31.07.2023, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Ungeregelter Betrieb alter Windenergieanlagen tötet viele Fledermäuse – wirksamer Schutz wäre einfach umzusetzen
Fledermäuse lassen sich an Windenergieanlagen (WEA) wirksam schützen, wenn die Anlagen bei hoher Fledermausaktivität zeitweise abgestellt werden. Über eine derartige Betriebssteuerung lässt sich ein Fledermaus-freundlicher Betrieb der Anlagen erreichen. Dennoch laufen rund drei Viertel der WEA in Deutschland ohne diese Regulierung, da darauf abgestimmte Leitlinien erst nach deren Inbetriebnahme verabschiedet wurden. Ein Wissenschaftsteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) ermittelte nun exemplarisch, dass an derartigen alten WEA in zwei Monaten mehrere Hundert Tiere zu Tode kommen können.
An Anlagen mit Betriebssteuerung, die vergleichend untersucht wurden, starb im selben Zeitraum keine einzige Fledermaus. . In einem Aufsatz in der Fachzeitschrift „Naturschutz und Landschaftsplanung“ schließt das Autorenteam, dass der Betrieb alter WEA dringend dem aktuellen Regelwerk angepasst werden müsse, um bedrohte Fledermäuse wirksam zu schützen und drohenden Bestandsrückgängen entgegen zu wirken.
In einer aktuellen Untersuchung zeigt ein Team um PD Dr. Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie des Leibniz-IZW, dass an alten WEA mitunter erhebliche Schlagopferzahlen zu verzeichnen sind, eine Fledermaus-freundliche Betriebssteuerung aber eine wirksame Maßnahme darstellt, um Schlagopfer zu vermeiden. Das Autorenteam suchte in zwei Monaten während der Zugzeit von Fledermäusen regelmäßig an WEA zweier Windparks nach Schlagopfern. Die WEA des einen Windparks standen auf der offenen Feldflur und wurden ohne eine an Fledermaus-Aktivität angepasste Betriebssteuerung betrieben. An diesen alten WEA fand das Autorenteam 37 Schlagopfer. Die WEA des zweiten, neueren Windparks standen in einem Kiefernforst und wurden in Zeiten hoher Fledermausaktivität abgestellt. Dort fand das Team keine Fledermausschlagopfer. Da Kadaver in der Natur von Krähen und Füchsen abgesammelt werden und selbst erfahrene Teams nur etwa ein Drittel aller toten Fledermäuse auch finden, korrigierte das Team die Zahlen entsprechend und rechnete hoch, dass im zweimonatigen Untersuchungszeitraum mehrere Hundert Fledermäuse an einer einzelnen WEA ohne angepasste Betriebssteuerung sterben können.
„Unsere Gesellschaft ist mit zwei großen Umweltkrisen konfrontiert, der globalen Klimaerwärmung und dem Schwund der biologischen Vielfalt“, erläutert Voigt. „Manchmal verstärken Maßnahmen zur Bekämpfung der einen Umweltkrise das Ausmaß der zweiten Umweltkrise – so verhält es sich beim Ausbau der Windenergieproduktion, wenn durch Kollision an WEA Fledermäuse und Greifvögel versterben.“ Für Fledermäuse gäbe es jedoch eine praktikable Lösung, um dies zu vermeiden. Der Betrieb der Anlagen ließe sich so steuern, dass nur in Zeiten geringer Fledermausaktivität Windenergie produziert wird. Der Ertragsverlust der WEA würde lediglich 1-4 % der jährlichen Energieproduktion betragen, der Nutzen für die Natur wäre jedoch immens.
Fledermäuse sind in Deutschland nach nationalem und internationalem Recht streng geschützt. Fledermausarten mit hohem Kollisionsrisiko an WEA sind vielerorts im Bestand rückgängig. Das Verschwinden dieser Arten führt nicht nur zu einer Verarmung der Lebensräume, sondern auch zum Verlust von nützlichen Dienstleistungen dieser Fledermausarten für den gesamten Lebensraum. Gerade Fledermausarten mit hohem Kollisionsrisiko an WEA jagen im offenen Luftraum regelmäßig die Schadinsekten der Land- und Forstwirtschaft. Seit 2010 existieren entsprechende Länderleitfäden, die den naturschonenden Betrieb der WEA regeln und das Risiko für Kollisionen erheblich verringern sollen. „Es wäre ein logischer Schritt, wenn der Betrieb alter Anlagen, die vor der Erstellung der Länderleitfäden in Betrieb genommen wurden, dem aktuellen Wissensstand angepasst und dadurch Schlagopfer vermieden würden. Immerhin sprechen wir über mehr als 20.000 Windenergieanlagen, die auf dem deutschen Festland ohne Auflagen für den Fledermausschutz in Betrieb sind“, sagt Voigt.
„Nahezu jede der 37 toten Fledermäuse, die wir im Rahmen unserer Untersuchung an den zwei alten Windenergieanlage gefunden haben, wäre ein vermeidbares Opfer gewesen“, sagt die Erstautorin des Aufsatzes, Dr. Carolin Scholz vom Leibniz-IZW. „Wir müssen zudem davon ausgehen, dass die 37 Schlagopfer nur ein Teil der tatsächlich getöteten Fledermäuse sind.“ Um die Effizienz des Suchteams und die „Abtragrate“ von Kadavern durch Krähen und Füchse zu ermitteln, führten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Experimente durch. Um die Sucheffizienz zu ermitteln, wurden Mäusekadaver auf den Flächen ausgelegt, die vom Suchteam dann gesucht werden mussten. Darüber hinaus ermittelten sie, wie lange Mäusekadaver, die zufällig unter den Anlagen verteilt wurden, vor Ort verbleiben. „Wir stellten fest, dass selbst erfahrene Sucher nur ungefähr ein Drittel der Schlagopfer fanden. Außerdem verschwanden an den Windenergieanlagen, die auf der offenen Feldflur standen, nahezu alle Kadaver innerhalb von 24 Stunden“, erläuterte Scholz. „Möglicherweise führen die hohen Schlagopferzahlen an den untersuchten alten Windenergieanlagen dazu, dass Krähen und Füchse die Flächen relativ häufig absuchen. Dadurch kann sich die Zahl der vom Suchteam gefundenen Fledermausschlagopfer drastisch reduzieren.“
Wenn man die Sucheffizienz und die Kadaver-„Abtragsrate“ berücksichtigt, ergab sich für die alten WEA eine geschätzte Schlagopferzahl von mehreren Hundert Tieren im zweimonatigen Zeitraum. An den neueren WEA, die mit Betriebssteuerung zum Fledermausschutz liefen, ergab die Auswertung, dass keine Fledermäuse zu Tode kamen. „Die von uns ermittelten hohen Verluste für Fledermäuse an alten Windenergieanlagen sind alarmierend; auch wenn die Werte nicht notwendigerweise auf alle alten Windenergieanlagen übertragen werden können. Unsere Untersuchung zeigt auf, dass durch alte Windenergieanlagen potenziell großer ökologischer Schaden angerichtet wird“, so Voigt. Dieser ökologische Schaden ließe sich auf einfache Weise vermeiden, indem der Betrieb alter WEA dem aktuellen Regelwerk angepasst wird. Dies würde nicht nur die Zahl der Schlagopfer reduzieren, sondern auch die Akzeptanz des Windenergieausbaus in Naturschutzkreisen erheblich verbessern, so die Autorinnen und Autoren. Sie plädieren daher dafür, dass der Betrieb alter Anlagen rasch dem aktuellen Regelwerk – beispielsweise im Hinblick auf verpflichtende Abschaltungen in Zeiten hoher Fledermausaktivität – angepasst wird.
Originalpublikation:
Scholz C, Ittermann L, Brunkow N Voigt CC (2023): Fehlende Betriebssteuerungen zum Fledermausschutz können an alten Windenergieanlagen hohe Schlagopferzahlen verursachen. Naturschutz und Landschaftsplanung.
01.08.2023, Deutsche Wildtier Stiftung
Fliegende Edelsteine: Der August ist der Monat der Libellen
Die Insekten sind ein guter Indikator für den Zustand von Feuchtgebieten
Sie schimmern blau oder glänzen golden im Sonnenlicht, manche Arten tragen schwarze, extravagante Netzmuster, andere sind von Kopf bis Fuß in kräftiges Rot gehüllt: Libellen sind Hochsommertiere – und spätestens jetzt im August sind auch die letzten ihrer Art geschlüpft. Libellen brauchen Feuchtgebiete. Sie verbringen einen Großteil ihres Lebens als Larven in Gewässern und auch die Eiablage findet dort statt. Manche Larven – die der blaugrünen Mosaikjungfer beispielsweise – leben sogar zwei bis drei Jahre in einem Teich, bevor sie an einer Uferpflanze ihre letzte Hülle abstreifen. „Werden die Sommer immer trockener, so wie wir es momentan erleben, haben es einige heimische Libellenarten schwer“, sagt Sophia Lansing, Biologin bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Denn es gibt zwar Libellenarten wie die Feuerlibelle, die ursprünglich aus südlichen Ländern kommen und sich mittlerweile auch bei uns wohlfühlen. Die Arten, die in unseren heimischen Mooren leben, verschwinden aber in dem Maße, wie ihr Lebensraum vertrocknet.
Libellen sagen also viel über den Zustand eines Feuchtgebiets aus. „Wo sich Libellen aufhalten, ist ein Moor noch nass“, erklärt Lansing. Um herauszufinden, wie es um die Stiftungsfläche Aschhorner Moor im Landkreis Stade steht, hat die Deutsche Wildtier Stiftung daher dort ein Libellen-Monitoring initiiert. Das Ergebnis: Hier leben gleich drei Segellibellenarten, die auf der deutschen Roten Liste der wirbellosen Tiere als „gefährdet“ geführt werden: die Kleine Moosjungfer (Leucorrhinia dubia), dieGroße Moosjungfer (Leucorrhinia pectoralis)und die Nordische Moosjungfer(Leucorrhinia rubicunda). Im Aschhorner Moor profitieren sie von den Wiedervernässungsmaßnahmen und den vielen unterschiedlichen Strukturen des Wildnisgebiets. „Die Kleine Moosjungfer mag beispielsweise die Bereiche mit schwimmenden Torfmoosen sehr“, sagt Sophia Lansing.
Daneben konnten die Kartierer auf dem knapp 500 Hektar großen Gebiet eine Vielzahl nicht gefährdeter Libellenarten verzeichnen. Darunter Kleinlibellenarten wie die Becher-, Hufeisen- und Fledermaus-Azurjungfer und die Gewöhnliche Binsenjungfer sowie die Segellibelle Großer Blaupfeil, die Großlibelle Vierfleck und die Edellibelle Große Königslibelle. Und auch die Plattbauchlibelle (Libellula depressa), die viele Gartenbesitzer von neu angelegten Teichen her kennen, ist im Aschhorner Moor zu finden.
Seit 2022 ist die Stiftung in Besitz des Aschhorner Moors in Niedersachsen. Der Kauf wurde durch den Wildnisfonds des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) gefördert. Darüber hinaus schützt die Deutsche Wildtier Stiftung viele Feuchtgebiete auf anderen Stiftungsflächen, beispielsweise im niedersächsischen Fintel oder auf diversen Liegenschaften in Mecklenburg-Vorpommern. Alle Stiftungsflächen und Maßnahmen finden Sie hier: https://www.deutschewildtierstiftung.de/stiftungsflaechen/unser-flaecheneigentum.
Die Libellenerfassung im Aschhorner Moor wurde mithilfe der VILSA-BRUNNEN Otto Rodekohr GmbH finanziert.
02.08.2023, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart
Neuer Urwal ist ein Anwärter auf das schwerste Tier aller Zeiten.
Ein internationales Wissenschaftler*innen-Team um Dr. Eli Amson, Paläontologe Naturkundemuseum Stuttgart, hat das fossile Skelett einer neuen Art der frühesten Wale entdeckt und erforscht. Diese Verwandten der heutigen Wale, Delfine und Schweinswale lebten bereits vor ungefähr 39 Millionen Jahren vollständig in küstennahen Gewässern und hatten enorme Körpermassen. Die neue Art trägt den Namen Perucetus colossus, „der kolossale Wal aus Peru“. Der Urwal ist ein Anwärter auf den Titel des „schwersten Tiers aller Zeiten“. Die Forschungsergebnisse des Wissenschaftler*innen-Teams sowie die Beschreibung der neuen Art Perucetus colossus wurden in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.
Der Fund liefert neue Erkenntnisse zur Evolution der Wale:
Die Entdeckung einer riesigen Art, wie Perucetus colossus, die von einer starken Zunahme der Knochenmasse betroffen ist, verändert das Verständnis der Wal-Evolution. Erstmals zeigen die Untersuchungen der Forschenden, dass die gigantischen Körpermassen der Wale bereits 30 Millionen Jahre früher erreicht wurden, als bisher angenommen. Die Zunahme der Knochenmasse ist eine Anpassung an das Leben im Wasser, die auch heute bei flach tauchenden Küstentieren zu beobachten ist. Bisher wurde der evolutionäre Übergang zu echtem Gigantismus bei Walen, wie er bei den modernen Bartenwalen – z.B. dem Blauwal – zu beobachten ist, als ein relativ junges Ereignis angesehen, das vor etwa 10 Millionen Jahren stattfand. Darüber hinaus handelt es sich bei diesen gigantischen Arten um Tiere, die im Gegensatz zu dem neu beschriebenen Urzeit-Wal, im offenen Meer leben.
„Für uns ist eines der entscheidenden Ergebnisse unserer Arbeit, dass sich der Übergang zu echtem Gigantismus bei Walen viel früher in der Erdgeschichte entwickelte, als wir bisher dachten. Perucetus colossus kombiniert eine gigantische Größe mit extrem hohem Knochengewicht und lebte bereits vor 39 Millionen Jahren. Dieser frühe Wal verschiebt die bisher bekannte Obergrenze der Skelettmasse bei Säugetieren und im Wasser lebenden Wirbeltieren drastisch. Möglicherweise ist er auch das schwerste jemals beschriebene Tier“, so Dr. Eli Amson vom Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart.
Anpassung an das Leben in küstennahen Gewässern:
Die Fossilien von Walen und Delfinen belegen, wie sich Landtiere in ihrer Evolution extrem anpassen und zu einem Leben im Wasser übergehen. Der Auftrieb wird in der Folge zu einem entscheidenden Aspekt ihrer Biologie. „Bereits gut bekannt sind die Veränderungen der Knochenmasse bei Säugetieren, die meist in flachen Küstengewässern leben, wie beispielsweise den Seekühen. Das zusätzliche Gewicht hilft diesen Tieren, ihren Auftrieb zu regulieren und sich unter Wasser zu halten, ähnlich wie der Bleigürtel bei Tauchern. Bei modernen Walen, die in viel größere Tiefen tauchen können und weit vor der Küste leben, ist die Knochenstruktur im Gegensatz dazu viel leichter“, so Dr. Eli Amson. Das enorme Gewicht von Perucetus ist auf zwei Veränderungen des Skeletts zurückzuführen: Die Anlagerung zusätzlicher Knochenmasse an der Außenseite der Skelettelemente und die Erhöhung der Knochendichte, wodurch das Skelett schwerer wird.
Ein Koloss mit geschätzten 85 bis 340 Tonnen:
Bereits vor 10 Jahren wurden das Fossil von Perucetus colossus in der Wüste an der Südküste Perus von einem der Autoren, dem Paläontologen Mario Urbina, entdeckt. In der Folge waren mehrere Feldkampagnen erforderlich, um die Teile des kolossalen Skeletts zu bergen. Jeder Wirbel des Funds wiegt weit über 100 kg und die Rippen des Urzeit-Wals erreichen eine Länge von 1,4 Metern. Mit fünf bis acht Tonnen ist das 20 m lange Skelett der neuen Art zwei- bis dreimal so schwer wie das 25 m lange Skelett eines Blauwals, das in der Hintze Hall des Natural History Museums in London ausgestellt ist.
Um das Gewicht eines lebenden Exemplars von Perucetus colossus zu schätzen, wurden verschiedene Untersuchungen durchgeführt. Das Wissenschaftler*innen-Team scannte zunächst die geborgenen und präparierten Knochen, um ihr Volumen zu messen und führte Kernbohrungen durch, um die innere Knochenstruktur zu beurteilen. Ebenso wurden vollständig erhaltene Skelette von nahen Verwandten in die Analyse mit einbezogen. Zur Rekonstruktion der Körpermasse von Perucetus verwendeten die Autoren das bei lebenden Meeressäugern bekannte Verhältnis von Weichteil- zu Skelettmasse. Mit den sich daraus ergebenden Schätzungen zwischen 85 und 340 Tonnen liegt das Gewicht der neuen Art in der Größenordnung des Blauwals oder möglicherweise darüber.
Originalpublikation:
Giovanni Bianucci, Olivier Lambert, Mario Urbina, Marco Merella, Alberto Collareta, Rebecca Bennion, Rodolfo Salas-Gismondi, Aldo Benites-Palomino, Klaas Post, Christian de Muizon, Giulia Bosio, Claudio Di Celma, Elisa Malinverno, Pietro Paolo Pierantoni, Igor Maria Villa, Eli Amson. A heavyweight early whale pushes the boundaries of vertebrate morphology. Nature, 02.08.2023.
https://www.nature.com/articles/s41586-023-06381-1
DOI: 10.1038/s41586-023-06381-1
03.08.2023, Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) e. V.
Flugtraining von Sisi und Nepomuk im Nationalpark Berchtesgaden
Ausgewilderte junge Bartgeier entwickeln sich hervorragend – Bartgeierdamen der Vorjahre erkunden die Alpenregionen
Die in diesem Jahr vom bayerischen Naturschutzverband LBV (Landesbund für Vogel- und Naturschutz) und dem Nationalpark Berchtesgaden ausgewilderten Bartgeier Sisi und Nepomuk haben sich beeindruckend entwickelt, nachdem sie Ende Juni überraschend früh ihre Felsnische verlassen und zu ihren ersten Flügen aufgebrochen sind. „Wie üblich in diesem Projekt müssen sich die beiden Vögel ohne elterliche Unterstützung völlig selbständig entwickeln. Bei der Nahrungssuche, der Wahl sicherer Schlafplätze und dem Trainieren ihrer Flugfähigkeiten beweisen diese beiden eine bemerkenswerte Lernfähigkeit“, sagt der LBV-Bartgeier-Experte Toni Wegscheider. Die drei in den Vorjahren ausgewilderten Bartgeier sind ebenfalls wohlauf und erkunden die Alpen. Dank GPS-Sendern auf dem Rücken der Vögel können Bartgeier-Fans die Flugrouten der Geier durch Europa online mitverfolgen unter www.lbv.de/bartgeier-auf-reisen.
Die Projektmitarbeitenden von LBV und Nationalpark Berchtesgaden zeigen sich mit der Entwicklung von Sisi und Nepomuk sehr zufrieden. „Beide haben bereits wenige Tage nach ihren Erstflügen in der Halsgrube selbstständig und fernab der von uns eingerichteten Futterplätze ein natürlich verendetes Wildtier entdeckt und daran gefressen. Derartiges Verhalten hat bei den Vorgängerinnen teilweise Monate gedauert“, sagt Toni Wegscheider. Sisi zeigt schon sehr jung erfreuliche Flugfähigkeiten und segelt gelegentlich auf über 2.000 Meter Höhe in die Gipfelregionen der Reiteralm im Nationalpark Berchtesgaden. Ihre Flüge werden immer eleganter und sicherer. „Der acht Tage jüngere Nepomuk hingegen verhält sich eher vorsichtig und bleibt noch nahe an der Auswilderungsnische. Täglich können Wandernde ihn dort bei vielen kurzen Flügen beobachten, bei denen er sich oft am Verhalten von Sisi orientiert. Er folgt ihr zu dem von uns ausgelegtem Futter oder zu Ruheplätzen“, so Nationalpark-Projektleiter Ulrich Brendel.
Zwei von drei im Gebiet der Nische regelmäßig von LBV-Mitarbeitenden und Nationalpark-Rangern bestückten Futterplätze haben die beiden Bartgeier schon entdeckt. Als Aasfresser üben die beiden Vögel neben dem Fressen großer Knochen auch das Zerlegen von Nahrungsstücken. „Das Bartgeier-Team konnte beobachten, wie Sisi und Nepomuk bereits Knochen in ihren Krallen transportieren. Dieses Verhalten stellt eine wichtige Vorstufe zum später ausgeübten Abwurf von großen Knochen aus deutlicher Höhe auf Felsen dar, durch den zu große Stücke in schnabelgerechte Teile zerbrochen werden können, eine für Bartgeier essenzielle Fähigkeit“, erklärt Ulrich Brendel.
Außergewöhnlich im Rahmen des europaweiten Auswilderungsprojekts ist die weiterhin enge Bindung der beiden Vögel zueinander. „Sisi und Nepomuk reichen sich gelegentlich gegenseitig Futterstücke, schlafen oder ruhen nahe beieinander und zeigen ab und zu elegante Synchronflüge“, berichtet Toni Wegscheider. Bartgeier sind grundsätzlich Einzelgänger, doch in den ersten Jahren sind Jungvögel tendenziell sozial und bilden gelegentlich für einige Zeit kleine Trupps aus zwei bis drei Vögeln, um sich zum Beispiel gegenseitig bei der Nahrungssuche zu helfen. Alle bisher im Nationalpark Berchtesgaden ausgewilderten Jungvögel haben ein auffällig friedliches Miteinander entwickelt. Die Bartgeier-Experten führen das auf die recht große Auswilderungsnische zurück, bei der sich die Vögel bei Reibereien recht gut aus dem Weg gehen können.
Weltenbummlerin Dagmar tourt durch Frankreich, Italien und die Schweiz
Die 2022 im Nationalpark Berchtesgaden ausgewilderte Dagmar übersiedelte nach ausgiebiger Inspektion des österreichischen und italienischen Alpenraumes Ende März in die Schweiz, wo sie hauptsächlich im Bereich zwischen Engelberg und Grindelwald sowie den Viertausendern Schreckhorn, Mönch und Jungfrau unterwegs war. „Heranwachsende Bartgeier haben einen großen Wanderdrang und erschließen sich dabei immer wieder neue Nahrungsquellen. Die GPS-Daten von Dagmar zeigen uns regelmäßige, teils streckenreiche Erkundungsflüge mit bis zu 400 Kilometer Leistung pro Tag. Sobald sie einen Kadaver findet, bleibt sie einige Wochen in dessen Gegend“, sagt Toni Wegscheider. Mitte Juni zog es Dagmar nach Süden Richtung Genfer See und schließlich in die französischen Alpen rund um die Gipfel und Täler des Nationalpark La Vanoise. Sie besuchte auch öfter das angrenzende Aostatal auf italienischer Seite. Aktuell ist die reiselustige Bartgeierdame nun wieder in die Schweizer Berge zurückgekehrt.
Bavaria und Recka unterwegs im Tennengebirge
Während Dagmar intensiv die Alpenländer erkundet, sind ihre beiden Artgenossinnen Recka und Bavaria vergleichsweise standorttreu und überraschend gesellig. Seit Anfang März bilden die beiden eine „Wohngemeinschaft“ am südwestlichen Rand des österreichischen Tennengebirges nahe des Nationalparks Berchtesgaden. „Die im Vorjahr ausgewilderte Recka durchstreifte bereits im Winter die wildreichen Hänge und Rinnen des Salzachtals, und auch unser ältester Bartgeier Bavaria war immer wieder im Gebiet zwischen Bluntautal, Jenner und dem angrenzendem Tennengebirge unterwegs“, berichtet Nationalpark-Projektleiter Ulrich Brendel. Im Juni verbrachte Recka auch einige Tage im Dachsteingebirge sowie am Wilden Kaiser, doch sie kehrte nach kurzer Zeit ins Tennengebirge und zu Bavaria zurück.
Die aktuellen Flugrouten der drei deutschen Bartgeier-Damen sowie die kommenden Ausflüge von Sisi und Nepomuk, sobald sie im Spätsommer das Klausbachtal verlassen haben, können auf der Webseite des LBV mitverfolgt werden unter www.lbv.de/bartgeier-auf-reisen.
Offizielle Bartgeier-Führungen
Am offiziellen Bartgeier-Infostand im Nationalpark an der Halsalm, der auf einer Wanderroute liegt, können sich alle Gäste täglich von 10 bis 16 Uhr bei den Projektmitarbeitenden erkundigen, wo genau sich Sisi und Nepomuk gerade aufhalten und wo man sie beim Beobachten am wenigsten stört. Sowohl der LBV als auch der Nationalpark Berchtesgaden bieten jeden Dienstag und Donnerstag kostenlose Bartgeier-Führungen an, für die jedoch eine Anmeldung erforderlich ist. Informationen gibt es unter www.nationalpark-berchtesgaden.bayern.de im Bereich Veranstaltungen sowie unter bartgeier@lbv.de.