J., Hörren, T., Künast, R., Li, Y., Marten, A., Morkel, C., Richter, R., Seibold, S., Sorg, M., … Haase, P. (2024). Effects of land cover and protected areas on flying insect diversity. Conservation Biology, e14425. https://doi.org/10.1111/cobi.14425
11.12.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Stadtfledermäuse ernähren sich abwechslungsreicher als ihre Verwandten auf dem Land
Insektenfressende Fledermäuse wie der Große Abendsegler finden in Städten weniger Nahrung vor als auf dem Land – zugleich ist ihre Ernährung abwechslungsreicher, also vielfältiger. Dies belegte ein Forschungsteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift „Landscape and Urban Planning“. Sie wiesen durch genetische Analysen von Kotproben nach, dass Abendsegler in Berlin 55 Prozent mehr Insektenarten vertilgten als ihre Artgenossen im Umland. Zugleich verzehrten die Stadtfledermäuse doppelt so viele „Schad“insektenarten und sechsmal so viele „Lästlinge“ wie Stechmücken als ihre Artgenossen auf dem Land.
Urbanisierung führt gemeinhin zu einer Abnahme der Artenvielfalt. Dennoch kann ein Mosaik aus stark fragmentierten aber sehr unterschiedlichen Lebensräumen in Städten wie in Berlin auch eine relativ große Vielfalt beispielsweise von Insekten fördern. Insekten sind eine wichtige Nahrungsgrundlage für Vögel und Fledermäuse. Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Christian Voigt und Dr. Carolin Scholz vom Leibniz-IZW untersuchte nun die Nahrung der Fledermausart Großer Abendsegler (Nyctalus noctula) in Berlin und den angrenzenden ländlichen Regionen. Über drei Jahre sammelte das Team Fledermauskotproben und analysierte diese mit der Metabarcoding-Methode zur Identifizierung der Fledermausart, von der die Kotproben stammte, sowie der Insektenarten in der Nahrung selbst, wie sie in den Kotproben dokumentiert wurde. In den Kotproben des Großen Abendseglers wiesen sie insgesamt 129 Insektenarten nach. Am häufigsten kamen die Zuckmückenart Chironomus tepperi, der Eichelbockkäfer Curculio glandium und der Waldbockkäfer Spondylis buprestoides vor.
Die Nahrung der Abendsegler in Berlin erwies sich dabei als deutlich vielfältiger als die ihrer Artgenossen aus dem Umland. „Obwohl es insgesamt weniger Insekten in der Stadt gibt und Stadtfledermäuse einen geringeren Jagderfolg aufweisen, wodurch sie insgesamt weniger Insekten verzehren als ihre Verwandten auf dem Land, ist die Zusammensetzung ihrer Nahrung im Durchschnitt um 55 Prozent vielfältiger“, fasst Scholz zusammen. „Die Stadtfledermäuse verzehrten 83 Insektenarten, die nicht auf dem Speiseplan ländlicher Artgenossen standen, während Fledermäuse auf dem Land lediglich 27 Arten exklusiv fraßen. Nur 15 Prozent der nachgewiesenen Arten fanden wir sowohl bei Abendseglern im Stadt- als auch im Landlebensraum “. Dies könne an einer kleinräumig höheren Vielfalt im Nahrungsangebot in der Stadt und an größeren Aktionsradien bei der Nahrungssuche der Stadtfledermäuse liegen. „Insekten kommen in städtischen Gebieten weniger häufig und relativ isoliert vor. Dies könnte dazu führen, dass Fledermäuse in Städten eher opportunistisch jagen, anstatt sich auf bestimmte Beutetiere zu konzentrieren, was zu einer vielfältigeren Ernährung führt“, so Scholz.
Die größere Vielfalt der Nahrung zeigt sich auch an den „Schädlingen“ und „Lästlingen“ wie Stechmücken, die die Abendsegler vertilgten. Etwa ein Drittel der in den Kotproben nachgewiesenen Insektenarten waren Arten, die beispielsweise als Agrarschädlinge (20 Arten) oder Lästlinge (6 Arten) gelten. Zwei Drittel der Stadtproben und gut die Hälfte der Landproben enthielten mindestens eine dieser Arten. „Unter dem Strich verzehrten Große Abendsegler in Berlin rund zweieinhalbmal so viele landwirtschaftliche Schädlinge wie ihre ländlichen Artgenossen“, sagt Voigt. „Bei den Lästlingen wie Mücken sind es sogar sechsmal so viele Arten.“ Dies unterstreiche die Bedeutung von Fledermäusen als Ökosystemdienstleister für den Menschen – auch in Städten. Fledermäuse helfen also der menschlichen Stadtbevölkerung durch den Verzehr potenzieller Krankheitsüberträger. Dies wird in Zeiten von sich ausbreitenden Krankheiten wie Westnilvirus und Dengue-Fieber zunehmend wichtig. Auch aus diesem Grund sollte die Stadt als Mosaik unterschiedlicher, wertvoller Lebensräume erhalten und Dunkelkorridore zur Verbindung dieser fragmentierten Nahrungsquellen geschützt und ausgebaut werden, damit Fledermäuse uns diesen Dienst erweisen können.
Originalpublikation:
Scholz C, Teige T, Djoumessi KPN, Buchholz S, Pritsch F, Planillo A, Voigt CC (2024): Dietary diversification of an insect predator along an urban-rural gradient. Landscape and Urban Planning Volume 256, April 2025, 105273. DOI: 10.1016/j.landurbplan.2024.105273
11.12.2024, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Eine neue Art fliegender Reptilien mischt die Zeitlinie der Flugsaurier-Evolution neu
Sie waren die ersten aktiv fliegenden Wirbeltiere: Die Pterosaurier oder Flugsaurier. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der SNSB haben jetzt eine neue Art identifiziert, die zeigt, dass die wichtigste Untergruppe der Pterosaurier schon bis zu 15 Millionen Jahren früher entstand, als bisher angenommen.
Vor etwa 230 Millionen Jahren, fast 80 Millionen Jahre vor dem Ursprung der Vögel, eroberten die Flugsaurier den Himmel, als erste Gruppe aktiv fliegender Wirbeltiere. Die Flugsaurier entwickelten den aktiven Flatterflug mit Hilfe einer Flughaut, die hauptsächlich von dem stark verlängerten vierten Finger gespannt wurde.
Im Laufe der Evolution der Flugsaurier wurde ihre Flugfähigkeit perfektioniert. Während die meisten frühen Formen noch relativ kurze Flügel und einen langen Schwanz besaßen, zeichnet sich die fortschrittliche Untergruppe der Pterodactyloidea durch lange, schlanke Flügel und einen kurzen Schwanz aus. Zu dieser Gruppe gehören praktisch alle Flugsaurier der Kreidezeit und auch die größten jemals fliegenden Tiere, wie etwa Quetzalcoatlus, mit Spannweiten von 12 m oder mehr. Die ältesten bisher bekannten Fossilien der Pterodactyloidea stammen aus der späten Jurazeit und sind etwa 160 Millionen Jahre alt. Die meisten Flugsaurierfunde kommen dabei von der Nordhalbkugel, von den südlichen Kontinenten kennt man nur sehr wenige Fossilien.
Alexandra Fernandes und Prof. Oliver Rauhut von der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG) haben nun eine neue 178 Millionen Jahre alte Flugsaurierart aus dem unteren Jura der Provinz Chubut in Argentinien beschrieben. Das Erstaunliche an dem Fund: Die neue Art Melkamter pateko zeigt bereits einige Merkmale der fortschrittlichen Pterodactyloiden – ist aber gut 15 Millionen Jahre älter als sein nächst-ältester, bisher bekannter Verwandter. Offenbar liegt der Ursprung dieser später so erfolgreichen Flugsauriergruppe deutlich weiter zurück, als man bisher angenommen hat.
Auch der Fundort von Melkamter ist bemerkenswert. Der Fund stammt aus kontinentalen Ablagerungen – offenbar lebte dieser Flugsaurier weit entfernt von der nächsten Meerküste. Die meisten bisher bekannten jurassischen Flugsaurierfossilien stammen aus marinen Gesteinen. Sie lebten nahe der Küste, wo sie sich überwiegend von Fischen und anderen Meerestieren ernährten. Die Nahrung von Melkamter dagegen bestand wohl hauptsächlich aus Insekten. Der Fundort des neuen Flugsauriers in küstenfernen Gesteinen und seine Anpassung an nicht-aquatische Beute unterstützt eine kürzlich aufgestellte Hypothese, dass die Pterodactyloiden in solchen Lebensräumen ihren Ursprung haben.
„Möglicherweise war eine frühe Spezialisierung auf hochmobile Beutetiere wie flugfähige Insekten mitverantwortlich für den evolutionären Erfolg der Pterodactyloiden. Dieser Fund zeigt nicht nur, wie wenig wir immer noch über die Flugsaurier der südlichen Halbkugel wissen, sondern auch das große Potential der südlichen Kontinente, um unser Verständnis der Evolution dieser Tiergruppe zu verbessern“, so Alexandra Fernandes, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie und Erstautorin der Studie. Die Studie wurde kürzlich in der wissenschaftlichen Zeitschrift Royal Society Open Science veröffentlicht.
Originalpublikation:
Fernandes Alexandra E., Pol Diego and Rauhut Oliver W. M. 2024 The oldest monofenestratan pterosaur from the Queso Rallado locality (Cañadón Asfalto Formation, Toarcian) of Chubut Province, Patagonia, Argentina. R. Soc. Open Sci.11241238
https://doi.org/10.1098/rsos.241238
12.12.2024, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt – Landesmuseum für Vorgeschichte
Wann vermischten sich moderne Menschen und Neandertaler? Bislang älteste Genome moderner Menschen geben Auskunft
Auch Altfunde können enormes wissenschaftliches Potential bergen. Im Falle von Ausgrabungsfunden der 1930er Jahre aus der Ilsenhöhle bei Ranis (Thüringen), die vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt verwahrt werden, liefert nun die Genetik neue Erkenntnisse. Einem internationalen Forscherteam ist es gelungen, die bislang ältesten Genome moderner Menschen zu entschlüsseln. Sie stammen von sieben Individuen, die vor 42.000-49.000 Jahren in Ranis und Zlatý kůň (Tschechische Republik) lebten. Die Untersuchungen grenzen den Zeitraum der Vermischung zwischen modernen Menschen und Neandertalern auf etwa 45.000-49.000 Jahren v. h. ein – viel später als bisher angenommen.
Das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie (LDA) Sachsen-Anhalt birgt in seinen Funddepots mehr als 16 Millionen Fundeinheiten. Dieser immense wissenschaftliche Schatz wird kontinuierlich aufgearbeitet und bildet immer wieder die Grundlage für Forschungen, die zu sensationellen Ergebnissen führen. Gerade schon lange verwahrte Altfunde können durch methodische Fortschritte enormes Potential bergen. In den letzten Jahren ist es insbesondere die Untersuchung alter DNA, die regelmäßig zu aufsehenerregenden Erkenntnissen führt. So ist es auch im Falle der Funde aus den zwischen 1932 und 1938 von Werner M. Hülle in der Ilsenhöhle bei Ranis (Thüringen) vorgenommenen Ausgrabungen, die in Halle aufbewahrt werden.
Neuuntersuchung der Altfunde von Ranis
Die Untersuchungen in Ranis erbrachten unter anderem eine Schicht (X/Ranis 2), die durch lang-schmale aus Feuersteinklingen gefertigte blattförmige Spitzen gekennzeichnet ist und auf etwa 45.000 Jahre vor heute datiert wird. Lange war umstritten, ob dieser Gerätekomplex mit den Neandertalern oder frühen modernen Menschen zu verbinden ist. In einer vorausgehenden Studie konnten 13 Knochenfragmente aus der Sammlung in Halle und kürzlicher Nachgrabungen in Ranis durch das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig (MPI EVA) und das Thüringische Landesamt für Archäologie auf mitochondriale (mütterlicherseits vererbte Zellkern-) DNA hin untersucht werden (https://doi.org/10.1038/s41559-023-02303-6). Die DNA stammte ausschließlich von modernen Menschen. Das Aussagepotential mitochondrialer DNA ist allerdings begrenzt, da sie nur einen Bruchteil des Genoms darstellt. Zur Beantwortung von Fragen etwa zu Verwandtschaftsbeziehungen ist die Entschlüsselung des gesamten Genoms nötig. Dies gelang nun einem internationalen Forschungsteam unter Leitung von Forschenden des MPI EVA im Rahmen einer Studie, die heute in Nature veröffentlicht wurde. Die 13 Knochenfragmente konnten mindestens sechs Individuen zugeordnet werden, wobei drei genetisch männlich und drei genetisch weiblich sind
Verbindungen nach Zlatý kůň
Etwa 250 Kilometer von Ranis entfernt liegt mit Zlatý kůň (Tschechische Republik) ein zweiter wichtiger Fundplatz zur frühen Besiedlung durch den Homo sapiens. Gefunden wurde das etwa 45.000 Jahre alte Schädeldach einer Frau, deren Erbgut ebenfalls analysiert werden konnte. Ein Vergleich ergab eine genetische Verwandtschaft fünften oder sechsten Grades zwischen der Frau und zwei der Individuen aus Ranis. Die umfassende Entschlüsselung der Genome erlaubte auch eine phänotypische Rekonstruktion der frühen Menschen: Sie hatten eine dunkle Haut- und Haarfarbe und braune Augen.
Moderner Mensch und Neandertaler
Die Menschen von Ranis und Zlatý kůň gehörten zu einer kleinen, isolierten Population, die früh aus Afrika nach Europa vorstieß. Aufgrund ihres hohen Alters sind die Genome auch aufschlussreich für die Verbindungen von modernen Menschen und Neandertalern. Die untersuchten Genome zeigen Neandertaler-Genomsegmente von nur einem einzigen Vermischungsereignis, das allen Nicht-Afrikanern gemeinsam ist. Es lässt sich über die Untersuchung der Länge der von den Neandertalern beigesteuerten Abschnitte im besonders komplett rekonstruierten Genom eines Individuums aus Ranis (Ranis 13) auf den Zeitraum vor etwa 45.000 bis 49.000 Jahren festlegen. Damit liegt die Vermischung zwischen Homo sapiens und Neandertaler wesentlich später als bisher angenommen.
»Die sensationellen Ergebnisse der Untersuchungen an den Funden aus Ranis bringen uns beim Verständnis der frühen Geschichte der Besiedlung Europas durch den Homo sapiens einen großen Schritt weiter. Vor allem zeigen sie aber auch, wie wichtig es ist, archäologisches Fundmaterial langfristig zu bewahren, um Untersuchungen mit neuen Methoden zu ermöglichen. Würde man scheinbar ausgeforschte Funde einfach entsorgen, wäre der Verlust für die Wissenschaft fatal«, sagt Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt.
Originalpublikation:
Arev P. Sümer, Hélène Rougier, Vanessa Villalba-Mouco, Yilei Huang, Leonardo N. M. Iasi, Elena Essel, Alba Bossoms Mesa, Anja Furtwaengler, Stéphane Peyrégne, Cesare de Filippo, Adam B. Rohrlach, Federica Pierini, Fabrizio Mafessoni, Helen Fewlass, Elena I. Zavala, Dorothea Mylopotamitaki, Raffaela A. Bianco, Anna Schmidt, Julia Zorn, Birgit Nickel, Anna Patova, Cosimo Posth, Geoff M. Smith, Karen Ruebens, Virginie Sinet-Mathiot, Alexander Stoessel, Holger Dietl, Jörg Orschiedt, Janet Kelso, Hugo Zeberg, Kirsten I. Bos, Frido Welker, Marcel Weiss, Shannon McPherron, Tim Schüler, Jean-Jacques Hublin, Petr Velemínský, Jaroslav Brůžek, Benjamin M. Peter, Matthias Meyer, Harald Meller, Harald Ringbauer, Mateja Hajdinjak, Kay Prüfer, Johannes Krause, Earliest modern human genomes constrain timing of Neanderthal admixture. Nature 2024: https://doi.org/10.1038/s41586-024-08420-x.