Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

13.10.2020, Forschungsverbund Berlin e.V.
Auf der Spur neuartiger Krankheitserreger bei Wildtieren
Erste wissenschaftliche Beschreibung einer bislang unbekannten Streptokokkenart von Chaco-Pekaris
Die Artenvielfalt von Zoo- und Wildtieren spiegelt sich in der Verschiedenartigkeit ihrer Krankheitserreger wider. Leider ist das Wissen sehr begrenzt und ihr Nachweis oft schwierig. Bei der für Menschen und Tiere bedeutenden Bakterienfamilie der Streptokokken ist die Wildtierforschung nun einen Schritt vorangekommen.
Ein Forscherteam unter Leitung von Kristin Mühldorfer vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und Tobias Eisenberg vom Landesbetrieb Hessisches Landeslabor (LHL) untersuchte die Ursachen von schweren Atemwegserkrankungen bei Nabelschweinen und charakterisierte eine neue Streptokokkenart (Streptococcus catagoni sp. nov.) taxonomisch anhand ihrer phänotypischen und genetischen Eigenschaften. Die im „International Journal of Systematic and Evolutionary Microbiology“ veröffentlichten Ergebnisse tragen zu einem besseren Verständnis und der sicheren Identifizierung der neuen Bakterienart bei.
Die Familie der Streptokokken beinhaltet natürlich auf der Haut und den Schleimhäuten vorkommende Bakterien und bedeutende Krankheitserreger. Neben Streptokokkenarten, die bei Menschen und verschiedenen Wirbeltieren vorkommen, enthält die Familie Arten, die eine Anpassung an bestimmte Wirte oder Lebensräume zeigen und nur dort nachgewiesen wurden. Dazu gehören Streptococcus castoreus bei Bibern, Streptococcus didelphis bei bestimmten Beuteltierarten oder Streptococcus phocae bei Meeressäugern und Fischen.
Die Autorinnen und Autoren untersuchten eine bisher unbekannte Streptokokkenart genauer, die in zwei aufeinanderfolgenden Jahren in einer zoologischen Haltung von Chaco-Pekaris (Catagonus wagneri) zu schweren Erkrankungen geführt hat. Betroffen waren vor allem Tiere im ersten Lebensjahr, die eitrige Infektionen der oberen und unteren Atemwege zeigten. Mindestens fünf Pekaris verstarben an der Infektion. Die neue Bakterienart wurde nach ihrer Herkunft als Streptococcus catagoni sp. nov. benannt.
„Es sind die ersten bestätigten Fälle bei Chaco-Pekaris“, sagt Dr. Kristin Mühldorfer, Wissenschaftlerin am Leibniz-IZW. Das Chaco-Pekari ist eine stark gefährdete Art, die eine stete Abnahme der Populationsgröße zeigt. „Leider kennen wir oft nicht die Bedeutung von Infektionskrankheiten in Wildtierpopulationen und die beteiligten Krankheitserreger“, so Mühldorfer. Die Gründe liegen in der Artenvielfalt, fehlenden Erkenntnissen zum Gesundheitszustand und in der eingeschränkten Erreichbarkeit der Tiere in ihren Lebensräumen.
Neuartige Infektionserreger werden bei Zoo- und Wildtieren häufiger beobachtet. Doch diese Erreger können mit etablierten Testsystemen und Datenbanken oft nicht identifiziert werden, womit sich der zeitliche und methodische Aufwand der Labore erheblich steigert. Die MALDI-TOF Massenspektrometrie bietet hier eine gute Lösung, da die Identifizierung der Bakterien über neu definierte Referenzspektren schnell und verlässlich erfolgen kann. Die Datenbankeinträge für Streptococcus catagoni wurden am Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart erstellt und können über die MALDI-TOF MS User Plattform (https://maldi-up.ua-bw.de/) ausgetauscht werden.
„Wir freuen uns über die gelungene Zusammenarbeit der beteiligten Institute, die wir zukünftig gerne fortsetzen möchten“, sagen Kristin Mühldorfer und Tobias Eisenberg. Das Ziel der Mikrobiolog*innen ist es, Erkenntnisse über bakterielle Infektionserreger von Wildtieren zu sammeln, und deren Vorkommen und Bedeutung in bestimmten Arten zu untersuchen. Moderne Ansätze in der Wildtierforschung fördern den Nachweis von Krankheitserregern und die Entwicklung geeigneter diagnostischer Verfahren, um bestehende Grenzen zu überwinden und Artenschutzbemühungen zu unterstützen.
Originalpublikation:
Mühldorfer K, Szentiks CA, Wibbelt G, van der Linden M, Ewers C, Semmler T, Akimkin V, Blom J, Rau J, Eisenberg T (2020): Streptococcus catagoni sp. nov., isolated from the respiratory tract of diseased Chacoan peccaries (Catagonus wagneri). International Journal of Systematics and Evolutionary Microbiology.
Doi: https://doi.org/10.1099/ijsem.0.004471

14.10.2020, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Kein Nachwuchs bei Dorsch und Hering – Wissenschaft alarmiert: Fischbeständen in der westlichen Ostsee droht Kollaps
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des GEOMAR Helmholtz Zentrums für Ozeanforschung in Kiel haben zusammen mit mehreren Berufsfischern in der Kieler Förde Untersuchungen zum Zustand und Laicherfolg von Dorsch und Hering im Frühjahr 2020 durchgeführt. Das Ergebnis ist erschreckend und alarmierend.
Nach Jahrzehnten der Überfischung sind die Bestände von Dorsch und Hering in der westlichen Ostsee so klein, dass sie während der Laichzeit nicht mehr ihr ganzes Laichgebiet mit Eiern versorgen können. Beim Hering liegt der Nachwuchs seit 2005 weit unter dem Mittel der vorherigen Jahre und nimmt kontinuierlich weiter ab. Seit 2018 empfiehlt deshalb der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES) eine Einstellung der Heringsfischerei, dieser Rat wurde aber bisher von den politisch Handelnden nicht befolgt. Beim Dorsch ist in vier der letzten fünf Jahre der Nachwuchs ganz oder fast ganz ausgeblieben. Der Bestand besteht daher fast nur noch aus jetzt vierjährigen Dorschen, die sich noch nicht erfolgreich fortgepflanzt haben und die Hauptlast der Dorschfischerei tragen. „Wenn wir diesen Jahrgang ohne Ersatz verlieren, dann haben wir den Bestand verloren“ sagt Dr. Rainer Froese, Meeresökologe und Experte für Fischereiwissenschaft am GEOMAR.
Die zu kleinen Bestände sind zudem extrem schlecht auf den Klimawandel vorbereitet. Das zeigte sich in diesem Frühjahr, wo der ungewöhnlich warme Winter die meisten Fische dazu veranlasst hat, zu früh abzulaichen, bevor genügend Nahrung für die Larven vorhanden war. Aufgrund der zu kleinen Bestandsgrößen haben nur sehr wenige Fische zur richtigen Zeit am richtigen Ort abgelaicht. Die Larven dieser Fische hatten mit dem zusätzlichen Problem zu kämpfen, dass sich eingeschleppte Rippenquallen im warmen Wasser massiv vermehrt haben und mit den Fischlarven um das Plankton als Futter konkurrieren. „Wir hatten noch in keinem Jahr so viele Rippenquallen in unseren Proben wie jetzt“ sagt Meeresbiologin und Expertin für Heringslarven, Dr. Catriona Clemmesen vom GEOMAR. „Alle Anzeichen deuten daher darauf hin, dass es in diesem Jahr bei Dorsch und Hering keinen Nachwuchs geben wird.“
Auch die Fischer haben die Änderungen im Ökosystem bemerkt: „Um diese Jahreszeit müsste es eigentlich massenhaft Ohrenquallen und Feuerquallen geben“, sagt Erik Meyer, Berufsfischer aus Schönberg. „Stattdessen haben wir glasklares Wasser und Quallen gibt es nicht.“ Auch Oliver Eggerland, Berufsfischer aus Laboe, hat noch nie so wenig Jungfische gesehen wie in diesem Jahr. „Normalerweise sehe ich um diese Jahreszeit Schwärme von Jungheringen im Flachwasser. Jetzt ist nichts da.“
Aus Sicht der Fischer und der GEOMAR Wissenschaftler muss dringend gehandelt werden, um eine Katastrophe abzuwenden. Sie schlagen eine völlige Einstellung jeglicher Fischerei auf Dorsch und Hering vor, bis mehrfache erfolgreiche Fortpflanzung die Bestände dauerhaft abgesichert hat. „Es kann nicht angehen, dass wir jetzt die letzten Dorsche und Heringe wegfangen,“ sagt Thorsten Reusch, Professor am GEOMAR und Experte für evolutionäre Genetik. „Die wenigen Jungfische, die trotz der widrigen Bedingungen überlebt haben, besitzen offenbar solche Erbanlagen, die wir für die Zukunft der Bestände brauchen. Sie stammen von Eltern, die erst bei höheren Temperaturen zum Laichen kommen und deren Gene müssen unbedingt an die nächsten Generationen weitergegeben werden“, fügt er hinzu.
Die Fischer und Wissenschaftler haben sich mit ihren Beobachtungen an den Umweltminister von Schleswig-Holstein, Jan Philipp Albrecht, und an die Bundesministerin für Landwirtschaft, Julia Klöckner gewandt. In ihrem Appell weisen sie deutlich darauf hin, dass die Fischer in dieser Situation nicht allein gelassen werden können. Sie schlagen angemessene Abfindung vor für Fischer, die aussteigen wollen, und angemessene Unterstützung für Fischer, die im Beruf bleiben wollen. Fischerei auf Plattfische (Scholle, Flunder, Kliesche, Steinbutt, Glattbutt) ist weiterhin möglich, Beifang von Hering und Dorsch muss dabei aber strikt vermieden oder gering halten werden.
Auch ist es aus ihrer Sicht unbedingt erforderlich, die Auswirkungen der eingeschleppten Rippenquallen auf das natürliche Nahrungsnetz der Ostsee eingehend zu untersuchen. Vielleicht gibt es ja Möglichkeiten, einheimische Räuber oder Nahrungskonkurrenten der ungebetenen Gäste so zu fördern, dass die Ausbreitung der Rippenquallen eingedämmt werden kann.
Die Zeit für Maßnahmen zur Begrenzung der Fischerei auf Dorsch und Hering ist knapp: schon am 19. und 20. Oktober treffen sich die Landwirtschaftsminister der EU und beschließen die Fangquoten für das nächste Jahr.

14.10.2020, Jacobs University Bremen gGmbH
Klimakatastrophe vor 233 Millionen Jahren ermöglicht den Aufstieg der Dinosaurier
Eine Serie gewaltiger Vulkanausbrüche im heutigen Kanada löste vor 233 Millionen Jahren einen Klimawandel aus. Diese Ereignisse führten zur Entstehung neuer Ökosysteme, wie etwa Korallenriffe, und begünstigte die schnelle Ausbreitung der Dinosaurier. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales, interdisziplinäres Forscherteam, bestehend aus Wissenschaftlern der Jacobs University Bremen und des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) in einer neuen Studie.
Die Vulkanausbrüche fanden während des geologischen, karnischen Zeitalters statt. Die Eruption speiste gewaltige Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre ein. Diese Eruptionen verursachten eine globale Erderwärmung mit weit verbreiteten feuchten Bedingungen, die Massensterben und einen enormen Verlust an biologischer Vielfalt nach sich zogen. Als Folge dieser als „Carnian Pluvial Episode“ bekannten Naturkatastrophe verschwanden laut der Studie, die kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift „Science Advances“ veröffentlicht wurde, mehr als 33 Prozent der Gattungen im Meer.
Dinosaurier gab es schon zuvor, aber während der Carnian Pluvial Episode diversifizierten sie sich schnell. „Das Zeitalter ist besonders interessant, weil es die Geburtsstunde vieler Tier- und Pflanzengruppen darstellt, die unsere heutigen Ökosysteme dominieren“, sagt Dr. Sönke Hohn, der von Seiten des ZMT an der Studie beteiligt ist.
Auf dem Land und in feuchten Umgebungen traten Schildkröten, Krokodile, Eidechsen, Insekten und auch die ersten Säugetiere in Erscheinung. Nadelbäume und andere Artengruppen breiteten sich aus. Im Meer entstanden moderne Korallenriffe und Planktongruppen, die Chemie des Wassers änderte sich dramatisch. Diese „neuen“ Organismen waren die Vorläufer derjenigen, die heutige Ökosysteme bevölkern. Die Autoren der Studie beschreiben diese Zeit aus diesem Grund als „Morgengrauen der modernen Welt“.
Für ihre Studie untersuchte das Team eine große Anzahl an chemischen Elementen und Fossilien. Durch detaillierte Synthesearbeit waren die Forscher in der Lage, ein umfassenderes Bild der karnischen Ereignisse zu erstellen und zeitbezogene Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge aufzuzeigen.
„Die Carnian Pluvial Episode wurde lange übersehen. Inzwischen können wir die Vorgänge sehr viel detaillierter analysieren, und zwar innerhalb eines Zeitraums von weniger als einer Million Jahren“, sagt Agostino Merico, Professor für Ökologische Modellierung an der Jacobs University und Leiter der Arbeitsgruppe Systemökologie am ZMT. Der Experte für die Biochemie der Ozeane untersuchte im Rahmen der Studie die Auswirkungen des massiven Kohlendioxidausstoßes auf die Chemie des Wassers. Finanziert wurde das Forschungsprojekt vom Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst.
Originalpublikation:
http://advances.sciencemag.org/content/6/38/eaba0099

14.10.2020, Universität zu Köln
Der moderne Mensch kam auf Umwegen nach Europa
Klimatische Bedingungen leiteten die geographische Ausbreitung von Homo sapiens in der Levante vor 43.000 Jahren / Forschungen des Sonderforschungsbereiches 806 „Our Way to Europe“ in PLOS ONE
Günstige klimatische Bedingungen steuerten die Abfolge der Siedlungsbewegungen des Homo sapiens in der Levante auf seinem Weg aus Afrika nach Europa. In einem ersten Schritt besiedelten die modernen Menschen den Küstenstreifen am Mittemeer. Erst danach breiteten sie sich in die Sinaiwüste und den ostjordanischen Grabenbruch aus. Dies ergaben die Forschungen von Archäologen und Archäologinnen des Sonderforschungsbereiches „Our Way to Europe“ (SFB 806) der Universitäten Köln, Bonn und Aachen. Der Artikel „Al-Ansab and the Dead Sea: mid-MIS 3 Archaeology and Environment of the Early Ahmarian Population of the Levantine Corridor“ ist in der Fachzeitschrift PLOS ONE erschienen.
Über zehn Jahre hinweg betrieb das Team sedimentologische, pollenanalytische und archäologische Forschungen rund um die Fundstelle Al-Ansab 1 unweit der Ruinenstadt von Petra (Jordanien), um die vorherrschenden Umweltbedingungen zur Zeit der menschlichen Ausbreitung zu analysieren. „Die Konsolidierung menschlicher Präsenz in der Region geschieht vor dem Hintergrund günstiger klimatischer Bedingungen“, sagt Professor Dr. Jürgen Richter, Erstautor der Studie.
Die Erfolgsgeschichte des anatomisch modernen Menschen außerhalb Afrikas beginnt bereits vor etwa 100.000 Jahren mit bekannten Fundstellen wie Qafzeh und Skhul. Doch stellen diese frühen Nachweise nur kurze und episodische Ausbreitungen in die Levante dar. Eine dauerhafte Besiedelung der Region vollzog sich nach heutigem Kenntnisstand erst vor etwa 43.000 Jahren. Während der Zeitepoche des sogenannten „Frühen Ahmarien“ breitete sich der moderne Mensch nach und nach in der Levante aus – ein erster Schritt auf dem Weg nach Asien und Europa.
Dauerhafte menschliche Ansiedlung konnte nur unter günstigen klimatischen Rahmenbedingungen stattfinden. Im Großen wird dies durch den sogenannten Lisan-See verdeutlicht. Dieser Süßwassersee lag im Gebiet des heutigen Toten Meeres, hatte jedoch ein Vielfaches von dessen Ausdehnung und Wasservolumen. Erst am Ende der letzten Eiszeit verdunstete zunehmend das Wasser und hinterließ das extrem salzhaltige Tote Meer, wie es heute bekannt ist.
Auch im Kleinen konnten die günstigen Umweltbedingungen nachvollzogen werden. Hierzu untersuchten geoarchäologische Teams der Universität zu Köln und der RWTH Aachen die Fundstelle Al-Ansab 1. Während das Wadi Sabra, in dem die Fundstelle liegt, heute durch saisonal eintretende Sturzflutereignisse stark geformt wurde, zeigten geomorphologische und archäologische Untersuchungen, dass zur Zeit der Besiedelung weitaus ruhigere und anhaltend feuchtere Bedingungen herrschten, die die menschliche Präsenz begünstigten.
„Dies ermöglichte die Ausbreitung des Menschen aus dem küstennahen, mediterranen Bereich in die vormals trockeneren Regionen der Negev Wüste und den Osthängen des Jordanischen Grabenbruches, um in der offenen Landschaft Jagd auf Gazellen zu machen – einer Beute, die in vielen Fundstellen dieser Zeit in der Region immer wieder nachgewiesen wird“, sagt Richter. „Die Menschen sind nicht durch stetige Ausbreitung aus Afrika heraus durch die Levante und weiter nach Europa und Asien gekommen. Vielmehr besiedelten sie zuerst einen küstennahen Streifen entlang des Mittelmeers.“
Die Region um die Fundstelle Al-Ansab 1 war somit ein Trittstein auf dem Weg des modernen Menschen in die Welt – eine Reise, die nicht auf geradem Weg auf den europäischen Kontinent führte, sondern von komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt begleitet war.
Weitere Informationen:
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0239968

15.10.2020, Forschungsverbund Berlin e.V.
Ziehende Fledermäuse sparen Energie durch Einschränkung energetisch kostspieliger Immunfunktionen
Sowohl der jahreszeitliche Zug als auch die Aufrechterhaltung und Nutzung eines wirksamen Immunsystems sind mit erheblichen Stoffwechselkosten verbunden und für ein hohes Maß an oxidativem Stress verantwortlich. Wie kommen Tiere in einer Situation zurecht, in der die Energie begrenzt ist, diese jedoch für mehrere energieintensive Körperfunktionen benötigt werden könnte?
Ein Wissenschaftlerteam unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) untersuchte, ob und wie sich die Immunantwort bei Rauhautfledermäusen in der Zeit vor dem Zug und während der Zugzeit unterscheidet. Sie zeigten, dass die Rauhautfledermaus in der Zugzeit bei einer konkreten Inanspruchnahme der Immunantwort die energetisch günstigere nicht-zelluläre (humorale) Immunität vorzieht und zelluläre Immunantworten selektiv unterdrückt. Dadurch spart sie wertvolle Energie, die für ihre jährliche Wanderung dringend benötigt wird. Die Ergebnisse wurden nun in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Scientific Reports“ veröffentlicht.
Das Wissenschaftlerteam um Christian C. Voigt, Leiter der Abteilung Evolutionäre Ökologie am Leibniz-IZW, und Gábor Á. Czirják, Wissenschaftler in der Abteilung Wildtierkrankheiten am Leibniz-IZW, untersuchte die Aktivität des Immunsystems bei Rauhautfledermäusen vor und während der Zugzeit. Die saisonale Reise einer 7 g schweren Rauhautfledermaus ist sehr aufwändig, da sie auf ihren jährlichen Wanderungen zwischen den baltischen Ländern und Südfrankreich mehr als 2.000 km zurücklegt und der Stoffwechselumsatz während des Fliegens um eine Größenordnung höher ist als der Grundumsatz. „Fledermäuse müssen während des Zuges wahrscheinlich die Aufrechterhaltung kostspieliger Körperfunktionen wie bestimmte Formen der Immunantwort gegen die hohen Energiekosten des Fliegens abwägen“, sagt Voigt. Um diese Vermutung zu überprüfen und zu klären, wie das Immunsystem in dieser für Fledermäuse zentralen Jahreszeit eingestellt ist, verglich das Team mehrere Immunparameter vor und während der Zugzeit. Dafür maßen sie die zelluläre und humorale Antwort des angeborenen Immunsystems (relative Neutrophilenzahl und Haptoglobinkonzentration) sowie die zelluläre Antwort der adaptiven Immunität (relative Lymphozytenzahl). Sie verglichen die Ausgangswerte dieser Parameter und untersuchten, wie sich diese in Reaktion auf eine Antigenherausforderung verändern.
„Unsere Ergebnisse zeigen signifikante Unterschiede zwischen den beiden Perioden. Daraus schließen wir, dass Rauhautfledermäuse den Energiebedarf ihrer verschiedenen Immunitätszweige berücksichtigen, wenn ihre Zugzeit anfängt“, erklärt Voigt. Vor der Zugzeit war die zelluläre Antwort der angeborenen Immunität signifikant höher als während der Zugzeit, während die humorale Antwort desselben Immunzweiges während der Zugzeit dominierte. „Die Rauhautfledermaus antwortet mit einer starken humoralen Immunantwort auf eine Herausforderung, die einer bakteriellen Infektion gleicht. Diese Reaktion nimmt in der Zugzeit sogar zu, während gleichzeitig die zelluläre Antwort in einer solchen Situation nicht aktiviert wird“, fügt Czirják hinzu. Wenn sich die Tiere auf ihre anstrengende Reise begeben, reduzieren sie die zelluläre Immunantwort, die energieaufwendiger ist als die humorale Antwort, und sparen so womöglich Energie für ihren langen Weg.
„Die Frage ist, ob es für Fledermäuse auch ein Risiko darstellt, den Fokus auf die humorale Immunität während der Zugzeit zu setzen“, erläutert Voigt. „Es ist möglich, dass sie während der Wanderung anfälliger für bestimmte Krankheitserreger sind, wenn sie keine angemessene zelluläre Immunantwort auslösen können“, so Voigt. Diese und andere damit zusammenhängende Fragen sind nun Gegenstand der weiteren immunologischen Forschung der Fledermaus-Forschungsgruppe des Leibniz-IZW.
Originalpublikation:
Voigt CC, Fritze M, Lindecke O, Costantini D, Pētersons G, Czirják GÁ (2020): The immune response of bats differs between pre-migration and migration seasons. Scientific Reports.

15.10.2020, Universität Bremen
Korallenbleiche: Riff erholt sich schneller als gedacht
Wie schnell kann sich ein Riff von einer Korallenbleiche erholen? Schneller als gedacht – wenn der Mensch es in Ruhe lässt. So lautet das Fazit eines internationalen Forschungsprojekts unter Leitung der Abteilung Marine Ökologie der Universität Bremen in Partnerschaft mit der Seychelles Islands Foundation (SIF). Nur vier Jahre, nachdem bis zu zwei Drittel eines Riffs im Indischen Ozean beschädigt worden waren, entdeckten die Forschenden Erstaunliches: Große Teile der Korallen hatten sich erholt.
„Diese Erholungsgeschwindigkeit gehört zu den schnellsten, die jemals für Riffe beobachtet wurde“, sagt Christian Wild, Leiter der Arbeitsgruppe „Marine Ökologie“. Anna Koester, Doktorandin der Arbeitsgruppe, ist Erstautorin einer Studie, die kürzlich in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“ veröffentlicht wurde. Die Meeresökologin geht davon aus, dass die überraschend schnelle Erholung vor allem mit der besonderen Lage des Riffs zu tun hat: Das Forschungsteam untersuchte den Zustand der Korallen im Aldabra Atoll, einer kaum besiedelten und weit draußen im Indischen Ozean gelegenen Inselgruppe. „Dort spielen menschgemachte lokale Faktoren wie der Eintrag von Nährstoffen, die Meeresverschmutzung und die Überfischung so gut wie keine Rolle“, erläutert die Wissenschaftlerin. Das ideale Gebiet also, um herauszufinden, wie sich der Zustand geschädigter Riffe verändert, wenn sie keinen menschengemachten Stressfaktoren ausgesetzt sind.
Die Untersuchung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigte: Die Riffe, die in der ausgedehnten Lagune des Aldabra Atolls liegen, erholten sich in weniger als vier Jahren von der globalen Korallenbleiche der Jahre 2015/2016. Damals waren bis zu zwei Drittel der Korallen beschädigt worden. Auch die Korallen auf der dem offenen Meer zugewandten Seite regenerierten sich schnell, wenn auch nicht ganz so rasch wie in der geschützten Lagune. „Sie sind der Strömung und den Wellen ausgesetzt, das scheint eine Rolle zu spielen“, sagt Koester. Deutlich langsamer ging es in tieferen Regionen voran: Im Gegensatz zu den Riffen im flachen Gewässer erholten sich die tiefer gelegenen Korallen nur schleppend.
Das Fazit von Koester und Wild: Wenn es gelingt, lokale Stressfaktoren wie den Eintrag von Nährstoffen entscheidend zu reduzieren, dann können sich Korallenriffe gut und schnell von einer Bleiche erholen und haben eine Chance, weiterzuleben. Trotzdem sei es essentiell, die Auslöser von Korallenbleichen, vor allem die Ozeanerwärmung, zu reduzieren. Denn nicht jedes Riff regeneriere sich gleich gut – vor allem in weniger geschützter Umgebung werde mehr Zeit benötigt. „Alle Modelle sagen voraus, dass die Frequenz von Korallenbleichen in Zukunft zunehmen wird“, betont Wild. Dann würden auch für die bis jetzt privilegierten Korallenriffe in der Lagune von Aldabra harte Zeiten anbrechen.
Originalpublikation:
Koester A, Migani V, Bunbury N, Ford A, Sanchez C, Wild C (in press): Early trajectories of benthic coral reef communities following the 2015/16 coral bleaching event at remote Aldabra Atoll, Seychelles. Scientific Reports
https://doi.org/10.1038/s41598-020-74077-x

16.10.2020, Universität Innsbruck
Madagaskar: Mensch und Klima verursachten Massen-Aussterben
Die gesamte endemische Megafauna Madagaskars und der östlich davon gelegenen Inselkette der Maskarenen, zu der Mauritius und Rodrigues zählen, wurde im vergangenen Jahrtausend ausgerottet. Um die Ursachen dafür zu finden, rekonstruierte ein internationales Team mit Beteiligung des Innsbrucker Geologen Christoph Spötl die letzten 8000 Jahre des dortigen Klimas. Ihre Ergebnisse zeigen, dass das Ökosystem gegenüber Klimaschwankungen widerstandsfähig blieb, bis der Mensch die Inseln besiedelte. Die Studie wurde nun in Science Advances veröffentlicht.
Nahezu die gesamte madagassische Megafauna – darunter der berühmte Dodo-Vogel, gorillagroße Lemuren, Riesenschildkröten und der bis zu drei Meter große und 500 Kilo schwere Elefantenvogel – verschwand vor 1500 bis 500 Jahren. Wurden die Tiere vom Menschen ausgerottet? Oder verschwanden sie aufgrund des Klimawandels? Die genaue Ursache dieses Massensterbens ist nach wie vor umstritten. Die Maskarenen östlich von Madagaskar sind für die Forschung von besonderem Interesse, da sie zu den letzten Inseln der Erde gehören, die von Menschen besiedelt wurden. In einer nun im Journal Science Advances veröffentlichten Studie zeigt ein internationales Forscher*innen-Team, dass es sich wahrscheinlich um ein Art „Doppelschlag“ handelte: Die Zunahme menschlicher Aktivitäten in Kombination mit einer besonders schweren Dürreperiode in der gesamten Region dürfte die Megafauna der Inseln ausgelöscht haben. Die Wissenschaftler*innen schließen den Klimawandel als alleinige Ursache aus und vermuten, dass die Auswirkungen der menschlichen Kolonisierung entscheidend zum Zusammenbruch der Megafauna beigetragen haben. Hanying Li, Postdoktorandin an der Xi’an Jiaotong-Universität in China und Hauptautorin der Studie, erarbeitete eine detaillierte Geschichte der regionalen Klimaschwankungen. Die primäre Quelle dieser neuen Paläoklima-Aufzeichnung stammt von der winzigen Insel Rodrigues im südwestlichen Indischen Ozean, etwa 1600 km östlich von Madagaskar. „Dabei handelt es sich um eine Insel, die so abgelegen und klein ist, dass man sie in den meisten Schulbuchatlanten nicht finden wird“, verdeutlicht Gayatri Kathayat, eine der Koautorinnen und Professorin für Klimawissenschaften an der Universität Xi’an Jiaotong.
Analyse von Höhlenablagerungen
Li und ihre Kolleg*innen basierten ihre Klimaaufzeichnungen auf Spurenelementen sowie Kohlenstoff- und Sauerstoffisotopen aus Wachstumsschichten von Stalagmiten, die sie in einer der vielen Höhlen dieser Insel gefunden hatten. Der Hauptteil dieser Analysen wurde in den Laboren der Arbeitsgruppe für Quartärforschung am Institut für Geologie der Universität Innsbruck unter der Leitung von Prof. Christoph Spötl durchgeführt. „Die Variationen in den geochemischen Signaturen lieferten uns jene Informationen, die nötig waren, um das Niederschlagsmuster der Region über die letzten 8000 Jahre zu rekonstruieren. Dazu haben wir die Isotopenwerte bestimmt“, erklärt Spötl. Trotz der Entfernung zwischen den beiden Inseln werden die Sommerregenfälle auf Rodrigues und Madagaskar durch denselben globalen tropischen Regengürtel beeinflusst, der sich im Verlauf des Jahres in Nord-Süd-Richtung verlagert. „Wenn dieser Gürtel nördlich von Rodrigues bleibt, kann die gesamte Region von Madagaskar bis Rodrigues von Dürre heimgesucht werden“, sagt Hai Cheng, ebenfalls von der Universität Xi’an Jiaotong. „Unsere Studie zeigt, dass das Hydroklima der Region in den letzten acht Jahrtausenden eine Reihe von Austrocknungstendenzen durchlief, die häufig von jahrzehntelangen ‚Megadürren’ unterbrochen wurden“, ergänzt Hubert Vonhof, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz und Koautor der Studie.
Resistent gegen Klimastress
Die jüngste der Austrocknungstendenzen in der Region begann vor etwa 1500 Jahren – zu einer Zeit, für die die Daten der Forscher*innen eindeutige Anzeichen für eine verstärkte menschliche Präsenz auf der Insel belegen. „Wir können zwar nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob menschliche Aktivitäten wie Jagd oder die Zerstörung von Lebensräumen der sprichwörtliche letzte Tropfen waren, der das Fass zum Überlaufen brachte. Unsere paläoklimatischen Aufzeichnungen sprechen aber eindeutig dafür, dass die Megafauna alle früheren Episoden noch größerer Trockenheit überlebt hatte. Diese Widerstandsfähigkeit gegenüber vergangenen Klimaschwankungen lässt vermuten, dass ein zusätzlicher Stressfaktor zur Ausrottung der Megafauna der Region beigetragen hat“, verdeutlicht Ashish Sinha, Professor für Geowissenschaften an der California State University Dominguez Hills, USA. „Es fehlen noch viele Informationen, um das Rätsel des Zusammenbruchs der Megafauna vollständig zu lösen. Unsere Studie liefert nun einen wichtigen, mehrere Jahrtausende umfassenden klimatischen Kontext für das Aussterben“, sagt Ny Rivao Voarintsoa von der KU Leuven in Belgien. Die Studie wirft somit ein neues Licht auf die Dezimierung der Flora und Fauna von Mauritius und Rodrigues: „Auf beiden Inseln verschwanden bereits innerhalb von zwei Jahrhunderten nach der ersten menschlichen Besiedlung viele endemische Wirbeltierarten, darunter der bekannte flugunfähige Vogel ‚Dodo‘ auf Mauritius und die auf Rodrigues heimischen Riesenschildkröten.“
„Ein Blick auf die schwankende Klimageschichte der letzten 8000 Jahre dieser Inseln zeigt uns, dass sich die Ökosysteme und ihre Megafauna durch Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit auszeichneten. Die Kombination aus diesen Schwankungen und dem Einfluss der menschlichen Besiedelung ermöglichte den großen Tierarten der damaligen Zeit allerdings kein weiteres Überleben“, schlussfolgern die Forscherinnen und Forscher.
Originalpublikation:
H. Li, A. Sinha, A. Anquetil André, C. Spötl, H. B. Vonhof, A. Meunier, G. Kathayat, P. Duan, N. R. G. Voarintsoa, Y. Ning, J. Biswas, P. Hu, X. Li, L. Sha, J. Zhao, R. L. Edwards, H. Cheng, A multimillennial climatic context for the megafaunal extinctions in Madagascar and Mascarene Islands. Sci. Adv. 6, eabb2459 (2020). DOI: 10.1126/sciadv.abb2459

16.10.2020,Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Die Zukunft des Krills
Fachleute empfehlen ein neues Management, um die ökologisch wichtigen Krebse des Südpolarmeers vor Überfischung zu schützen
Krill wird immer beliebter. Als Fischfutter für Aquakulturen lässt sich der kleine Krebs aus der Antarktis ebenso verwenden wie als Zutat für Nahrungsergänzungsmittel oder Wundheilungscremes. Zwar sind die erlaubten Fangmengen reguliert. Dennoch ist Vorsicht geboten, um die Krill-Population selbst und die von ihr abhängigen Arten nicht zu gefährden, warnt eine Gruppe von Krill-Experten unter der Leitung von Prof. Dr. Bettina Meyer vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) im Fachjournal Communications Earth & Environment – Nature.
Etwa fünf Zentimeter lang, rötlich, garnelenartige Figur: Auf den ersten Blick gehört der Antarktische Krill Euphausia superba sicher nicht zu den eindrucksvollsten Bewohnern des Südpolarmeers. Doch der unscheinbare Krebs ist eine Schlüsselfigur im dortigen Ökosystem. Schließlich liefert er die Nahrungsgrundlage für zahllose andere Tiere von Fischen, Pinguinen und Seevögeln bis hin zu Robben und Walen.
Auch der Mensch hat in den letzten Jahrzehnten immer mehr Interesse an ihm entwickelt. Vor allem Norwegen, aber auch Korea, China, Chile, die Ukraine und Japan schicken Trawler ins Südpolarmeer, die dem Krill mit Netzen sowie mit modernen, sehr effektiven Pumpsystemen nachstellen. Die steigende Nachfrage nach Krill ist angetrieben von zwei Wirtschaftszweigen. Erstens die zunehmende Produktion von fleischfressenden Fischen in der Aquakultur, wie Lachs, und der daraus folgende Anstieg der Nachfrage nach Fischmehl und Nebenprodukten aus der industriellen Verarbeitung von Meerestieren. Zweitens die steigende Nachfrage nach hochwertigen pharmazeutischen Produkten und Nahrungsergänzungsmitteln aus Krillöl und Krillmehl, wie z. B. Wundsalpe und Krillölkapseln für den menschlichen Gebrauch sowie Haustierfutter.
Zuständig für das Management der Krill-Fischerei ist die „Commission for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources“ (CCAMLR), die 1982 gegründet wurde. Dieses Gremium legt auf der Basis von Bestandsaufnahmen und Modellrechnungen fest, welche Mengen in welchen Regionen gefangen werden dürfen. Für den atlantischen Sektor des Südpolarmeeres, in dem sich nicht nur die Krill-Bestände, sondern auch die Fangflotten konzentrieren, liegt die maximal zulässige Menge pro Jahr bei insgesamt 620.000 Tonnen, die sich auf verschiedene Fanggebiete verteilen.
Das ist nur ein Bruchteil der 300 bis 500 Millionen Tonnen Krill, die Schätzungen zufolge insgesamt in den Meeren rund um die Antarktis leben. Daher hatte man bei der CCAMLR lange angenommen, dass die festgelegten Fangmengen keinen ernsthaften Schaden anrichten könnten. Doch Krill-Fachleute wie Bettina Meyer sehen das inzwischen anders. „Das Problem ist, dass die Fangvorschriften bisher vor allem darauf zielen, die Krill-Fresser zu schützen“, erklärt die Forscherin. „Zu wenig beachtet wurden dagegen mögliche Risiken für die Krill-Bestände selbst.“
Das liegt auch daran, dass man über manche Aspekte in der Biologie der kleinen Krebse noch relativ wenig weiß. Finanziert vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) versucht Bettina Meyer mit ihrem Kollegen Dr. Ryan Driscoll und ihrer ganzen Arbeitsgruppe, in dieser Hinsicht mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Und auch andere Teams rund um die Welt nehmen die Bestände und Ansprüche des Krills unter die Lupe. Warum es den neusten Erkenntnissen zufolge gleich mehrere Gründe gibt, sich um die Zukunft dieser Schlüsselart zu sorgen, fassen internationale Krill-Experten in der neuen Publikation zusammen.
So schwanken die Krill-Mengen in manchen Regionen aus noch unbekannten Gründen von Jahr zu Jahr sehr stark, die Fangmengen werden aber nicht entsprechend angepasst. Zudem scheint nur ein geringer und auf ein relativ kleines Gebiet begrenzter Teil der Population für den Nachwuchs im gesamten atlantischen Teil des Südpolarmeeres zu sorgen. Und schließlich ist nur wenig darüber bekannt, wann sich die neuen Krill-Generationen wo aufhalten und wie ihre Wanderungen aussehen. Es kann also durchaus passieren, dass mit den werdenden Krill-Eltern und ihrem Nachwuchs vom letzten Jahr ausgerechnet die besonders wichtigen Teile der Population überfischt werden.
Im vergangenen Jahr hat CCAMLR daher beschlossen, ein neues Krill-Management zu entwickeln.
Beraten wird das Gremium dabei von der „Krill Action Group“ unter dem Dach des Scientific Committee of Antarctic Research (SCAR), die 2018 gegründet wurde. Zurzeit besteht sie aus 46 internationalen Mitgliedern, die sich jeweils zur Hälfte aus erfahrenen und Nachwuchs-Krillforschern zusammensetzen. „Unser Ziel ist es, CCAMLR die neusten Erkenntnisse über die Größe, Verteilung und Dynamik der Krill-Bestände zur Verfügung zu stellen“, erklärt Bettina Meyer, die diese Expertengruppe leitet.
Wichtig für künftige Management-Entscheidungen sind dabei nicht nur Daten über die Wanderungen und Aufenthaltsorte der verschiedenen Krill-Fraktionen. Es gilt auch zu klären, welche Umweltbedingungen für besonders gute oder schlechte Krill-Jahre sorgen. Und da sich gerade der atlantische Sektor des Südpolarmeers besonders stark erwärmt, ist auch die Anpassungsfähigkeit der kleinen Krebse an den Klimawandel entscheidend. „Die bisherigen Modelle von CCAMLR berücksichtigen diese Plastizität nicht“, erklärt Bettina Meyer. „Genau darüber müssen wir aber mehr wissen, wenn wir zukünftige Veränderungen der Population prognostizieren wollen.“
Sie und ihre Kollegen haben auch bereits konkrete Vorstellungen, wie sich die noch fehlenden Daten erheben ließen. Da es für Forschungsexpeditionen per Schiff nur begrenzte Möglichkeiten gibt, setzen sie beispielsweise auf die Unterstützung der Fischereiflotten. Auf deren Schiffen könnten zahlreiche Krill-Daten gesammelt werden, die dazu beitragen können, die Wissenslücken zu schließen.
Zudem gibt es bereits verschiedene technische Möglichkeiten, den Krill-Beständen und ihrer Verteilung auf die Spur zu kommen. Dazu gehören zum Beispiel autonome, steuerbare Glider, die wie Mini-Segelflugzeuge mit einer Spannweite von etwa 1,50 Metern aussehen und mit diversen Kameras und Mess-Sonden ausgestattet sind. In wechselnden Tiefen von der Oberfläche bis zu 1000 Metern durchstreifen sie mehrere Monate lang den Ozean und sammeln Daten zur Dichte und Verteilung des Krills.
Weitere wichtige Informationen, die für das Management der Krill-Fischerei relevant sind, liefern sogenannte Moorings. Das sind Plattformen, die am Meeresgrund verankert sind und die ebenfalls mit verschiedenen Messgeräten bestückt werden können. Und schließlich gibt es noch die Möglichkeit, Kamerasysteme und Mess-Sonden auf Walen, Robben oder Pinguinen zu befestigen und so die Krill-Fresser als Forschungsassistenten zu rekrutieren.
„Das alles kann uns wertvolle neue Informationen für ein besseres Krill-Management liefern“, ist Bettina Meyer überzeugt. Wichtig sei es aber, diese Forschungsbemühungen international zu koordinieren, damit möglichst große Bereiche des Südozeans unter die Lupe genommen werden können: „Als Einzelkämpfer kann niemand die komplexen Fragen der Krill-Forschung beantworten.“
Originalpublikation:
Bettina Meyer et al.: „ Successful ecosystem-based management of Antarctic krill should address uncertainties in krill recruitment, behaviour and ecological adaptation”. Communications Earth & Environment – Nature, DOI 10.1038/s43247-020-00026-1
https://doi.org/10.1038/s43247-020-00026-1

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