Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

26.11.2024, Institute of Science and Technology Austria
Neue Ära in der Amphibienbiologie: Forschende am ISTA untersuchen das Nervensystem von Fröschen mit harmlosen Viren
Andreas Rothe Communications and Events
Amphibien spielen in der Evolution eine wichtige Rolle, da sie den Übergang vom Wasser- zum Landleben verkörpern. Sie sind entscheidend für das Verständnis des Gehirns und Rückenmarks von Tetrapoden, zu denen auch der Mensch gehört. Eine Gruppe von Forschenden, der auch ein Team am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) angehört, zeigt nun, wie harmlose Viren zur Analyse der Entwicklung des Nervensystems von Fröschen genutzt werden können. Die Ergebnisse erschienen in Developmental Cell.
Virus. Das Wort ist stark negativ behaftet. Doch nicht alle Viren sind schlecht oder verursachen Krankheiten. Einige werden sogar für therapeutische Anwendungen oder Impfungen eingesetzt. In der Grundlagenforschung, zum Beispiel, werden sie häufig genutzt, um bestimmte Zellen zu infizieren, sie genetisch zu verändern oder um Neuronen im zentralen Nervensystem (ZNS) – die Kommandozentrale, die aus Gehirn, Rückenmark und Nerven besteht – zu visualisieren.
Diese Visualisierung funktioniert nun endlich auch in Amphibien. Das zeigt eine neue Studie eines internationalen EDGE-Konsortiums unter der gemeinsamen Leitung der Sweeney Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und der Gruppe von Maria Tosches an der Columbia University. Die Forscher:innen entwickelten eine neue Technik, bei der Adeno-assoziierte Viren (AAV) eingesetzt werden, um das Nervensystem eines Frosches während der gesamten Metamorphose – dem Übergang vom der Kaulquappe zum erwachsenen Frosch – zu verfolgen. Ein Durchbruch, der die Neurobiologie der Amphibien in eine neue Ära führen könnte.
Schwimmen und Laufen
David Vijatovic und Lora Sweeney betreten ein Labor voller Wassertanks. Vijatovic klopft an einen der Behälter. Ein kleiner grünlich-braun gefleckter afrikanischer Krallenfrosch (Xenopus laevis) erscheint. Er hat ausgeprägte Gliedmaßen, die er anmutig manövriert und sich an seiner Umgebung festhält. In einem anderen Becken wirbeln Kaulquappen mit einfachen Schwimmbewegungen umher. Es ist bemerkenswert, dass sich das eine in das andere entwickelt.
„Frösche durchlaufen eine Metamorphose“, erklärt Sweeney, „das macht sie zu einem großartigen Modellorganismus, um den Übergang zwischen zwei Bewegungsarten – Schwimmen und Laufen – zu untersuchen.“ Die Entwicklung eines Frosches erstreckt sich über 12 bis 16 Wochen. Innerhalb dieser Wochen entwickelt sich ein Frosch von einem Embryo zu einer jungen Kaulquappe, zu einer Kaulquappe mit zwei Beinen, dann zu einem jungen Fröschlein mit vier Beinen und schließlich zu einem erwachsenen Frosch.
Das gibt Wissenschafter:innen die Zeit, jedes einzelne Stadium genauestens zu untersuchen. „Wir schauen uns die verschiedenen Entwicklungsstadien an und analysieren dadurch das Fortbewegungsverhalten und die zugrundeliegenden Veränderungen im Nervensystem“, fügt Vijatovic hinzu.
Wie ein elektrischer Schaltkreis: Wie Frösche verkabelt sind
Das Nervensystem eines Organismus wird als neuronaler Schaltkreis bezeichnet, weil es einem elektrischen Schaltkreis ähnelt. „Nervenzellen (Neuronen) sind mit anderen Neuronen verbunden und übermitteln elektrische Informationen. Wie wir uns verhalten, was wir wahrnehmen und wie wir mit der Welt interagieren, ist das Ergebnis der Art und Weise, wie unsere Neuronen innerhalb dieser Schaltkreise miteinander kommunizieren“, erklärt Sweeney. Entscheidend ist, wie der Schaltkreis verdrahtet ist. Wir wissen, dass die Neuronen miteinander verbunden sind, aber welches Neuron ist mit welchem vernetzt? Mit welchen anderen Zellen „spricht“ eine einzelne Zelle und was „sagt“ sie?
Um mehr darüber herauszufinden wie Neuronen vernetzt sind nutzen Forscher:innen Viren. Adeno-assoziierte Viren (AAVs) sind in dieser Hinsicht ideal. Sie sind nicht krankheitserregend und können die meisten Zelle infizieren – und eben auch Neuronen. AAVs können so verändert werden, dass sie unter dem Mikroskop in hellgrün-fluoreszierenden Farben leuchten, während sie sich entlang von Neuronen bewegen. Sei es rückwärts, von der Synapse zum Zellkörper (retrograd) oder vorwärts, vom Zellkörper zur Synapse (anterograd). Mit anderen Worten: AAVs werden verwendet, um den neuronalen Schaltkreis vom sendenden Ende zum empfangenden Ende oder umgekehrt zu erleuchten.
„Dies ist eine gängige Technik in der Neurobiologie, insbesondere bei gut untersuchten Organismen wie Mäusen. Bei Amphibien dachte man lange, dass diese Methode nicht funktioniert“, erklärt Vijatovic. Das hat sich jetzt geändert.
Die Früchte einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit
Um das Nervensystem der Amphiben mit den AAVs markieren zu können, schlossen sich Sweeney und Vijatovic mit einer internationalen Gruppe von Forschenden zusammen. Darunter die Forschungsgruppe von Maria Tosches an der Columbia University, in der die beiden anderen Erst-Autor:innen der Studie, Eliza Jaeger und Astrid Deryckere, arbeiten, sowie Wissenschafter:innen der Tel Aviv University, der University of Utah, des Scripps Research Institute und des California Institute of Technology. Die Forscher:innen tauschten ihr Fachwissen aus, besuchten Konferenzen, führten unzählige Zoom-Telefonate und brachten unterschiedliche Perspektiven und Ideen in das Projekt ein. „Wenn man anfängt, einen Organismus zu erforschen, der noch nicht gut verstanden ist, ist es gut, eine Gemeinschaft zu haben, in der man Informationen austauschen kann“, so Sweeney.
Das Team untersucht bekannte AAVs, um herauszufinden, welche für Amphibien geeignet sind. Die Infektionsstrategien wurden anschließend optimiert und bildeten schließlich einen „How to“-Leitfaden für Frösche und Molche. Sein PhD-Projekt fasst Vijatovic wie folgt zusammen: „Wir haben mit jungen Kaulquappen begonnen und uns dann zu älteren Kaulquappen vorgearbeitet und sind schließlich zu jugendlichen und dann zu erwachsenen Fröschen – sowie zu erwachsenen Molchen – übergegangen. Die neue Technik wurde so auf jedes Lebensstadium zugeschnitten.“
Vergleich zwischen Fröschen und Menschen: Was diese Forschung über uns aussagt
Mithilfe dieser neuen Technik ist es den Forschenden gelungen mit den richtigen AAVs die Verbindungen zwischen Neuronen in Amphibien aufzuspüren. Ein großer Schritt, um mehr darüber herauszufinden, wie das Gehirn von Amphibien im Vergleich zu dem von Säugetieren funktioniert. Darüber hinaus öffnet die neue Methode auch Türen für die weitere Analyse der neuronalen Entwicklung. Mit einigen der untersuchten AAV-Varianten können die Forscher:innen Vorläuferzellen zu einem bestimmten Zeitpunkt während der Entwicklung des Schaltkreises markieren und sie verfolgen, um zu sehen, zu welchen bestimmten Neuronen sie sich entwickeln. „Auf diese Weise können wir den gesamten Schaltkreis in Entwicklungszeit auflösen – wir können also beobachten, wie er sich entwickelt und wie das gesamte Nervensystem aufgebaut ist“, erklärt Sweeney.
Obwohl Amphibien und Säugetiere sich in der Evolution vor etwa 360 Millionen Jahren voneinander getrennt haben, behalten sie gemeinsame Merkmale. „Wenn wir uns diese Details im Nervensystem eines Frosches im Vergleich zu dem des Menschen anschauen, können wir aufzeigen, was wir gemeinsam haben und was nicht“, so Sweeney weiter. Dieses Wissen kann uns helfen zu verstehen, wie sich das Nervensystem beim Menschen im Laufe der Zeit spezialisiert hat. „Je mehr wir über die Grundbausteine des Nervensystems wissen, desto mehr verstehen wir, wie wir sie bei Krankheiten und Verletzungen ersetzen können.“
Originalpublikation:
E.C.B. Jaeger, D. Vijatovic, A. Deryckere, N. Zorin, A. L. Nguyen, G. Ivanian, J. Woych, R. C. Arnold, A. Ortega Gurrola, A. Shvartsman, F. Barbieri, F. A. Toma, H. T. Cline, T.F. Shay, D. B. Kelley, A. Yamaguchi, M. Shein-Idelson, M. A. Tosches and L. B. Sweeney. 2024. Adeno-associated viral tools to trace neural development and connectivity across amphibians. Developmental Cell. DOI: https://doi.org/10.1016/j.devcel.2024.10.025

26.11.2024 08:49
Gefährdeter Gartenschläfer: Umfangreiche Erbgutanalyse trägt zum Schutz der Art bei
Judith Jördens LOEWE-Zentrum Translationale Biodiversitätsgenomik
Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Um gefährdete und vom Aussterben bedrohte Tierarten nachhaltig schützen zu können, bedarf es passgenauer Strategien im Naturschutzmanagement. Eine immer größere Rolle spielen dabei Informationen, die aus genomischen Daten gewonnen werden. In einer neuen Studie stellen Wissenschaftler*innen des hessischen LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG)), angesiedelt bei Senckenberg, und weiterer Institutionen nun ein hochauflösendes Referenzgenom für den bedrohten Gartenschläfer vor. Die daraus abgeleiteten Informationen geben Aufschluss über seinen dramatischen Populationsrückgang und liefern wichtige Erkenntnisse für Erhaltungsstrategien in Europa.

An seiner auffälligen Fellmusterung ist der Gartenschläfer gut zu erkennen – wie eine „Zorro-Maske“ zieht sich ein schwarzer Streifen von den Augen bis zu den langen Ohren. Dass das kleine Nagetier aus der Familie der Bilche, zu der auch die Haselmaus und der Siebenschläfer zählen, dennoch selten zu sehen ist, liegt zum einen daran, dass der Gartenschläfer nachtaktiv ist und einen langen Winterschlaf hält. Zum anderen hat sich sein Verbreitungsgebiet in den vergangenen 30 Jahren fast halbiert. So sind etwa in Ostdeutschland nahezu alle Bestände ausgestorben. Auf der Roten Liste Deutschlands wird der Gartenschläfer daher als „stark gefährdet“ eingestuft. Außerdem ist er eine sogenannte „Verantwortungsart“: Da sich ein erheblicher Teil seines weltweiten Vorkommens in Deutschland befindet, hat sein Schutz eine besondere Priorität.

Um die Gründe für diesen erheblichen Rückgang ausfindig zu machen, läuft seit Ende 2018 im Rahmen des Bundesprogramms Biologische Vielfalt das Projekt „Spurensuche Gartenschläfer“. Es wird vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung durchgeführt und vom Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz gefördert.

Im Kontext des Projekts wurde nun auch das Erbgut des Gartenschläfers in den Laboren des hessischen LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) in Kooperation mit dem Labordiagnostik-Unternehmen Bioscientia, dort unter der Leitung von Prof. Dr. med. Hanno Jörn Bolz, sequenziert. „Dank modernster Sequenzierungsmethoden konnten wir in kurzer Zeit ein hochqualitatives Referenzgenom für den Gartenschläfer erstellen, das nun für die weitere Forschung genutzt werden kann“, berichtet Studienleiter Michael Hiller, Professor für Vergleichende Genomik bei Senckenberg sowie an der Goethe-Universität Frankfurt und Sprecher von LOEWE-TBG. „Diese und weitere genomische Daten von zahlreichen Proben aus dem gesamten Verbreitungsgebiet der Art, die von Kolleg*innen und Bürgerwissenschaftler*innen gesammelt wurden, zeigen, dass sich der Gartenschläfer nicht gut an das kältere Klima der letzten Kaltzeit anpassen konnte, die vor etwas mehr als 10.000 Jahren endete. Die Bestände dezimierten sich zu dieser Zeit erheblich, was zu einem starken Verlust an genetischer Vielfalt führte“, so Hiller weiter.

Erstaunt sind die Wissenschaftler*innen über das Ausmaß der genetischen Unterschiede zwischen den Gartenschläfern nördlich und südlich des Alpenhauptkammes. „Mit unseren Ergebnissen können wir den Verdacht bisheriger Studien untermauern, dass wir es möglicherweise mit zwei unterschiedlichen Arten zu tun haben. Dies stellt bei den eigentlich sehr gut erforschten Säugetieren mitten in Europa eine kleine Sensation dar!“, betont die Erstautorin der Studie, Dr. Paige Byerly, Naturschutzgenetikerin am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt am Main, Standort Gelnhausen. Bis zur Klärung dieser Frage dient die im Projekt erfolgte genomische Abgrenzung genetisch klar getrennter Teilbestände als wichtige Grundlage für den Artenschutz. „Die Daten geben Auskunft darüber, welche Populationen genetisch einzigartig sind und möglicherweise besondere Anpassungen an spezifische Umweltbedingungen entwickelt haben. Arten mit einer hohen genetischen Vielfalt sind besser gegen die vom Menschen verursachten Umweltveränderungen gewappnet und haben damit eine höhere Überlebenschance“, erläutert Byerly.

„Unsere Studie zeigt, wie wichtig genomische Daten und Analysen sind, um die genetische Vielfalt von Arten zu bewerten und zu effektiven Erhaltungsmaßnahmen beizutragen“, betont Hiller. „Wir hoffen sehr, dass der als ‚Wildtier des Jahres 2023‘ gewählte Gartenschläfer künftig auch in weiteren Teilen Deutschlands und Europas wieder in unsere Wälder, Streuobstwiesen und Gärten zurückkehrt!“

Im Projekt „Spurensuche Gartenschläfer“ untersuchte der BUND gemeinsam mit der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung die Frage, warum der Gartenschläfer in kurzer Zeit aus immer mehr Regionen verschwindet. Auf Grundlage dieser Informationen wurden anschließen passende Schutzmaßnahmen umgesetzt. Das Projekt „Spurensuche Gartenschläfer“ wird im Bundesprogramm Biologische Vielfalt durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesumweltministeriums gefördert.
Mehr unter: https://www.bfn.de/projektsteckbriefe/spurensuche-gartenschlaefer und https://www.gartenschlaefer.de
Originalpublikation:
Paige Byerly et. al. (2024): Haplotype-resolved genome and population genomics of the threatened garden dormouse in Europe. Genome Research. https://doi.org/10.1101/2024.02.21.581346

27.11.2024, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Vorkommen von Blau- und Finnwalen in der Arktis
Die Langzeitanalyse der Unterwasserrufe von Blau- und Finnwalen in der östlichen Framstraße liefert wichtige Erkenntnisse zu saisonalen und jährlichen Mustern im Vorkommen von Blau- und Finnwalen in diesem Gebiet. So waren Blauwale vor allem im Sommer und Herbst zu hören, während die akustische Präsenz von Finnwalen auf ein deutlich längeres und variableres Vorkommen hinweist. Der einmalige Langzeitdatensatz belegt zudem in den Wintermonaten das vereinzelte Auftreten von Blauwalen – den größten Tieren der Erde. Diese Erkenntnisse stellt ein Forschungsteam unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts jetzt in der Fachzeitschrift PLOS ONE vor.
Die östliche Framstraße ist stark von den Folgen des Klimawandels betroffen, was sich auch auf die dort lebenden Arten auswirkt. So führen steigende Meerestemperaturen unter anderem zu einem deutlichen Rückgang des Meereises und zu Verschiebungen im Nahrungsnetz. Für Bartenwalarten, die saisonale Wanderungen unternehmen, ist der östliche Teil der Framstraße zwischen Svalbard und Grönland eine wichtige Region, denn dort transportiert eine Meeresströmung relativ warmes Wasser in die Arktis, was wiederum eine hohe biologische Produktivität bedingt. Das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) betreibt in diesem Gebiet seit 2014 das Ozean-Beobachtungssystem FRAM (Frontiers in Arctic Marine Monitoring), um langfristige Veränderungen zu untersuchen. Teil des Observatoriums sind akustische Langzeitbeobachtungen bei denen im Ozean verankerte Rekorder mit Hilfe von Hydrophonen (Unterwasser-Mikrofonen) Geräusche aufzeichnen, beispielsweise die Rufe von Walen. Diese schaffen eine Grundlage für die Untersuchung von Artenvorkommen, insbesondere im Hinblick auf mögliche klimawandelbedingte Veränderungen, einzelne Geräte waren bereits vor der Einrichtung des FRAM-Observatoriums ausgebracht worden, außerdem steuerte das Pacific Marine Environmental Laboratory der NOAA zwei Datensätze bei.
„Fortschreitende Veränderungen des Lebensraums, wie der Rückgang des Meereises, werden voraussichtlich erhebliche Auswirkungen auf das Vorkommen mariner Säugetiere haben“, berichtet Marlene Meister, Doktorandin am Alfred-Wegener-Institut und Erstautorin der aktuellen Studie. Daher erwarten die Forschenden unter anderem, dass Blau- und Finnwale, die vorwiegend im Sommer und Herbst aus dem Nordatlantik in die Framstraße zum Fressen migrieren, ihren Aufenthalt dort räumlich und zeitlich ausdehnen oder möglicherweise das ganze Jahr über dort verweilen. In der aktuellen Publikation untersuchten sie deshalb saisonale Muster im akustischen Vorkommen von Blau- und Finnwalen im Zeitraum von 2012 bis 2021.
„Das Migrationsverhalten von Finnwalen ist als relativ flexibel bekannt und die Tiere waren auch das ganze Jahr über zu hören. Überrascht waren wir jedoch, dass wir in drei der zehn Beobachtungsjahre vereinzelte Tage mit Blauwalruf-Detektionen im Januar oder Februar gefunden haben“, sagt Marlene Meister. Dies sei ungewöhnlich, da angenommen wird, dass die Tiere sich zu diesem Zeitpunkt in südlicheren Gebieten aufhalten. „Die sporadische akustische Präsenz im Winter deutet darauf hin, dass einzelne Tiere ihren saisonalen Aufenthalt in der Framstraße verlängern oder zu dieser Jahreszeit aus südlicheren Aufenthaltsorten in das Gebiet zurückkehren. Das Migrationsverhalten von Blauwalen im Nordatlantik gilt eigentlich als recht verlässlich, weshalb ich einen auf Sommer und Herbst begrenzten Aufenthalt der Tiere erwartet hätte“, berichtet die AWI-Biologin weiter. Weil es vor 2012 keine akustischen Langzeitaufnahmen aus der östlichen Framstraße gab, ließe sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen, dass das (akustische) Vorkommen von Blauwalen im Winter in der Framstraße ein neues, klimawandelbedingtes Phänomen ist. Insgesamt konnte das Forschungsteam einen deutlichen Einfluss von Meerestemperatur und Zooplanktonvorkommen auf die akustische Präsenz von Blauwalen feststellen.
Das Forschungsteam leistet einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung des Artenvorkommens und damit zur Dokumentation potenzieller klimawandelbedingter Veränderungen. Zudem unterstreicht die Veröffentlichung die Bedeutung der Framstraße als einen wertvollen Lebensraum für Bartenwale (vermutlich als Fresshabitat) und trägt zu einem besseren Verständnis des Wanderungsverhaltens verschiedener Arten bei. Die angewandte Methode, das Passive Akustische Monitoring (PAM), ist besonders wichtig, um das (akustische) Artenvorkommen ganzjährig und auch unter widrigen Bedingungen zu untersuchen, und wird daher vom AWI im FRAM-Observatorium als Teil der Langzeitforschung fortgesetzt. Schließlich sind vor allem im Winter visuelle Beobachtungen aufgrund von Eisbedeckung und Dunkelheit nahezu unmöglich.
Ein verbessertes Verständnis von Artenvorkommen, Habitatnutzung und Migrationsverhalten ermöglicht es, Schutzmaßnahmen gezielter einzusetzen. Diese sind momentan von besonderer Bedeutung: Der Rückgang des Meereises macht den Arktischen Ozean für menschliche Aktivitäten immer zugänglicher. Der steigende Schiffsverkehr in der Arktis, etwa entlang der Nordwest- oder Nordostpassage, führt zu erhöhtem anthropogenem Stress für marine Säugetiere. Unterwasserlärm, vor allem durch Schiffsmotoren und seismische Untersuchungen, beeinträchtigt bereits heute die Kommunikation von Bartenwalen. Zudem drohen zusätzliche Gefahren durch vermehrte Schiffskollisionen, Lebensraumzerstörungen und Ölverschmutzungen. Effektive Maßnahmen zur Reduzierung von anthropogenem Stress sind daher in Zeiten des Klimawandels umso wichtiger.
Originalpublikation:
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0314369

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