Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

21.10.2024, Universität Bielefeld
Pflanzenstoffe beeinflussen das Sozialleben von Tieren
Eine im „Journal of Animal Ecology“ veröffentlichte Studie von Forschenden der Universität Bielefeld zeigt, dass bestimmte Pflanzenstoffe, die nicht der Ernährung dienen, das Sozialverhalten und die Lebensdauer der Rüpsen-Blattwespe (Athalia rosae) beeinflussen. Unter der Leitung von Dr. Pragya Singh, Postdoktorandin im Sonderforschungsbereich Transregio 212 in der AG chemische Ökologie, untersuchte das Team, wie der Verzehr von spezifischen Pflanzenstoffen, sogenannten Clerodanoiden, soziale Netzwerke innerhalb von Blattwespenpopulationen verändert und gleichzeitig die Lebensdauer der Tiere verkürzt.
Pflanzen bieten Tieren mehr als nur Nahrung. In der Studie zeigten die Forschenden, dass die Wespen Clerodanoide von Pflanzen wie Ajuga reptans gezielt aufnehmen, um Vorteile jenseits von Ernährung zu erhalten. Diese Chemikalien bieten den Wespen Schutz vor Fressfeinden und verbessern ihre Fortpflanzungschancen. „Interessanterweise erhalten die Blattwespen diese Stoffe nicht nur direkt von den Pflanzen, sondern auch durch soziale Interaktionen mit anderen Blattwespen, die Zugang zu diesen Pflanzen hatten. Solche Begegnungen sind oft konfliktreich, da die Blattwespen versuchen, sich gegenseitig kleine Mengen der wertvollen Chemikalien ‚abzuknabbern‘“, erklärt Dr. Pragya Singh, Erstautorin der Studie.
In ihrer Studie untersuchten die Wissenschaftler*innen Wildpopulationen von Rübsen-Blattwespen und fanden heraus, dass einige Individuen Clerodanoide in großen Mengen besaßen, während andere keine Spuren der Stoffe aufwiesen. Diese Ungleichheit wirkte sich direkt auf das Sozialverhalten der Blattwespen im Labor aus. Blattwespen ohne Zugang zu Clerodanoiden waren häufiger in agonistische, also konfliktreiche Interaktionen verwickelt, um die wertvollen Stoffe von anderen Blattwespen zu erlangen.
Durch eine detaillierte soziale Netzwerk-Analyse zeigten die Forscher*innen, dass Blattwespen mit Zugang zu Clerodanoiden deutlich mehr soziale Interaktionen hatten, besonders in Gruppen, in denen manche Individuen Clerodanoide besaßen und andere nicht. Obwohl diese Stoffe Vorteile in der Verteidigung und Fortpflanzung bieten, verkürzten sie jedoch die Lebensdauer der Blattwespen, da die vielen Sozialkontakte und aggressive Versuche von anderen Blattwespen, die Chemikalien zu erlangen, möglicherweise die Träger erschöpften, selbst ohne sichtbare Verletzungen. „Es war überraschend zu sehen, wie stark die aggressiven sozialen Interaktionen die Lebensdauer der Blattwespen verkürzten, ohne dass äußere Verletzungen erkennbar waren“, erklärt Dr. Pragya Singh. „Die sozialen Kosten dieser Konflikte könnten auf einem erhöhten metabolischen Stress beruhen, trotz des Fehlens von offensichtlichem physischem Schaden.“
Neue Perspektiven für die Erforschung sozialer Netzwerke
Die Studie liefert nicht nur neue Erkenntnisse darüber, wie Pflanzenstoffe das Verhalten von Tieren beeinflussen, sondern eröffnet auch neue Perspektiven für die Erforschung von sozialen Netzwerken in ökologischen Systemen. „Unsere Ergebnisse werfen wichtige Fragen über die langfristigen Auswirkungen von nahrungsunabhängigen Pflanze-Tier-Interaktionen auf die Struktur von Populationen auf“, so Singh weiter. „Welche Rolle spielen diese Chemikalien in größeren ökologischen Netzwerken, etwa in Räuber-Beute- oder Parasit-Wirt-Beziehungen?“
Die Ergebnisse dieser Forschung fügen sich in die übergeordneten Ziele des Sonderforschungsbereichs (SFB) 212 ein, der untersucht, wie individuelle Merkmale ökologische Nischen gestalten und soziale Verhaltensweisen beeinflussen. Die Studie zeigt deutlich, wie die individuelle Variation bei der Aufnahme von Clerodanoiden zu unterschiedlichen sozialen Verhaltensweisen führt und wie solche individuellen Unterschiede die Struktur sozialer Netzwerke formen können.
Originalpublikation:
Pragya Singh, Leon Brueggemann, Steven Janz, Yasmina Saidi, Gaurav Baruah, Caroline Müller: Plant metabolites modulate social networks and lifespan in a sawfly. Journal of Animal Ecology. https://doi.org/10.1111/1365-2656.14189, veröffentlicht am 22. September 2024.

21.10.2024, Universität Ulm
Wildbienen profitieren von Bio-Landbau – Unterschiede in der Flächenbewirtschaftung wirken sich auf Populationen aus
Je ausgedehnter biologisch bewirtschaftete Landwirtschaftsflächen sind, desto besser können sich Populationen einer bestimmten Mauerbienenart entwickeln. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsteam unter der Leitung des Ulmer Bienenexperten Dr. Samuel Boff. Die Studie, die nun in der Fachzeitschrift Science of the Total Environment veröffentlicht wurde, weist nicht nur nach, dass in Gebieten, in denen chemische Pestizide eingesetzt werden und weniger Blüten als Nahrungsquellen verfügbar sind, weniger Bienen leben. Die Untersuchung belegt auch, dass eine konventionelle Landbewirtschaftung die Fortpflanzungskommunikation von Wildbienen stören kann.
Forschende beobachten seit Jahren, dass besonders in landwirtschaftlich intensiv genutzten Gebieten die Zahl von Wildbienen dramatisch sinkt. Wildbienen sind als Bestäuber für die Nahrungsmittelproduktion unverzichtbar und spielen eine sehr wichtige Rolle für die Erhaltung der biologischen Vielfalt. Der Rückgang der Tiere gefährdet die Ernährungssicherung und Ökosysteme weltweit. Um den Gründen für die sinkende Zahl an Wildbienen auf Landwirtschaftsflächen auf die Spur zu kommen, hat Dr. Samuel Boff vom Institut für Evolutionsökologie und Naturschutzgenomik der Universität Ulm mit weiteren Ulmer Forschenden und einem internationalen Team untersucht, wie sich unterschiedliche Bewirtschaftungsformen – biologisch versus konventionell – auf Wildbienenpopulationen auswirken. Im Fokus stand dabei die Mauerbienenart Osmia bicornis.
Überwachung mit „Bienenhotels“
Die Forschenden stellten für ihre Beobachtungen „Bienenhotels“, also künstliche Nisthilfen, in acht konventionell und sieben biologisch bewirtschafteten Betrieben in Baden-Württemberg auf. Für ein möglichst unverfälschtes Ergebnis wählten sie die überwachten Flächen jeweils so aus, dass sie den normalen Bewegungsradius der Bienen, der auf etwa 500 Meter um die Nistplätze herum begrenzt ist, abdeckten. Das Team dokumentierte Landschaftsmerkmale, darunter das Ausmaß biologisch bewirtschafteter Anbauflächen, sowie die Anzahl der Pflanzen, die als Nahrungsquelle dienen, und verglich die Anzahl der Bienennester und Nachkommen sowie die Körpergrößen des Nachwuchses. Zudem führten die Forschenden chemische Analysen der sogenannten kutikulären Kohlenwasserstoffe auf der Körperoberfläche der Bienen durch. Diese haben eine Schutzfunktion, dienen aber auch der sexuellen Kommunikation zwischen Geschlechtspartnern. Damit spielen die kutikulären Kohlenwasserstoffe eine wichtige Rolle bei der Fortpflanzung. Nachdem sie den Einfluss der Anbausysteme auf die chemische Zusammensetzung der Verbindungen festgestellt hatten, testeten die Forschenden in Laborexperimenten biologische Reaktionen, um nachzuvollziehen, inwiefern das jeweilige Anbausystem die chemischen Verbindungen an den Bienenkörpern beeinflusst und ob sich dies auf das Paarungsverhalten auswirkt.
Mehr Bio, mehr Nachwuchs
„Wir haben festgestellt, dass die Populationsgröße mit der Ausdehnung biologischer Landwirtschaft in der Landschaft zunimmt. In Regionen mit einem höheren Anteil an biologischem Landbau und keinem oder reduziertem Pestizideinsatz gab es eine höhere Blütenvielfalt und mehr verfügbare Nahrungsressourcen für Bestäuber. Hier haben wir mehr Weibchen gezählt, die Nester bauten, und die Anzahl der von ihnen gebauten Brutkammern sowie der Nachkommen war höher“, berichtet Projektkoordinator Boff. Die Körper des – geringeren – Nachwuchses von Bienen in konventionellen Gebieten waren indes größer. Möglicherweise, um aufgrund der schlechteren Nahrungsverfügbarkeit in der Umgebung ihrer Nester in den konventionellen Gebieten die Sammelfähigkeiten zu verbessern.
Gestörte sexuelle Kommunikation
„Die Studie belegt des Weiteren, dass konventionelle Landwirtschaft die chemische Kommunikation der Bienen stört. Die kutikulären Kohlenwasserstoffe auf der Körperoberfläche der untersuchten Bienen in konventionell bewirtschafteten Gebieten unterschieden sich von denen in biologischen“, sagt Professor Manfred Ayasse von der Universität Ulm. Der stellvertretende Leiter des Instituts für Evolutionäre Ökologie und Naturschutzgenomik ist Co-Autor der Studie. Besonders zwei Verbindungen, (Z)-11-Heptacosen und (Z)-9-Nonacosen, zeigten sich bei Weibchen aus konventionellen Betrieben häufiger. Im Labor beobachteten die Forschenden, dass diese Bienen eine stärkere sexuelle Anziehungskraft auf Männchen aus einem neutralen Gebiet ausübten. „Die Männchen zeigten gegenüber diesen Weibchen ausgeprägtere sexuelle Signale in Form von deutlicherem präkopulatorischen Verhalten, wie Flügelfächeln und Paarungsversuchen – ein Hinweis auf eine veränderte sexuelle Kommunikation in Folge des häufigeren Vorkommens der Verbindungen (Z)-11-Heptacosen und (Z)-9-Nonacosen bei den weiblichen Bienen aus konventionellen Betrieben“, erklärt Boff. Ein denkbarer Grund dafür ist, dass Bienen aus konventionellen Betrieben aufgrund kleinerer Populationen einer stärkeren Konkurrenzsituation ausgesetzt sind und daher mehr Sexualpheromone produzieren, um ihre Anziehungskraft zu steigern.
„Wir haben nachgewiesen, dass konventionelle landwirtschaftliche Praktiken nicht nur die Nahrungsquellen der Bienen beeinflussen, sondern auch tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Fortpflanzungs- und Paarungsverhalten haben können“, unterstreicht Boff. „Wir wissen noch nicht, welche Folgen dies genau hat, aber unsere Ergebnisse heben den Einfluss des Anbausystems auf die Fortpflanzung der Wildbienen hervor. Die Auswirkungen der chemischen Veränderungen weiter zu untersuchen, etwa auf die molekularen Abweichungen und ob ähnliche Effekte auch bei anderen Bestäuberarten beobachtet werden können, sind wichtige Ansatzpunkte für weitere Untersuchungen.“
Originalpublikation:
Boff, S., Olberz, S., Gülsoy, I.G., Preuß, M., Raizer, J., Ayasse, M. (2024). Conventional agriculture affects sex communication and impacts local population size in a wild bee. Science of the Total Environment, 954/2024. https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2024.176319

22.10.2024, Deutsche Wildtier Stiftung
Wildtiere kennen keine Zeitumstellung!
Deutsche Wildtier Stiftung warnt: Anfang November steigt die Zahl der Wildunfälle
Durch die Zeitumstellung am Sonntag, den 27. Oktober, sind in den kommenden Wochen viele motorisierte Pendler vor allem in der Dämmerung unterwegs. Also gerade dann, wenn die Wildtiere auf Futtersuche gehen. „Wildtiere kennen keine Zeitumstellung, ganz egal, wie oft wir an der Uhr drehen“, sagt Marie Geisler, Referentin für Flächenmanagement bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Der Biorhythmus von Rothirsch, Reh, Wildschwein, Dachs oder Fuchs orientiert sich am Sonnenstand und der Änderung in der Tageslänge. In der Dämmerung sind viele Wildtiere besonders aktiv – dann ziehen sie los, um im Schutz der Dunkelheit nach Nahrung zu suchen.
Auf der Suche nach Mais, Rüben, Wurzeln, Pilzen, Beeren, Baumfrüchten, Kräutern oder Aas queren die Wildtiere Autobahnen, Landstraßen, Feldwege, Dorf- und Vorortstraßen. „Durch die Zeitumstellung verlagert sich die Hauptverkehrszeit der Menschen in die Hauptaktivitätsphase der Wildtiere“, sagt Marie Geisler. So werden Autofahrer, aber auch Motorradfahrer oder E-Biker zur Gefahr für Wildtiere und umgekehrt. Rein rechnerisch kollidiert nach Angaben des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft deutschlandweit alle zwei Minuten ein Wildtier mit einem Auto. Die Gefahr von Wildunfällen ist dabei von Oktober bis Dezember zum Teil fast doppelt so hoch wie in anderen Monaten, zeigt die Unfallstatistik des GDV. Über 1 Milliarde Euro pro Jahr werden für Fahrzeugschäden bezahlt. Nach Angaben des Deutschen Jagdverbandes endet so gut wie jeder Zusammenprall für das Wildtier tödlich.
Besonders oft knallt es an Wald- und Feldübergängen, denn hier wechseln Fuchs, Reh, Hirsch, Dachs oder Wildschwein die Straße, um in andere Nahrungsgefilde zu gelangen. Begehrte Anlaufstellen für die Nahrungsaufnahme sind aber auch Straßenbäume, die viele Baumfrüchte abwerfen.
Eichelmast lockt Wildtiere an die Straßen
Wildschweine etwa fressen sich liebend gern an proteinreichen Eicheln satt. „Da es in diesem Jahr eine Eichelmast gibt, kann es beispielsweise leicht passieren, dass sich in der Dämmerung eine Rotte Wildschweine auf einer Eichen-Allee versammelt. Die Silhouetten der Tiere sind bei schlechten Sichtverhältnissen nur auf kurzer Distanz zu erkennen, es besteht Unfallgefahr“, so Geisler. Auch andere Huftierarten wie etwa Rehe und Damhirsche mögen Eicheln und werden auch von abgeworfenen Baumfrüchten wie Bucheckern und Kastanien an die Straßenränder gelockt. Auf Straßen, die mit Obstbäumen gesäumt sind, trifft man in der Dämmerung garantiert nicht nur auf Wildschweine, sondern fast immer auch auf Dachse und Füchse.
Nässe und Laub verlängern außerdem den Bremsweg. Viele Wildunfälle könnten jedoch verhindert werden, wenn Autofahrer die Gefahr von Wildwechsel rechtzeitig erkennen. Der Tipp der Expertin der Deutschen Wildtier Stiftung lautet darum: „Fahren Sie vorrauschauend, lieber Tempo 80 statt 100 und immer bremsbereit. Beobachten Sie in gefährdeten Bereichen den Straßenrand! Wenn reflektierende Punkte, also die Augen von Wildtieren oder eine Tiersilhouette auftauchen, bremsen Sie sofort ab. Hupen Sie, damit sich das Tier erschreckt und bestenfalls flüchtet und schalten Sie auch das Fernlicht aus. Denn ein Wildtier, das geblendet wird, bleibt erstmal starr stehen – blenden Sie ab, läuft es hoffentlich weiter. Und Achtung: Überquert ein Wildtier die Straße, folgen häufig Artgenossen.
„Kann ein Zusammenprall nicht vermieden werden, versuchen Sie aber niemals auszuweichen“, fügt Marie Geisler hinzu. Eine Kollision mit Straßenbäumen oder gar dem Gegenverkehr hat für Autofahrer deutlich schlimmere Folgen als der Zusammenprall mit einem Wildtier. Wenn es zu einem Wildunfall gekommen ist, muss der Autofahrer die Polizei benachrichtigen – auch wenn das angefahrene Wildtier noch lebt oder geflüchtet ist. Nehmen Sie das Wildtier nicht mit, denn das ist verboten. Die Polizei informiert den zuständigen Jäger, der das Tier sucht und gegebenenfalls von seinem Leid erlöst. Außerdem stellt die Polizei eine Bescheinigung über den Wildunfall aus, damit der Autofahrer den entstandenen Schaden über seine Kaskoversicherung begleichen lassen kann.

23.10.2024. Max-Planck-Institut für Chemie
Korallen in uralter Symbiose
Die Analyse von Stickstoffisotopen bezeugt die älteste bislang nachgewiesene Fotosymbiose in Korallen
Auch vor knapp 400 Millionen Jahren lebten Korallen bereits in Symbiose mit Algen. Das hat ein Team um Forschende des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz durch die Analyse von Stickstoffisotopen an fossilen Korallen aus der Eifel und dem Sauerland festgestellt. Damit haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die bislang älteste Fotosymbiose in Korallen nachgewiesen. Die Fotosymbiose könnte erklären, warum prähistorische Korallenriffe trotz nährstoffarmer Umgebung enorme Ausmaße erreichten.
Tropische Korallenriffe gehören zu den artenreichsten Lebensräumen der Erde, weswegen sie auch als Regenwälder der Meere bezeichnet werden. Moderne riffbildende Korallen haben sich im Erdzeitalter der Trias, also vor etwa 250 Millionen Jahren entwickelt. Sie können in Symbiose mit winzigen Organismen, oftmals Algen leben, die Fotosynthese betreiben können. Diese Fotosymbiose ist besonders in nährstoffarmen Gewässern vorteilhaft, da die Korallen dadurch besser mit Nährstoffen versorgt werden.
Dass es Korallen schon im Erdzeitalter des Devons vor über 385 Millionen Jahren gab, lässt sich geologisch beispielsweise in der Eifel oder im Sauerland nachweisen. Hier findet man Fossilien der ausgestorbenen Böden- und Runzelkorallen, die in der Fachsprache Tabulata beziehungsweise Rugosa heißen. Denn zur Zeit des mittleren Devons war das Rheinische Schiefergebirge von einem tropischen Meer bedeckt, in dem riesige Riffe wuchsen. Es ist jedoch nicht klar, ob die ausgestorbenen Korallengruppen des Devons in Fotosymbiose lebten oder nicht.
Ein Forschungsteam, geleitet vom Max-Planck-Institut für Chemie, die Goethe-Universität Frankfurt und das Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, hat nun mit Hilfe von Stickstoffisotopenanalysen nachgewiesen, dass auch einige ausgestorbene Korallen aus der Zeit des mittleren Devons bereits symbiontisch waren. Es ist der gesicherte geochemische Beweis für die bisher älteste Fotosymbiose in Korallen.
Vergleich von symbiotischen mit nicht-symbiotischen Korallen
Der Nachweis gelang den Forschenden, indem sie zunächst Stickstoffisotopenwerte im organischen Material von heutigen symbiontischen und nicht-symbiontischen Korallen verglichen. Stickstoffisotopenwerte, genauer das Verhältnis von schwerem Stickstoff (15N) zu leichtem Stickstoff (14N), eignen sich, um verschiedene Stufen der Nahrungspyramide zu unterscheiden. So können Forschende anhand der Stickstoffisotope zum Beispiel feststellen, ob sich ein Lebewesen vegetarisch oder von Fleisch ernährt. Denn je höher ein Lebewesen in der Nahrungspyramide steht, desto größer ist sein Stickstoffisotopenwert, weil Organismen leichten Stickstoff etwas schneller verstoffwechseln als schweren und damit auch vermehrt den leichteren ausscheiden.
Bei der Analyse moderner Steinkorallen zeigte sich ein immer gleicher Unterschied: Korallen, die ihre Energie primär aus der Fotosynthese symbiontischer Algen beziehen, haben einen niedrigeren Stickstoffisotopenwert als nicht-symbiontische Korallen, die sich durch aktives Fangen von Plankton ernähren.
„Der konstante Unterschied in den Stickstoffisotopenwerten entspricht unserer Erwartung und zeigt den typischen Sprung in der Nahrungskette“, sagt der marine Geochemiker Jonathan Jung vom Max-Planck-Institut für Chemie und Erstautor der jetzt im Fachmagazin Nature erschienenen Studie. Denn symbiontisch lebende Korallen stehen in dieser Hierarchie eine Stufe unter nicht-symbiontischen.
Fossilienproben aus dem Sauerland, der Eifel, der Westsahara und Marokko
„Auf Basis dieser Erkenntnis konnten wir der Frage nachgehen, welche Nische die Korallen im Devon einnahmen“, so Koautor und Mitinitiator der Studie Simon Felix Zoppe von der Goethe-Universität Frankfurt.
Zu diesem Zweck analysierten die Forschenden fossile Korallen aus dem Sauerland, der Eifel, der Westsahara und Marokko, die teils direkt für die Studie im Gelände gesammelt wurden, teils aus der Sammlung des Forschungsinstituts und Naturmuseums Senckenberg Frankfurt stammen.
Die Schwierigkeit: In den Versteinerungen ist der Anteil an organischem Material, das für die Analyse notwendig ist, verschwindend gering. Ein Team um Alfredo Martínez-García vom Mainzer Max-Planck-Institut hat jüngst jedoch eine neue Messmethode angewandt, die mit Mengen von wenigen Milligramm fossiler zermahlener Korallen auskommt.
Auch bei den Fossilien zeigte sich zwischen einzelnen Korallenarten ein konstanter Unterschied in den Stickstoffisotopenwerten: Typischerweise zeigten die Kolonie-bildenden Korallen der Ordnung Tabulata eindeutig niedrigere Stickstoffisotopenwerte als die zumeist solitären Korallen der Ordnung Rugosa. Hieraus schlussfolgern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass bereits im mittleren Devon bestimmte Korallenarten in Fotosymbiose lebten, andere jedoch nicht.
„Diese frühe Fotosymbiose könnte erklären, warum die urzeitlichen Riffe trotz nährstoffarmer Umgebung sehr produktiv waren und gigantische Ausmaße hatten“, sagt Alfredo Martínez-García.
Die Studie ist zudem der Startpunkt, den Nährstoffkreislauf des Erdaltertums (Paläozoikum), zu dem das Devon gerechnet wird, detaillierter als bisher zu untersuchen. So kann die Methode bei der Klärung der Frage helfen, inwieweit das Massenaussterben von Korallen und anderen Riffbewohnern gegen Ende des Devons mit dem Nährstoffgehalt der Meere in Zusammenhang steht. „Nun können wir auch die Nahrungsketten an frühen Riffen besser verstehen“, sagt Eberhard Schindler vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt. Dies wiederum könnte Erkenntnisse liefern, die beim Erhalt heutiger Korallenökosysteme helfen. Zudem hoffen die Forschenden die Nahrungsketten noch weiter zurück in der erdgeschichtlichen Vergangenheit zu analysieren.
Devon
Das Devon ist eine erdgeschichtliche Periode des Erdaltertums bzw. Paläozoikums. Es begann vor etwa 419 Millionen Jahren und endete vor etwa 359 Millionen Jahren. Im Devon rückten die Großkontinente Laurussia und Gondwana näher zusammen und es entstanden riesige Korallenriffe, von denen zahlreiche im heutigen Europa, Nordamerika, Nordafrika, Australien, Sibirien und China fossil erhalten geblieben sind.
Stickstoffisotopenanalyse
Je größer in einer Probe das Verhältnis der unterschiedlich schweren Isotope 15N zu 14N des Stickstoffs (N) ist, desto höher ist die Position eines Tieres in der Nahrungskette. Im Stoffwechsel von Tieren entstehen stickstoffhaltige Abbauprodukte wie Ammonium oder Harnstoff. Die Ausscheidung dieser Stoffwechselprodukte führt zu einem Anstieg des Verhältnisses von „schwerem“ Stickstoff (15N) zu „leichtem“ Stickstoff (14N) im Organismus im Vergleich zu seiner Nahrung. Korallen, die sich von Plankton ernähren, haben daher ein erhöhtes Stickstoffverhältnis gegenüber symbiontischen Korallen.
Originalpublikation:
Coral Photosymbiosis on Mid-Devonian Reefs
Jonathan Jung, Simon F. Zoppe, Till Söte, Simone Moretti, Nicolas N. Duprey, Alan D. Foreman, Tanja Wald, Hubert Vonhof, Gerald H. Haug, Daniel M. Sigman, Andreas Mulch, Eberhard Schindler, Dorte Janussen and Alfredo Martínez-García
Nature, Oktober 2024, doi: 10.1038/s41586-024-08101-9

23.10.2024, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart
Tintenfisch im Magen: Neue Erkenntnisse zur Ernährung von Flugsauriern aus dem frühen Jura.
Die erstmalige Entdeckung von versteinerten Mageninhalten bei zwei 182 Millionen Jahre alten Flugsaurier-Fossilien liefert Paläontologen wichtige Hinweise zu den Ernährungsgewohnheiten und zur Ökologie dieser Tiere.
Flugsaurier waren zur Zeit der Dinosaurier die Herrscher der Lüfte. Über Jahrmillionen entwickelte sich eine enorme Vielfalt, darunter riesige Arten mit Flügelspannweiten von bis zu 12 Metern. Das Fressverhalten der so genannten Pterosaurier war bisher jedoch wenig erforscht. Die spektakuläre Entdeckung des versteinerten Mageninhaltes bei zwei Flugsaurier-Arten, Dorygnathus und Campylognathoides, aus dem frühen Jura Südwestdeutschlands liefert nun neue Erkenntnisse über die Ernährung dieser Tiere.
Dr. Samuel Cooper, Paläontologe am Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart, untersuchte die Fossilien und analysierte die Reste im Magen der Saurier gemeinsam mit Kollegen von der Universität Portsmouth in Großbritannien, Professor David Martill und Dr. Roy Smith. Die in der Fachzeitschrift Journal of Vertebrate Paleontology veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass der Flugsaurier Dorygnathus kleine Fische fraß, während Campylognathoides urzeitliche Tintenfische verzehrte. Dieser älteste und weltweit erste eindeutige Nachweis für den Verzehr von Tintenfischen bei Flugsauriern verrät den Forschenden viel über die Lebensweise, Ökologie und Evolution der Tiere. Die etwa 182 Millionen Jahre alten Exemplare von Dorygnathus und Campylognathoides stammen aus dem Posidonienschiefer der Region um Holzmaden in Baden-Württemberg. Bisher war nichts über die Ernährung von Pterosauriern aus dieser Zeit bekannt.
Der bemerkenswerte Fund ist der erste Beweis für unterschiedliche Ernährungsweisen von zwei verschiedenen Flugsaurierarten in derselben Umwelt. „Die versteinerten Mageninhalte sagen uns viel über das damalige Ökosystem und wie die Tiere miteinander interagierten. Für mich ist dieser Nachweis von Tintenfischresten im Magen von Campylognathoides daher besonders spannend. Bisher gingen wir eher davon aus, dass er sich von Fisch ernährte, ähnlich wie Dorygnathus, bei dem wir kleine Fischgräten als Mageninhalt gefunden haben. Die Tatsache, dass diese beiden Arten unterschiedliche Beutetiere fraßen, zeigt, dass sie sich auf unterschiedliche Ernährungsweisen spezialisiert hatten. Dadurch konnten Dorygnathus und Campylognathoides im gleichen Lebensraum ohne große Nahrungskonkurrenz zwischen diesen beiden Arten koexistieren“, so Dr. Samuel Cooper, der Erstautor der Studie.
Versteinerte Mageninhalte, die die letzte Mahlzeit dieser Tiere repräsentieren, sind äußerst selten zu finden. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass Pterosaurier ihre Nahrung sehr schnell verdauten, da das zusätzliche Gewicht im Magen sonst ihre Flugfähigkeit beeinträchtigt hätte. Dorygnathus und Campylognathoides ähnelten modernen Seevögeln. Sie flogen über dem Wasser eines warmen, subtropischen Meeres, das während der Jurazeit Süddeutschland überflutete und ihre Nahrungsquelle war.
„Es ist unglaublich selten, 180 Millionen Jahre alte Flugsaurier zu finden, die mit ihrem Mageninhalt erhalten sind und einen eindeutigen Beweis für die Ernährung der Pterosaurier liefern. Die Entdeckung bietet einen einzigartigen und faszinierenden Einblick in die Lebensweise dieser uralten Kreaturen, in ihre Ernährung und in die Ökosysteme, in denen sie vor Millionen von Jahren lebten“, so Professor David Martill von der School of Environment and Life Sciences der Universität Portsmouth.
Die beiden untersuchten Flugsaurier sind Teil der umfangreichen paläontologischen Sammlungen des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart. Im Rahmen eines Forschungsprojektes des Museums zum Thema „Paläobiologie der Wirbeltiere des Posidonienschiefers“, wurden zahlreiche Fossilien aus dieser Zeit neu untersucht. Dabei wurden die Mageninhalte bei den beiden Flugsauriern entdeckt.
Der Posidonienschiefer ist eine etwa 182 Jahre alte Schwarzschiefer-Gesteinsformation in Südwestdeutschland, die für ihre außergewöhnlich gut erhaltenen und vielfältigen Fossilien bekannt ist. Die fossile Fauna dieser Zeit umfasst eine Vielzahl von Tieren, darunter trächtige Fischsaurier mit erhaltenen Embryonen, langhalsige Plesiosaurier, Meereskrokodile, verschiedene große Fische, Krebstiere, Tintenfische, Ammoniten und Flugsaurier. Zusammen bieten diese Stücke eine der umfassendsten und einzigartigsten Momentaufnahmen des Meereslebens im frühen Jura. Versteinerte Weichteile, wie Mageninhalt oder Haut, sind sehr selten, da sie nur unter besonderen Umweltbedingungen erhalten bleiben können. Der Meeresboden des Posidonienschiefers war sauerstoffarm, was zu guten Erhaltungsbedingungen führte. Zudem sorgte der sehr weiche Schlamm dafür, dass tote Tiere schnell im Schlamm versanken, ohne dass Aasfresser oder Wasserströmungen ihre Überreste zerstörten.
Der Tintenfisch fressende Flugsaurier Campylognathoides ist in der Dauerausstellung des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart im Museum am Löwentor für die Besuchenden zu sehen.
Originalpublikation:
Cooper, Samuel. L. A., Smith, R. E., & Martill, D. M. (2024). Dietary tendencies of the Early Jurassic pterosaurs Campylognathoides Strand, 1928, and Dorygnathus Wagner, 1860, with additional evidence for teuthophagy in Pterosauria. Journal of Vertebrate Paleontology.
Publikationsdatum: 23.10.2024
DOI: https://doi.org/10.1080/02724634.2024.2403577

23.10.2024. Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Schwere Geburt: Auch Schimpansen müssen pressen
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Dr. Nicole M. Webb vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und PD Dr. Martin Häusler von der Universität Zürich hat die anatomischen Gegebenheiten des Geburtsvorgangs bei Schimpansen mit denen beim Menschen verglichen und zeigt: Das „Geburtsdilemma“ ist wohl nicht plötzlich bei der Entwicklung des modernen Menschen entstanden, sondern hat sich schrittweise im Laufe der Evolution entwickelt.
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung von Dr. Nicole M. Webb vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und PD Dr. Martin Häusler von der Universität Zürich hat die anatomischen Gegebenheiten des Geburtsvorgangs bei Schimpansen mit denen beim Menschen verglichen. Ihre heute im wissenschaftlichen Fachjournal „Nature Ecology and Evolution“ erschienene Studie zeigt: Anders als bisher angenommen sind einzelne, die Geburt erschwerende Faktoren wie ein in Relation zum Kopf des Fötus enger Geburtskanal nicht allein dem Menschen vorbehalten. Das bisher allein durch die Entwicklung des aufrechten Gangs und die Größe des menschlichen Gehirns erklärte „Geburtsdilemma“ sei demnach nicht plötzlich bei der Entwicklung des modernen Menschen entstanden, sondern habe sich vielmehr schrittweise im Laufe der Evolution entwickelt – und beim Menschen dann zugespitzt und verschärft.
Die Geburt bei Schimpansen und anderen Menschenaffen wird gemeinhin als leicht und unproblematisch beschrieben – wegen ihres relativ geräumigen Beckens und des kleinen Kopfes der Neugeborenen. Im Gegensatz dazu ist die Geburt beim Menschen die komplexeste und risikoreichste aller Säugetiere. Die bekannteste Erklärung dafür ist das sogenannte „Geburtsdilemma“. Nach dieser aus den 1960er-Jahren stammenden Hypothese kam es während der menschlichen Entwicklungsgeschichte zu einem evolutionären Konflikt zwischen der Anpassung des Beckens an den aufrechten Gang und der Zunahme der Hirngröße. Einerseits haben sich die Beckenschaufeln verkürzt, um die Balance auf zwei Beinen zu verbessern, wodurch das Becken bei beiden Geschlechtern enger wurde. Andererseits muss der große Kopf des Babys den mütterlichen Geburtskanal passieren. Als evolutionäre Lösung dieses Dilemmas unterscheidet sich zum einen die Form der Beckenknochen deutlich zwischen Frauen und Männern. Zum anderen sind menschliche Babys sekundäre Nesthocker – sie kommen neurologisch unreifer und hilfloser zur Welt als der Nachwuchs übriger Primaten.
Um die These des „Geburtsdilemmas“ zu überprüfen, verglich das Forschungsteam für die neue Studie zunächst die „Platzverhältnisse“ im Geburtskanal von Schimpansen und Menschen, den mittleren Abstand zwischen dem Fötuskopf und dem knöchernen Becken. „Das Becken ist bei beiden Arten völlig unterschiedlich geformt und der Kopf des menschlichen Fötus wird während der Geburt gebeugt, bei Schimpansen dagegen meist gestreckt. Durch eine dreidimensionale virtuelle Simulation des Geburtsvorgangs konnten wir zeigen, dass die räumlichen Gegebenheiten im Schimpansen-Becken tatsächlich genauso eng sind wie bei uns Menschen“, erklärt Paläoanthropologin Dr. Nicole M. Webb und fährt fort: „Gleichzeitig zeigen wir, dass sich auch bei Schimpansen die Beckenform deutlich zwischen den Geschlechtern unterscheidet: Weibchen haben ein geräumigeres Becken als Männchen. Zudem sind auch die Neugeborenen von Schimpansen und anderen Menschenaffen leichte sekundäre Nesthocker und haben – anders als bei geschwänzten Affen – ein deutlich kleineres Gehirn relativ zu dem der ausgewachsenen Individuen, wenngleich der Unterschied nicht ganz so groß ist wie beim Menschen. Entsprechend beginnen junge Makaken mit etwa drei Wochen selbstständig zu laufen und zu klettern, junge Menschenaffen mit fünf bis sechs Monaten und Menschenkinder mit einem Jahr.“
„Aufgrund dieser verblüffenden Parallelen schlagen wir als neue Hypothese vor, dass sich das Geburtsdilemma im Laufe der Evolution schrittweise entwickelt und zunehmend verschärft hat. Dies widerspricht der bisherigen These, dass unsere lange und schwierige Geburt mit der Vergrößerung des Gehirns bei Homo erectus abrupt entstanden ist“, erläutert PD Dr. Martin Häusler und weiter: „Die Zunahme der Körpergröße hat bei den Vorfahren der Menschenaffen wohl zu einem steiferen Becken geführt, dessen Bänder sich während der Geburt weniger dehnen können als bei anderen Affen. Die Evolution des aufrechten Gangs bei den ersten Hominiden führte dann durch die Verkürzung der Beckenschaufeln zu einem verdrehten Geburtskanal, was eine komplizierte Dreh-, Beuge- und Streckbewegung des Fötuskopfes und zeitlich versetzt des übrigen Körpers erfordert – diese ist wohl der eigentliche Grund für die schwierige Geburt beim Menschen und nicht die engen Platzverhältnisse. Denn diese sind bei Schimpansen ähnlich, der Geburtskanal ist jedoch gerade und der Fötus kann einfach durchrutschen.“
Laut der neuen Studie kam es im Laufe der Hominiden-Evolution demnach zu einer Reihe von „Kompromissen“, die schrittweise den Geburtsvorgang erschwerten, nach und nach zu deutlichen Veränderungen in der Beckengestalt und -funktion führten und schließlich im bemerkenswert komplexen Geburtsmuster des Menschen gipfelten. „Die schwierige Geburt und die neurologische Unreife unserer Neugeborenen, mit der langen anschließenden Lernphase, sind eine Grundvoraussetzung für die Evolution unserer Intelligenz. Gleichzeitig stehen wir Menschen damit nur am Ende eines Extrems – unter den Primaten sind wir aber nicht einzigartig“, so Webb, die bei Senckenberg das von der Leibniz-Gemeinschaft geförderte Projekt PUSH@IT (Paleo-obstetric Understanding via Simulation and Heuristic Artificial Intelligence Tools) zur Erforschung der Evolution der Schwierigkeiten bei der menschlichen Geburt leitet, und abschließend: „Tatsächlich gibt es sogar einzelne Beobachtungen von ‚Geburtshilfe‘ unter in Gefangenschaft lebenden Orang-Utans. Geburten von Menschenaffen in freier Wildbahn wiederum werden nur äußerst selten beobachtet – hier benötigen wir dringend mehr Daten zu ihrem Verhalten bei der Geburt.“
Originalpublikation:
Webb N., Fornai C., Krenn V., Watson L, Herbst E. and Häusler M. Gradual exacerbation of obstetric constraints during hominoid evolution implied by re-evaluation of cephalopelvic fit in chimpanzees. Nature Ecology & Evolution. 23 Oct 2024.
https://doi.org/10.1038/s41559-024-02558-7

23.10.2024, Veterinärmedizinische Universität Wien
Paradiesvögel: Sex und die wunderbare Mechanik des Rades
Das Rad des zu den Paradiesvögeln zählenden männlichen Reifelvogels bietet einen faszinierenden Anblick, ist es doch kreisrund und gleicht auf den ersten Blick mehr der Blüte einer exotischen Pflanze als dem, was wir als Vogel kennen. Wie die Forscher einer austro-australischen Studie unter Leitung der Vetmeduni nun erstmals nachweisen konnten, steckt hinter diesem außergewöhnlichen Balzverhalten eine ganz besondere physische Fähigkeit. Diese Gabe unterscheidet die Reifelvögel von allen anderen Vögeln und hat neben dem sichtbaren auch einen hörbaren Effekt. Eine gleichermaßen attraktive wie komplexe Kombination, der potenzielle Partnerinnen schwerlich widerstehen können.
Männliches Imponiergehabe mag anöden, ist nicht nur bei Menschen omnipräsent – und führt häufig zum gewünschten Erfolg. Aus wissenschaftlicher Sicht hat die sexuelle Selektion durch die Wahl des Weibchens die Entwicklung einiger der ausgeklügeltsten Signalverhaltensweisen bei Tieren vorangetrieben. Diese Darbietungen erfordern oft spezialisierte morphologische Anpassungen und können Signale in mehreren Sinnesmodalitäten beinhalten. Außerdem werden visuelle und akustische Signale bei zeitlich strukturierten Balzvorführungen oft präzise choreographiert.
Begnadete Körper: Einzigartige Akrobatik ermöglicht außergewöhnliche visuelle Effekte
Ein ganz besonders raffiniertes Exemplar in dieser Hinsicht sind die Reifelvögel (Gattung Ptiloris). Die Forscher der soeben im „Biological Journal of the Linnean Society“ erschienenen Studie konnten nun erstmals nachweisen, dass diese Paradiesvogelart ihre bemerkenswerte Balzhaltung durch eine Überstreckung des Handgelenks erreicht. „Diese geht weit über die maximale Streckung des Handgelenks aller anderen bekannten Vögel hinaus“, betont Studien-Erstautor Thomas MacGillavry vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung (KLIVV) der Vetmeduni die Einzigartigkeit dieser Fähigkeit.
Sound and Vision: Ein imposantes Multimedia-Spektakel mit einem genialen Trick
Die faszinierenden Erkenntnisse reichen aber noch weiter, wie Studien-Erstautor Leonida Fusani, Leiter des KLIVV, erklärt: „Anhand von Videoaufnahmen, die wir im Feld gesammelt haben, konnten wir beobachten, dass diese Hypermobilität für einen Klang erforderlich ist, der nur bei Reifelvögeln vorkommt. In diesem Zusammenhang stellten wir zudem fest, dass das gelbe Innere des Mundes in der dynamischen Phase der Balz-Präsentation gezeigt wird.“ Dieser Laut könnte nicht erzeugt werden, wenn der Schnabel geöffnet ist – diese physische Einschränkung für die Signalgestaltung wird durch den Workaround der Hypermobilität elegant umgangen.
Hinter der schönen Fassade: Nur die eine Sache im Kopf
Schließlich verwendeten die Forscher einen großen morphometrischen Datensatz, um die Muster des sexuellen Dimorphismus in der Flügellänge bei verschiedenen Paradiesvogelarten zu beschreiben und Hinweise auf eine sexuelle Selektion für große und strukturell veränderte Flügel zu finden, die bei der Balz von Reifelvögeln zum Einsatz kommen.
Mit der Summe ihrer Erkenntnisse gelang den Forschern ein großer Schritt – und das, obwohl die allgemeinen Muster des Imponierverhaltens von Reifelvögeln in der Literatur gut beschrieben sind. „Unsere Studie hat gezeigt, dass die untersuchten Balz-Darbietungen mechanisch viel komplizierter sind als bisher angenommen, und unterstreicht, wie die Partnerwahl die Entwicklung extremer Verhaltensweisen und morphologischer Phänotypen vorantreiben kann, die ausschließlich der sexuellen Zurschaustellung dienen“, so Leonida Fusani und Thomas MacGillavry.
Originalpublikation:
Der Artikel „The mechanics of male courtship display behaviour in the Ptiloris riflebirds (Aves: Paradisaeidae)“ von Thomas MacGillavry, Clifford B. Frith und Leonida Fusani wurde in „Biological Journal of the Linnean Society“ veröffentlicht. https://academic.oup.com/biolinnean/article/143/1/blae077/7758821?login=true

23.10.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Schnelle Genomanalyse eines Windhundes setzt neuen Maßstab für Artenschutz-Forschung
Der fortschreitende weltweite Verlust an Artenvielfalt macht es zunehmend erforderlich, genetische Informationen bedrohter Arten schnell zu erfassen und auszuwerten. Die Abteilung für Humangenetik des Bioscientia Instituts für Medizinische Diagnostik GmbH in Ingelheim am Rhein und das hessische LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) haben in einem Kooperationsprojekt in weniger als einer Woche das komplette Genom eines Windhundes erfasst und ausgewertet – ein Fortschritt, der die Genomforschung im Arten- und Biodiversitätsschutz nachhaltig beeinflussen könnte. Die Studie wurde im Fachjournal „GigaByte“ veröffentlicht.
Der fortschreitende weltweite Verlust an Artenvielfalt macht es zunehmend erforderlich, genetische Informationen bedrohter Arten schnell zu erfassen und auszuwerten. Die Abteilung für Humangenetik des Bioscientia Instituts für Medizinische Diagnostik GmbH in Ingelheim am Rhein und das hessische LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) haben in einem Kooperationsprojekt in weniger als einer Woche das komplette Genom eines Windhundes erfasst und ausgewertet – ein Fortschritt, der die Genomforschung im Arten- und Biodiversitätsschutz nachhaltig beeinflussen könnte. Die Studie wurde im Fachjournal „GigaByte“ veröffentlicht.
Bei der Analyse des Windhund-Erbguts, die das Bioscientia Institut und das LOEWE-Zentrum TBG gemeinsam vornahmen, kam eine neue Technologie zum Einsatz: Ganze Genome werden sehr präzise und in langen Abschnitten, sogenannten „long reads“, sequenziert. Am Beispiel des Windhundes, eines der schnellsten Landtiere, gelang dies in Rekordzeit. Dies ist nicht nur ein technischer Erfolg, sondern wurde auch als symbolisches Projekt initiiert, um der Herausforderung des Artensterbens zu begegnen.
„Wir zeigen, dass wir vollständige Genominformationen in wenigen Tagen – und nicht Monaten – erhalten und analysieren können“, erklärt Prof. Dr. Hanno Bolz, Leiter der Humangenetik bei Bioscientia. Die neuartige Kooperation der Bioscientia-Humangenetiker*innen mit den Forscher*innen des LOEWE-Zentrums TBG setzt damit einen neuen Maßstab und stellt ein effektives Instrument für die Biodiversitätsforschung bereit.
Zügige Analyseergebnisse sind für den Schutz bedrohter Arten zunehmend wichtig, denn Zeit ist angesichts des schnellen Biodiversitätsverlusts mittlerweile ein entscheidender Faktor. „Mit solchen Projekten können wir wichtige genetische Informationen für bedrohte Arten schnell verfügbar machen. Das hilft uns nicht nur dabei, ihre evolutionären Anpassungen zu verstehen, sondern auch, gezielte Schutzmaßnahmen zu entwickeln“, berichtet Dr. Carola Greve, Laborleiterin am LOEWE-Zentrum TBG. Über das Windhund-Projekt hinaus wird in Kürze eine gemeinsame Studie der beiden Forschungspartner über den vom Aussterben bedrohten Gartenschläfer publiziert. Zahlreiche weitere gemeinsame Sequenzierungsprojekte laufen bereits.
In der Abteilung für Humangenetik des Bioscientia Instituts analysieren rund 100 Expert*innen jährlich tausende Genome sowie die proteinkodierenden Regionen von Genomen, sogenannte Exome, um die Ursachen seltener genetischer Erkrankungen von Patient*innen aus der ganzen Welt zu klären. Die innovative „long read“-Genomsequenzierung, die beim Windhund verwendet wurde, setzt Bioscientia als erstes Labor überhaupt bereits in der humangenetischen Diagnostik ein. Genetische Erkrankungen des Menschen können so effizienter identifiziert werden, was auch die Behandlungsmöglichkeiten maßgeblich verbessern kann.
Die Wissenschaftler*innen am LOEWE-Zentrum TBG, das bei der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt am Main angesiedelt ist, entschlüsseln Genome vieler nicht-menschlicher Organismen, von Bakterien bis zu Walen. Diese Informationen liefern wertvolle Informationen über – oft gefährdete – Pflanzen und Tiere sowie Einblicke in ihre biologischen Beziehungen, Evolution und Anpassungen an Umweltbedingungen. Grundlagen- und angewandte Forschung, einschließlich Naturschutzmanagement, profitieren davon.
Originalpublikation:
Publikation in GigaByte:
Marcel Nebenführ, David Prochotta, Alexander Ben Hamadou, Axel Janke, Charlotte Gerheim, Christian Betz, Carola Greve, Hanno J. Bolz
“High-speed whole-genome sequencing of a Whippet: Rapid chromosome-level assembly and annotation of an extremely fast dog’s genome”
https://doi.org/10.46471/gigabyte.134

23.10.2024,Universität Bayreuth
Weichmacher beeinträchtigen Gehirnfunktion von Wirbeltieren
Forschende der Universität Bayreuth haben herausgefunden, dass die Weichmacher DEHP und DINP negative Auswirkungen auf die normale Hirnfunktion von Wirbeltieren haben. Diese Weichmacher werden beispielsweise in PVC, Farben und Kosmetika verwendet. Über ihre Ergebnisse berichten die Forschenden im Journal Ecotoxicology and Environmental Safety.
Phthalate sind wichtige Zusatzstoffe in einer Vielzahl von Kunststoffprodukten und gehören zu den am häufigsten verwendeten Weichmachern. Allerdings lösen sich die Weichmacher meist nach einiger Zeit aus den Produkten und gelangen in die Umwelt und über die Nahrung, Kleidung und Staub in den menschlichen Körper. Der Weichmacher DEHP hat nachweislich schwerwiegende Auswirkungen auf die Entwicklung und Fortpflanzung, weshalb er an vielen Stellen bereits durch die bisher als sicherer geltende Alternative DINP ersetzt wurde. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass DEHP zusätzlich die Blut-Hirn-Schranke beeinträchtigen kann, welche das Gehirn von Wirbeltieren vor Krankheitserregern oder Giftstoffen im Blut schützt. Dies könnte eine Gefahr auch für Erwachsene darstellen. In diesem Kontext wird eine Bewertung potenzieller Auswirkungen von DEHP, aber auch seiner Alternativen auf das erwachsene Gehirn ebenfalls entscheidend für die Beurteilung der Sicherheit von Kunststoffprodukten.
Für ihre Forschung haben Benedikt Maric, Prof. Dr. Stefan Schuster und Dr. Peter Machnik vom Lehrstuhl für Tierphysiologie an der Universität Bayreuth Goldfische einen Monat lang einer umweltrelevanten Weichmacherkonzentration ausgesetzt. Anschließend haben sie die Auswirkung von DEHP bzw. DINP auf das Gehirn am Mauthner-Neuron – der größten Nervenzelle im Stammhirn von Fischen – untersucht. Das Mauthner-Neuron ist für entsprechende Messungen zugänglich und bekommt Input aus einer Vielzahl von Sinnessystemen, weshalb es sich für die Untersuchung anbietet.
„Die Art, wie Menschen mit Weichmachern in Kontakt kommen, ist natürlich anders als bei den untersuchten Fischen, die in Wasser schwammen, dem Weichmacher zugesetzt waren. Dennoch sind die Ergebnisse unserer Studie alarmierend und mit einiger Vorsicht auch übertragbar auf den Menschen. Grundlegende Funktionen des Gehirns, wie Nervenzellen Information verarbeiten und weiterleiten sowie die Übertragung von Information von einer Nervenzelle auf die andere laufen bei Fischen nicht anders ab als beim Menschen. Und hier finden wir Effekte der Weichmacher-Exposition“, sagt Dr. Peter Machnik.
Messungen am Mauthner-Neuron der Fische ergaben, dass sowohl DEHP als auch DINP die Leitungsgeschwindigkeit der Nervenzelle um 20 % reduzierten. Eine Reduzierung der Leitungsgeschwindigkeit hätte auch auf andere Nervenzellen und eine normale Funktion des Gehirns einen negativen Effekt. Zudem haben die Forschenden verschiedene negative Auswirkungen auf die Verbindung zwischen den Nervenzellen – die Synapsen – und damit auf die Übertragung der Erregung von einer Nervenzelle auf die andere feststellen können. Die Forschenden fanden außerdem Hinweise darauf, dass beide Weichmacher die visuelle Wahrnehmung der Fische beeinträchtigen.
„Unsere Studie zeigt eine bisher vernachlässigte hohe Sensitivität verschiedener wichtiger Gehirnfunktionen gegenüber Phthalaten. Das ist ein Umstand, der zukünftig bei der Risikobewertung dieser Substanzen berücksichtigt werden muss“, so Machnik.
Die Arbeit wurde durch ein Reinhart Koselleck-Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert (Schu1470/8).
Originalpublikation:
Exposure to phthalate plasticizer compromises normal brain function in an adult vertebrate. Benedikt Maric, Stefan Schuster, Peter Machnik. Ecotoxicology and Environmental Safety (2024)
DOI: https://doi.org/10.1016/j.ecoenv.2024.117187

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