Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

4.09.2020, Eberhard Karls Universität Tübingen
Tübinger Forscher weisen erstmals Bewusstseinsprozesse im Gehirn von Vögeln nach
Hirnaktivität von Krähen belegt deren subjektive Wahrnehmung ‒ Publikation im Fachmagazin Science
Durch Messung von Hirnsignalen ist einer Forschungsgruppe der Universität Tübingen erstmals der neurowissenschaftliche Nachweis gelungen, dass Rabenvögel über subjektives Erleben verfügen. Durch gleichzeitige Aufzeichnung von Verhalten und Hirnaktivität konnte die Gruppe um Professor Andreas Nieder zeigen, dass Krähen dazu fähig sind, Sinneseindrücke bewusst wahrzunehmen. Bisher konnte diese Art des Bewusstseins nur bei Menschen und anderen Primaten nachgewiesen werden, die über völlig anders aufgebaute Gehirnen verfügen als Vögel. „Die Ergebnisse unserer Studie eröffnen eine neue Sichtweise auf die Evolution des Wahrnehmungsbewusstseins und seiner neurobiologischen Randbedingungen“, sagte Nieder. Die Studie ist am 24. September 2020 im Fachmagazin Science erschienen.
Bei Menschen und unseren nächsten Verwandten im Tierreich, den Affen, wird die Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung in der Großhirnrinde lokalisiert. In der Forschung wird seit vielen Jahren diskutiert, ob auch Tiere mit einem völlig anders aufgebauten Gehirn ohne Großhirnrinde über ein derart wahrnehmendes Bewusstsein verfügen. Bislang aber fehlten dazu experimentelle neurologische Daten.
Um den Bewusstseinsprozessen bei Vögeln auf die Spur zu kommen, trainierten die Tübinger Wissenschaftler zwei Krähen: Per Kopfbewegung sollten sie anzeigen, ob sie einen Reiz auf einem Bildschirm gesehen hatten oder nicht. Die meisten Reize waren eindeutig; in solchen Versuchsdurchläufen wurden entweder deutliche Lichtpunkte gezeigt oder gar keine Reize präsentiert ‒ die Krähen zeigten die An- und Abwesenheit dieser Reize zuverlässig an. Manche Reize waren allerdings konstant so schwach, dass sie an der Wahrnehmungsschelle lagen: Manchmal zeigten die Krähen an, den schwachen Reiz gesehen zu haben, in anderen Fällen, dass kein Reiz vorhanden sei. Hier kam also die subjektive Wahrnehmung der Krähen ins Spiel.
Während die Krähen auf die optischen Reize reagierten, registrierten die Forscherinnen und Forscher zugleich die Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn. Berichteten die Krähen, etwas gesehen zu haben, waren die Nervenzellen im Zeitraum zwischen Reizpräsentation und Verhaltensantwort aktiv. Nahmen sie keinen Reiz wahr, blieben die Nervenzellen stumm. Aufgrund der Aktivität der Nervenzellen ließ sich also vorhersagen, welches subjektive Erleben die Krähen hinsichtlich des Reizes hatte. „Nervenzellen, die Seheindrücke ohne subjektive Komponente repräsentieren, sollten auf einen gleichbleibenden visuellen Reiz immer gleich antworten“, erklärte Nieder: „Unsere Ergebnisse dagegen lassen nur den Schluss zu, dass Nervenzellen auf höheren Verarbeitungsstufen des Krähengehirns durch subjektives Erleben beeinflusst werden, oder genauer gesagt, subjektive Erlebnisse hervorbringen.“
Evolutionsgeschichtlich könnten die Ursprünge des Bewusstseins somit viel älter und im Tierreich weiter verbreitet sein, als bisher angenommen. „Die letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Krähe lebten vor 320 Millionen Jahren“, sagte Nieder. „Das Wahrnehmungsbewusstsein könnte möglicherweise bereits damals entstanden sein und sich seither weiter vererbt haben.“ Ein alternatives Szenario sei, dass sich das Wahrnehmungsbewusstsein bei diesen entfernt verwandten Arten völlig unabhängig voneinander entwickelt habe, erklärte der Neurobiologe: „In jedem Fall ist die Fähigkeit zu bewusstem Erleben mit verschieden gebauten Gehirnen und unabhängig von der Großhirnrinde realisierbar.“
Originalpublikation:
Andreas Nieder, Lysann Wagener, Paul Rinnert: A neural correlate of sensory consciousness in a corvid bird. Science, https://science.sciencemag.org/cgi/doi/10.1126/science.abb1447

25.09.2020, Ruhr-Universität Bochum
Vogelhirne weisen eine überraschende Organisation auf
Manche Vögel können erstaunliche kognitive Leistungen vollbringen – dabei erscheint ihr Gehirn im Vergleich mit dem von Säugetieren ziemlich unorganisiert. Die Arbeiten eines Forschungsteams der Ruhr-Universität Bochum (RUB) sowie aus Düsseldorf, Jülich und Aachen offenbaren erstmals verblüffende Ähnlichkeiten zwischen dem Neocortex der Säugetiere und sensorischen Hirnarealen von Vögeln: Beide sind in horizontalen Schichten und vertikalen Säulen vernetzt. Damit sind 150 Jahre alte Annahmen widerlegt. Das Team hat seine Ergebnisse in der Zeitschrift „Science“ vom 25. September 2020 veröffentlicht.
Die größten Gehirne
Vögel und Säugetiere haben gemessen an ihrer Körpergröße die größten Gehirne. Ansonsten hätten sie allerdings wenig gemeinsam, so die Überzeugung der Wissenschaft seit dem 19. Jahrhundert: Säugetiergehirne verfügen über einen Neocortex: eine Hirnrinde, die aus sechs Schichten aufgebaut und senkrecht zu diesen Schichten in Kolumnen hochgradig geordnet ist. Vogelgehirne hingegen sehen aus wie Klumpen aus grauen Zellen.
„Angesichts der erstaunlichen kognitiven Leistungen, die Vögel vollbringen können, lag der Verdacht allerdings nahe, dass ihr Gehirn organisierter aufgebaut ist als gedacht“, so Prof. Dr. Onur Güntürkün, Leiter der Arbeitseinheit Biopsychologie an der Fakultät für Psychologie der RUB. In mehreren Experimenten gelang ihm mit seinen ehemaligen Doktoranden Dr. Martin Stacho und Dr. Christina Herold der Nachweis.
Im ersten Schritt kam eine neue, durch die Düsseldorfer und Jülicher Teams perfektionierte Methode zum Einsatz: Das sogenannte 3D polarized light imaging, kurz 3D-PLI, ist in der Lage, einzelne Nervenfasern, in denen Signale weitergeleitet werden, und deren Ausrichtung darzustellen. Die Untersuchung der Gehirne verschiedener Vögel ergab eine für die Forscher überraschende Organisation, die der im Säugetiergehirn ähnlich ist: Auch hier verlaufen die Fasern horizontal und vertikal genauso wie im Neocortex.
Weitere Experimente erlaubten es mittels winziger Kristalle, welche Nervenzellen in Hirnschnitten aufnehmen und in ihre kleinsten Verästelungen transportieren, die Vernetzung der Zellen im Vogelhirn genau zu untersuchen. „Auch hierbei zeigte sich der Aufbau in Säulen, in denen Signale von oben nach unten und umgekehrt weitergeleitet werden, und horizontale lange Fasern“, erklärt Onur Güntürkün. Dieser Aufbau ist allerdings nur in den sensorischen Bereichen des Vogelgehirns vorzufinden. Andere Bereiche, wie etwa assoziative Areale, sind anders organisiert.
Box: Erstaunliche kognitive Leistungen
Einige Vögel sind zu erstaunlichen kognitiven Leistungen in der Lage, die man eigentlich nur höher entwickelten Säugetieren wie Primaten zugetraut hätte. So erkennen sich Raben selbst im Spiegel und planen in die Zukunft. Ebenso können sie sich in andere hineinversetzen, Kausalitäten erkennen und Schlussfolgerungen ziehen.
Tauben können die englische Rechtschreibung lernen bis hin zum Niveau sechsjähriger Kinder.
Originalveröffentlichung
Martin Stacho, Christina Herold, Noemi Rook, Hermann Wagner, Markus Axer, Katrin Amunts, Onur Güntürkün: A cortex-like canonical circuit in the avian forebrain, in: Science 2020, DOI: 10.1126/science.abc5534

25.09.2020, Deutsches Primatenzentrum GmbH – Leibniz-Institut für Primatenforschung
Hirngröße bei Primaten sagt nichts über deren Intelligenz aus

Göttinger Forscherteam vergleicht kognitive Fähigkeiten verschiedener Primatenarten
Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans sind unsere nächsten Verwandten, haben wie wir relativ große Gehirne und sind sehr intelligent. Aber schneiden Tiere, die größere Gehirne haben, auch wirklich besser in kognitiven Tests ab? Ein Forscherteam vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) – Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen hat erstmals systematisch die kognitiven Fähigkeiten von Lemuren untersucht, die im Vergleich zu anderen Primaten relativ kleine Gehirne haben. Bei systematischen Tests mit identischen Methoden zeigte sich, dass sich die kognitiven Fähigkeiten der Lemuren kaum von denen von Affen und Menschenaffen unterscheiden. Vielmehr zeigt diese Studie, dass der Zusammenhang von Hirngröße und kognitiven Fähigkeiten nicht verallgemeinert werden kann und liefert neue Erkenntnisse zur Evolution kognitiver Fähigkeiten bei Primaten (PeerJ).
Menschen und nicht-menschliche Primaten zählen zu den intelligentesten Lebewesen. Ihre Hirngröße könnte dabei von entscheidender Bedeutung sein, denn Primaten haben in Bezug auf ihre Körpergröße relativ große Gehirne. So wird zum Beispiel angenommen, dass größere Gehirne eine schnellere Lernfähigkeit und ein besseres Gedächtnis ermöglichen. Innerhalb der Primaten unterscheiden sich verschiedene Arten aber in ihrer Gehirngröße um das 200fache. Deshalb hat ein Forscherteam vom Deutschen Primatenzentrum (DPZ) jetzt untersucht, ob sich die kognitiven Leistungen von Lemuren, die relativ kleine Gehirne besitzen, von denen anderer Primaten unterschieden.
Mit einer umfangreichen standardisierten Testreihe kognitiver Experimente, der sogenannten „Primate Cognition Test Battery“ (PCTB), wurden bereits kleine Kinder, Menschenaffen sowie Paviane und Javaneraffen auf ihre kognitiven Fähigkeiten im technischen und sozialen Bereich getestet. Technische kognitive Fähigkeiten umfassen das Verständnis für räumliche, numerische und kausale Beziehungen zwischen unbelebten Objekten, während soziale kognitive Fähigkeiten absichtliche Handlungen, Wahrnehmungen und das Verständnis über das Wissen anderer Lebewesen umfassen. Die ersten Versuche haben gezeigt, dass Kinder eine bessere soziale Intelligenz besitzen als nicht-menschliche Primaten. In der technischen Kognition unterschieden sich die Arten jedoch kaum, obwohl sie sich in ihrer relativen Hirngröße stark unterscheiden.
Nun haben Forschende der Abteilung „Verhaltensökologie und Soziobiologie“ des DPZ erstmals drei Lemurenarten mit der PCTB getestet. Lemuren sind die ursprünglichsten lebenden Primaten und stellen die evolutionäre Brücke zwischen Primaten und anderen Säugetieren dar, weshalb sie als lebendes Modell ursprünglicher kognitiver Fähigkeiten bei Primaten dienen. Die in dieser Studie untersuchten Kattas, Schwarzweißen Varis und Grauen Mausmakis unterscheiden sich untereinander, aber auch im Vergleich zu den bereits getesteten Altwelt-Affen, deutlich im Sozialsystem, ihrer Ernährung und Gehirngröße.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Lemuren mit ihren deutlich kleineren Gehirnen im Schnitt genauso gut in den kognitiven Tests abschneiden wie die anderen Primaten. Dies gilt selbst für Mausmakis, welche ein rund 200fach kleineres Gehirn haben als Schimpansen und Orang-Utans. Lediglich beim räumlichen Denkvermögen waren die Primatenarten mit größeren Gehirnen besser. Beim Verständnis für kausale und numerische Zusammenhänge sowie bei den Tests zu sozialen kognitiven Fähigkeiten ließen sich allerdings keine systematischen Artunterschiede erkennen. Weder Ernährung noch Sozialleben oder Hirngröße können die Ergebnisse aus den Versuchen mit der PCTB schlüssig erklären. „Mit unserer Studie zeigen wir, dass man kognitive Fähigkeiten nicht verallgemeinern kann, sondern dass sich Arten viel mehr in bestimmten Bereichen innerhalb ihrer sozialen und technischen Fähigkeiten unterscheiden“, sagt Claudia Fichtel, eine der beiden Erstautorinnen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Studie. „Dementsprechend kann auch der Zusammenhang zwischen Hirngröße und kognitiven Fähigkeiten nicht generalisiert werden“.
Die Studie stellt die erste systematische und vergleichende Untersuchung kognitiver Fähigkeiten von Lemuren dar und liefert wichtige Erkenntnisse zur Evolution kognitiver Fähigkeiten von Primaten. Das Forscherteam betont aber auch, dass weitere vergleichende Studien bei einer Vielzahl anderer Arten unerlässlich sind, um die vielen Fragen rund um die Zusammenhänge zwischen Gehirngröße, Ernährung, Sozialleben und Kognition zu beantworten.
Originalpublikation:
Fichtel C, Dinter K, Kappeler PM. 2020. The lemur baseline: how lemurs compare to monkeys and apes in the Primate Cognition Test Battery. PeerJ 8:e10025 https://doi.org/10.7717/peerj.10025

28.09.2020, Deutsche Wildtier Stiftung
Der Rothirsch – die verfressene Sau
Plakat-Kampagne der Deutschen Wildtier Stiftung will auf den winzigen Lebensraum für Rothirsche aufmerksam machen
Verfressene Sau!? Was macht der Rothirsch – als verfressene Sau verunglimpft – in der Stadt? Die Plakat-Kampagne der Deutschen Wildtier Stiftung wirkt verstörend. Das Wildtier ist deplatziert, heimatlos und bietet einen traurigen Anblick. Ein so mächtiges Tier auf Asphalt, vor Graffitis, an Bahngleisen – in einem Umfeld weit weg von seinem natürlichen Lebensraum.
Mit der Plakat-Kampagne will die Deutsche Wildtier Stiftung vor allem eins: Aufmerksamkeit für den Rothirsch erzeugen! „Wir sind die Stimme der Wildtiere“, sagt Dr. Andreas Kinser, stellvertretender Leiter der Abteilung Natur- und Artenschutz der Deutschen Wildtier Stiftung. „Unsere Plakate sprechen für den Rothirsch, der in seinem natürlichen Lebensraum meist unerwünscht ist.“ Die Deutsche Wildtier Stiftung will nicht, dass der Rothirsch auf das Image eines Schädlings – als verfressene Sau – reduziert und denunziert wird. „Auch Rothirsche haben unseren Respekt verdient, denn sie sind ein faszinierender Bestandteil unserer heimischen Ökosysteme“, sagt Kinser.
Vor allem in Baden-Württemberg geht es dem Hirsch an den Kragen. Um auf die Probleme des Tieres speziell in diesem Bundesland aufmerksam zu machen, startet die Deutsche Wildtier Stiftung ihre große Plakat-Kampagne am 29. September in der Stuttgarter Innenstadt und am Hauptbahnhof.
Warum Stuttgart? „Hier sitzen die Hauptverantwortlichen, die den Rothirsch lieber tot sehen als im Wald“, kritisiert Kinser. Denn was die wenigsten Menschen wissen: Wo Rothirsche leben dürfen, entscheiden die Bundesländer. In vielen Bundesländern darf der Hirsch nur in festgelegten Gebieten, den sogenannten Rotwildbezirken, leben. Bei Grenzüberschreitung müssen die Tiere erschossen werden. Die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern sind besonders radikal in der Umsetzung ihrer Rotwildpolitik. Andreas Kinser: „In Baden-Württemberg darf der Hirsch nur auf 4 % der Landesfläche in fünf Rotwildbezirken existieren. Auf den anderen 96 % muss er dagegen per Gesetz ausgerottet werden.“
Die bestehende Rotwildrichtlinie auf Basis einer völlig veralteten gesetzlichen Regelung läuft 2020 aus. Sie darf aus Sicht der Deutschen Wildtier Stiftung nicht verlängert werden!
Damit der Rothirsch nicht zur „armen Sau“ wird: www.HilfdemHirsch.org.

28.09.2020, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Superfrösche in Berlin
Weltweit verändert der Mensch die Umwelt, meist zu Lasten anderer Arten. Es gibt aber auch Arten die erfolgreich in diesen neuen Ökosystemen überdauern. Forschende des Museums für Naturkunde Berlin publizierten nun im Fachmagazin „Global Change Biology“, wie der Grasfrosch in den letzten 150 Jahren in Berlin und Brandenburg zurechtgekommen ist. Anhand von Tieren aus der Forschungssammlung des Museums für Naturkunde Berlin entdeckten sie, dass es dem Grasfrosch in der Stadt nun sogar besser zu gehen scheint als vor 100 Jahren.
Durch das Wachstum von Städten werden viele natürliche Habitate versiegelt. Straßen und Bahnstrecken zerschneiden die Landschaft, in der Städte als Wärmeinseln liegen. Gleichzeitig führt ein steigender Bedarf an landwirtschaftlicher Nutzfläche ebenfalls zur Verminderung naturnaher Lebensräume und oft zu erhöhter Emission von Treibhausgasen. Der Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden vermindert die Wasserqualität, mit negativen Auswirkungen auf die an Gewässer gebundenen Organismen. Eine Tiergruppe, die weltweit besonders negativ von Umweltveränderungen betroffen ist, sind die Amphibien.
Dennoch gibt es auch unter ihnen Arten, die in veränderten Lebensräumen überdauern. In Mitteleuropa trifft dies u.a. für den Grasfrosch zu. Wie Arten langfristig mit Veränderungen zurechtkommen und ob sie sich dabei verändern, ist oft schwer oder wegen der langen Zeiträume gar nicht direkt zu untersuchen. Für den langfristigen Erhalt der Biodiversität und ihre Serviceleistungen benötigen wir aber genau dieses Wissen. Hilfe bei der Beantwortung solcher Fragen können naturkundliche Sammlungen liefern. Forschende des Museums für Naturkunde Berlin haben jetzt in einer im Fachmagazin „Global Change Biology“ veröffentlichten und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF Verbundprojekt: Bridging in Biodiversity Science – BIBS, Förderkennzeichen: 01LC1501A-H) geförderten Studie untersucht, wie sich zunehmende Urbanisierung und landwirtschaftliche Intensität auf den Grasfrosch auswirken. Hierfür erfassten sie Daten zur Körpergröße, fluktuierender Asymmetrie und der Biochemie von Fröschen, die aus Berlin und Brandenburg in den letzten 150 Jahren in die Sammlung des Museums für Naturkunde gekommen sind.
Die Forschenden nahmen an, dass sich die Bedingungen für den Grasfrosch, sowohl in der Stadt, als auch in zunehmend intensiver genutzten landwirtschaftlichen Flächen über die Zeit verschlechtert haben. Die Ergebnisse zeigten aber ein gänzlich unerwartetes Bild. In Berlin wurden die Frösche nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichsweise größer als früher. Sie scheinen also eher bessere Wachstumsbedingungen anzutreffen als im vermutlich sehr umweltbelasteten Vorkriegsberlin. Im ländlichen Brandenburg hingegen waren und blieben die Frösche kleiner. Bei der fluktuierenden Asymmetrie, die Abweichung von perfekter Körpersymmetrie gilt als Zeichen für Umweltstress, zeigte sich eine ähnliche Tendenz. Berliner Frösche aus jüngerer Zeit hatten niedrigere Werten und somit wohl geringeren Stress, als Tiere vor dem Zweiten Weltkrieg und aus Brandenburg. Die Anreicherung schwerer Stickstoff-Isotopen nahm in Berlin und Brandenburg mit der Zeit ab, war jedoch allgemein höher und weniger variabel an Standorten mit landwirtschaftlicher Nutzung. Dies erklären die Autoren mit dem Einsatz von Düngemitteln und einer geringeren Heterogenität von Lebensräumen in der Agrarlandschaft. Zusammengenommen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass sich die Lebensraumbedingungen für Grasfrösche in Berlin, trotz zunehmender Bebauung und Verdichtung des Straßennetzes, sogar verbessert haben.
„Es hat uns zunächst schon sehr verwundert, dass sich die zunehmende Urbanisierung Berlins nicht negativ auf den Grasfrosch ausgewirkt hat“, erklärt die Erstautorin der Studie Stephanie Niemeier. Die detaillierte Analyse der Daten löste das Rätsel. Verantwortlich für das gute Abschneiden der Berliner Grasfrösche in jüngerer Zeit sind die städtischen Grünflächen, wie Parkanlagen, Friedhöfe und Kleingärten. Je höher der Anteil an Grünflächen, desto größer waren die Frösche und desto niedriger waren die Werte der fluktuierenden Asymmetrie und der schweren Stickstoff-Isotope. Die Studie zeigt somit beispielhaft, dass eine zunehmende Verstädterung nicht unbedingt und ausschließlich mit einer Verschlechterung der Bedingungen für städtische Arten einhergehen muss. Gebiete mit intensiver Landwirtschaft bieten hingegen nur Lebensräume mit geringerer Qualität. Wie der Leiter der Studie, Mark-Oliver Rödel, außerdem bemerkt, zeigt diese Arbeit auch wie „wichtig naturwissenschaftliche Sammlungen als ‚Zeitzeugen‘ der Veränderung sind; decken solche Sammlungen und die in ihr enthaltenen Informationen doch Zeiträume ab, die die Lebensspanne einzelner Forschender weit überdauern.“
Publikation: Niemeier S, Müller J, Struck U, Rödel M-O (2020, early view). Superfrogs in the city: 150 year impact of urbanization and agriculture on the European Common Frog. Global Change Biology; 00:1–13. https://doi.org/10.1111/gcb.15337

29.09.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Ein kleines bisschen Jurassic Park: DNA aus in Harz eingeschlossenen Insekten extrahiert
Senckenberg-Wissenschaftlerin Mónica Solórzano-Kraemer hat gemeinsam mit den Erstautoren David Peris und Kathrin Janssen von der Universität Bonn und weiteren Kolleg*innen aus Spanien und Norwegen erstmals erfolgreich genetisches Erbgut von Insekten aus sechs und zwei Jahre altem Harz extrahiert. Die DNA – insbesondere solche von bereits ausgestorbenen Tieren – ist ein wichtiges Instrument zur Bestimmung von Arten. Zukünftig möchten die Forschenden ihre neue Methode auch bei älteren Einschlüssen anwenden. Die Studie erscheint heute im Fachjournal „PLOS ONE“.
In Harz eingeschlossene Insekten, deren genetisches Erbgut zu Forschungszwecken entnommen werden soll – unweigerlich tauchen hier bei den meisten Erinnerungen an den Kino-Blockbuster „Jurassic Park“ auf. „Wir haben aber keineswegs vor Dinosaurier zu züchten”, lacht Dr. Mónica Solórzano-Kraemer vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „In unserer aktuellen Studie wollten wir vielmehr strukturiert herausfinden, wie lange die DNA von Insekten in harzigen Einschlüssen konserviert werden kann.“
Hierfür haben Erstautor Dr. David Peris von der Universität Bonn, die Frankfurter Bernsteinforscherin sowie Forschende der Universitäten Barcelona und Bergen und dem Geominero Museum (IGME) in Valencia das genetische Erbgut von sogenannten Ambrosia-Käfern, die im Harz von Animebäume aus Madagaskar eingeschlossen waren, untersucht. „Mit unserer Studie wollten wir grundlegend klären, ob DNA von Insekten, die im Harz eingeschlossen sind, konserviert bleibt. Für die von uns mittels Polymerase-Kettenreaktion-Methode (PCR), untersuchten, sechs und zwei Jahre alten Harzen aus Madagaskar konnten wir genau dies belegen“, erläutert Solórzano-Kraemer.
Bislang waren ähnliche Versuche an Inklusen in Millionen Jahre alten Bernsteinen oder in Tausende Jahre alten Kopalen gescheitert, da jüngere Umwelteinflüsse das Erbgut der eingeschlossenen Insekten zu stark veränderten oder zerstörten. In Harz eingebettete Proben wurden daher für genetische Untersuchungen als ungeeignet angesehen.
Solórzano-Kraemer ergänzt: „Wir zeigen nun zum ersten Mal, dass die DNA zwar sehr fragil ist, aber in unseren Proben erhalten geblieben ist. Wir schließen daraus, dass es möglich ist, die Genomik von in Harz eingebetteten Organismen zu untersuchen.“
Unklar ist noch wie lange sich die DNA in den Harzen halten kann – hier soll die Methode zukünftig Schritt für Schritt von den jüngsten bis zu den ältesten Proben eingesetzt werden, um das „Haltbarkeitsdatum“ der DNA im Harz festlegen zu können.
„Unsere Experimente zeigen, dass Wasser in den Einschlüssen sehr viel länger erhalten bleibt, als wir bisher angenommen haben. Dies könnte auch Auswirkungen auf die Stabilität des Erbgutes haben. Die Extraktion von funktionsfähiger DNA aus Millionen Jahre alten Bernsteinen scheint daher eher unwahrscheinlich“, schließt Solórzano-Kraemer.
Originalpublikation:
David Peris, Kathrin Janssen, H. Jonas Barthel, Gabriele Bierbaum, Xavier Delclòs, Enrique Peñalver, Mónica M. Solórzano-Kraemer, Bjarte H. Jordal & Jes Rust (2020): DNA from resin-embedded organisms: past, present and future. PLOS ONE. DOI: doi.org/10.1371/journal.pone.0239521

28.09.2020, Philipps-Universität Marburg
Heuschrecken navigieren mit doppeltem Kompass
Orientierungshilfe im Kopf: Wüstenheuschrecken tragen einen Kompass im Gehirn, der den gesamten Himmel in voller Rundumsicht repräsentiert. Die neuen Erkenntnisse ergeben sich aus Messungen der elektrischen Aktivität von Nervenzellen, über die Biologen der Universitäten Marburg und Würzburg im Wissenschaftsmagazin PNAS berichten.
Die Heuschrecken der Art Schistocerca gregaria leben in der afrikanischen Wüste und zählen zu den Wanderheuschrecken. Von Zeit zu Zeit legen sie weite Strecken zurück. Das Ziel ihrer Wanderung ist genetisch festgelegt, aber wie sich die Tiere orientieren, gibt noch immer Rätsel auf. „Verhaltensexperimente haben gezeigt, dass Heuschrecken den Schwingungswinkel polarisierten Lichts wahrnehmen und sich im Flug danach orientieren“, erläutert der Marburger Neurobiologe Professor Dr. Uwe Homberg, Mitverfasser der aktuellen Studie.
Werden Sonnenstrahlen in der Erdatmosphäre gestreut, so erzeugen sie am blauen Himmel ein Muster an polarisiertem Licht, das für den Menschen nicht sichtbar ist. „Wir haben die elektrische Aktivität gemessen, mit denen Nervenzellen auf die Richtung reagieren, in der das Licht schwingt“, führt Frederick Zittrell aus, der seine Doktorarbeit in Hombergs Arbeitsgruppe anfertigt und als Erstautor der Studie firmiert; „diese Messungen haben wir an bis zu 33 Punkten eines virtuellen Himmels vorgenommen“.
Bestimmte Orientierungen des polarisierten Lichts lösen maximale Aktivität der Neuronen aus; „diese Orientierung variiert, je nach Ursprung des Lichts am Himmel“, ergänzt Homberg. „Die Orientierungen über den ganzen Himmel entsprechen Polarisationsmustern, wie sie bei bestimmten Sonnenständen vorkommen. Diese werden im Zentralkomplex des Heuschreckenhirns in einer Art Kompass kodiert.“ Dabei handele es sich um eine neuronale Repräsentation des Himmels, „sozusagen ein erwartetes Polarisationsmuster, das die Tiere mit dem tatsächlichen Muster abgleichen können“, legt Koautor Professor Dr. Keram Pfeiffer vom Biozentrum der Universität Würzburg dar.
Wie die Wissenschaftler herausfanden, repräsentieren die Zellen einen sehr großen Ausschnitt des Himmels – der Zentralkomplex gleicht einem Kompass, der volle 360 Grad abdeckt. Die Einstellung der Neuronen passt zudem zu den entsprechenden Sonnenständen. „Das Insektenhirn ist damit in der Lage, ohne Sicht auf die Sonne deren Position aus dem Polarisationsmuster des Himmels eindeutig abzuleiten“, konstatiert Pfeiffer.
„Der Zentralkomplex des Heuschreckenhirns fungiert somit als Schaltzentrale für die Navigation“, fasst Homberg zusammen: „Er kombiniert alle verfügbaren Hinweise vom Himmel, um sie zu einem Kompasssignal zu verschmelzen.“
Originalveröffentlichung: Frederick Zittrell, Keram Pfeiffer & Uwe Homberg: Matched-filter coding of sky polarization results in an internal sun compass in the brain of the desert locust, PNAS 2020

28.09.2020, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Klimawandel bedroht Brutvögel
Insektenfressende Vögel riskieren den Hungertot, wenn sie wegen der Erderwärmung früher anfangen zu brüten
Das Überleben auf einem sich erwärmenden Planeten kann eine Frage des richtigen Timings sein. Doch das eigene Verhalten einfach zu verschieben, um sich an das Tempo des Klimawandels anzupassen, birgt für einige Tiere laut neuen Forschungsergebnissen des Max-Planck-Instituts für Tierverhalten und der Cornell-Universität Gefahren.
Die Forschenden haben jahrzehntelang Daten zu Wetter, Nahrungsverfügbarkeit und Brutverhalten von nordamerikanischen Sumpfschwalben (Tachycineta bicolor) untersucht und herausgefunden, dass Brutzeit und Nahrungsverfügbarkeit für einige Tiere nicht mehr zusammenfallen. Die Studie hat drastische Konsequenzen für Vögel aufgedeckt, die im Gleichschritt mit dem früheren Frühlingsbeginn brüten: Früh schlüpfende Küken sind einem höheren Risiko für schlechte Wetterbedingungen, Futterknappheit und Sterblichkeit ausgesetzt. „Den Bruttermin einfach auf einen früheren Zeitpunkt zu verschieben, um mit dem Klimawandel Schritt zu halten, ist nicht unbedingt risikofrei. Da früher im Jahr riskantere Bedingungen herrschen, kann es für Tiere unbeabsichtigte Folgen haben, wenn sie auf ungewöhnlich warmes Frühlingswetter reagieren“, sagt Ryan Shipley, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Tierverhalten und Erstautor der Studie.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in den letzten Jahren untersucht, ob sich Arten an den Klimawandel anpassen und mit ihm Schritt halten können. Insbesondere die zeitliche Abfolge von Ereignissen wie Brüten und Zugverhalten und die Bedeutung der Anpassung dieser Ereignisse an steigende Temperaturen und frühere Frühlingseinbrüche spielt dafür eine wichtige Rolle.
Den Resultaten zufolge haben die Sumpfschwalben die Brutzeit alle zehn Jahre um drei Tage früher begonnen. Die Forschenden haben auch festgestellt, dass die Vögel bei früherer Brutzeit häufiger ungünstigen Wetterereignissen ausgesetzt sind, da diese früher im Jahr öfter auftreten. Dies hat wiederum zur Folge, dass den Vögeln weniger Insekten als Nahrung zur Verfügung stehen. „Für Vögel, die sich von Fluginsekten ernähren, wird an einem Tag geschlemmt, am nächsten gehungert. Vogeleltern vertrauen also in einem ungewöhnlich warmen Frühling darauf, dass die Bedingungen für eine frühere Eiablage auf ähnlich gute Bedingungen für die Aufzucht der Jungtiere in der Zukunft hindeuten“, erklärt Shipley.
Instabile Wetterlagen
Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kalkulation aufgeht, ist früh im Jahr geringer als später. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Tiere, die auf Nahrung angewiesen sind, deren Häufigkeit sich wetterbedingt schnell ändern kann, durch den Klimawandel ganz besonders gefährdet sein könnten“, sagt Shipley. Die Studie könnte auch Hinweise darauf liefern, warum die Zahl der Fluginsekten-fressenden Vögel wie Schwalben, Mauersegler, Fliegenschnäpper und Ziegenmelker in weiten Teilen Nordamerikas und Europas schneller zurückgeht als die Zahl anderer Vogelgruppen. Die Ergebnisse decken eine bisher unbekannte Bedrohung für Fluginsekten-fressende Vögel auf. „Der weit verbreitete Rückgang der Insektenpopulationen könnte diese Arten besonders hart treffen. Aber es gibt darüber hinaus noch eine Veränderung, die gar keine Veränderung des Insektenreichtums erfordert – nur eine Änderung der Verfügbarkeit über eine kurze Zeit.“
Die Forscher haben eine Population von Sumpfschwalben in Ithaca, New York, über 30 Jahre hinweg untersucht. Studien dieser Länge sind in der Ornithologie selten. Dadurch konnten die Forschenden Langzeitdaten zur Fortpflanzung der Vögel während der letzten 30, zum täglichen Insektenaufkommen während der letzten 25 und zum Wetter während der letzten 100 Jahre analysieren. „Langzeitstudien wie diese sind unerlässlich, um zu verstehen, wie und warum Arten von Klimaveränderungen betroffen sind. Sie können auch wertvolle Erkenntnisse darüber liefern, wie Organismen funktionieren, in komplexen ökologischen Netzwerken interagieren und sich entwickeln“, sagt Maren Vitousek, Professorin an der Cornell University, die das Langzeit-Versuchsgelände der Sumpfschwalbe in Ithaka betreibt.
Originalpublikation:
Ryan Shipley, Cornelia. W. Twining, Conor C. Taff, Maren N. Vitousek, Andrea Flack und David W. Winkler
Birds advancing lay dates with warming springs face greater risk of chick mortality.
Proceedings of the National Academy of Sciences, 28. September 2020

30.09.2020, Ludwig-Maximilians-Universität München
Entstehung von Arten – Verschobene Wahrnehmung
LMU-Evolutionsbiologen haben an zwei Schmetterlingsarten die genetischen Grundlagen unterschiedlicher Vorlieben bei der Partnerwahl untersucht und fünf beteiligte Gene identifiziert.
Die Entstehung neuer Arten hängt oft damit zusammen, dass sich Angehörige zweier Populationen nicht mehr verpaaren, weil sich ihre Präferenzen bei der Partnerwahl so verschoben haben, dass sie sich gegenseitig nicht mehr attraktiv finden. Ein Beispiel sind die eng verwandten tropischen Schmetterlingsarten Heliconius melpomene und Heliconius cydno: Die Schmetterlinge werden oft gemeinsam beobachtet und können sogar fruchtbare Nachkommen miteinander zeugen – aber trotzdem mischen sie sich kaum. Wie solche verhaltensbedingten Fortpflanzungsbarrieren entstehen, ist bisher weitgehend unbekannt. „Wenn Verhaltensänderungen genetisch bedingt sind, wie es bei unseren Schmetterlingen die Partnerwahl zu sein scheint, müssen sie mit Veränderungen in der Wahrnehmung einhergehen, also mit Veränderungen bei der Wahrnehmung oder Verarbeitung von Reizen“, sagt Dr. Richard Merrill. Mit seinem Team ist es dem LMU-Evolutionsbiologen in Kooperation mit Forschern am Smithsonian Tropical Research Institute in Panama und an der Universität Cambridge (Großbritannien) nun gelungen, fünf Gene zu identifizieren, die mit den unterschiedlichen Präferenzen der Schmetterlinge zusammenhängen. Wie die Wissenschaftler im Fachmagazin Nature Communications berichten, deuten diese Gene auf Veränderungen bei der Verarbeitung visueller Sinneseindrücke hin.
Heliconius melpomene und Heliconius cydno unterscheiden sich durch die Warnmuster, mit denen sie Fressfeinde vor ihrer Ungenießbarkeit warnen: H. melpomene hat schwarz, rot und gelb gefärbte Flügel, während diejenigen von H. cydno schwarz und weiß sind. Insbesondere die Männchen beider Arten bevorzugen deutlich Partner mit gleicher Färbung wie sie selbst. Auf der Suche nach den genetischen Grundlagen dieses Verhaltens konnten die Wissenschaftler bereits in früheren Untersuchungen drei genomische Regionen identifizieren, die mit der unterschiedlichen Paarungspräferenz assoziiert sind. Eine dieser Regionen hatte einen besonders starken Einfluss auf die Ausdauer, mit der ein Männchen um ein Weibchen einer bestimmten Farbe wirbt. In der Nähe dieses Chromosomenabschnitts befindet sich auch das sogenannte optix-Gen, das für die roten Farbmuster von H. melpomene ursächlich ist. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass solche engen räumlichen Verknüpfungen die Artbildung erleichtern. Allerdings umfasst die vielversprechende Kandidatenregion insgesamt mehr als 200 Gene.
In der neuen Studie verglich Matteo Rossi, Doktorand in Merrills Team und Erstautor der Studie, die Gensequenzen und die Aktivität dieser Gene in neuralem Gewebe – dazu gehörten Zentralhirn, visuelle Impulse verarbeitende Strukturen im Gehirn, und das Facettenauge bildende Einzelaugen – von H. melpomene und H. cydno. Auf diese Weise konnten die Wissenschaftler fünf Gene identifizieren, die bei den beiden Arten differieren und mit den unterschiedlichen visuellen Präferenzen assoziiert sind. Drei dieser Gene hängen mit Schlüsselkomponenten der neuronalen Signalübertragung zusammen. „Insgesamt deuten unsere Kandidatengene darauf hin, dass die unterschiedlichen Vorlieben für die Farbe des Partners auf Unterschieden bei der Verarbeitung der visuellen Information beruhen – die Tiere sehen nicht anders, aber sie reagieren unterschiedlich auf die Warnmuster“, sagt Rossi. „Auf diese Weise können sich im Lauf der Evolution die Partnerpräferenzen verschieben, ohne dass auch die Wahrnehmung der weiteren Umgebung verändert ist.“
Originalpublikation:
Visual mate preference evolution during butterfly speciation is linked to neural processing genes
Matteo Rossi, Alexander E. Hausmann, Timothy J. Thurman, Stephen H. Montgomery, Riccardo Papa, Chris D. Jiggins, W. Owen McMillan & Richard M. Merrill
Nature Communications 2020
https://www.nature.com/articles/s41467-020-18609-z

30.09.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Neue Familie für den Gollum-Schlangenkopffisch
Senckenberg-Wissenschaftler Ralf Britz hat mit einem internationalen Team eine neue Familie der Knochenfische beschrieben. Die unterirdisch in wasserführenden Gesteinen lebenden Fische wurden erst kürzlich in Südindien entdeckt. Sie konnten nun mittels computertomographischen, molekulargenetischen und morphologischen Untersuchungen einer neuen Familie zugeordnet werden. Die Analyse der Forschenden zeigt zudem, dass sich die neue Familie der Aenigmachannidae schon früh von ihrer Schwestergruppe Channidae getrennt hat und heute ein sogenanntes „lebendes Fossil“ ist. Die Studie erscheint heute im Fachjournal „Scientific Reports“.
Entlang des Küstensaumes der Western Ghats, einem Gebirge im Westen Indiens, hat sich eine endemische Fauna von Grundwasser bewohnenden Organismen entwickelt. „Bislang gibt es dort zehn bekannte Fischarten. Die erste Art aus diesem Habitat wurde bereits 1950 beschrieben. Die jüngste Entdeckung liegt erst ein Jahr zurück: Der Knochenfisch Aenigmachanna gollum, benannt nach Tolkiens ‚Herr der Ringe’- Figur Gollum“, erklärt Dr. Ralf Britz von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen in Dresden und fährt fort: „Diesen, äußerlich an einen Schlangenkopffisch erinnernden, Fisch haben wir nun mit neuen Methoden detailliert unter die Lupe genommen.“
Anhand von computertomographischen, molekulargenetischen und morphologischen Untersuchungen konnten Britz und seine internationalen Kollegen einige signifikante Unterschiede zwischen der untersuchten Art und weiteren Vertretern der Schlangenkopffische aus der Familie Channidae feststellen. „Besonders auffällig sind die verkürzte Schwimmblase, die schon in der Körpermitte endet und das Fehlen des akzessorischen Atmungsorgans“, erläutert der Dresdner Biologe und fährt fort: „Die morphologischen, aber auch genetischen Unterschiede sind so groß, dass wir Aenigmachanna gollum einer eigenen, neuen Familie, den Aenigmachannidae, zugeordnet haben!“
Die Forschenden schreiben zudem in ihrer Studie, dass der schlanke, etwa zehn Zentimeter lange Fisch einige evolutionär sehr ursprüngliche Merkmale aufweist. Eine Erklärung hierfür könnte die Entwicklungsgeschichte des Tiers sein: Die phylogenetische Analyse zeigt, dass die neue Familie und deren Schwestergruppe Channidae sich vor mindestens 34 oder sogar 109 Millionen Jahren getrennt haben. „Es erscheint plausibel, dass die Aenigmachannidae eine evolutionäre Linie sind, die das Auseinanderbrechen des Superkontinents Gondwana vor etwa 100 Millionen Jahren überlebte und dann mit dem indischen Subkontinent nach Norden driftete – man kann die Tiere daher auch als ‚lebende Fossilien’ innerhalb der Schlangenkopffische bezeichnen“, ergänzt Britz.
Die besondere Lebensweise der Fische könnte auch zu deren Bedrohung werden: Die zwei Arten der neu beschriebenen Familie leben unterirdisch in wasserführenden Lateritgesteinen. „Diese Grundwasservorkommen werden für mehr als sechs Millionen private Brunnen genutzt – eine gesteigerte Wasserentnahme würde den Knochenfischen buchstäblich die Lebensgrundlage entziehen“, schließt Britz.
Originalpublikation:
Ralf Britz, Neelesh Dahanukar, V.K. Anoop, Siby Philip, Brett Clark, Rajeev Raghavan and Lukas Rüber (2020): Aenigmachannidae, a new family of snakehead fishes (Teleostei: Channoidei) from subterranean waters of South India. Scientific Reports. www.nature.com/articles/s41598-020-73129-6

30.09.2020, Max-Planck-Institut für Ornithologie
Warum Vögel Fortpflanzungsprobleme haben
Sowohl bei Vögeln als auch bei anderen Arten können Paare erhebliche Schwierigkeiten bei der Fortpflanzung haben. Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Seewiesen haben in einer umfangreichen Analyse mit 23.000 Zebrafinkeneiern gezeigt, dass die Unfruchtbarkeit hauptsächlich auf die Männchen zurückzuführen ist, während die hohe Embryonensterblichkeit eher ein Problem der Weibchen ist. Inzucht, das Alter der Eltern und die Bedingungen, unter denen die Küken aufwuchsen, hatten überraschend wenig Einfluss darauf, ob sich Nachwuchs einstellte.
Zebrafinken sind kleine Singvögel, die aus Australien stammen. Als koloniebewohnende Körnerfresser sind sie leicht in Volieren zu halten, und sie vermehren sich bei günstigen Haltungsbedingungen das ganze Jahr über. Dennoch bleiben trotz vorausgegangener Paarung oft ein Viertel der Eier unbefruchtet, und bei einem weiteren Viertel der Eier sterben die Embryonen während der Entwicklung. Forscher*innen am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen haben daher eine Studie durchgeführt, um die möglichen Ursachen für eine erfolglose Fortpflanzung zu untersuchen.
Dabei verfolgten die Wissenschaftler*innen das Schicksal von mehr als 23.000 Eiern. Sie analysierten die Langlebigkeit, Produktivität, Unfruchtbarkeit, Sterblichkeit der Nachkommen und andere fitnessbezogene Merkmale, die für beide Geschlechter die meisten Phasen der Fortpflanzung abdecken. Scheinbar naheliegende Gründe wie Inzucht, Alter der Eltern und frühe Lebensbedingungen haben in der Studie zwar Auswirkungen auf die Fortpflanzungsleistung der Zebrafinken, die Effekte sind jedoch verschwindend gering. Dies deutet darauf hin, dass Individuen gegen eigentlich schlechte Bedingungen bemerkenswert robust sind und die Ursachen anderswo liegen müssen.
Wenn die Partner getauscht werden, um neue Paare zu bilden, wird deutlich, dass Probleme mit der Fruchtbarkeit typischerweise beim Männchen bleiben, während Probleme mit der Embryonensterblichkeit meist beim Weibchen bestehen bleiben. „Natürlich spielt bei beiden Problemen auch die Paarkombination eine Rolle“, sagt Yifan Pei, Doktorandin in Seewiesen, „denn die Bildung eines lebensfähigen Embryos erfordert ja Gene von beiden Eltern“.
Auch wenn die Hauptursachen der Unfruchtbarkeit und der Embryonensterblichkeit der Nachkommen nicht identifiziert werden konnten, so zeigt sich doch ein messbarer Effekt genetischer Ursachen. Diese Ergebnisse sind etwas überraschend, denn die natürliche Selektion sollte genetischen Varianten begünstigen, die die Fortpflanzung optimieren. Jedoch können einige Genvarianten, die für das eine Geschlecht vorteilhaft sind, für das andere Geschlecht nachteilig sein. Tatsächlich deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Genvarianten, welche die männliche Fruchtbarkeit verringern, auf die weibliche Fortpflanzungsleistung tendenziell positive Auswirkungen haben – und umgekehrt. Dieser Effekt ist unter dem Fachbegriff „sexuell antagonistische Pleiotropie“ bekannt und könnte erklären, warum solche genetischen Varianten in der Population fortbestehen.
Viele Gene beeinflussen den Fortpflanzungserfolg von Zebrafinken. Trotz der Entwicklung hochentwickelter genomischer Techniken ist es nach wie vor schwierig, alle genetischen Komponenten zu identifizieren und zu untersuchen – ganz zu schweigen von der Wechselwirkung zwischen diesen Genen und der Gene mit ihrer Umwelt. „Die Ergebnisse der Studie haben uns immerhin gezeigt, wo es sich nicht zu suchen lohnt“, sagt Bart Kempenaers, Direktor der Abteilung. „Scheinbar offensichtliche genetische Ursachen für eine erfolglose Fortpflanzung wie zum Beispiel Inzucht tragen weit weniger dazu bei, als wir zunächst dachten“.
Wolfgang Forstmeier, der die Studie betreut hat, ergänzt: „Jetzt konzentrieren wir unsere Arbeit auf ein etwas mysteriöses Chromosom, das nur in der Keimbahn existiert, also in Zellen, die die Eizelle und das Spermium bilden, nicht aber in den Körperzellen von Vögeln. Da es schwierig ist, Proben aus den Fortpflanzungsorganen lebender Tiere zu nehmen, ist die Untersuchung der Ursachen kompliziert. Aber das Chromosom ist ein heißer Kandidat für den Ursprung der Probleme“.
Originalpublikation:
Yifan Pei, Wolfgang Forstmeier, Daiping Wang, Katrin Martin, Joanna Rutkowska, Bart Kempenaers (2020). Proximate causes of infertility and embryo mortality in captive zebra finches.
DOI: https://doi.org/10.1086/710956

01.10.2020, Justus-Liebig-Universität Gießen
Tiefbohrung im ältesten und artenreichsten See Europas liefert neue Erkenntnisse zur Evolution
Internationales Forschungsprojekt im Ohrid-See: Alte Ökosysteme begünstigen langlebige Arten und stabile Artengemeinschaften
Je älter und stabiler ein Ökosystem ist, umso langlebiger sind die dort lebenden Arten und umso beständiger die Artengemeinschaften. Diese neuen Erkenntnisse zur Evolution konnte ein internationales Forscherteam unter der Leitung der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Universität Köln mit Hilfe einer Tiefbohrung im Ohrid-See gewinnen und jetzt in der Fachzeitschrift „Science Advances“ veröffentlichen. Der 1,4 Millionen Jahre alte See an der Grenze zwischen Albanien und Nordmazedonien ist nicht nur der derzeit älteste, sondern mit mehr als 300 nur dort vorkommenden, sogenannten endemischen Spezies auch der artenreichste See in Europa.
Um die Evolutionsereignisse seit der Entstehung des Sees zu untersuchen, kombinierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Umwelt- und Klimadaten eines 568 Meter langen Sedimentkerns mit den darin enthaltenen Fossilbelegen von über 150 endemischen Kieselalgenarten. Dabei zeigte sich, dass kurz nach der Bildung des Sees neue Arten innerhalb von wenigen tausend Jahren entstanden. Viele von ihnen starben aber in dem verhältnismäßig kleinen und flachen See auch sehr schnell wieder aus. Das Forschungsteam erklärt dies damit, dass junge Seen von geringer Größe viele neue ökologische Möglichkeiten bieten, aber auch besonders sensibel auf Umwelteinflüsse wie Temperatur-, Seespiegel- und Nährstoffschwankungen reagieren.
Nachdem der See tiefer und größer wurde, verlangsamten sich die Artbildungs- und Aussterbeprozesse drastisch. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führen dies darauf zurück, dass weniger neue Habitate entstanden, der Artenreichtum sich einer ökologischen Kapazitätsgrenze annäherte und der See die Umwelteinflüsse besser abfedern konnte. Die Erkenntnis, dass sich im Laufe der Entwicklung des Ohrid-Sees eine dynamische Ansammlung von evolutionär kurzlebigen Arten in eine stabile Gemeinschaft langlebiger Arten wandelt, liefert ein neues Verständnis der evolutionären Dynamik in Ökosystemen. Die Studie wird damit auch eine große Bedeutung für die künftige Biodiversitätsforschung haben.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Ökosysteme mit zunehmendem Alter und Größe stabiler werden und besser mit natürlichen Klimaschwankungen zurechtkommen können“, sagt der Leiter der Studie Prof. Dr. Thomas Wilke und warnt gleichzeitig: „Das heißt aber nicht, dass sie nicht kippen können.“ Mit Blick auf die drastischen und vom Menschen verursachten Umwelt- und Klimaveränderungen fügte er hinzu: „Nicht nur das einzigartige Ökosystem des Ohrid-Sees ist gefährdet, wenn die Umwelteinflüsse sich zu rasch und zu stark verändern.“
Originalpublikation:
Wilke et al.: Deep drilling reveals massive shifts in evolutionary dynamics after formation of ancient ecosystem, SCIENCE ADVANCES, 2020, 6, eabb2943.
doi.org/10.1126/sciadv.abb2943

01.10.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Die Invasion der Aliens geht weiter: Gebietsfremde Arten nehmen bis 2050 weltweit um 36 Prozent zu
Die Anzahl gebietsfremder Arten wird bis Mitte des Jahrhunderts weltweit um 36 Prozent gegenüber dem Jahr 2005 steigen. Ein Großteil dieser Neuankömmlinge sind Insekten. Das berichtet ein internationales Team unter der Leitung von Senckenberg-Wissenschaftler Dr. Hanno Seebens heute im Fachmagazin „Global Change Biology“. Das Team hat erstmals auf globaler Ebene und über alle Arten hinweg berechnet, wie sich gebietsfremde Arten bis zum Jahr 2050 ausbreiten könnten. In Europa erwarten die Forscher*innen eine relative Zunahme von 64 Prozent, was rund 2.500 neuen gebietsfremden Arten entspricht. Durch strengere Regulierungen könne die Invasion gebietsfremder Arten aber noch verlangsamt werden.
Rund um den Globus sind die Aliens los. Doch anders als im Science-Fiction Film sind sie nicht mit dem Ufo gelandet, sondern per Schiff, Flugzeug oder LKW angekommen. Im Jahr 2005 waren es weltweit bereits mehr als 35.000 an der Zahl. Die Rede ist von gebietsfremden Pflanzen- und Tier-Arten, die von Fachleuten auch als „alien species“ (dt. „gebietsfremde Arten“) bezeichnet werden. Sie erobern dank des weltweiten Handel- und Verkehrsnetzes in zunehmendem Maße neue Lebensräume außerhalb ihrer Heimat.
Dr. Hanno Seebens vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum hat gemeinsam mit einem Team internationaler Kolleg*innen basierend auf den Beobachtungen der letzten Jahrzehnte ein Computermodell entwickelt, das die Anzahl neuer, gebietsfremder Arten bis 2050 vorhersagt. „Die Anzahl gebietsfremder Arten wird weiter steigen. Weltweit werden wir im Jahr 2050 im Mittel 36 Prozent mehr gebietsfremde Tiere und Pflanzen haben als im Jahr 2005“, so Seebens. Mit ihrer Prognose betreten die Forscher*innen Neuland, denn bislang deckten Studien zur Ausbreitung von gebietsfremden Arten nur einzelne Organismengruppen oder Länder ab.
Weltweit gibt es offenbar große regionale Unterschiede. So werden die stärksten Anstiege voraussichtlich in Europa zu finden sein. Hier nimmt die Anzahl gebietsfremder Arten bis zur Mitte des Jahrhunderts im Vergleich zum Jahr 2005 laut der Prognosen um 64 Prozent zu. Weitere Hotspots sind demnach die gemäßigten Breiten Asiens, Nordamerika und Südamerika. Den geringsten relativen Zuwachs gebietsfremder Arten erwarten die Forscher*innen demgegenüber in Australien.
Auch in absoluten Zahlen werden weltweit die meisten Arten in Europa einwandern. Die Expert*innen rechnen hier mit rund 2.500 neuen, gebietsfremden Arten. Seebens dazu: „Dabei handelt es sich zum größten Teil um weniger auffällige Neuankömmlinge wie Insekten, Weichtiere und Krebstiere. Im Gegensatz dazu wird es kaum neue, gebietsfremde Säugetierarten wie beispielsweise den bereits eingewanderten Waschbär geben.“
„Schaut man sich an, welche Pflanzen- und Tiergruppen weltweit demnächst neue Lebensräume erobern, sind das vor allem Insekten und andere Gliederfüßer wie Spinnen oder Krebstiere. Die Anzahl neuer, gebietsfremder Arten dieser ausgewählten Tiergruppen wird bis zur Mitte des Jahrhunderts in jeder Region der Erde deutlich zunehmen – in den gemäßigten Breiten von Asien sogar um 117 Prozent“, erklärt Ko-Autor Dr. Franz Essl von der Universität Wien.
Die Berechnung zeigt darüber hinaus, dass die Invasion neuer Arten bei einzelnen Tiergruppen noch an Fahrt aufnimmt. Weltweit gesehen werden bis 2050 – im Vergleich zum Zeitraum 1960 bis 2005 – vor allem Gliederfüßer- und Vogel-Arten schneller als bisher in neuen Gebieten eintreffen. Säugetiere und Fische demgegenüber werden weltweit langsamer als bisher neue Lebensräume erobern. Anders sieht es in Europa aus: Hier wird die Rate des Auftauchens neuer, gebietsfremder Arten für alle Pflanzen und Tiere mit Ausnahme der Säugetiere ansteigen.
Eine Umkehr der Invasion gebietsfremder Arten ist nicht in Sicht, denn der globale Handel und Verkehr, der vielen Arten als Mitfahrgelegenheit in neue Lebensräume dient, dürfte sich in den nächsten Jahrzehnten noch verstärken. „Wir können die Einschleppung gebietsfremder Arten nicht gänzlich verhindern, denn das würde starke Einschränkungen des Handels bedeuten. Aber mit strengeren Regularien und deren strikter Umsetzung können wir die Flut der neuen Arten eindämmen. Der Nutzen entsprechender Maßnahmen ist durch Studien belegt. Gerade in Europa, wo die Regelungen noch vergleichsweise locker sind, gibt es noch viele Möglichkeiten, die Einbringung neuer Arten zu vermeiden“, konstatiert Seebens abschließend.
Originalpublikation:
Seebens, H. et al. (2020): Projecting the continental accumulation of alien species through to 2050.Global Change Biology, doi:10.1111/gcb.15333

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