Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

06.08.2024, Universität Basel
Wettlauf über Jahrmillionen erhält genetische Vielfalt
Variationen im Erbgut ermöglichen dem Wasserfloh, sich gegen das Eindringen eines Parasiten zu wehren. Woraufhin sich der Parasit wiederum anpassen muss. Diese Schleife der Koevolution läuft schon seit mindestens 15 Millionen Jahren, wie Forschende der Universität Basel nachgewiesen haben.
Wirte und ihre Parasiten befinden sich in einem dauernden Wettstreit: Dank genetischer Diversität kann sich der Wirt so verändern, dass eine Infektion nicht mehr möglich ist. Allerdings passt sich der Parasit dann schnell an – und das Spiel beginnt von vorne. Nach dem Charakter der Roten Königin im Buch «Alice im Wunderland» − die ständig rennt und trotzdem auf der Stelle tritt − wird dies in der Evolutionsbiologie auch als das «Red Queen Modell» bezeichnet.
Solche Prozesse können über viele Millionen Jahre ohne Unterbruch ablaufen, wie eine Forschungsgruppe am Departement Umweltwissenschaften der Universität Basel in der Fachzeitschrift Nature Communication nun berichtet. Dies ist ein wesentlich längerer Zeitraum als bisher geglaubt. Das Team um Prof. Dr. Dieter Ebert verglich für die Studie das Erbgut von millimetergrossen Wasserflöhen, die von einem parasitären Bakterium befallen werden.
Der Parasit dringt in den Darm der Wasserflöhe ein und heftet sich dort an die Schleimschicht. Der Wasserfloh kann eine Infektion abwehren, indem er Moleküle, die diesem Schleim anhaften, verändert. Daraufhin passt der Parasit seine Oberfläche an die veränderte Schleimstruktur an und hat kurzzeitig wieder die Nase vorn. Dieser Prozess der Koevolution sorgt dafür, dass im Wasserfloh immer mehrere genetische Varianten für Oberflächenmoleküle erhalten bleiben und sich nie eine einzelne durchsetzen kann.
Noch tiefer in die Vergangenheit blicken
Bislang konnten die Forschenden diese Koevolution zwischen Wasserfloh und Parasit bis vor die letzte Eiszeit vor etwa 100‘000 Jahren zurückverfolgen. «Jetzt haben wir noch einmal einen Riesensprung gemacht und konnten zeigen, dass der Prozess mindestens 15 Millionen, vielleicht sogar 70 Millionen Jahre zurückgeht», sagt Dieter Ebert. Besonders erstaunlich: Der Prozess fand ohne Unterbruch statt, obwohl sich die Lebensbedingungen auf der Erde in diesem Zeitraum mehrmals dramatisch verändert haben. «Wir sprechen nicht von ein oder zwei Grad Temperaturunterschied, sondern von Schwankungen von mehr als zehn Grad und mehreren Eiszeiten.» Möglicherweise überstand der Prozess sogar den Meteoriteneinschlag, der für das Aussterben der Dinosaurier verantwortlich gemacht wird.
Für den Nachweis nutzte das Forschungsteam drei verschiedene Arten von Wasserflöhen, die in Europa und Asien im Freiland gesammelt wurden. Eine Verwandtschaftsanalyse zeigte, dass die Aufsplittung dieser Arten vor mindestens 15 Millionen Jahren stattfand. Trotzdem waren alle anfällig für das gleiche parasitäre Bakterium.
Im Erbgut der Wasserflöhe fanden die Forschenden dann mehrere Abschnitte, die für Komponenten des Immunsystems kodierten und eine hohe Variabilität aufwiesen. Diese Diversität ermöglicht den Wasserflöhen, dem Parasiten immer wieder den Zutritt zu verweigern. Erstaunlicherweise befanden sich diese variablen Regionen bei allen Wasserfloharten an den gleichen Stellen des Erbguts. Dies zeigt, dass die Koevolution zwischen Wasserflöhen und dem Parasiten schon stattfand, bevor sich die Wirtsarten aufspalteten, also vor mindestens 15 Millionen Jahren. Es bedeutet zudem, dass dieser Vorgang ununterbrochen ablief – denn bei einem Unterbruch würden in relativ kurzer Zeit genetische Varianten verloren gehen.
Ohne Variabilität anfälliger für Infektionen
«Eigentlich hat man die Vorstellung, dass die Evolution immer etwas Neues erfindet. Hier konnten wir zeigen, dass die gleichen Variationen von Genen über riesige Zeiträume hinweg immer wieder genutzt wurden», sagt Ebert. Auch beim Menschen sorgen genetische Variationen für eine Flexibilität des Immunsystems − zum Beispiel beim sogenannten Histokompatibilitätskomplex, der körperfremde Strukturen erkennt und bekämpft. Allerdings konnten diese Vorgänge bislang nicht sehr weit zurückverfolgt werden. Auch scheinen, anders als beim Wasserfloh, mehrere Krankheitserreger daran beteiligt zu sein. «Die genetische Diversität bietet Schutz gegen Infektionskrankheiten, auch solche, die neu auftauchen. Deshalb ist es so wichtig zu verstehen, wie diese Variabilität über lange Zeiträume erhalten bleibt», so der Evolutionsbiologe.
Originalpublikation:
Luca Cornetti, Peter D. Fields, Louis Du Pasquier und Dieter Ebert
Long-term balancing selection for pathogen resistance maintains trans-species polymorphisms in a planktonic crustacean.
Nature Communications (2024)
doi: 10.1038/s41467-024-49726-8

06.08.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Das Gift des Bücherskorpions wirkt auch gegen Krankenhauskeime
Der nur wenige Millimeter große Bücherskorpion (Chelifer cancroides) gilt in Mitteleuropa als das bekannteste Mitglied der Pseudoskorpione, einer Ordnung der Spinnentiere. In Wohnräumen jagt er Hausstaubmilben sowie Staub- und Bücherläuse. Auch in Bienenstöcken erlegt er Schädlinge. Dabei setzt er häufig sein Gift ein. Hessische Forschende haben nun erstmals die Bestandteile dieses Gifts umfassend charakterisiert – und dabei Moleküle mit starker Wirkung auch gegen sogenannte Krankenhauskeime entdeckt. Die Ergebnisse können künftig dabei helfen, schwer zu behandelnde Infektionskrankheiten zu bekämpfen.
Der nur wenige Millimeter große Bücherskorpion (Chelifer cancroides) gilt in Mitteleuropa als das bekannteste Mitglied der Pseudoskorpione, einer Ordnung der Spinnentiere. In Wohnräumen jagt er Hausstaubmilben sowie Staub- und Bücherläuse. Auch in Bienenstöcken erlegt er Schädlinge. Dabei setzt er häufig sein Gift ein. Hessische Forschende haben nun erstmals die Bestandteile dieses Gifts umfassend charakterisiert – und dabei Moleküle mit starker Wirkung auch gegen sogenannte Krankenhauskeime entdeckt. Die Ergebnisse können künftig dabei helfen, schwer zu behandelnde Infektionskrankheiten zu bekämpfen.
Obwohl sie mit weltweit etwa 3.000 Arten eine vielfältige Gruppe der Spinnentiere darstellen, sind Pseudoskorpione – anders als Skorpione – wenig bekannt und auch als Gifttiere kaum erforscht. Ihren großen Verwandten sehen sie mit den im Vergleich zum Körper langen Scheren zwar ähnlich, auch wenn ihr Hinterleib nicht geteilt ist oder über einen Giftstachel verfügt. Doch aufgrund ihrer geringen Größe von nur einem bis sieben Millimetern lässt sich ihr Gift, das sie ihrer Beute über Giftdrüsen an den Scheren injizieren, nur schwer analysieren.
Nun gelang es einem Team hessischer Forscher*innen des LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) und weiterer Institutionen erstmals, alle bekannten Mitglieder einer Giftstofffamilie des Bücherskorpions (Chelifer cancroides) im Labor künstlich herzustellen und ihre Aktivität zu untersuchen. Dabei stießen die Wissenschaftler*innen auf eine überraschend stark ausgeprägte Wirksamkeit gegen einen bekannten Krankenhauskeim, den sogenannten Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA). Staphylokokken sind häufig vorkommende Bakterien, die insbesondere die Haut und Schleimhäute besiedeln. Die Besonderheit der MRSA-Varianten ist dabei, dass sie gegen das Antibiotikum Methicillin resistent sind und dadurch schwer behandelbare Infektionen beim Menschen verursachen, unter anderem nach operativen Eingriffen.
Die analysierte Toxinfamilie war in einer vorangehenden Arbeit bei der Entschlüsselung des Giftcocktails des Bücherskorpions neu entdeckt und als „Checacine“ benannt worden. Um schnell und effizient mehr über die Wirkungsweise dieser bisher unbekannten Toxinklasse herauszufinden, testeten verschiedene Arbeitsgruppen des LOEWE-Zentrums TBG parallel die Aktivität der Toxine gegen Tumorbildung, Bakterien und Entzündungen – am Frankfurter Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie (ITMP), an der Goethe-Universität Frankfurt und am Gießener Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME, Institutsteil Bioressourcen (IME-BR). Die Studie wurde im Fachjournal „iScience“ veröffentlicht.
Doch bis zu einem möglichen pharmakologischen Einsatz gilt es noch weitere Hürden zu überwinden: „Unsere Daten zeigen, dass die Checacine leider auch eine gewissen Giftigkeit für menschliche Zellen aufweisen können und unter Umständen selbst Entzündungsreaktionen hervorrufen könnten. Wir müssen also, wie bei anderen Wirkstoffen genauso üblich, ihre Struktur und somit auch ihre Wirkung noch durch biotechnologische Verfahren optimieren“, erläutert die Co-Erstautorin der Studie, TBG-Wissenschaftlerin Dr. Pelin Erkoc, die während der Analysen am Institut für Pharmazeutische Biologie der Goethe-Universität Frankfurt tätig war. „Das Potenzial dieser Wirkstoffe ist jedoch jetzt schon deutlich zu erkennen. Laut Prognosen könnten antibiotikaresistente Infektionen in den nächsten Jahrzehnten zur global häufigsten krankheitsbedingten Todesursache avancieren. Deshalb ist es wichtig, auch mit ungewöhnlichen Ideen nach neuen Lösungsansätzen zu suchen“, ergänzt Dr. Michael Marner, Postdoktorand am Fraunhofer IME-BR und Co-Autor der Arbeit.
„Tiergifte sind eine wahre Schatztruhe voller möglicher Wirkstoffkandidaten, doch nur ein kleiner Teil wurde bisher untersucht“, betont Studienleiter Dr. Tim Lüddecke, Leiter der Nachwuchsgruppe Animal Venomics am Fraunhofer IME-BR und der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie Mitglied des LOEWE-Zentrums TBG. „In meiner Gruppe haben wir moderne systembiologische und biotechnologische Methoden entwickelt, um gezielt die schwierig zu analysierenden, sehr kleinen Gifttiere zu erforschen. Wir fokussieren uns dabei besonders auf Spinnentiere. Sie sind sozusagen die Meisterchemiker unter den Gifttieren: Ihre Gifte sind besonders komplex und pharmakologisch vielversprechend. Unsere neuen Ergebnisse zu den Checacinen zeigen, wie sehr es sich lohnt, einen genauen Blick in das unbekannte Universum der Gifte kleiner Krabbeltiere zu werfen“, resümiert Lüddecke.
Originalpublikation:
Publikation in iScience:
Pelin Erkoc, Susanne Schiffmann, Thomas Ulshöfer, Marina Henke, Michael Marner, Jonas Krämer, Reinhard Predel, Till F. Schäberle, Sabine Hurka, Ludwig Dersch, Andreas Vilcinskas, Robert Fürst, Tim Lüddecke
“Determining the pharmacological potential and biological role of linear pseudoscorpion toxins via functional profiling”
https://doi.org/10.1016/j.isci.2024.110209

06.08.2024 11:26
Ocean ́s Eleven: Neuentdeckungen aus dem Meer. Gemeinschaftsprojekt beschleunigt die Beschreibung von marinen Arten
Judith Jördens Senckenberg Pressestelle
Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Pinke Seegurken, runzlige Napfschnecken, die auf Methanschloten leben und Krebstiere, die mysteriöse Löcher bauen – insgesamt elf neue Arten aus den Weltmeeren wurden in der neu erschienenen Fachpublikation „Ocean Species Discoveries (OSD)“ von 25 Forschenden aus zehn Ländern beschrieben. Die gemeinschaftliche Veröffentlichung beschleunigt den Prozess der Beschreibung und Benennung neuer Arten um ein Vielfaches und hilft, zu ihrem Schutzstatus beizutragen. Ein erklärtes Ziel der Senckenberg Ocean Species Alliance (SOSA) am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, welche das Pilotprojekt initiiert und koordiniert hat.
Globaler Klimawandel, Verschmutzung, Plastikmüll, Überfischung – die Bedrohung der Weltmeere und ihrer Bewohner ist vielfältig. „Die meisten der schätzungsweise zwei Millionen marinen Arten sind uns zwar noch unbekannt, dennoch fallen auch sie dem Biodiversitätsverlust zum Opfer. Kurz gesagt: Meerestiere sterben aus, bevor wir sie entdecken und benennen können. Überproportional davon betroffen sind wirbellose Organismen“, erklärt Dr. Torben Riehl, Co-Leiter von SOSA am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Ein Problem stellt hier auch die Geschwindigkeit dar, mit der neue Arten durchschnittlich taxonomisch beschrieben werden. Die derzeitige Wissenschafts- und Publikationslandschaft führt oft zu jahrzehntelangen Verzögerungen – zwischen der Entdeckung einer neuen Art und ihrer Beschreibung können 20 bis 40 Jahre vergehen.“
Riehl ist Koordinator der von SOSA initiierten Ocean Species Discoveries (OSD), einer neuen Publikationsserie die in regelmäßigen Abständen erscheinen soll. In der ersten Ausgabe haben nun 25 Autor*innen verschiedener Institutionen elf neue Arten, eine neue Gattung und eine Neubeschreibung und – einordnung einer bereits bekannten Art veröffentlicht. Die dreizehn wirbellosen Arten stammen aus der ganzen Welt und sind in Tiefen von 5,2 bis 7081 Metern zu finden.
Eine der neu beschrieben Arten ist die kleine runzlige Napfschnecke Lepetodrilus marianae. Sie lebt in Hydrothermalquellen in der Tiefsee, wo es bis zu 400 Grad Celsius heiß werden kann.
Eine weitere Neubeschreibung, ein kleines Krebstier, war bislang nur durch mysteriöse Löcher bekannt, die das Tier im Meeresboden hinterlässt. Erst nach längerer Beobachtung entdeckten Forschende das Tier und gaben ihm – um seine Liebe zum Graben zu betonen – den Namen Cunicolomaera grata, was so viel wie Lieblingshöhle bedeutet.
Psychropotes buglossa ist eine pinke Seegurke, die in den Tiefen des Atlantiks vorkommt. Zwar wurde sie bereits 1886 beschrieben, dann aber 1975 mit elf anderen Arten unter dem Namen Psychropotes longicauda zusammengefasst. Neuere DNA- Analysen zeigen jedoch, dass es sich bei der Seegurke mit der auffälligen Farbe doch um eine eigene Art handelt.
„Diese, und die weiteren sehr unterschiedlichen Arten, würden normalerweise nicht gemeinsam in einer Studie erscheinen. Doch das ist genau unser Ansatz für die Ocean Species Discoveries: verschiedene wirbellose Meerestiere werden in einer ‚Mega- Publikation‘ zusammengefasst“, so Riehl und weiter: „Gegenwärtig verzögert sich die Benennung und Beschreibung neuer Tiere beträchtlich, oft weil die Fachmagazine zusätzliche ökologische oder phylogenetische Erkenntnisse erwarten. Dies führt dazu, dass viele marine Arten aufgrund mangelnder Daten unbeschrieben bleiben. OSD geht dieses Problem an, indem es prägnante, vollständige taxonomische Beschreibungen anbietet, ohne ein bestimmtes Thema zu verlangen, und so die Aufmerksamkeit wieder auf die Bedeutung der Taxonomie selbst lenkt.“
Durch den Fokus auf die reine taxonomische Arbeit, können so innerhalb kurzer Zeit deutlich mehr Artbeschreibungen veröffentlich werden. „Und Zeit ist es, die beim voranschreitenden Biodiversitätsverlust eine große Rolle spielt. Denn die runzlige Napfschnecke, die pinke Seegurke und zwei weitere Arten, die in der ersten OSD-Ausgabe beschrieben wurden, leben in Gebieten, die von Tiefseebergbau bedroht sind. Das Überleben dieser Wirbellosen hängt davon ab, ob wir es rechtzeitig schaffen, sie zu entdecken und zu benennen. Denn nur so können wir auch ihren Gefährdungsstatus auf der Roten Liste der IUCN erfassen, um Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können“, fasst Senckenberg-Meeresforscherin Prof. Dr. Julia Sigwart, Co-Leiterin von SOSA zusammen.
Originalpublikation:
Senckenberg Ocean Species Alliance, Brandt A, Chen C, Engel L, Esquete P, Horton T, Jazdzewska A, Johannsen N, Kaiser S, Kihara TC, Knauber H, Kniesz K, Landschoff J, Lörz A-N, Machado FM, Martínez-Muñoz CA, Riehl T, Serpell-Stevens A, Sigwart JD, Tandberg A-H, Tato R, Tsuda M, Vončina K, Watanabe HK, Wenz C, Williams JD (2024): Ocean Species Discoveries 1-12 – A primer for accelerating marine invertebrate taxonomy. Biodiversity Data Journal 12: e128431. https://doi.org/10.3897/BDJ.12.e12 8431

07.08.2024, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Frühe Säugetiere lebten länger: Uni Bonn untersucht Lebensspanne und Wachstumsverlauf von frühen Säugetieren
Wie wuchsen und entwickelten sich frühe Säugetiere in der Jurazeit? Dieser Frage sind Forschende der Queen Mary University of London und der Universität Bonn nachgegangen. Indem sie Wachstumsringe in versteinerten Zahnwurzeln untersuchten, konnten die Paläontologinnen und Paläontologen die Lebensspanne, die Wachstumsraten und sogar den Zeitpunkt der Geschlechtsreife dieser uralten Lebenswesen bestimmen. Die Studie ist jetzt in „Science Advances“ erschienen. ACHTUNG SPERRFRIST: Nicht vor Mittwoch, 7. August, 20 Uhr veröffentlichen!
„Das ist das erste Mal, dass wir den Wachstumsverlauf dieser frühen Säugetiere so detailliert rekonstruieren konnten“, sagt Erstautor Dr. Elis Newham, Postdoc an der Queen Mary University of London, der während der Studie bis zum 31. März 2024 als Alexander von Humboldt-Forschungsstipendiat an der Universität Bonn tätig war.
Für seine Studie nutzte das Team versteinerte Zahnwurzeln von Säugetierarten aus dem frühen bis späten Jura (200 bis 150 Millionen Jahre vor heute), die an drei verschiedenen Orten gefunden wurden: Während die Funde aus Wales einige der ältesten bekannten Vorläufer der Säugetiere aus der frühen Jurazeit umfassen, weisen die Fossilien aus Oxfordshire, UK, eine besonders breite Diversität von zusammenlebenden frühen Säugetieren auf. Die Fossilien aus der dritten Fundstätte in Portugal stammen aus dem späten Jura.
Fossile Zahnwurzeln im Röntgengerät
Diese Fossilien untersuchte das Forschungsteam mithilfe der sogenannten Synchrotron-Röntgentomographie. Im Gegensatz zur herkömmlichen Röntgenbildgebung werden bei dieser Technik die Elektronen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Das bringt mehrere Vorteile mit sich: Die zu untersuchenden Fossilien müssen nicht mehr präpariert, also in Scheiben geschnitten werden; sie können in ihrer Gesamtheit untersucht werden. Gleichzeitig sind die Bildaufnahmen mit der Synchrotron-Röntgentomographie von höherer Qualität als mit herkömmlicher Mikro-Computertomographie.
Mit diesen Fossilien gelang es den Forschenden, winzige Wachstumsringe in fossilem Wurzelzement, dem Knochengewebe, das die Zähne am Kiefer befestigt, abzubilden. „Diese Ringe ähneln denen von Bäumen, allerdings auf mikroskopischer Ebene“, erklärt Prof. Thomas Martin von der Arbeitsgruppe „Vertebraten – Säugetiere“ am Bonner Institut für Organismische Biologie der Universität Bonn und einer der Seniorautoren der Studie. „Durch das Zählen der Ringe und die Analyse ihrer Dicke und Beschaffenheit konnten wir die Wachstumsmuster und Lebensspannen der ausgestorbenen Tiere rekonstruieren.“
Die Forschenden fanden heraus, dass die ersten Anzeichen von Wachstumsmustern wie sie bei heutigen Säugetieren auftreten, wie zum Beispiel der Wachstumsschub in der Pubertät, vor rund 150 Millionen Jahren entstanden. Dennoch wuchsen die frühen Säugetiere deutlich langsamer, lebten dafür aber wesentlich länger als heutige Kleinsäugetiere: Statt ein bis zwei Jahre wie beispielsweise Mäuse, lebten die Vorfahren zwischen acht und 14 Jahre. Dafür erlangten die frühen Säugetiere jedoch erst nach Jahren ihre Geschlechtsreife – im Gegensatz zu ihren heutigen Nachfahren, die bereits nach wenigen Monaten geschlechtsreif sind.
„Unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass die einzigartigen lebensgeschichtlichen Merkmale von Säugetieren, wie beispielsweise hohe Stoffwechselraten und lange elterliche Betreuung der Jungtiere sich über Millionen von Jahren entwickelt haben. Die Jurazeit scheint eine entscheidende Zeit in dieser Entwicklung gewesen zu sein“, fasst Elis Newham zusammen.
Beteiligte Institutionen und Förderung
Neben der Queens University of London und der Universität Bonn waren an der Studie die Universität Helsinki, der Geological Survey of Finland, das Natural History Museum (UK), die University of Hull (UK), das European Synchrotron Radiation Facility (Frankreich), die University of Southampton (UK), das College of Osteopathic Medicine (USA), die University of Bristol (UK), sowie die University of Edinburgh (UK), beteiligt.
Die Studie wurde durch die folgenden Institutionen ermöglicht: das European Community’s Seventh Framework Programme, Engineering and Physical Sciences Research Council Studentship sowie Alexander von Humboldt Research Forschungsstipendium für Elis Newham, Paul Scherrer Institut, Academy of Finland, Gingko Investments LTD, Versus Arthritis grant 23115.
Originalpublikation:
Elis Newham, et al.: The origins of mammal growth patterns during the Jurassic mammalian radiation. Science Advances 2024. DOI: 10.1126/sciadv.ado4555; https://doi.org/10.1126/sciadv.ado4555

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