Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

06.09.2024, Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie
Übernahme der Schaltzentrale der Zelle: Zellkernparasiten in Tiefseemuscheln
Forschende des Max-Planck-Instituts für Marine Mikrobiologie haben erforscht, wie ein parasitäres Bakterium die Zellkerne von Muscheln, die an heißen und kalten Quellen in der Tiefsee leben, befällt und sich dort vermehrt. Sie zeigen, wie eine einzelne Bakterienzelle in den Kern der Muschel eindringt und sich dort auf über 80.000 Zellen vermehrt, und gleichzeitig dafür sorgt, dass ihre Wirtszelle am Leben bleibt.
Die meisten Tiere leben in enger Verbindung mit Bakterien. Einige dieser Bakterien wohnen in den Zellen ihrer Wirte, doch nur sehr wenige können innerhalb von Zellorganellen (Strukturen innerhalb der Zelle, wie Organe im Körper) leben. Eine Gruppe von Bakterien hat einen Weg gefunden, sogar die Zellkerne ihrer Wirte zu besiedeln – eine bemerkenswerte Leistung angesichts dessen, dass der Zellkern die Schaltzentrale der Zelle ist.
Bislang wusste man nichts über die molekularen und zellulären Prozesse, mit denen diese intranukleären Bakterien ihre tierischen Wirte infizieren und sich dort vermehren. Eine Gruppe von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Marine Mikrobiologie in Bremen präsentiert nun in einer in Nature Microbiology veröffentlichten Studie die erste eingehende Analyse eines intranukleären Parasiten von Tieren.
Massenvermehrung in der Zelle, ohne sie dabei zu töten
Dieser intranukleäre Parasit namens Candidatus Endonucleobacter infiziert die Zellkerne von Tiefseemuscheln an hydrothermalen Schloten und kalten Quellen weltweit. Eine einzige Bakterienzelle dringt in den Zellkern einer Muschel ein und vermehrt sich dann auf über 80.000 Zellen, wodurch der Zellkern auf das 50-fache seiner ursprünglichen Größe anschwillt. “Wir wollten verstehen, wie das Bakterium den Zellkern befällt und sich darin fortpflanzt. Insbesondere wollten wir herausfinden, wie diese Bakterien an die Nährstoffe gelangen, die sie für ihre massive Vermehrung benötigen, und wie sie gleichzeitig verhindern, dass ihre Wirtszellen absterben”, sagt Niko Leisch, der zusammen mit Nicole Dubilier von der Abteilung Symbiose am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie Hauptautor der Studie ist.
Mithilfe einer Reihe von molekularen und bildgebenden Verfahren zeigen die Forschenden, dass Ca. Endonucleobacter von Zuckern, Lipiden und anderen Zellbestandteilen seines Wirts lebt. Es verdaut nicht die Nukleinsäuren seines Wirts, wie viele andere intranukleäre Bakterien das tun. Mit dieser Ernährungsweise stellt Ca. Endonucleobacter sicher, dass die Wirtszelle lange genug funktioniert, um ausreichend Nährstoffe für seine massenhafte Vermehrung zu produzieren.
Wettrüsten um die Kontrolle über die Zelle
Oft reagieren tierische Zellen auf eine Infektion mit Apoptose – einem Selbstmordprogramm, das Zellen einleiten, wenn sie durch Bakterien oder Viren angegriffen oder geschädigt werden. „Interessanterweise haben diese Bakterien eine ausgeklügelte Strategie entwickelt, um ihre Wirtszellen am Selbstmord zu hindern“, sagt Erstautor Miguel Ángel González Porras. „Sie produzieren Proteine, die die Apoptose unterdrücken, sogenannte Apoptose-Inhibitoren (IAPs).“ Es beginnt ein Wettrüsten um die Kontrolle des Zelltods: Während die Bakterien immer mehr IAPs produzieren, steigert die Wirtszelle ihre Produktion von Proteinen, die die Apoptose auslösen. Letztendlich, nachdem der Parasit genug Zeit hatte, sich massenhaft zu vermehren, zerreißt die Wirtszelle, wodurch die Bakterien freigesetzt werden und neue Wirtszellen infizieren können.
Nicole Dubilier ergänzt: “Die Entdeckung der IAPs in Ca. Endonucleobacter war eines der überraschendsten Ergebnisse unserer Studie. Denn diese Proteine sind nur von Tieren und einigen wenigen Viren bekannt, wurden aber noch nie in Bakterien gefunden.” Die Analyse der evolutionären Beziehungen der IAPs durch die Forschenden ergab, dass der Parasit diese Gene wahrscheinlich durch horizontalen Gentransfer (HGT) von seinem Wirt erworben hat. Während HGT von Bakterien auf Eukaryonten gut bekannt ist, gibt es nur sehr wenige Beispiele für HGT in umgekehrter Richtung, wie er in der hier präsentierten Studie gefunden wurde.
Bedeutung für die Evolution und die Medizin
“Unsere Entdeckung trägt dazu bei, dass wir die Wechselwirkungen zwischen Wirt und Mikrobe besser verstehen und verdeutlicht die komplexen Strategien, die Parasiten entwickelt haben, um in ihren Wirten zu gedeihen”, erklärt Nicole Dubilier. Diese Erkenntnisse könnten weitreichende Auswirkungen auf die Untersuchung von parasitären Infektionen und Strategien zur Umgehung des Immunsystems in anderen Organismen haben. “Unsere Forschung beleuchtet einen übersehenen Mechanismus des genetischen Austauschs – HGT von Eukaryonten auf Bakterien –, der unser Verständnis der mikrobiellen Evolution und Pathogenese verändern kann. Darüber hinaus bietet unsere Studie Einblicke in die Regulierung der Apoptose, die für die Krebsforschung und die Zellbiologie von Bedeutung ist,” so Niko Leisch abschließend.
Originalpublikation:
Miguel Ángel González Porras, Adrien Assié, Målin Tietjen, Marlene Violette, Manuel Kleiner, Harald Gruber-Vodicka, Nicole Dubilier, Nikolaus Leisch (2024): An intranuclear bacterial parasite of deep-sea mussels expresses apoptosis inhibitors acquired from its host. Nature Microbiology. DOI: 10.1038/s41564-024-01808-5

06.09.2024, Deutsche Wildtier Stiftung
Gestatten: Der schöne Admiral
Klimagewinner und Genießer des Spätsommers
Überall flattert er jetzt – mal allein, mal zu zweit, in der Stadt und auch auf dem Land: der schöne Admiral. Der Edelfalter mit dem wissenschaftlichen Namen Vanessa atalanta fällt vor allem durch seine raffinierte Färbung auf: mit schwarzen Flügeln, die eine leuchtend orangerote Binde und interessante weiße Tupfer zieren, und einer weißen, umlaufenden Bordüre an den Flügelseiten. Die Schuppen seiner Flügelunterseiten sind schlichter gefärbt. Die braungraue Marmorierung schützt ihn bei zusammengeklappten Flügeln vor Fressfeinen, auch wenn sie manchmal im Sonnenlicht bläulich schimmern. Die zarten Fühler des Falters sind schwarz-weiß gestreift. Ganz klar: Admirale sind bemerkenswert – und jetzt im September und Oktober häufig zu entdecken.
„Dass wir gerade jetzt so viele Admirale sehen, liegt daran, dass sich im Spätsommer eine neue Generation von Faltern entwickelt hat und es zudem zurzeit reichlich Futter für sie gibt“, sagt Jenifer Calvi von der Deutschen Wildtier Stiftung. Admirale lieben es, den süßen, schon leicht vergorenen Saft aus Fallobst zu saugen. Apfelbäume beispielsweise hängen momentan vielerorts voller Früchte. Auch an Wasserdost-, Fetthennen- und Efeublüten naschen Admirale gern. Diese Pflanzen blühen im September und bis in den Oktober hinein. Daneben steht zudem Aas auf der Schmetterlings-Speisekarte.
Admirale sind Wanderfalter, aber während die jungen Falter bis vor wenigen Jahrzehnten im Herbst in den Süden Europas und nach Nordafrika flogen, um dort zu überwintern, bleiben viele Admirale mittlerweile auch den Winter über in Deutschland. „Sowohl Falter als auch Puppen und Raupen überwintern seit einiger Zeit auch bei uns – so nutzt der Klimawandel dem Admiral“, sagt Calvi.
Lässt sich der schöne Edelfalter Ende Oktober in unseren Gärten und Parks nicht mehr blicken, ist der Herbst unwiderruflich da. Dann sind einige Falter gestorben, andere in dickten Efeuhecken versteckt. Wer den Admiral unterstützen möchte, lässt Brennnesseln in seinem Garten stehen – denn an ihnen hat er seine Eier abgelegt und hier schlüpfen auch die Raupen. „Richten Sie unbedingt eine wilde Ecke mit Brennnesseln, Efeu, Fetthenne und Totholz als Versteckmöglichkeit ein – dann flattern im nächsten Jahr noch mehr faszinierende Admirale bis in den Herbst hinein durch Ihren Garten“, rät Calvi.

09.09.2024, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Studie: Inselleben lässt Tiere langsamer werden
Leben Vögel und Säugetiere auf Inseln, ist ihr Stoffwechsel oft deutlich langsamer als der ihrer Verwandten auf dem Festland. Sie bekommen auch später Nachwuchs. Durch diese langsame Lebensweise können sie sich nur schwer an schnelle Veränderungen anpassen, wie sie vom Menschen verursacht werden. Zu diesem Schluss kommt ein internationales Team der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), der chinesischen Akademie der Wissenschaft und der Sichuan Agricultural University in einer neuen Studie in „Science Advances“. Für die Arbeit wertete das Team Daten von rund 2.800 Tierarten auf Inseln und dem Festland aus.
Inseln sind aufgrund ihrer räumlichen Lage besondere Lebensräume: „Auf Inseln finden Tiere ein begrenztes Nahrungsangebot, jedoch auch weniger Konkurrenz und nur wenige Fressfeinde. Inselbewohner passen sich an diese Bedingungen an, um ihre Überlebens- und Fortpflanzungschancen zu maximieren. Das führt zu einzigartigen evolutionären Veränderungen“, sagt der Paläontologe Dr. Roberto Rozzi von der MLU. So finden sich auf Inseln zum Beispiel Tiere, die im Vergleich zu ihren Festlandartgenossen deutlich größer oder kleiner sind. Bekannt sind diese Phänomene als Insel-Zwergwuchs oder -Gigantismus. „Inselwirbeltiere können aber nicht nur solche körperlichen Veränderungen aufweisen. Auch ihre Lebensweise und ihr Stoffwechsel können an das Inselleben angepasst sein“, so Rozzi weiter.
Bisher war dem Forscher zufolge wenig über die Unterschiede des Stoffwechsels zwischen Insel- und Festlandbewohnern bekannt. Deshalb analysierte das Team Daten, unter anderem zum Stoffwechsel, von 2.813 Wirbeltierarten: Darunter waren 2.118 gleichwarme Arten, zu denen Vögel und Säugetiere gehören, und 695 wechselwarme Arten, wie Reptilien und Amphibien. Demnach haben Vögel und Säugetiere auf Inseln tendenziell einen langsameren Stoffwechsel und sie bekommen später Nachwuchs. „Auf unbewohnten Inseln ist das alles von Vorteil. Besiedelt der Mensch diesen Lebensraum, sind diese Arten jedoch besonders verwundbar: Zwergwuchs und Gigantismus machen Inselbewohner zu besonders leichten Zielen für die Jagd und eingeschleppte Raubtiere. Ihre langsamere Lebensweise erschwert es ihnen, sich schnell von den Veränderungen durch den Menschen und andere Arten zu erholen“, fasst Rozzi zusammen. Gemeint sind damit zum Beispiel veränderte Lebensräume und invasive Arten, mit denen Inselwirbeltiere um Nahrung konkurrieren oder von denen sie gejagt werden.
Die Studienergebnisse liefern wichtige Hinweise für einen effektiven Artenschutz auf Inseln: So lassen sich besonders anfällige Arten ausmachen. „Um die verbleibenden Inselarten besser zu schützen, sollte ein guter Artenschutz ihren im Vergleich zu den Festlandverwandten besonderen Eigenschaften Rechnung tragen“, so Rozzi abschließend.
Die Studie wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Scientific Research Foundation sowie der Natural Science Foundation in China.
Originalpublikation:
Studie: Ying Xiong et al. Convergent evolution toward a slow pace of life predisposes insular endotherms to anthropogenic extinctions. Science Advances (2024). doi: 10.1126/sciadv.adm8240
https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adm8240

09.09.2024, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Bienensterben: Wie Kombinationen von Pestiziden zur Gefahr werden
Gefährliche Mixturen: Pflanzenschutzmittel können in Kombination unerwartete Effekte auf die Entwicklung von Honigbienen haben. Das zeigt eine neue Studie aus dem Biozentrum der Uni Würzburg, bei der das letzte in der EU noch zugelassene Neonikotinoid mit zwei Fungiziden kombiniert wurde.
Honigbienen sind soziale Insekten. Ihr Volk überlebt nur in Gemeinschaft, und gesunde neue Generationen sind dabei sehr wichtig. Kein Wunder also, dass die Bienen ihren Nachwuchs gut umsorgen: Ammenbienen füttern die jungen Larven mit einem Saft, den sie in ihrer Kopfdrüse aus Nektar und Pollen herstellen. Allerdings können vor allem im Pollen Rückstände unterschiedlicher Insektengifte und anderer Pflanzenschutzmittel stecken. Eine Konfrontation der Bienenlarven mit einer komplexen Mixtur aus Chemikalien ist darum sehr wahrscheinlich.
Welche Einflüsse haben in der EU zugelassene Insektizide allein und in Kombination mit Fungiziden auf die Entwicklung von Honigbienen? Und zwar in Konzentrationen, wie sie tatsächlich auch in der Umwelt gefunden werden? Das haben Forscherinnen und Forscher vom Biozentrum der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg untersucht. Ihre Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift Environmental Pollution veröffentlicht.
Die Wirkung von Pflanzenschutzmitteln auf die Umwelt wird nur selten in Kombination und in niedrigen umweltrelevanten Dosierungen untersucht. „Wie unsere Studie zeigt, ist das aber dringend nötig, weil die Mittel interagieren und sich gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken können“, erklärt Doktorandin Sarah Manzer, Erstautorin der Studie. Außerdem sei es möglich, dass es nur bei niedrigen, nicht aber bei hohen Konzentration zur Interaktion komme, und umgekehrt. „Hier klaffen in der Pestizidforschung Wissenslücken, die wir nun mit einem weiteren Puzzleteil verkleinern konnten“, so die JMU-Forscherin.
Die Experimente: Fütterung der Bienenlarven
Die Forschenden zogen Honigbienen im Labor auf und mischten ihnen verschiedene Pflanzenschutzmittel ins Futter – zum einen in Konzentrationen, wie sie in der Umwelt vorkommen, zum anderen in zehnfach höherer Dosierung.
Das JMU-Team verabreichte den Insekten das letzte in der EU noch zugelassene Neonikotinoid Acetamiprid – ein Gift, das gegen den Rapsglanzkäfer und andere saugende Insekten eingesetzt wird. Alle anderen früher verwendeten Neonikotinoide sind inzwischen verboten, weil sie Bienen schädigen. Außerdem fütterten die Forschenden eine Mischung der Fungizide Boscalid und Dimoxystrobin (beides pilztötende Mittel) sowie eine Kombination aus dem Neonikotinoid und den zwei Fungiziden.
Das Neonikotinoid für sich alleine führte in der höheren Konzentration zu einer signifikant erhöhten Sterblichkeit der Larven: In der Kontrollgruppe überlebten 90,4 Prozent, in der Neonikotinoidgruppe lediglich 79,8 Prozent. Sarah Manzer konnte außerdem negative Langzeiteffekte feststellen: Erwachsene Honigbienen, die das Neonikotinoid als Larven aufgenommen hatten, starben deutlich früher als die Artgenossinnen in der Kontrollgruppe. Sie wurden im Median 26 Tage alt, die Kontrollen dagegen 31 Tage. In der umweltrelevanten Konzentration hatte das Neonikotinoid dagegen keinen Effekt auf die Überlebensraten.
Enthielt das Larvenfutter nur die beiden Fungizide, hatte das keinen Einfluss auf die Sterblichkeit der Insekten. Allerdings waren die Bienen nach dem Schlüpfen aus der Puppenhülle leichter als die in der Kontrollgruppe. Ob das relevant für ihre weitere Entwicklung und das Verhalten ist, müssen weitere Forschungen zeigen.
Neonikotinoid zeigt komplexe Mischtoxizität mit Fungiziden
Eine Überraschung erlebten die Forschenden, als sie die Larven mit Mischungen der Chemikalien fütterten: Die niedrigere Neonikotinoid-Dosierung führte in Kombination mit den Fungiziden zu einer signifikant erhöhten Sterblichkeit der erwachsenen Bienen mit einem Alter von 27 Tagen im Median im Vergleich zum Alter von 31 Tagen bei den Bienen in der Kontrollgruppe. Die ansonsten unschädliche Menge Neonikotinoid wird also in der Kombination mit den Fungiziden gefährlich. „Das ist ein alarmierender Befund, da Honigbienen durch ihren großen Flugradius mit vielen verschiedenen Pflanzenschutzmitteln in Kontakt kommen“, sagt Sarah Manzer.
Und noch ein unerwarteter Effekt trat nach der Fütterung mit der Mischung auf: Die höhere Neonikotinoid-Dosierung – die für sich alleine schädliche Wirkungen hatte – zeigte in Kombination mit den Fungiziden keinen Effekt auf die Sterblichkeit der Bienen.
Einzeln lebende Wildbienen sind womöglich stärker betroffen
Die von den Forschenden gefundenen Kombinationseffekte könnten Auswirkungen auf das gesamte Bienenvolk haben, weil die heranwachsende Generation geschädigt wird. Zudem könnten solitär lebende Wildbienen besonders betroffen sein: Als „Einzelgängerinnen“ werden sie direkt beeinträchtigt, während die Honigbienen in ihren großen Völkern die Effekte von Pflanzenschutzmitteln auf einzelne Individuen zu einem gewissen Umfang abpuffern könnten.
Nach Ansicht der Würzburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind weitere Versuche unerlässlich, um die Wirkung von Pflanzenschutzmittelmischungen noch besser zu verstehen.
Projekt im bayerischen Verbund BayÖkotox
Die Studie fand am Biozentrum in Kooperation zwischen den Arbeitsgruppen von Professorin Ricarda Scheiner (Zoologie II) und Professor Ingolf Steffan-Dewenter (Zoologie III) im Rahmen des Projektverbunds BayÖkotox statt. Dieser Verbund wurde universitätsübergreifend vom Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz konzipiert und begleitet. Sein Ziel ist es, rechtzeitig gefährliche Entwicklungen zu erkennen, die sich durch den Eintrag chemischer Produkte in die Umwelt ergeben.
Originalpublikation:
The neonicotinoid acetamiprid reduces larval and adult survival in honeybees (Apis mellifera) and interacts with a fungicide mixture. Sarah Manzer, Markus Thamm, Lioba Hilsmann, Beate Krischke, Ingolf Steffan-Dewenter, Ricarda Scheiner. Environmental Pollution, 2. August 2024, DOI: 10.1016/j.envpol.2024.124643, Open Access: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0269749124013575

10.09.2024, Freie Universität Berlin
Wie der Schmetterling zur Puppe kam
Forschungsteam der Freien Universität Berlin und der Princeton University erklären, warum die komplette Metamorphose der Insekten entstand.
Mehr als 60 Prozent aller Tierarten sind Insekten. Die große Mehrheit dieser Arten hat eine komplette Metamorphose: die Larve verwandelt sich in einer Puppe in das erwachsene Insekt – so entsteht z.B. aus einer Raupe ein Schmetterling. Im Puppenstadium wird der Körper völlig umgebaut und auch die inneren Organe sind davon betroffen. Warum hat die Evolution einen derartigen radikalen Gestaltwandel hervorgebracht?
Bisher ist diese Frage, die doch die Mehrheit aller Tierarten betrifft, völlig offen. Eine Idee ist, dass dies ein schnelleres Wachstum erlaubt: die Larve wächst, in der Puppe entsteht das erwachsene Tier. Schnelles Wachstum ist oft von Vorteil, z.B. wenn Ressourcen knapp sind oder auch wenn die Saison kurz ist. Eine neue Studie (“Rapid growth and the evolution of complete metamorphosis in insects), die gerade in der renommierten Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (USA) erschienen ist, zeigt nun durch einen Vergleich verschiedener Insektenarten und ein mathematisches Modell, dass dieses Szenario sehr plausibel ist (https://doi.org/10.1073/pnas.2402980121).
Forschende der Freien Universität Berlin, der Princeton University und des Leibniz-Instituts für Gewässerbiologie und Binnenfischerei haben untersucht, ob Insekten mit einem Puppenstadium schneller wachsen als Insekten, die keine Puppen haben. Zur ersten Gruppe – den holometabolen Insekten – gehören etwa Käfer, Schmetterlinge, Hautflügler und Fliegen. Zu Insekten ohne Puppenstadium zählen zum Beispiel Wanzen oder Heuschrecken. In der Tat wachsen die Insektenlarven der holometabolen Insekten wesentlich schneller.
Um nun zu zeigen, dass schnelles Wachstum, das evolutiv vorteilhaft ist, am besten durch ein Puppenstadium erreicht werden kann, wurde in Zusammenarbeit mit Prof. Jessica Metcalf aus Princeton ein mathematisches Modell entwickelt. „Die Ergebnisse der Kombination von Daten verschiedener Insektenarten mit und ohne Puppe mit einem mathematischen Modell sprechen stark dafür, dass die komplette Evolution der Insekten entstanden ist, weil nur so ein oftmals ökologisch vorteilhaftes schnelles Wachstum erreicht werden kann“, sagt die Erstautorin der Studie, Evolutionsbiologin Dr. Christin Manthey, inzwischen am Max-Planck-Institut für Chemische Ökologie in Jena.
„Es gibt auch noch weitere Hypothesen, die die Metamorphose der Insekten versuchen zu erklären, die aber auch kaum untersucht sind“, betont der Leiter der Studie, Prof. Dr. Jens Rolff, Biologe an der Freien Universität Berlin. „Angesichts der wichtigen Rolle, die Insekten für unsere Ökosysteme und auch unsere Nahrungsmittelproduktion als Bestäuber aber auch Pflanzenfresser innehaben, ist dieser fundamentale Aspekt ihrer Biologie ein sehr wichtiger Baustein zum besseren Verständnis der Insekten.“
Originalpublikation:
Die Studie Manthey C, Metcalf CJM, Monaghan MT, Steiner UK, Rolff J. (2024) Rapid growth and the evolution of complete metamorphosis in insects. Proceedings of the National Academy of Sciences, USA ist abrufbar unter https://doi.org/10.1073/pnas.2402980121

10.09.2024, Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft
„Unsichtbare“ Bewohner: Forschungspro-jekt liefert Erkenntnisse zu Wildtierpopulationen im Bergwald
Wildtiere suchen gern geschützte Lebensräume auf und sind für uns Menschen daher nicht immer sichtbar. Das trifft auch für unsere heimischen Huftierarten Rotwild, Gamswild und Rehwild zu. Daher besteht teilweise die Befürchtung, dass es im bayerischen Gebirge immer weniger Gämsen, Rehe oder Rothirsche gibt. Andererseits sind die Verbissschäden an jungen Waldbäumen vielerorts offensichtlich. Deswegen gibt es oft Streitigkeiten, wie viele Wildtiere nun tatsächlich auf einer bestimmten Fläche vorhanden sind.
Dieser Fragestellung hat sich nun ein wissenschaftliches Forschungsprojekt der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) im Auftrag des Bayerischen Landtags angenommen und in zwei typischen Gebirgslandschaften der Bayerischen Alpen die Populationsgrößen untersucht. Quintessenz: Es gibt dort mehr Tiere als erwartet.
In Kooperation mit den Bayerischen Staatsforsten AöR (BaySF) nahmen die Wildbiologen der LWF die Schalenwildbestände im Bergwald mit innovativen Methoden genauer unter die Lupe. Die wissenschaftlichen Untersuchungen erfolgten dabei in zwei Projektgebieten, im Karwendel mit rund 5.250 ha und im Chiemgau mit rund 7.000 ha. Die beiden aus-gewählten Gebiete Karwendel und Chiemgau sind -jedes in seiner Art- sehr typisch für den bayerischen Alpenraum. Allerdings unterscheiden sich die Lebensraumsituation für Wildtiere, die Landnutzung durch Land- und Forstwirtschaft, der Jagdbetrieb oder auch Tourismus in den beiden Untersuchungsräumen wesentlich. Überraschendes Ergebnis:
Im Herbst 2018 wurden im eher felsigen Projektgebiet Karwendel rund 330 Stück Rotwild und über 1.000 Gämsen festgestellt, Rehwild war dagegen nur sehr selten vertreten.
Im stärker bewaldeten Projektgebiet Chiemgau war das Rehwild mit 450 Tieren die häu-figste Schalenwildart, gefolgt vom Rotwild. Zusätzlich ermittelten dort die Wildbiologen einen Gamsbestand von etwa 300 Individuen.
Die Individuenzahlen in den beiden Gebieten überraschten die Wissenschaftler gleich-ermaßen wie langjährige Praktiker vor Ort.
Wie erfasst man eigentlich die Anzahl von Wildtieren?
Direkte Sichtzählungen können stets nur einen Teil des tatsächlich anwesenden Scha-lenwilds, nämlich den „sichtbaren“ erfassen. Deswegen werden modernste Untersu-chungsverfahren aus der Wildtiergenetik mit geographischen Informationssystemen und komplexer Statistik kombiniert. Dafür wurden die beiden Projektgebiete flächig nach frischen Kotproben abgesucht und diese anschließend im Labor genetisch analysiert und einzelnen Individuen zugeordnet. Allein aufgrund des steilen Geländes, aber auch des dichten Bodenbewuchses werden bei einer Suche nicht von jedem Tier Kotproben ge-funden.
Daher wird aus diesen genetisch identifizierten Individuen mit Hilfe der soge-nannten „räumlichen Fang-Wiederfang-Methode“ die Gesamtpopulation berechnet.
Die Ergebnisse belegen zum Zeitpunkt der Beprobung sehr individuenreiche Wildbestän-de in beiden Gebieten. Neben den Populationszahlen überraschten aber auch die Auf-enthaltsräume der Tierarten. Durch das verwendete wissenschaftliche Verfahren ist es nämlich möglich, nicht nur die Populationsgröße sondern auch die räumliche Verteilung der Tierarten und der Geschlechter aufzuzeigen. So zeigte sich beispielsweise, dass sich zum Aufnahmezeitpunkt im Chiemgau fast 60% der Gamsböcke im Wald aufhielten. Die Gamsgeißen waren dagegen vermehrt im Offenland bzw. oberhalb der Waldgrenze an-zutreffen.
Um den körperlichen Zustand der Wildtiere einzuschätzen, verglichen die Wissenschaftler während vier Jahren das Gewicht oder das Wachstum aussagekräftiger Skelettparameter von über 1.800 im regulären jagdlichen Betrieb erlegten Gämsen, Rothirschen und Rehen. Für alle drei Schalenwildarten konnte dabei in beiden Projektgebieten ein normaler bis guter körperlicher Zustand festgestellt werden. Das lokale Wildtiermanagement baut also auf vitalen Wildbeständen auf. Allerdings gab es auch Unterschiede zwischen den Gebieten: Zum Beispiel waren Gamsgeißen, die im waldreicheren „Chiemgau“ erlegt wurden, tendenziell etwas schwerer als die im felsreicheren „Karwendel“. Zudem wuchsen die Geißen in jungen Jahren im „Chiemgau“ etwas schneller als im „Karwendel“ mit seinen höheren Gamsdichten.
Auf Basis der gewonnenen Forschungsergebnisse erarbeiteten die Projektpartner ge-meinsam Empfehlungen für die Weiterentwicklung bestehender Managementkonzepte hin zu einem integralen Wildtiermanagement. Hierbei sollen alle drei Schalenwildarten sowie die Belange der Menschen zum Beispiel in Zonierungskonzepten Berücksichtigung finden. Dabei muss es Ziel sein, die Schutzfunktionen der Bergwälder zu erhalten und zu fördern, sowie geeignete Lebens- und Rückzugsräume für vitale und artenreiche Wildbestände zu schaffen. Auch für ein künftiges Monitoring der Wildtiere, insbesondere der Gams, konnten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden.
Gefördert wurden die Forschungen durch das Bayerische Staatsministerium für Ernäh-rung, Landwirtschaft, Forsten und Tourismus.
Originalpublikation:
https://www.lwf.bayern.de/mam/cms04/wildtierbiologie/dateien/ja14-kurzfassung_fi…

11.09.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Sommer, Sonne, Sandaufspülung: Küstenschutz beeinflusst kleinste Organismen
Sandaufspülungen haben starke Auswirkungen auf die Meiofauna der Ostseeküste, zeigt neue Studie. Ein Forschungsteam von Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven hat die Auswirkungen von Sandaufspülungen auf kleinste Lebewesen am Strand von Ahrenshoop untersucht. Die Küstenschutzmaßnahme hat erhebliche Auswirkungen auf die kleinsten Tiere im Ökosystem. Wie ihre jetzt im Fachjournal „Metabarcoding & Metagenomics“ erschienene Studie zeigt, veränderte sich die Zusammensetzung der Gemeinschaften von winzigen Würmern, Ruderfußkrebsen und anderen Lebewesen im Sediment durch die Sandaufschüttung drastisch. Im darauf folgenden Jahr erholten sich die Gemeinschaften langsam – aber nicht vollständig.
Wahrscheinlich machen sich die meisten Menschen während eines entspannten Strandurlaubs wenig Gedanken darüber, ob der Strand noch da wäre, wenn er nicht regelmäßig wieder aufgeschüttet würde. Tatsächlich sind Sandaufspülungen übliche und häufig angewandte Küstenschutzmaßnahmen an den Stränden der Nord- und Ostsee. Dabei wird Sand mit einem Spülschiff vom Meeresboden aufgesaugt, an die Küste transportiert, dort aufgespült und mit Planierraupen verteilt. Aufgrund der kontinuierlichen Erosion – der Abtragung bei Sturm, durch Wellen und Strömungen – müssen Sandaufspülungen regelmäßig wiederholt werden. Ungebremste Erosion würde sonst den Verlust von Stränden, Uferbereichen, Küstenkliffs und Dünen bedeuten. Küstenschutzmaßnahmen wie Sandaufspülungen verursachen hohe Kosten und führen oft auch zu Störungen der Ökosysteme. Wie solche Störungen und die darauf folgende Erholung effizient und zuverlässig überwacht werden können, zeigt ein Forschungsteam von Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven in einer jetzt im Fachjournal „Metabarcoding & Metagenomics“ erschienenen Studie.
Bei Ahrenshoop an der Ostsee haben die Forschenden die Auswirkungen einer Sandaufspülung auf die Meiofauna – Organismen von weniger als einem Millimeter Größe – untersucht. „Wir haben sowohl modernste genetische Methoden angewendet als auch die Tiere auf traditionelle Art am Mikroskop bestimmt und gezählt. Beide Methoden zeigen dasselbe Ergebnis“, berichtet Dr. Gritta Veit-Köhler von Senckenberg am Meer und weiter: „Die Gemeinschaften der Meiofauna haben sich nach der Sandaufspülung zunächst drastisch verändert und dann im Laufe von einem Jahr langsam erholt. Unmittelbar nach der Sandaufspülung waren Milben (Acari) und Ringelwürmer (Annelida) fast vollständig aus dem Spülsaum verschwunden, Ruderfußkrebse (Copepoda) gingen deutlich zurück, während die Zahl der Plattwürmer (Platyhelminthes) wiederum deutlich zunahm.“
Meiofauna-Organismen sind die zahlreichsten Tiere des Meeresbodens und spielen eine wichtige Rolle in den dortigen Nahrungsnetzen. Sie sind gut als „Bioindikatoren“ geeignet, um Umweltauswirkungen und verschiedene Formen von Ökosystemstörungen – auch solche durch den Menschen – festzustellen und zu untersuchen. Aufgrund ihrer geringen Körpergröße, ihrer Allgegenwart und ihrer großen Zahl können ihre Gemeinschaften bereits mit kleinen Probenmengen untersucht werden.
Über einen Zeitraum von anderthalb Jahren nahmen die Forschenden in Ahrenshoop insgesamt 246 Sandproben vom Spülsaum und werteten sie aus. „Mit der klassischen taxonomischen Methode haben wir 27.445 Individuen am Mikroskop bestimmt, die wir zehn höheren Tiergruppen wie Fadenwürmern (Nematoda) und Ruderfußkrebsen zuordnen konnten“, erzählt Iryna Kapshyna, Erstautorin der Studie und Doktorandin bei Senckenberg am Meer, und weiter: „Aber erst die genetische Untersuchung brachte die gesamte Artenvielfalt ans Licht: Wir konnten insgesamt 843 sogenannte ‚operative taxonomische Einheiten‘ (OTUs) – vereinfacht gesagt, unterschiedliche Arten – feststellen.“ Mit der Methode des „Metabarcoding“, bei der alle Tiere einer Probe gemeinsam analysiert werden und nach Unterschieden in spezifischen Genabschnitten gesucht wird, lassen sich sehr viele Proben schnell und zuverlässig analysieren.
„843 Arten hört sich nach viel an – tatsächlich wies der untersuchte Strand aber eine geringere Diversität der Meiofauna verglichen mit der Tiefsee oder anderen Meeresgebieten auf“, fügt Dr. Sahar Khodami von Senckenberg am Meer hinzu und schließt: „Bei den Auswirkungen von Küstenschutzmaßnahmen auf Ökosysteme sollten die kleinsten Meerestiere nicht aus dem Blick geraten!“
Originalpublikation:
Kapshyna I, Veit-Köhler G, Hoffman L, Khodami S (2024) Impact of a coastal protection measure on sandy-beach meiofauna at Ahrenshoop (Baltic Sea, Germany): results from metabarcoding and morphological approaches are similar. Metabarcoding and Metagenomics 8: e127688.
https://doi.org/10.3897/mbmg.8.127688

11.09.2024, Ruhr-Universität Bochum
Wie man 400 Jahre alt wird
Ein internationales Forschungsteam hat das Genom des langlebigsten bekannten Wirbeltiers entschlüsselt: des Grönlandhais. Es ist riesig und verfügt über besondere Reparaturmöglichkeiten.
Mit einer geschätzten Lebenserwartung von etwa 400 Jahren ist der Grönlandhai (Somniosus microcephalus) das langlebigste Wirbeltier der Welt. Ein internationales Forschungsteam hat nun das Genom dieses seltenen Bewohners der Tiefen des nördlichen Atlantiks und des Arktischen Ozeans entschlüsselt. „Die Analyse der Daten legt nahe, dass eine verbesserte DNA-Reparatur eine wichtige Rolle für seine extreme Langlebigkeit spielen könnte“, sagt Prof. Dr. Arne Sahm, Fakultät für Biologie und Biotechnologie an der Ruhr-Universität Bochum und Erstautor der Arbeit, die am 11. September 2024 auf der Plattform bioRxiv veröffentlicht wurde. Die Arbeit des Teams zur Entschlüsselung des Erbgutes soll dabei helfen, neues Licht auf die allgemeinen Mechanismen der Langlebigkeit zu werfen.
Ein riesiges Genom
Nur wenige komplexe Tiere können den Menschen überleben, zum Beispiel Riesenschildkröten wie Jonathan, ein 191-jähriges Exemplar, das derzeit auf St. Helena lebt. Doch diese Rekorde verblassen im Vergleich zum Grönlandhai.
Eine der ersten Herausforderungen des Projekts war die schiere Größe des Hai-Genoms. Mit 6,5 Milliarden Basenpaaren ist der genetische Code des Grönlandhais doppelt so lang wie der des Menschen und das umfangreichste aller zurzeit bekannten Hai-Genome. „Bisher wurden nur wenige Tiere sequenziert, die ein noch größeres Genom aufweisen“, sagt Arne Sahm und verweist dabei auf den Axolotl und kürzlich veröffentlichte Genomstudien zum Lungenfisch. Ebenso wie bei diesen Tieren ist die enorme Größe des Grönlandhai-Genoms in erster Linie auf das Vorhandensein repetitiver und sich häufig selbst replizierender Elemente zurückzuführen. Solche sogenannten transponierbaren Elemente, manchmal auch als springende Gene bezeichnet, machen über 70 Prozent des Grönlandhai-Genoms aus. „Das ist erstaunlich, da ein hoher Anteil transponierbarer Elemente zumeist als schädlich angesehen wird“, sagt Arne Sahm. Tatsächlich können springende Gene die Integrität anderer Gene zerstören und die Gesamtstabilität des Genoms verringern. Im Fall des Grönlandhais scheint der hohe Anteil springender Gene die Lebensdauer der Art aber nicht begrenzt zu haben.
Gekaperte springende Gene
Im Gegenteil: Sahm und das Team vermuten, dass die Aktivität transponierbarer Elemente sogar zur extremen Langlebigkeit des Grönlandhais beigetragen haben könnte. Grund dafür könnte sein, dass auch andere Gene die Maschinerie transponierbarer Elemente gekapert haben, um sich zu vervielfältigen. Das Team vermutet, dass während der Evolution des Grönlandhais mehrere Gene diese Gelegenheit ergriffen haben. Häufig waren das solche Gene, die auch an der Reparatur von DNA-Schäden beteiligt sind. „In jeder unserer Zellen wird die DNA täglich tausende Male beschädigt, und spezialisierte molekulare Mechanismen reparieren sie ständig“, erklärt Alessandro Cellerino, Neurobiologe am FLI und der Scuola Normale Superiore (SNS) in Pisa. Ein Ergebnis vergleichender Genomstudien ist, dass langlebige Säugetierarten ihre DNA sehr effizient reparieren können. Die Ergebnisse des Teams sind also ein weiterer Hinweis darauf, dass die DNA-Reparatur ein allgemeiner Mechanismus sein könnte, der der Evolution außergewöhnlicher Langlebigkeit zugrunde liegt.
„Unter Umständen hat die Evolution des Grönlandhais einen Weg gefunden, die negativen Auswirkungen transponierbarer Elemente auf die DNA-Stabilität auszugleichen – indem sie die Maschinerie der transponierbaren Elemente selbst gekapert hat“, so Arne Sahm. Die Forschenden möchten auch mehr über die Mechanismen erfahren, die die Verbreitung transponierbarer Elemente steuern. „Wir können nun damit beginnen, die Frage zu beantworten, ob die Stilllegung transponierbarer Elemente bei Grönlandhaien anders funktioniert als bei anderen Arten“, sagt Helene Kretzmer vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin.
Verändertes Kontrollzentrum
Das Team fand daneben eine spezifische Veränderung im Protein p53 – auch bekannt als „Wächter des Genoms“. Viele Studien zeigen, dass p53 als Kontrollzentrum fungiert, das auf DNA-Schäden sowohl im Menschen als auch bei vielen anderen Arten reagiert. „Dieses Protein ist bei etwa der Hälfte aller menschlichen Krebserkrankungen mutiert und ist der wichtigste Tumorsuppressor, den wir kennen. Daher ist es ein essenzielles Gen für Langlebigkeit“, sagt Steve Hoffmann, Bioinformatiker am Fritz-Lipmann-Instituts für Alternsforschung (FLI) in Jena. Es sind jedoch weitere Studien erforderlich, um zu zeigen, inwieweit die beobachteten Veränderungen in kritischen Genen – wie p53 und molekularen Signalwegen, etwa Vervielfältigungen von DNA-Reparaturgenen oder Veränderungen in Tumorsuppressoren – zur außergewöhnlichen Langlebigkeit des Grönlandhais beitragen.
Start frei für weitere Studien
„Unser Genomprojekt bietet nun eine Grundlage für viele unabhängige Studien, die uns helfen werden, die Evolution dieser bemerkenswerten Art besser zu verstehen“, unterstreicht Paolo Domenici vom CNR – IBF, Pisa. „Dies ist einer der Gründe, warum wir beschlossen haben, das Genom der wissenschaftlichen Gemeinschaft sofort zur Verfügung zu stellen“, fügt Alessandro Cellerino hinzu. Die Genomsequenz und die entsprechenden Webressourcen, die das Team nun veröffentlicht hat, ermöglichen es Forschenden weltweit, die Gene zu analysieren, die sie interessieren. „Diese Arbeit ist ein Meilenstein für ein besseres Verständnis der Grundlagen der außergewöhnlichen Physiologie des Grönlandhais. Darüber hinaus hilft sie uns, erstmals seine genomische Vielfalt und damit die Populationsgröße dieser gefährdeten Art einzuschätzen“, so John Fleng Steffensen von der Universität Kopenhagen, der diese Tiere seit 15 Jahren in ihrer natürlichen Lebensumgebung erforscht.
Langlebigkeit besser verstehen
„Die Entschlüsselung des Genoms des Grönlandhais ist ein entscheidender Schritt zum Verständnis der molekularen Mechanismen des extrem langsamen Alterns dieser außergewöhnlichen Art“, sagt Steve Hoffmann. Die Forscher erwarten, dass die Studie über den Grönlandhai auch für viele andere Organismen von entscheidender Bedeutung sein kann. „Die Erforschung der genetischen Grundlagen des großen Spektrums von Lebensspannen im Tierreich ermöglicht es uns auch, die allgemeinen Mechanismen der Langlebigkeit besser zu verstehen“, erklärt Alessandro Cellerino.
Originalpublikation:
Arne Sahm et al.: The Greenland Shark (Somniosus microcephalus) Genome Provides Insights Into Extreme Longevity, 2024, DOI: 10.1101/2024.09.09.611499, https://www.biorxiv.org/content/10.1101/2024.09.09.611499v1.full.pdf

13.09.2024, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
BioRescue entwickelt Tool für ethische Bewertung des Einsatzes von Biobanken im Artenschutz
Angesichts des dramatischen globalen Artensterbens werden immer mehr Biobanken eingerichtet, um mithilfe von Gewebeproben genetische Vielfalt zu sichern und wiederherzustellen. Konserviertes Gewebe oder Zellen ermöglichen es Forschung und Artenschutz, die räumliche und sogar zeitliche Fragmentierung schwindender Wildtierbestände zu überwinden und Technologien der assistierten Reproduktion einzusetzen – allerdings setzt das einen sicheren und ethischen Einsatz von Biobanken voraus. In der Fachzeitschrift „Cryobiology“ analysiert das BioRescue-Team ethische Fragestellungen und entwickelt sein Werkzeug „ETHAS“ zu einer standardisierten Methode für die ethische Bewertung weiter.
In heute in der Fachzeitschrift „Cryobiology“ erschienenen wissenschaftlichen Aufsatz analysiert das BioRescue-Team ethische Fragestellungen unter anderem zu Tierwohl, Eigentum an den Proben sowie guter wissenschaftlichen Praxis und entwickelt sein Werkzeug „ETHAS“ zu einer klaren, leicht anwendbaren und standardisierten Methode für die ethische Bewertung und Entscheidungsfindung beim Einsatz von Biobanken für den Artenschutz weiter.
Gemeinsam mit Fortschritten in der assistierten Reproduktionstechnologie (ART) können Biobanken ein letzter Strohhalm für den Erhalt der genetischen Vielfalt bedrohter Wildtiere und sogar für die Rettung von Arten vor dem Aussterben sein. So stützt sich beispielsweise die Rettungsmission für das Nördliche Breitmaulnashorn (BMBF-Projekt „BioRescue“) sowohl auf neue Entwicklungen von Techniken wie Eizellentnahme, In-vitro-Fertilisation, Embryotransfer und Stammzelldifferenzierung für Nashörner, als auch auf die Möglichkeit, Eizellen, Sperma oder Gewebeproben sicher und beliebig lange in flüssigem Stickstoff zu lagern. „Biobanking“ ist ein Garant dafür, dass dem Team Biomaterial zur Verfügung steht, um diese neuen Techniken zu entwickeln und sie an geeigneten Orten und zu geeigneten Zeiten einzusetzen. „Wir können Sperma, das vor 20 Jahren in den USA gewonnen wurde, mit frisch in Kenia entnommenen Eizellen zusammenbringen, in Italien Embryonen erzeugen und diese wiederum in flüssigem Stickstoff lagern, bis wir sie in eine Leihmutter übertragen können“, sagt BioRescue-Projektleiter Prof. Thomas Hildebrandt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW). „All das wäre ohne Kryokonservierung in Biobanken nicht möglich; wir bauen und nutzen also faktisch eine ‚Eisbrücke‘ über Raum und Zeit und überwinden die starke Fragmentierung des genetischen Erbes der Arten für unsere Mission.“
Diese neuen technologischen Möglichkeiten werfen jedoch ethische Fragen auf, die das BioRescue-Team durch die Anpassung und Erweiterung seines Ansatzes zur ethischen Risikobewertung für ART-Verfahren auf das Thema Biobanking angeht. „Wenn durch den Einsatz neuer Technologien wie Biobanking Neuland für den wissenschaftsbasierten Erhalt der Artenvielfalt betreten wird, müssen wir sicherstellen, dass wir kluge und nachvollziehbare Entscheidungen für die Umwelt und das Ökosystem, für das Wohlergehen der beteiligten Tiere, für die Gesellschaft und ihre Institutionen und Regularien sowie für die gute wissenschaftliche Praxis treffen“, sagt Prof. Barbara de Mori von der Universität Padua, die den ethischen Forschungsschwerpunkt von BioRescue leitet. Dazu gehören Aspekte wie
• die Auswahl des Biomaterials, das in den so genannten Genomforschungsbanken (genome research banks, GRBs) gelagert wird, um eine sicherzustellen, dass Individuen und Arten aus einer breiteren Artenschutzperspektive angemessen repräsentiert sind;
• das Wohlergehen aller beteiligten Tiere – von den Individuen, von denen Proben gewonnen werden, bis hin zu jenen Individuen, die die konservierten genetischen Informationen tragen werden oder als Leihmütter im Rahmen der assistierten Reproduktion fungieren; sowie
• die Eigentumsverhältnisse an Proben – wenn die Routinen zur Lagerung und der relativ einfache Transport die Türen für ausbeutungs-affine („kolonialistische“) Forschung und Nutzung („parachute science“) zugunsten westlicher Einrichtungen öffnen und den Export von biologischem und kulturellem Erbe auf Kosten lokaler Gemeinschaften befeuern, ohne dass für diese Teilhabe gesichert ist oder sie davon profitieren.
„Wir müssen sicherstellen, dass wir hohe wissenschaftliche und technische Standards einhalten, Missbrauch verhindern, unsere Forschungs- und Artenschutzaktivitäten mit der erforderlichen Transparenz durchführen und in komplexen ethischen Fragen der Gesellschaft genau zuhören. Die Antwort auf die Frage, was im Artenschutz getan werden sollte, wenn man neue Dinge tun kann, können wir nicht alleine beantworten“, fassen Hildebrandt und de Mori zusammen.
Um diese Fragen im Rahmen wissenschaftlicher Projekte zum Erhalt der Artenvielfalt zu klären, passte BioRescue sein bewährtes ethisches Bewertungsinstrument „ETHAS“ für das Biobanking verschiedener Arten von Biomaterialien wie Gewebe, Keimzellen und Embryonen sowie Zellkulturen an. „ETHAS ist ein checklisten-basiertes, systematisches Selbstbewertungsinstrument, das Umwelt-, Tierschutz-, Sozial- und Forschungsethik für Biobanking-Verfahren abdeckt“, erklärt Dr. Pierfrancesco Biasetti vom Leibniz-IZW. „ETHAS verbindet und integriert alle ethischen und rechtlichen Überlegungen in einem einzigen Rahmenwerk und bietet damit eine klare, relativ einfach anzuwendende und standardisierte Methode zur Strukturierung und Organisation der ethischen Analyse und ethischen Entscheidungsfindung.“ Ziel ist es, die höchstmöglichen ethischen Standards mit einem praktischen Instrument zu gewährleisten, das in Standardarbeitsabläufe integriert werden kann.
Die ethische Bewertung von Biobanking-Aktivitäten steckt noch in den Kinderschuhen, resümiert das BioRescue-Team in dem wissenschaftlichen Aufsatz, ebenso wie die Integration von Genomforschungsbanken in das Management und die Erhaltungszucht von Wildtierarten, die von besonderem Interesse für den Artenschutz sind. Es bestehe ein dringender Bedarf, nicht nur die ethische Ausbildung von Wissenschaftleri:innen, Artenschützer:innen und Biobanking-Praktiker:innen zu verbessern, sondern auch die Einführung von Genomforschungsbanken als zentrale Strategie zur Unterstützung von Artenschutzzielen zu erleichtern. Die Entnahme und Kyrokonservierung von Proben und die Entwicklung lebender Zelllinien könnten sich dann zu einem integralen Bestandteil von Artenschutzbemühungen entwickeln und müssten nicht, wie gegenwärtig, als Ausnahmen betrachtet werden – ebenso wie die ethische Bewertung und Begleitung dieser Verfahren.
Originalpublikation:
Biasetti P, Mercugliano E, Schrade L, Spiriti MM, Göritz F, Holtze S, Seet S, Galli C, Stejskal J, Colleoni S, Čižmár D, Simone R, Hildebrandt TB, de Mori B (2024): Ethical assessment of genome resource banking (GRB) in wildlife conservation. Cryobiology 117, 104956. DOI: 10.1016/j.cryobiol.2024.104956

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