Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

21.06.2021, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Umwelt-DNA bestätigt, dass ein Großteil der Tiefsee-Fauna in der Clarion-Clipperton-Zone unentdeckt ist
Senckenberg-Wissenschaftler*innen haben mit einem internationalen Team die Vielfalt am Meeresgrund eines potentiellen Abbaugebietes für Manganknollen im pazifischen Ozean untersucht. Die Forschenden analysierten hierfür die Umwelt-DNA aus über 300 Sedimentproben. Sie zeigen in ihrer im Fachjournal „Frontiers in Marine Science“ erschienenen Studie, dass mindestens 60 Prozent der am Boden lebenden Foraminiferen, schalentragende Einzeller, genannt Kammerlinge, und ein Drittel aller Eukaryoten, Lebewesen mit Zellkern, noch unbeschrieben sind.
Die Tiefsee zu erforschen ist kein leichtes Unterfangen: Expeditionen sind aufwendig zu organisieren, die Probenahmen sind kostspielig und nur bei geringem Seegang möglich, die zu untersuchenden Areale können in der Regel nicht sehr groß sein. „Neben der notwendigen und zeitaufwändigen Analyse der Organismen benötigen wir auch andere und schnellere Methoden, mit denen wir zusätzlich die biologische Vielfalt in der Tiefsee ermitteln können“, erklärt Prof. Dr. Angelika Brandt vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum in Frankfurt und fährt fort: „In unserer neuen Studie haben wir mithilfe von Umwelt-DNA aus Sedimenten der Clarion-Clipperton-Zone – einem potentiellen Abbaugebiet für mineralische Rohstoffe – sowie anderen Tiefseeregionen weltweit die bodenlebende Tiefsee-Fauna untersucht.“
Die sogenannte Umwelt-DNA oder eDNA wird nicht direkt aus Organismen extrahiert, sondern aus Umweltproben, wie Wasser oder Sedimenten, gewonnen. Mithilfe dieses Erbgutes kann die Dynamik von Ökosystemen und Populationen einzelner Arten untersucht werden. „Wir haben die Umwelt-DNA aus 310 Sedimentproben aus der Clarion-Clipperton-Zone und weiteren Tiefseegebieten analysiert. Die Ergebnisse unterstreichen, dass die Biodiversität der Tiefsee noch nahezu unbekannt ist“, so der Mitautor der Studie Prof. Dr. Pedro Martínez Arbizu von Senckenberg am Meer.
Die Analyse der Forschenden zeigt, dass über 60 Prozent der benthischen Foraminiferen und fast ein Drittel der eukaryotischen Lebewesen keiner bislang erfassten Art zugeordnet werden kann. „Wir konnten außerdem darlegen, dass die Vielfalt in den potentiellen Seebergbaugebieten im Vergleich zu anderen Tiefseegebieten besonders hoch ist“, ergänzt die Frankfurter Meeresforscherin.
Die Wissenschaftler*innen kommen in ihrer Studie zu dem Schluss, dass die Umwelt-DNA grundsätzlich eine für den Einsatz in der Tiefsee geeignete Methode ist. „Die Daten geben uns einen guten Überblick wie viele schon bekannte sowie bislang unerforschte Tiere auf dem Meeresboden leben sowie einen Einblick in die Regionen, in denen einen besonders hohe Biodiversität vorliegt – das ist unerlässlich, um die Auswirkungen des Tiefseebergbaus auf dieses fragile Ökosystem zu verstehen“, fasst Martínez zusammen.
Originalpublikation:
Lejzerowicz F, Gooday AJ, Barrenechea Angeles I, Cordier T, Morard R, Apoth loz-Perret-Gentil L, Lins L, Menot L, Brandt A, Levin LA, Martinez Arbizu P, Smith CR and Pawlowski J (2021) Eukaryotic Biodiversity and Spatial Patterns in the Clarion-Clipperton Zone and Other Abyssal Regions: Insights From Sediment DNA and RNA Metabarcoding. Front. Mar. Sci. 8:671033. doi: 10.3389/fmars.2021.671033

22.06.2021, Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie
Eine Blaupause für die schnelle Entwicklung der Arten
Eine soeben in Science Advances erschienene Studie beschreibt die genomischen Veränderungen, die schnelle Evolution von Süßwasserstichlingen vorantreiben. Die Forschungsergebnisse erhellen auch, auf welchen genetischen Veränderungen natürliche Selektion bei anderen Arten beruht.
Im Süßwasser lebende Dreistachelige Stichlinge haben sich in tausenden Süßwasserseen der nördlichen Hemisphäre aus ihren marinen Vorfahren entwickelt. Dieser Prozess fand unabhängig in verschiedenen Seen statt und ist somit ein paradigmatisches Beispiel für parallele Evolution. Obwohl er ursprünglich bereits von 12 00 Jahren stattfand, kann er man ihn immer noch wiederholen und untersuchen. Bemerkenswerterweise vollziehen sich die Adaptionen an Süßwasser bereits innerhalb von Jahrzehnten, was Forschenden eine einzigartige Gelegenheit gibt, die Anpassung von Wirbeltieren tatsächlich in natürlicher Umgebung zu beobachten.
Ein internationales Wissenschaftlerteam, unter anderem bestehend aus Krishna Veeramahs Forschergruppe an der Stony Brook University (New York), David Kingsleys Gruppe an der Stanford University California und Felicity Jones’ Gruppe am Friedrich-Miescher-Laboratorium der Max-Planck-Gesellschaft in Tübingen setzte Meeresstichlinge in Seen in Alaska um und beobachtete mehrere Jahre lang , wie sie sich auf ihren neuen Lebensraum im Süßwasser anpassten. Anschließend sequenzierten die Forschenden das gesamte Genom der Fische, die sich über die Jahre hinweg mehr und mehr auf Süßwasser eingestellt hatten. Sie konnten Hunderte Genomveränderungen feststellen, die der schnellen Anpassung zugrundeliegen.
Einblicke in evolutionären Mechanismen für verschiedene Zweige des Baums des Lebens
“Durch die Untersuchung schneller Veränderungen der genetischen Variation bei Stichlingen über eine kleine Anzahl von Generationen hinweg haben wir die genomischen Merkmale identifiziert, die für eine schnelle Anpassung an neue Umgebungen wichtig sind. Wir konnten zeigen, dass man mithilfe dieser Merkmale auch für andere, entfernte Arten wie beispielsweise Darwinfinken den Genlocus von Merkmalen vorhersagen kann, die durch natürliche Auslese begünstigt werden,“ erläutert Felicity Jones, Mitautorin der Studie. „Unsere Untersuchung hebt hervor, dass die genomischen Mechanismen der Anpassung von Stichlingen auch im Allgemeinen der Anpassung von Arten zugrundeliegen und sie formen.“
Obwohl Evolution sich nicht im Sinne einer exakten Wissenschaft vorhersagen lässt, sind die Autorinnen und Autoren der Studie überzeugt, dass ihre Erkenntnisse über Süßwasser-Stichlinge wichtige Einblicke in die Genomik der Evolution von Wirbeltieren liefert und Aufschlüsse darüber gibt, wie die Evolution in Zukunft vonstattengehen könnte – gleichgültig für welche Spezies.
Originalpublikation:
Garrett A. Roberts Kingman, Deven N. Vyas, Felicity C. Jones, Shannon D. Brady, Heidi I. Chen, Kerry Reid, Mark Milhaven, Thomas S. Bertino, Windsor E. Aguirre, David C. Heins, Frank A. von Hippel, Peter J. Park, Melanie Kirch,
Devin M. Absher, Richard M. Myers, Federica Di Palma, Michael A. Bell, David M. Kingsley, and Krishna R. Veeramah:
Predicting future from past: The genomic basis of recurrent and rapid stickleback evolution. Science Advances 18 Jun 2021:Vol. 7, no. 25, eabg5285, DOI: 10.1126/sciadv.abg5285

22.06.2021,Universität Duisburg-Essen
Dem Affen in die Augen geschaut – Annahme zum Blickkontakt infrage gestellt
Das Weiße in unserem Auge ist etwas Besonderes. Die Lederhaut ist nicht pigmentiert, weshalb wir gut verfolgen können, wohin unser Gegenüber schaut. Die Natur hat das so eingerichtet, damit wir besser miteinander kommunizieren können. Diese traditionelle Sichtweise fordert nun ein Team der Universität Duisburg-Essen (UDE) und der Universität Zürich mit einer neuen Studie heraus. Die Forschenden aus Zoologie und Anthropologie haben sich das Kommunikationsverhalten und die Augenfarbe bei Menschenaffen angeschaut. Einen Zusammenhang sehen sie hier nicht. Die Ergebnisse sind soeben im internationalen Fachjournal „Nature – Scientific Reports“ erschienen.*
Seit langem geht die Wissenschaft davon aus, dass der Kontrast von heller Lederhaut (Sklera) und dunkler Iris dazu da ist, effektiv Blicksignale zu vermitteln. „Ein Teil dieser Hypothese fußt auf der Vorstellung, dass unter den Primaten nur der Mensch über eine weiße Sklera verfügt“, sagt Studienleiter und Zoologe Kai Caspar (UDE). „Dafür lagen bisher aber nur wenige vergleichende Daten vor. Deshalb haben wir anhand von Fotos die Sklera-Pigmentierung von über 380 so genannter Hominoiden aus 15 Arten angeschaut und Kontrastwerte verglichen. Darunter waren Menschen, große Menschenaffen wie Schimpansen und Orang-Utans sowie Gibbons, die kleinen Menschenaffen.“
Obwohl alle Hominoiden eng verwandt sind, verständigen sie sich sehr unterschiedlich. UDE-Zoologe Caspar sagt: „Anders als bei uns Menschen spielen Blicke für große Menschenaffen nur eine untergeordnete Rolle, für die kleineren Arten scheinen sie gar keine kommunikative Bedeutung zu haben. Dementsprechend stark müssten also Unterschiede in der Pigmentierung ausfallen, wenn die Annahme stimmte: Je heller die Lederhaut, desto mehr wird mit den Augen ‚gesprochen‘.“
So ist es aber nicht, konnte die Studie zeigen. Weder ist das Weiße im menschlichen Auge einzigartig, noch lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen Sklera-Farbe und kommunikativen Zwängen. „Die Kontrastierung unserer Augen unterscheidet sich nicht signifikant von der anderer Menschenaffen, etwa dem Sumatra-Orang-Utan. Interessanterweise kann die Sklera-Pigmentierung aber innerhalb derselben Affenart manchmal sehr variabel sein. Beim Menschen hingegen gibt es nur Weiß. Das ist in diesem Extrem schon ungewöhnlich.“
Die gängige Annahme, dass die Aufhellung unserer Lederhaut zwecks effektiver Verständigung entstand, verwerfen die Zoologen um Kai Casper gänzlich. Sie vermuten dahinter stattdessen evolutionäre Mechanismen wie die genetische Drift oder die sexuelle Selektion: „Sie haben womöglich dazu geführt, dass das Erscheinungsbild unserer Augen sich von dem unserer nächsten Verwandten unterscheidet.“
Originalpublikation:
* Kai R. Caspar, Marco Biggemann, Thomas Geissmann & Sabine Begall: Ocular pigmentation in humans, great apes, and gibbons is not suggestive of communicative functions, Nature Scientific Reports 11, 12994 (2021). https://doi.org/10.1038/s41598-021-92348-z

23.06.2021, Landesbund für Vogelschutz in Bayern (LBV) e. V.
Kenntnis der heimischen Vogelarten vom Aussterben bedroht
Deutschlandweit erste Studie zur Artenkenntnis bei Erwachsenen in Bayern vorgestellt – Mitglieder von Umweltverbänden erkennen mehr Arten
Neben dem ungebremsten Rückgang der Artenvielfalt ist auch die Kenntnis um unsere heimischen Arten vom Aussterben bedroht. Dies zeigt eine aktuelle Befragung der bayerischen Bevölkerung durch Studierende der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf (HSWT) im Auftrag des LBV. Das Fazit der beiden HSWT-Studenten Benjamin Schmid und Pirmin Enzensberger: Erwachsene im Freistaat erkennen weniger als die Hälfte der heimischen Gartenvögel und können diese auch richtig benennen. „Was sich schon bei den Kindern andeutete, zeigt diese erste, repräsentative forsa-Studie über die Artenkenntnis bei Erwachsenen noch einmal sehr deutlich: Je jünger die Altersgruppen der Erwachsenen sind umso geringer die Artenkenntnis“, so Prof. Volker Zahner, Wildtierökologe der HSWT. Die beiden Studenten fanden zudem heraus, dass Gartenbesitzer*innen und Mitglieder von Umwelt- und Naturschutzverbänden eine höhere Artenkenntnis besitzen. „Die Studie zeigt klar, dass Naturschutzverbänden wie dem LBV eine wichtige Rolle zufällt, diesem Negativtrend des Verlustes der Artenkenntnis in der Bevölkerung entgegenzuwirken“, so Dr. Norbert Schäffer, der Vorsitzende des bayerischen Naturschutzverbands LBV.
Täglich verschwinden Arten von unserem Planeten. Auch in Bayern werden viele Tier- und Pflanzenarten auf der Roten Liste als stark gefährdet eingestuft und manche sterben aus. Zugleich nimmt die Zahl der Menschen, die die Tier- und Pflanzenarten unserer Lebensräume noch kennen, dramatisch ab. Eine repräsentative forsa-Studie zur Artenkenntnis an 1.003 Teilnehmenden aus Bayern im Alter von 18 bis über 60 Jahren bestätigt, dass vor allem die jüngere Bevölkerung nur noch wenige Vogelarten kennt. „Durchschnittlich erkannten Teilnehmende der Onlinebefragung sechs von 15 Arten, also 40 Prozent, und konnten diese auch richtig benennen. Dabei punkteten hauptsächlich die über 60-Jährigen“, so Benjamin Schmid und Pirmin Enzensberger. Insgesamt erkannten nur fünf von 1.003 Befragten alle 15 Vogelarten, 45 erkannten keinen einzigen Vogel. Die Studie war an den so genannten BISA-Test angelehnt, bei dem bayerische Kinder und Jugendliche aus allen Schularten im Schnitt nur vier der 15 häufigsten einheimischen Singvogelarten benennen konnten. Dieser wurde 2007 von Prof. Volker Zahner und 2018 von Thomas Gerl durchgeführt (siehe auch PM 107-28 des LBV vom 13.12.2018).
Selbst die häufigsten Vogelarten in den bayerischen Gärten, wie sie bei der Zählung zur Stunde der Garten- und Wintervögel erfasst werden, konnten von dieser Stichprobe der bayerischen Bevölkerung nicht richtig benannt werden. Der Buchfink, der in gut einem Drittel aller bayerischen Gärten vorkommt, wurde nur von jedem zehnten Teilnehmenden richtig erkannt. „Selbst der Haussperling, der häufigste Gartenvogel Bayerns, ist nicht einmal einem Drittel der Teilnehmenden bekannt. Zumindest nicht unter seinem korrekten Namen. Die meisten nannten ihn Spatz oder Sperling oder verwechselten ihn mit seinem Cousin dem Feldsperling“, so Schmid und Enzensberger. Der kleine Erlenzeisig, der vor allem im Winter oft in großer Zahl auftritt, erzielte mit Abstand die geringste Bekanntheit. Einzig die Amsel erfreut sich einer hohen Bekanntheit, die auch ihrem häufigen Vorkommen in Bayerns Gärten entspricht.
Mitglieder von Natur- und Umweltschutzverbänden verfügen bereits über eine signifikant höhere Artenkenntnis als andere Teilnehmende. Vor allem Mitglieder des LBV übertrafen andere Befragte und schnitten laut der Studie unter den Mitgliedern der Umweltverbände besonders gut ab: sie erkannten im Durchschnitt zwei Drittel der Vogelarten. „Unsere Angebote wie Exkursionen, Kurse und Workshops sowie unsere Mitmach-Aktionen wie die Stunde der Winter- oder Gartenvögel, bei denen erlerntes Wissen angewandt werden kann, sind daher von immenser Bedeutung, um Artenkenntnis zu fördern“, so Norbert Schäffer.
„Die schwindende Artenkenntnis beunruhigt uns Naturschützer, da sie auch direkt mit einem Verlust an Lebensqualität einhergeht. Das belegen neue wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass Vogelbeobachtung Freude und Artenvielfalt sogar glücklich macht“, erklärt Schäffer. Erfreulich ist, dass viele Befragte angaben, ihre Artenkenntnis gerne verbessern zu wollen. Das Studienergebnis bedeutet somit auch, dass den Natur- und Umweltschutzverbänden eine große Aufgabe zukommt, Angebote zu schaffen, die die Artenkenntnis nicht nur hinsichtlich von Vögeln, sondern auch anderer Tier- und Pflanzenarten erhöhen. Von der Ausbildung zu Artenkennern können die Natur- und Umweltschutzvereine wiederum ihrerseits profitieren. Wie die Studie zeigt, nehmen Befragte mit hoher Artenkenntnis an Citizen-Science-Projekten teil, füttern Vögel, halten den Erhalt von Artenvielfalt für sehr wichtig und haben eine höhere Spendenbereitschaft. „Eine Verbesserung der Kenntnis heimischer Vogelarten in der bayerischen Bevölkerung kann also langfristig zum Schutz der bayerischen Vogelwelt und ihrer Lebensräume beitragen“, so Schäffer.
Die Studie der Studierenden zeigt auch: Teilnehmende, die Zeit im Garten verbringen, und sich in der Natur aufhalten, schnitten bei der Befragung zur Artenkenntnis deutlich besser ab. Sie erkannten im Schnitt 1,5 Vogelarten mehr als Teilnehmende ohne Bezug zur Natur. „Dem Lebensraum Garten kommt eine immer bedeutendere Rolle im Siedlungsgebiet zu. Einerseits schafft eine naturnahe Gestaltung unserer Gärten wichtige Rückzugsorte für Wildtiere, andererseits zeigt diese Studie, dass Gärten ein wichtiger Ort für Menschen sind, heimische Arten kennenzulernen und Naturerfahrungen zu sammeln“, sagt der LBV-Vorsitzende weiter.
Das gemeinsame Projekt zur Vogelartenkenntnis wird von der Stiftung Bayerischer Naturschutzfonds aus Zweckerträgen der GlücksSpirale gefördert.

23.06.2021, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Exklusive Mitflugzentrale: Zugvögel helfen nur bestimmten Pflanzenarten in den Norden abzuwandern
Mit Hilfe von Zugvögeln in den Norden umziehen, wenn es im Süden durch den Klimawandel zu warm wird – eigentlich eine tolle Idee für wenig mobile Pflanzen. Eine neue Studie im Fachjournal „Nature“ zeigt nun, dass das entgegen bisheriger Annahmen aber lediglich bei wenigen Pflanzenarten funktionieren dürfte. Demnach reisen nur die Samen der Pflanzenarten als blinder Passagier bei Zugvögeln nordwärts mit, deren Fruchtperiode sich mit dem Frühjahrszug überschneidet. Zudem liegt die Last der potenziellen Ausbreitung der Pflanzen in kühlere Gefilde auf den Federn einiger weniger paläoarktischer Vogelarten.
Der Klimawandel bringt es mit sich, dass Pflanzen ihre Verbreitungsgebiete in den Norden verlagern müssen, um in ihrer klimatischen Komfortzone zu bleiben. Die meisten Samen werden im Radius von einem Kilometer um die Ursprungspflanze ausgebreitet – von allein schaffen es die Pflanzen daher nur sich über kurze Strecken auszubreiten. Hier kommen die Milliarden an Zugvögeln als Mitflugzentrale für Samen ins Spiel. Die Vögel könnten – so die Theorie – Samen über weite Strecken transportieren und den Pflanzen helfen, neue Gebiete im Norden zu besiedeln.
Soweit die Idee. Ob das aber auch in der Praxis funktioniert, hat ein Team von 18 Wissenschaftler*innen von dreizehn europäischen Forschungseinrichtungen unter Leitung der Universität von Cádiz, darunter Dr. Jörg Albrecht, Wissenschaftler am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, überprüft. Die Wissenschaftler*innen konzentrierten sich auf Pflanzenarten mit fleischigen Früchten, weil diese besonders durch Zugvögel gefressen und ausgebreitet werden und ein wichtiger Bestandteil gemäßigter und mediterraner Waldgebiete sind. Die Forscher*innen ermittelten in dreizehn Wäldern innerhalb Süd-, Mittel- und Nordeuropas von welchen Vogelarten solche Pflanzen gefressen werden und wo die Pflanzensamen daher potenziell an anderer Stelle wieder ausgeschieden werden könnten.
Das Ergebnis ist ernüchternd: „Nur 35 Prozent der Pflanzenarten mit fleischigen Früchten werden von Zugvögeln gefressen, die auf der Rückkehr aus den Überwinterungsgebieten sind und danach nordwärts weiterfliegen. Bei über achtzig Prozent dieser Pflanzenarten waren die Vögel, die wir beim Fressen beobachtet haben, aber auf dem Weg in den Süden, also genau dahin wo es die Pflanzen noch wärmer haben“, sagt Albrecht. „Hinzukommt, dass die Vögel während des Zugs in ihre Überwinterungsgebiete im Süden ungefähr dreimal so viel fressen wie auf ihrer Reise in ihre Brutgebiete im Norden.“
Aber es gibt noch ein zweites Problem: Nicht nur fliegen weniger Pflanzensamen gen Norden als Richtung Süden, sondern es werden auch nur bestimmte nah verwandte Arten mit speziellen Eigenschaften transportiert. Nur wenn eine Pflanze im Frühjahr Früchte trägt in deren Inneren Samen stecken, können diese auch von Zugvögeln gefressen werden, die gerade aus den Überwinterungsgebieten nach Norden in ihre Brutgebiete ziehen. Daher werden potenziell nur Samen von Pflanzenarten nach Norden transportiert, deren Fruchtperiode sich mit dem Frühjahrszug überschneidet, wie beispielsweise Wacholder und Efeu.
Zusätzlich hat das Team noch eine weitere Entdeckung gemacht: Die Pflanzenarten werden fast ausschließlich von paläoarktischen Vögeln gefressen und ausgebreitet. Diese Vögel haben ihr Winterquartier in Südeuropa oder Nordafrika und kehren früher als weiter südlich überwinternde afro-paläarktische Zugvögel zurück. Einige Arten, die auf dem europäischen Kontinent im Allgemeinen sehr häufig und zahlreich vorkommen, haben bei der Ausbreitung gen Norden sogar eine absolute Schlüsselrolle inne. Für die Pflanzen mit fleischigen Früchten in den Wäldern des Mittelmeerraums ist das die Mönchsgrasmücke und in den Wäldern der gemäßigten Breiten die Amsel.
„Zugvögel helfen tatsächlich Pflanzen mit dem Klimawandel Schritt zu halten, aber eben nur einer Minderheit und nur bestimmten Arten. Dieser Filter wird die Bildung der neuen Pflanzengemeinschaften in nördlichen Gebieten stark beeinflussen und könnte in der neuen Heimat Ökosystemleistungen, wie zum Beispiel die Produktion von Pflanzenbiomasse und den Aufbau ökologischer Lebensgemeinschaften auf höheren Ebenen der Nahrungskette, beeinträchtigen. Zudem ist diese Form der Ausbreitung besonders an einzelne Vogelarten gebunden, von denen einige im Mittelmeerraum sowohl legal als auch illegal stark bejagt werden. Das macht den Transport störanfälliger als die Verbreitung durch viele Vogelarten“, kommentiert Albrecht die Ergebnisse.
Originalpublikation:
Gonzalez-Varo, J. P. et al. (2021): Limited potential for bird migration to disperse plants to oler latitudes. Nature, doi: 10.1038/s41586-021-03665-2

23.06.2021, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Rote Liste Brutvögel: Vogelsterben in Deutschland geht weiter
Wissenschaftler und Vogelschützer fordern wegen des dramatischen Rückgangs an Brutvögeln einen nationalen Rettungsplan
Das Artensterben zählt neben dem Klimawandel zu den größten Bedrohungen des Lebens auf der Erde. Seit rund 50 Jahren dokumentieren Forschende deshalb die Bestandsentwicklung unterschiedlicher Tier- und Pflanzengruppen in sogenannten Roten Listen. Die neue Roten Liste der Brutvögel in Deutschland zeigt, dass der Rückgang der Vögel in Deutschland ungebremst voranschreitet. Über die Hälfte der 259 dauerhaft hier brütenden Vogelarten ist gefährdet. 14 Arten sind in Deutschland bislang ausgestorben, 6 weitere werden voraussichtlich in der nächsten Roten Liste als nicht mehr vorkommend aufgelistet werden müssen. Es droht damit ein Aussterben von Brutvogelarten in bislang unbekanntem Ausmaß. Am stärksten sind Vögel der Agrarlandschaft sowie Insektenfresser und Zugvögel bedroht. Wald- und Siedlungsvögel nehmen dagegen mehrheitlich zu. Erfolgsgeschichten beim Schutz von Weißstorch, Seeadler und Kranich zeigen: Schutzmaßnahmen können den Rückgang der Vögel aufhalten. Die Autoren und Autorinnen der Roten Liste fordern deshalb ein nationales Vogelrettungsprogramm, in dem wirksame Maßnahmen zum Vogelschutz erarbeitet und umgesetzt werden. Außerdem sollte die Ursachen der Rückgänge der verschiedenen Arten noch besser erforscht werden.
Künftig sollen die Roten Listen alle sechs Jahre veröffentlicht werden. Die Bestandserhebung der Brutvögel Deutschlands ist ein Gemeinschaftswerk der wissenschaftlichen Ornithologen sowie der im Vogelmonitoring und im Vogelschutz aktiven wissenschaftlichen Institutionen Deutschlands. Die veröffentlichte Roten Liste der Brutvögel umfasst den Zeitraum von 2011 bis 2016.
Ohrentaucher, Goldregenpfeifer, Bruchwasserläufer, Raubseeschwalbe, Rotkopfwürger und Seggenrohrsänger – wer diese Vögel in Deutschland bewundern möchte, kommt wohl zu spät. Die letzten Brutpaare sind hierzulande zwischen 2009 und 2014 gesichtet worden. Auf der nächsten Roten Liste der Brutvögel werden diese Arten zusätzlich zu den 14 bereits ausgestorbenen bzw. verschollenen Arten voraussichtlich als in Deutschland ausgestorben geführt werden. „Dies wird der höchste Zuwachs ausgestorbener Brutvogelarten sein, der jemals in Deutschland verzeichnet wurde“, sagt Hans-Günther Bauer vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell, einer der Autoren der aktuellen Roten Liste der Brutvögel.
Fast die Hälfte der Arten sind gefährdet
Im Berichtszeitraum der neuen Roten Liste sind 33 Vogelarten in Deutschland vom Aussterben bedroht, und bei fast allen gehen die Bestände weiter zurück. Mit 43 Prozent sind fast die Hälfte der in Deutschland regelmäßig brütenden Arten gefährdet. Weitere acht Prozent stehen auf der Vorwarnliste, sie sind zwar noch vergleichsweise häufig, ihre Zahlen nehmen aber ebenfalls stark ab. „Die neue Rote Liste zeigt, dass das Artensterben in Deutschland ungebremst weitergeht. Es hat sich in den letzten Jahren sogar noch beschleunigt“, sagt Bauer.
Hinzu kommt, dass die Bedrohungskategorien der Roten Liste den Rückgang der bislang ungefährdeten und häufigen Arten nicht widergeben. Selbst riesige Verluste an Individuen können bei Arten wie Staren oder Haussperlingen in der Roten Liste lange unbemerkt bleiben, wenn die Arten als solche noch ungefährdet sind. So hat eine Studie aus der Bodenseeregion ergeben, dass das Gebiet in den letzten 30 Jahren 120.000 Brutpaare verloren hat. Deutschlandweit beträgt der Verlust wahrscheinlich mehrere Millionen Tiere.
Starke Rückgänge in der Agrarlandschaft
Besonders bedroht sind der aktuellen Roten Liste zufolge Arten der Agrarlandschaft: 83 Prozent dieser „Offenland“-Arten weisen so hohe Bestandseinbrüche auf, dass sie als gefährdet oder auf der Vorwarnstufe geführt werden. 40 bis 50 Prozent der insektenfressenden Arten sind überproportional von den Rückgängen betroffen. Die mit Abstand am stärksten betroffene Gruppe sind die Zugvögel: Über 50 Prozent der Arten gelten als gefährdet oder gehen stark zurück. Im Gegensatz dazu haben viele Wald- und Siedlungsarten in den letzten Jahren zugenommen – ob dauerhaft, bleibt abzuwarten.
Es liegt nahe, die Ursachen für den starken Rückgang der Offenlandarten, Insektenfresser und Zugvögel in einer zu intensiven Landnutzung – insbesondere in der Landwirtschaft –, dem übermäßigen Einsatz von Pestiziden und Gefahren und Lebensraumverlust auf den Zugrouten zu sehen. Bei vielen Arten sind die Gründe jedoch komplex und manchmal kaum bekannt. „Da gibt es noch viel Forschungsbedarf. Ein Teil dieser Wissenslücken wollen wir mit unserem neuen Tierbeobachtungssystem Icarus schließen. Damit können wir Vögel in ihrer natürlichen Umgebung buchstäblich über die Schulter schauen und so herausfinden, wodurch ihnen Gefahr droht“, erklärt Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie. Der Verhaltensbiologe untersucht mit seinem Team unter anderem das Zugverhalten von Amseln, Kuckucken und Störchen.
Neben den starken Rückgängen der meisten Vogelarten gibt es auch einzelne Lichtblicke: Dort wo Arten und ihr Lebensraum gezielt geschützt wurden, haben sich Bestände wieder erholt. Charismatische Vögel wie See- und Fischadler, Kranich und Weißstorch, deren Rückgang eindeutige und verhältnismäßig leicht zu behebende Ursachen hatte, konnten so vor dem Verschwinden bewahrt werden. „Die Beispiele zeigen, dass Maßnahmen zum Schutz von Arten und ihrer Lebensräume erfolgreich sein können. Was wir jetzt brauchen, ist ein nationales Vogelrettungsprogramm, dessen Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt werden. Ansonsten werden wir uns in Deutschland auch von vielen anderen Vogelarten verabschieden müssen“, warnt Bauer.
Originalpublikation:
T. Ryslavy, H.-G. Bauer, B. Gerlach, O. Hüppop, J. Stahmer, P. Südbeck & C. Sudfeldt
Die Rote Liste der Brutvögel Deutschlands, 6. Fassung
Berichte zum Vogelschutz 57 (2020): 13 – 112

23.06.2021, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau
Wildbienen brauchen Totholz im Wald
Wie viele Baumarten gibt es im Wald? Wie sind die Bäume verteilt? Wie hoch sind die einzelnen Baumkronen? Gibt es umgestürzte Bäume oder ausgehöhlte Baumstämme? Forstwissenschaftlerinnen und Forstwissenschaftler charakterisieren Wälder nach strukturellen Faktoren. „Strukturreichtum ist sehr wichtig für die Biodiversität in Wäldern. Aber forstlich genutzte Wälder sind im Allgemeinen strukturarm“, sagt Tristan Eckerter von der Professur für Naturschutz und Landschaftsökologie der Universität Freiburg.
Daher untersuchte er gemeinsam mit Forschungsteams der Professur für Waldbau und des Nationalpark Schwarzwalds, ob Strukturen wie stehendes Holz in Wäldern dabei helfen, die Vielfalt von Wildbienen zu fördern. Darüber hinaus analysierten die Forschenden, welche weiteren natürlichen Gegebenheiten des fichtendominierten Waldes Wildbienen beim Überleben unterstützen. Dabei zeigte sich, dass die Schaffung von Totholz in Nadelwäldern eine vielversprechende Wiederherstellungsmaßnahme darstellt, um das Vorkommen von oberirdisch nistenden Bienen zu fördern. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Zeitschrift Forest Ecology and Management veröffentlicht.
Restaurationsexperiment soll Biodiversität stärken
Im Rahmen dieses langfristig angelegten Restaurationsexperiments wurde der Strukturreichtum bereits im Jahr 2016 auf mehreren Probeflächen im Nationalpark Schwarzwald künstlich erzeugt: Forschende fällten und entwurzelten 20 Fichten pro Fläche und schufen so Totholz und kleine Lücken in sechs 50 mal 50 Meter großen Parzellen. Sechs weitere Parzellen wurden als Kontrollgruppe in ihrem natürlichen Zustand belassen. „Die Restaurations-Maßnahmen haben die sogenannte strukturelle Komplexität der Waldbestände erhöht. Das heißt, diese Flächen bieten einen vielfältigeren, abwechslungsreicheren Lebensraum. Dass wir daraufhin so viele verschiedene Wildbienen finden, hätten wir nicht gedacht“, erklärt Eckerter.
Stehendes Totholz fördert Bienenpopulation
Die Forschenden haben verglichen, wie viele Wildbienen im Juni 2018 und 2019 in den unterschiedlichen Parzellen vorkamen. Ihre Ergebnisse zeigen: Totholz erhöht die Häufigkeit und den Artenreichtum der Wildbienen. Dabei fördert stehendes Totholz insbesondere oberirdisch nistenden Bienen wie beispielsweise Maskenbienen. „Wir vermuten, dass einige der Bienen Totholz als Nistplatz benutzen“, sagt Eckerter und empfiehlt daher: „Wenn der Borkenkäfer schon ausgeflogen und der Baum bereits tot ist, ist es wichtig, den stehenden abgestorbenen Baum für die Bienen stehen zu lassen.“
Erhöhter Heidelbeerwuchs
Darüber hinaus erweisen sich die lichteren Waldflächen für die Bienen als vorteilhaft, denn durch das Licht wird das Wachstum von Blütenpflanzen wieder angeregt. Der vermehrte Heidelbeerbewuchs bietet den Bienen mehr Nektar und steigert so die Häufigkeit und den Reichtum der Bienenlebensgemeinschaft. Prof. Dr. Alexandra Klein, Leiterin der Professur für Naturschutz und Landschaftsökologie betont mit Blick auf die Zukunft: „Waldflächen werden im Zuge des Klimawandels vermehrt durch Totholz und lichten Flächen geprägt sein, die durch Stürme, Dürren oder Borkenkäfer entstehen. Dadurch wird der Lebensraum Wald an Bedeutung für Wildbienen zunehmen.“
Originalpublikation:
Eckerter, T., Buse, J., Bauhus, J., Förschler, M. I., Klein, A. M. (2021): Wild bees benefit from structural complexity enhancement in a forest restoration experiment. In: Forest Ecology and Management. DOI: 10.1016/j.foreco.2021.119412

23.06.2021, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Novellierung des Tierarzneimittelgesetzes gefährdet die deutsche Wildtierforschung
Ein effektives, wissenschaftsbasiertes Natur- und Wildtiermanagement ist der Schlüssel, um dem dramatischen Verlust der biologischen Vielfalt im „Anthropozän“ entgegenzuwirken. Dies betonen der Direktor, der leitende Tierarzt sowie die Tierschutzbeauftragte des Leibniz-IZW. Bedrohte Wildtierarten sich selbst zu überlassen führe nachweislich nicht zum Überleben einer bedrohten Tierart, wie das Beispiel des Sumatra-Nashorns und anderer Nashornarten zeigt, und ermögliche auch keine friedliche Koexistenz von Mensch und Tier. Dies werde am Beispiel des Farmer-Geparden-Konflikts in Namibia deutlich.
Ohne einen aktiven Umgang mit Wildtieren sind Wildtierforschung, Wildtierrettung und -pflege, Wildtierschutz und die Lösung von Mensch-Tier-Konflikten nicht möglich, schließen die Expert:innen. Oftmals sind es gerade die großen Säugetiere, die in Konflikte involviert sind.
Der art- und arbeitsschutzgerechte Umgang mit Wildtieren erfordert die Anwendung spezieller, hochkonzentrierter und sehr potenter Tierarzneimittel, die in der klassischen Tiermedizin bei Haustieren oder landwirtschaftlichen Nutztieren nicht benötigt oder verwendet werden. Viele dieser Arzneimittel werden jedoch nicht in der EU produziert und sie können nur über Drittländer bezogen werden. Dies soll nach aktuellem Gesetzentwurf nicht mehr möglich sein, weil nur in der EU produzierte Produkte für die Tiermedizin erlaubt werden sollen. „Das neue Tierarzneimittelgesetz gefährdet damit massiv die Einheit von ‚guter tierärztlicher und wissenschaftlicher Praxis‘ und das Wohlergehen einer Vielzahl von Wildtierarten“, warnt Dr. Frank Göritz, Leitender Tierarzt und Wissenschaftler am Leibniz-IZW. Eine schlechte oder unvollständige Narkose, besonders von großen Wildsäugetieren, gefährdet nicht nur die Gesundheit und das Leben von Tier (und Mensch), sondern führt auch zu Verfälschung von Forschungsergebnissen und unweigerlich zu einem „Therapienotstand“ in der Wildtiermedizin.
Unter Nutzung eines großen internationalen Netzwerkes von Wild- und Zootierärzten und aufgrund erteilter Ausnahmegenehmigungen des gültigen Arzneimittelgesetzes (z. B. §73, Abs. 2, Nr. 2 AMG) ist das Leibniz-IZW als Forschungs- und Ausbildungseinrichtung in der Lage, alle Wildtier-spezifischen Arzneimittel zu nutzen – bis jetzt. Wenn am 25.06.2021 der Bundestag die Novellierung des Arzneimittelgesetzes beschließt, wird adäquate Tiermedizin für Wildtiere in Deutschland nicht mehr gegeben sein. „Es ist unverantwortlich, dass Wildtierärzt:innen durch nationale Gesetze wider besseren Wissens entweder in den Dilettantismus oder gar in die Illegalität gedrängt werden“, kommentiert Göritz. „Nach internationalen Standards am Leibniz-IZW qualifizierte ausgebildete Wildtierärzt:innen werden zukünftig in eine Praxistätigkeit entlassen, in der sie ihr Wissen und ihr Können nicht anwenden dürfen. Mehr noch, durch die von der Bunderegierung geplanten inadäquaten Therapiemöglichkeiten werden sie das Wohl und die Gesundheit der Tiere unnötig gefährden. Darüber hinaus wird die international anerkannte Wildtierforschung des Leibniz-IZW dadurch massiv behindert“, erklärt Prof. Heribert Hofer, Direktor des Leibniz-IZW. Durch die Novellierung des Tierarzneimittelgesetzes – ohne die Option auf Ausnahmegenehmigungen – werden neben dem Leibniz-IZW auch alle deutschen Wildtierärzte und zahlreiche Natur- und Tierschutzorganisationen, sowie zoologische Einrichtungen stark benachteiligt.
Die Wildtiermedizin ist ein sehr junger, sich rasant entwickelnder Wissenschaftszweig. Sie ist zum festen Bestandteil der modernen Wildtierforschung avanciert und damit eine Grundlage für die erfolgreiche Arbeit des Leibniz-IZW. Das Leibniz-IZW betreibt Forschung für den Artenschutz, indem es die Anpassungsfähigkeit von Wildtieren im globalen Wandel untersucht und ihre Überlebensfähigkeit durch neue Naturschutzkonzepte zu verbessern sucht. Dafür erarbeitet es unter anderem Managementpläne, um Mensch-Tier-Konflikte zu minimieren und zu vermeiden.
Neben seiner Wildtierforschung engagiert sich das IZW auch aktiv im internationalen Tierschutz. Mit der Anwendung neuer, spezies-optimierter Narkoseprotokolle und der Anwendung neuer Forschungsergebnisse trägt das Leibniz-IZW neben der Rettung von Wildtieren in Not in zahlreichen Ländern in Asien und dem Nahen Osten, vielfach in Zusammenarbeit mit Tierschutzorganisationen, zur Versachlichung des oftmals sehr emotional geführten öffentlichen Disputs und somit zur Entwicklung eines evidenzbasierten Wildtierschutzes bei.
„Es ist noch nicht zu spät, um auch in Zukunft die moderne Wildtiermedizin und -forschung und damit die im Grundgesetz verankerten Staatsziele des Tierschutzes und Artenschutzes zu unterstützen“, erklärt Dr. Gudrun Wibbelt, Tierschutzbeauftragte und Wissenschaftlerin am Leibniz-IZW. Das Leibniz-IZW fordert daher dringend, die Entscheidung über das Inkrafttreten des neuen Tierarzneimittelgesetzes aufzuschieben und den fachlichen Diskurs fortzusetzen und für besondere Tiermedizin- und Forschungsbereiche Ausnahmeregelungen zu beschließen. Wie wir mit unseren Wildtieren umgehen, wird für die Lebensqualität zukünftiger Generationen mit entscheidend sein.

24.06.2021, NABU
NABU: Harlekin schlägt Hummel
Asiatischer Marienkäfer erstmals auf Platz 1 beim Insektensommer
Sechs Beine, bis zu 19 Punkte, ein „W“ auf dem Kopfschild und ein Riesen-Appetit auf Blattläuse: Der Asiatische Marienkäfer schwirrt erstmals auf Platz 1 beim NABU-Insektensommer und verdrängt damit die Steinhummel, die in den Vorjahren das am häufigsten gemeldete Insekt war. Insgesamt haben 9.060 Menschen vom 4. bis 13. Juni Insekten beobachtet und an den NABU gemeldet. „Das ist eine Steigerung zum vergangenen Jahr, als wir 8.370 Teilnehmende im ersten Zählzeitraum hatten“, freut sich NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller. „Unser Insektensommer trifft einen Nerv. Viele Menschen wollen mehr über diese interessante und überaus wichtige Tiergruppe wissen und sich für sie engagieren.“
Der Spitzenplatz für den auch Harlekin genannten Asiatischen Marienkäfer erklären die NABU-Insektenexperten vor allem mit dem Wetter. „Durch das sehr kühle und feuchte Frühjahr konnte der Asiatische Marienkäfer erst vergleichsweise spät mit der Fortpflanzung beginnen. Im ersten Zählzeitraum im Juni waren dann besonders die erwachsenen Tiere aktiv und wurden so häufiger als Larven und Puppen gesichtet, das war im letzten Jahr nicht so“, sagt NABU-Insektenexpertin Dr. Laura Breitkreuz.
Das kühle Frühjahr ließ auch die Pflanzen später als üblich blühen oder die Blüte fiel teils ganz ins Wasser. Das bekamen besonders Hummeln und Wespen zu spüren. Deren Königinnen machen sich im Frühjahr auf, Nester zu bauen und neue Völker zu gründen. Findet sich wenig Nahrung, sterben viele Königinnen. Und für jede gestorbene Königin fehlen im Sommer hunderte Nachkommen. Breitkreuz: „Besonders schwierig war der Frühlingsbeginn offensichtlich für Ackerhummeln und Erdhummeln. Gegenüber den Vorjahren nahmen die Erdhummelsichtungen beim Insektensommer um die Hälfte ab.“ Ähnlich sieht es bei den Wespen aus, Deutsche Wespe und Gemeine Wespe lagen nur bei 40 Prozent des Vorjahres. „Es könnte also sein, dass 2021 kein Wespenjahr wird“, sagt Breitkreuz.
Einen Einstieg in die vielfältige und faszinierende Welt der Insekten bietet die Entdeckungsfrage, die seit vergangenem Jahr bei jedem Insektensommer gestellt wird. „Dabei sollen die Teilnehmenden schauen, ob sie den aus Fernost importiert Asiatische Marienkäfer oder der heimische Siebenpunkt häufiger sehen“, so Breitkreuz. „2020 hatte der Siebenpunkt das Rennen gemacht. In diesem Jahr liegt der Asiatische vorn – bisher.“
Die Chance für den Siebenpunkt, den Harlekin doch noch vom Thron zu stoßen, kommt schon bald: vom 6. bis 15. August findet die Hochsommerzählung der Insektensommers statt. Dann wir auch wieder die Entdeckungsfrage nach den Marienkäfern gestellt.
Mehr Infos: www.insektensommer.de

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