Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

07.09.2020, Universität Leipzig
Meerechsen auf Galápagos: Proteine analysiert, Retter gesucht
Ein Forschungsteam unter Leitung von Dr. Amy MacLeod zählt mithilfe von Drohnen Meeresechsen auf den Galápagos-Inseln. Ziel des Projekts der Universität Leipzig ist es, die Populationsgrößen dieser vom Aussterben bedrohten Art festzustellen und auch mithilfe von Freiwilligen genau zu verorten – um die Leguane besser schützen zu können. Eine aktuelle Studie zu den Meerechsen zeigt zudem, dass viele der Proteine in den Sekreten spezieller Drüsen der Tiere Teil ihres Immunsystems sind. Prof. Dr. Sebastian Steinfartz, der an der Uni Leipzig die Professur für Molekulare Evolution und Systematik der Tiere innehat, ist einer der Wissenschaftler, die an dieser Studie maßgeblich beteiligt waren.
Dr. Amy MacLeod und ihr Expeditions-Team haben in den vergangenen Monaten auf zwei Inseln des Galápagos-Archipels mithilfe von Kameradrohnen umfangreiches Bildmaterial aus der Luft gesammelt, genauer gesagt von den Küstenstreifen der Inseln. Denn hier, zurückgezogen auf steinigem und sehr unwegsamem Terrain, leben die Meerechsen. Seit Millionen von Jahren gibt es sie, etwa 1.000 Kilometer westlich von Ecuador – und nur dort. Diese Methusalems der Evolution sind die einzige Echsenart weltweit, die sich ihre Nahrung im Wasser sucht. Doch Umweltverschmutzung, der Klimawandel und andere eingewanderte Arten wie Katzen machen ihnen zunehmend das Überleben schwer. „Die Galápagos-Meerechsen sind vom Aussterben bedroht und um zu helfen, müssen wir wissen, wie viele es gibt und wo wir sie finden können“, sagt Dr. MacLeod.
„Da die Inseln aufgrund von Lava-Gesteinsbrocken und manchmal hohen Wellen teils schwer zugänglich sind, haben wir erstmals Kameradrohnen eingesetzt“, erläutert die mit der Arbeitsgruppe von Prof. Steinfartz assoziierte Amy MacLeod. Sie ist nicht nur promovierte Biologin, sondern unterrichtet auch Biologie an einem zweisprachigen Berliner Gymnasium. „Die Drohnen haben wir von einem Boot aus gestartet und erst einmal über die beiden Inseln Santa Fé und San Cristóbal fliegen lassen. Mit dem Wellengang und dem Wind war das nicht immer einfach, aber es hat gut geklappt. Die Drohnen haben auch den Vorteil, dass wir die Inseln selber nicht betreten müssen und somit nicht das Risiko eingehen, das empfindliche Ökosystem unbeabsichtigt zu beeinflussen, und sei es dadurch, dass wir Ameisen an unseren Schuhen mitbringen.“
Das flächendeckende Bild-Material hat das Team in 25.000 Ausschnitte eingeteilt. Diese müssen nun ausgewertet werden. Bei den Drohnenaufnahmen, der Aufbereitung der Bilder und der Auswertung spielt die ecuadorianische Doktorandin Andrea Varela eine maßgebliche Rolle, die die meiste Zeit vor Ort auf dem Archipel verbringt. Für die Zählung hat das Team eine Projektwebsite auf der Plattform „Zooniverse“ eingerichtet. „Das konventionelle Zählen ist technisch zwar nicht schwer, aber dauert zu lange – daher appellieren wir an Freiwillige, uns dabei zu unterstützen“, sagt Amy MacLeod, die sich bereits in ihrer Promotion mit den Meerechsen beschäftigt hat.
Interessierte können auf der Website nach einer kompakten Einführung Luftaufnahmen sichten und klassifizieren. Dabei geht es nicht nur darum, Echsen zu identifizieren, sondern auch zu markieren, wenn auf Bildern andere Lebewesen wie Vögel, Schildkröten, Krebse, Seelöwen oder Algen zu sehen sind – oder auch Plastikmüll, der eine Bedrohung für alle Meeresbewohner darstellt. Die Wissenschaftler betonen, dass die Klassifizierung eines jeden Bildes wichtig sei – ganz gleich, ob Meerechsen darauf zu sehen seien oder nicht. „Wenn wir zum Beispiel wissen, dass es an einem Ort keine Echsen gibt, ist es ein Hinweis, dass wir an anderen Stellen schauen müssen.“ Zwar ist die Website auf Englisch, doch wird die Einführung auch auf Deutsch und Spanisch zur Verfügung gestellt, damit möglichst viele Freiwillige mitmachen können.
„Im Anschluss an diese Pilotphase werden wir die Auswertungen der Freiwilligen mit den Experten-Zählungen des Teams und anderen Wissenschaftlern vergleichen. So wollen wir schauen, ob die Zählungen der Freiwilligen zuverlässig sind. Falls ja, werden wir auch in Zukunft auf den wertvollen Beitrag von Freiwilligen setzen – und das hoffen wir sehr“, erläutert Amy MacLeod das weitere Vorgehen. Zu einem späteren Zeitpunkt soll auch künstliche Intelligenz beim Zählen zum Einsatz kommen.
Ziel des Projekts ist es langfristig, den Zensus auf allen 13 Inseln des Galápagos-Archipels zu bestimmen, um ein umfassendes Bild von den elf Unterarten der charismatischen Leguane zu bekommen, die sich auf die Inseln verteilen. Nur dann können die Wissenschaftler die Gesamtsituation einschätzen und Maßnahmen für den Schutz der Echsen empfehlen. „Ich hoffe natürlich auch, dass eine breite Beteiligung von Interessierten dazu beiträgt, die Meerechsen bekannter zu machen und Menschen für den Schutz der Umwelt zu sensibilisieren.“
Parallel zum Zählprojekt ist aktuell in der amerikanischen Fachzeitschrift „Molecular & Cellular Proteomics“ ein Beitrag zu den Funktionen von Sekret-Proteinen der Galápagos-Meeresechsen erschienen. Diese Studie wurde federführend von Prof. Dr. Marcus Krüger und Dr. Frederik Tellkamp vom CECAD der Universität zu Köln sowie von Prof. Dr. Sebastian Steinfartz von der Universität Leipzig durchgeführt. „Die Männchen der Eidechsen und anderer Reptilien und sogar einige Amphibien besitzen auf den Unterseiten ihrer Hinterbeine eine Anordnung von speziellen Drüsen, die sogenannten Femoraldrüsen“, erläutert der Professor für Molekulare Evolution und Systematik der Tiere. „Man nimmt an, dass diese Drüsen vor allem für die Kommunikation via chemischer Moleküle zwischen Individuen derselben Art genutzt werden. Obwohl es viele Studien zu den leicht flüchtigen chemischen Komponenten der Sekrete der Femoraldrüsen gibt, gab es bisher praktisch keine Informationen zu der Zusammensetzung der Proteinfraktion, die bis zu 80 Prozent der chemischen Substanzen ausmachen können.“
In ihrer aktuellen Studie haben Wissenschaftler der Universität zu Köln, der Universität Leipzig, der Technischen Hochschule Mittelhessen und des Max-Planck Instituts für Herz- und Lungenforschung nun diese Proteinfraktion analysiert. Insgesamt konnten sie über 7500 Proteine identifizieren und zum Teil ihre Funktion bestimmen. „Entgegen den Erwartungen konnten wir keine Proteine mit einer Funktion für die Kommunikation finden“, sagt Steinfartz. „Zugleich haben wir festgestellt, dass viele der Proteine Teil des Immunsystems sind. Besonders interessant war die Entdeckung von anti-mikrobiellen Peptiden, die in Laborversuchen eine ähnlich starke Aktivität gegenüber Bakterien zeigten wie Oncocin, ein bekanntes Antibiotikum.“ Die Forscher nehmen an, dass diese Proteine zum einen Infektionen via der Femoraldrüsen verhindern und/oder die Funktion ausgeschiedener flüchtiger chemischer Substanzen verlängern könnten.
Originalpublikation:
„Proteomics of Galápagos Marine Iguanas Links Function of Femoral Gland Proteins to the Immune System“, erschienen in: „Molecular & Cellular Proteomics“, 1. September 2020
https://doi.org/10.1074/mcp.RA120.001947

07.09.2020, Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT)
Erschreckt (sich) Nemo: Wie reagieren Clownfische im Korallenriff auf die Begegnung mit Menschen?
Durch menschliche Eingriffe geraten Ökosysteme in Meeren und Ozeanen immer stärker unter Druck. In Korallenriffen bedrohen steigende Wassertemperaturen und Ozeanversauerung, Verschmutzung durch Plastikmüll oder Überfischung die dort lebenden Organismen, wie Fische, Seegurken oder Korallen. Doch wie verändert eigentlich die direkte physische Präsenz des Menschen unter Wasser das Verhalten und die Ökologie von Tieren im Korallenriff?
Vor der Küste des Inselstaates Vanuatu im Südpazifik untersuchten Forschende des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) in Bremen und der Auckland University of Technology (AUT) in Neuseeland das Verhalten von Anemonenfischen bei Begegnungen mit Menschen. Teamleiter Dr. Julian Lilkendey vom ZMT sowie Dr. Armagan Sabetian und Masterstudentin Lena Trnski, beide von der AUT, kamen dabei zu teils überraschenden Ergebnissen. Die Studie ist im Journal of Fish Biology erschienen.
Anemonenfische, auch Clownfische genannt, sind nicht nur niedliche Protagonisten im Kinohit „Findet Nemo“, auch in der Wissenschaft sind sie gefragte Darsteller und dienen häufig als Modellorganismen für Verhaltensstudien an Fischen. Clownfische leben in Symbiose mit Seeanemonen. Während die Anemone dem Fisch in ihren Tentakeln Schutz vor Angreifern bietet, verteidigen die Clownfische die Anemone vor Eindringlingen und versorgen sie durch Nahrungsreste und Ausscheidungen mit Futter.
Bei der Bewachung ihrer Wirtsanemone zeigen die einzelnen Fische gut voneinander unterscheidbare Verhaltensweisen. Die enge Verbindung zu ihrer sesshaften Anemone macht Clownfische allerdings auch besonders anfällig für menschliche Präsenz. Durch diese Ortsgebundenheit an ihren Symbionten können die Fische Menschen unter Wasser nur begrenzt ausweichen.
Während ihrer Untersuchungen in Vanuatu konzentrierten sich die Forschenden auf zwei Arten von Clownfischen – den Clarks Anemonenfisch und den Schwarzflossen-Anemonenfisch – und wollten wissen, ob die Fische bei Begegnung mit Menschen ihr Verhalten änderten.
Dazu schnorchelte die Hauptautorin Lena Trnski in Riffen vor der Insel Efate und dokumentierte die Reaktionen der Clownfische mit ihrer Videokamera. Um die Anwesenheit eines Beobachters zu simulieren, schwamm sie ein bis drei Meter über der Anemone. Während der zum Vergleich aufgezeichneten Videoaufnahmen war sie hingegen nicht anwesend. Zuhause am Laptop notierte die Forscherin das Verhalten jedes Fisches in der Anemone in Intervallen von 15 Sekunden. Insgesamt wurden für jeden Anemonenfisch sowohl in Trnskis Anwesenheit als auch in ihrer Abwesenheit 60 Verhaltensereignisse aufgezeichnet.
In ihrer Anwesenheit zeigten die Fischindividuen je nach Art sehr unterschiedliche Verhaltensmuster, berichten die Forschenden. „Während Clarks Anemonenfische durch die Begegnung mit Menschen erschreckt wurden und sich häufig tief in den Tentakeln der Anemone versteckten, reagierten die Schwarzflossen-Anemonenfische weniger auf die Anwesenheit eines Menschen“, so Studienleiter Dr. Julian Lilkendey. „Wir hätten eigentlich erwartet, dass sich auch die Schwarzflossen-Anemonenfische vor Lena verstecken oder sie vielleicht angreifen würden, aber sie ließen sich zumeist nicht von ihr stören. Oft befanden sich die Fische sogar bis zu einem Meter außerhalb der Tentakel ihrer Anemone.“
Lena Trnski erklärt: „Wir vermuten, dass Schwarzflossen-Anemonenfische in Gegenwart von Menschen ein eher kühneres Verhalten zeigen, da es sich um eine überaus spezialisierte Art handelt, die nur wenige Anemonenarten bewohnen kann. Um eine geeignete Wirtsanemone zu finden, ist es für die Larven der Schwarzflossen-Anemonenfische durchaus von Vorteil, sich unerschrocken im Riff auf die Suche zu machen – selbst wenn sie durch dieses Verhalten auch anfälliger für Fraßfeinde sind. Eben jene Unerschrockenheit zeigt sich aber auch darin, dass sie vor dem Menschen nicht flüchten.“
MUT ZAHLT SICH AUS
Aufgrund dieser Beobachtungen folgern die Forschenden, dass in stark touristisch geprägten Regionen ‚mutige‘ Clownfischarten wie die Schwarzflossen-Anemonenfische ängstlichere Arten verdrängen könnten. „Arten, die sich gestresst zum Schutz in ihre Anemone zurückziehen, verwenden viel Energie und Zeit auf dieses eine Fluchtverhalten und können sich daher weniger mit der Nahrungssuche oder Fortpflanzung beschäftigen“, sagt Lilkendey. „Unerschrockene Arten sind ihnen gegenüber im Vorteil.“
„Der daraus resultierende Verdrängungsprozess hätte letztlich einen Verlust der Artenvielfalt zur Folge“, ergänzt Trnski.
„Die ökologischen Folgen eines durch den Menschen veränderten Verhaltens sind noch weitestgehend unerforscht“, erzählt Lilkendey. „Wir vermuten, dass Unterschiede im Verhalten einzelner Tiere Auswirkungen auf die Interaktionen zwischen den Arten wie etwa auf Räuber-Beute-Beziehungen oder Symbiosen haben könnten, was wiederum Gemeinschaftsstrukturen und das Funktionieren des gesamten Ökosystems beeinflusst.“
Originalpublikation:
Trnski, L., Sabetian, A., Lilkendey, J. (2020) Scaring Nemo – Contrasting effects of observer
presence on two anemonefish species. Journal of Fish Biology. https://doi.org/10.1111/jfb.14492

07.09.2020, Forschungsverbund Berlin e.V.
Buch zu Vereinbarkeit und Konflikt von Klima- und Artenschutz am Beispiel des Fledermausschutzes in Wind
Windenergieanlagen verursachen in Deutschland eine hohe Zahl an Schlagopfern bei Fledermäusen, die potenziell zur Gefährdung der unter Naturschutz stehenden Arten führen können. Ein wirksamer Fledermausschutz ist daher für die Umsetzung einer ökologisch-nachhaltigen Energiewende, die die Ziele des Klimaschutzes als auch den Biodiversitätsschutz berücksichtigt, notwendig. Das von Christian Voigt (Leibniz-IZW) herausgegebene Buch „Evidenzbasierter Fledermausschutz in Windkraftvorhaben“ fasst den wissenschaftlichen Kenntnisstand zu diesem Thema zusammen, präsentiert neue Ergebnisse und eröffnet Perspektiven für Lösungsansätze für diesen grün-grünen Konflikt.
Das Buch ist im Verlag „Springer Spektrum“ erschienen und richtet sich in erster Linie an die beteiligten Interessengruppen im Arten- und Klimaschutz.
Das Buch ist „open access“ erschienen und steht vollständig und kostenlos zum Download zur Verfügung.
Das Buch stellt im ersten Teil den Kenntnisstand zur akustischen Erfassung von Fledermäusen an Windkraftanlagen, zur Interpretation dieser akustischen Daten sowie zum Schutz von Fledermäusen beim Bau und Betrieb von Windkraftanlagen an Waldstandorten dar. Im zweiten Teil werden die Ergebnisse neuer wissenschaftlicher Untersuchungen vorgestellt und diskutiert, die helfen, verschiedene Aspekte des Konfliktes und möglicher Lösungen besser zu verstehen. Im dritten Teil des Buches werden Konzepte und Ausblicke präsentiert, beispielsweise die Ergebnisse einer Umfrage unter Fachexpert*innen von Genehmigungsverfahren von Windkraftanlagen.
Die Energieproduktion aus Windkraft ist ein wesentlicher Faktor für die Erreichung der Ziele der Energiewende, da die aktuell vorhandenen 30.000 Windkraftanlagen (auf dem Festland) einen großen Teil des in Deutschland generierten Stroms aus erneuerbaren Quellen bereitstellen. Zugleich stellen die Anlagen erhebliche Gefahrenquellen für Vögel und Fledermäuse dar, wenn sie mit den Rotorblättern kollidieren. Fledermäuse können auch durch ein sogenanntes Barotrauma getötet werden, bei dem innere Organe durch die starken Luftdruckveränderungen in der Nähe der rotierenden Blätter zerrissen werden. Hochrechnungen gehen von zehn bis zwölf getöteten Fledermäusen pro Anlage und Jahr aus, wobei fernziehende Arten wie der Großer Abendsegler und die Rauhautfledermaus besonders gefährdet sind – diese beiden Arten machen rund 60 % der Schlagopfer aus. „Der Konflikt zwischen Fledermausschutz und Windenergieproduktion lässt sich als Konflikt zwischen zwei gleichwertigen politischen Zielen sehen, denen sich Deutschland verpflichtet hat“, sagt Herausgeber und Abteilungsleiter für Evolutionäre Ökologie am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung Christian Voigt. „Die EU-Richtlinie 2018/2001 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen konkurriert mit der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen sowie dem Bundesnaturschutzgesetz.“ Durch den hohen Anteil fernziehender Arten unter den Schlagopfern an Windkraftanlagen hat die Frage, ob die deutsche Energiewende einvernehmlich mit den Zielen des Biodiversitätsschutzes gestaltet werden kann, aus Sicht des Artenschutzes europäische Dimensionen, da Deutschland für den Schutz der fernziehenden Arten aufgrund seiner zentralen geografischen Lage in Europa eine Schlüsselstellung zufällt.
Aus diesen Gründen hat sich eine Beteiligung von Interessenvertretern des Artenschutzes in Windkraftvorhaben etabliert und es sind verschiedene Auflagen für den laufenden Betrieb entwickelt worden, um die Schlagopferzahl zu reduzieren. Dieser Aushandlungsprozess ist jedoch noch lange nicht abgeschlossen, da der Sachstand zur Ausgangslage und zum Effekt unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten nur teilweise vorhanden ist. Das Team um Voigt hat sich daher in den vergangenen Jahren intensiv für den übergreifenden Dialog aller beteiligten Interessengruppen eingesetzt, um das Finden tragfähiger Kompromisse zu erleichtern. Das jetzt erschienene Buch fasst den Kenntnis- und Diskussionsstand zu dem grün-grünen Konflikt zusammen und bietet eine sachliche, evidenzbasierte und ausgewogene Grundlage für die Weiterentwicklung des Dialogs.
„Alle Interessengruppen in den Planungs- und Genehmigungsverfahren von Windkraftanlagen sind an einer ökologisch nachhaltigen Energiewende interessiert“, sagt Voigt. „Zudem fordert die Mehrheit einen intensiven Beitrag der Forschung zur Lösung des Grün-Grün-Dilemmas. Dies zeigt, dass der Forschungsbedarf groß ist und wir noch keinen Wissensstand erreicht haben, der alle Themenbereiche abdeckt. Nur durch belegbare Sachverhalte und einer daraus resultierenden konsequenten Umsetzung von Schutzmaßnahmen lässt sich eine ökologisch-nachhaltige Energiewende realisieren, welche einvernehmlich mit den Biodiversitätszielen Deutschlands praktiziert wird.“
Originalpublikation:
Evidenzbasierter Fledermausschutz in Windkraftvorhaben
Christian C. Voigt
https://doi.org/10.1007/978-3-662-61454-9
Online ISBN 978-3-662-61454-9

07.09.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Afrika: Ebola-übertragende Tiere womöglich weiter verbreitet als angenommen
Eine Infektion mit dem Zaire ebolavirus endet meist tödlich. Das Virus wird vermutlich durch verschiedene Flughund- und Fledermausarten übertragen. Wissenschaftler*innen der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und der Goethe-Universität haben erstmals modelliert, wo diese Arten in Afrika leben könnten. Die Ergebnisse der kürzlich im Fachblatt „Scientific Reports“ veröffentlichten Studie legen nahe, dass die Flughund- und Fledermausarten ein größeres Verbreitungsgebiet haben, als bislang angenommen wurde. Die Modellierung soll helfen, das Auftreten von Ebola künftig besser abzuschätzen, vorherzusagen und Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen.
Das Ebolavirus gilt als einer der gefährlichsten Krankheitserreger weltweit. Bei dem bisher schwersten Ausbruch starben in Westafrika zwischen 2014 bis 2016 mehr als 11.000 Menschen. Auch in Europa werden immer wieder einzelne Fälle gemeldet, die mit Aufenthalten in den betroffenen Gebieten in Verbindung stehen. Ein wichtiger Infektionsherd sind Reservoirwirte, die zwar mit dem Virus infiziert sind, denen er aber nichts anhat. Bei den diversen Arten des Ebolavirus handelt es sich dabei höchstwahrscheinlich um verschiedene Flughund- und Fledermausarten.
Wissenschaftlerin*innen haben erstmals untersucht, wo neun dieser Flughund- und Fledermausarten in Afrika geeignete Lebensräume und klimatische Bedingungen vorfinden. „Das Zaire ebolavirus ist eines der gefährlichsten Ebolaviren. Bis zu 88 Prozent der Infizierten sterben daran. Um Ausbrüche des Virus zu verhindern oder eindämmen zu können, ist es deshalb essentiell zu wissen, wo potentielle Infektionsherde lauern“, erklärt der Parasitologe Prof. Dr. Sven Klimpel, Goethe-Universität Frankfurt und Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum.
Sein Team konnte anhand ökologischer Nischenmodellierungen zeigen, dass entsprechende Flughund- und Fledermausarten in West- bis Ostafrika einschließlich großer Teile Zentralafrikas leben können. Ein breiter Gürtel möglicher Habitate zieht sich von Guinea, Sierra Leone und Liberia im Westen über die Zentralafrikanische Republik, die Republik Kongo und die Demokratische Republik Kongo bis hin zum Sudan und Uganda im Osten. Einige der untersuchten Flughund- und Fledermausarten könnten sogar im östlichen Teil Südafrikas vorkommen.
In einem zweiten Schritt verglichen die Forscher*innen die möglichen Lebensräume mit Verbreitungskarten der Flughund- und Fledermausarten, die die Weltnaturschutz-Organisation IUCN auf der Grundlage des beobachteten Vorkommens der Tiere erstellt hat. Das Team analysierte ebenfalls, wo in der Vergangenheit Zaire ebolavirus-Pandemien ausgebrochen waren. Mit überraschendem Ergebnis: „Die modellierten Lebensräume der Wirte des Zaire ebolavirus sind größer als die Verbreitungsgebiete, von denen wir bisher wissen. Die Flughund- und Fledermausarten haben die darüberhinausgehenden Lebensräume möglicherweise aufgrund von Barrieren noch nicht erobert“, so Klimpel.
„Eine andere, beunruhigendere Erklärung wäre, dass die Wissenschaft das Verbreitungsgebiet der Ebola-übertragenden Flughund- und Fledermausarten bisher unterschätzt hat. Die Modelle würden in diesem Fall ein realistischeres Bild liefern“, sagt Dr. Lisa Koch, Erstautorin der Studie von der Goethe-Universität. Regionen in denen Ebola ausbricht, leiden neben den gesundheitlichen oft unter den wirtschaftlichen und sozialen Folgen einer Epidemie. Die Ergebnisse der Studie könnten helfen, Krankheiten, die in den modellierten Verbreitungsgebieten der Reservoir-Wirte auftreten, stärker im Auge zu behalten sowie die Öffentlichkeit über mögliche Ebola-Infektionen zu informieren und somit letztendlich alle Folgen einer Epidemie abzumildern.
Mit Blick auf Europa sagt Klimpel: „Ebolaviren sind, wie auch das SARS-CoV-2, gemeinhin als Coronavirus bekannt, Viren aus dem Tierreich, die auf den Menschen überspringen können. Zukünftig werden derartige Krankheiten, sogenannte Zoonosen, vermutlich verstärkt auftreten, da der Mensch zum Beispiel häufigeren Kontakt mit Wildtieren hat und die Globalisierung dem Virus hilft, sich weltweit zu verbreiten. In Europa mit seinem prinzipiell guten Gesundheitssystem ist Ebola auch in Zukunft sicher ein Einzelfall. Nichtsdestotrotz lohnt es sich angesichts dieser Trends auch in unseren Breiten intensiver Ärzt*innen und Pflegepersonen im Umgang mit tropischen Infektionskrankheiten aus- und weiterzubilden.“
Originalpublikation:
Koch, L.K., Cunze, S., Kochmann, J. and Klimpel, S. (2020): Bats as putative Zaire ebolavirus reservoir hosts and their habitat suitability in Africa. Scientific Reports, doi: 10.1038/s41598-020-71226-0

08.09.2020, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Die älteste Neandertaler-DNA Mittelosteuropas
Ein internationales Team berichtet in einer neuen Studie über das älteste mitochondriale Genom eines Neandertalers aus Mittelosteuropa. Das aus einem Zahn aus der Stajnia-Höhle in Polen extrahierte mitochondriale Genom ähnelt eher dem eines Neandertalers aus dem Kaukasus als den zur damaligen Zeit in Westeuropa lebenden Neandertalern. Auch die am Fundort entdeckten Steinwerkzeuge ähneln denen aus südlichen Gebieten, was darauf hindeutet, dass in der Steppen-/Taiga-Umgebung lebende Neandertaler sich zur Nahrungssuche weiter von ihrem Heimatgebiet entfernten als bisher angenommen.
Vor etwa 100.000 Jahren verschlechterte sich das Klima schlagartig, und die Umwelt Mittelosteuropas änderte sich von bewaldeten hin zu offenen Steppen/Taiga-Lebensräumen, was die Ausbreitung von Wollmammut, Wollnashorn und anderen an die Kälte angepassten Arten aus der Arktis begünstigte. Die Populationsgröße der in diesen Gebieten lebenden Neandertaler ging aufgrund der neuen ökologischen Bedingungen stark zurück und Neandertaler kehrten erste wieder in die Gebiete oberhalb des 48° nördlichen Breitengrades zurück, als die klimatischen Bedingungen sich wieder verbessert hatten.
Trotz der nicht durchgängigen Besiedlung blieb das Micoqiuen mit seinen typischen bifazialen Steinwerkzeuge in Mittelosteuropa vom Beginn dieser ökologischen Verschiebung bis zum Untergang der Neandertaler bestehen. Diese kulturelle Tradition verbreitete sich in der frostigen Landschaft zwischen Ostfrankreich, Polen und dem Kaukasus. Erste genetische Analysen haben gezeigt, dass zwei wichtige demografische Wendepunkte in der Geschichte der Neandertaler mit dem Micoquien verbunden sind. Vor etwa 90.000 Jahren ersetzten westeuropäische Neandertaler die lokale Bevölkerung der Altai-Neandertaler in Zentralasien und vor mindestens 45.000 Jahren ersetzten westeuropäische Neandertaler nach und nach die im Kaukasus lebenden Gruppen.
In der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlichten Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der Universität Wrocław, des Instituts für Systematik und Evolution der Tiere der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Bologna das älteste mitochondriale Genom eines Neandertalers aus Mittelosteuropa. Das molekulare Alter von etwa 80.000 Jahren verankert den Zahn aus der Stajnia-Höhle in einer wichtigen Zeitperiode der Neandertaler, die durch eine extreme Saisonalität gekennzeichnet war und in der einige Neandertalgruppen ostwärts nach Zentralasien gezogen sind. „Polen, an der Kreuzung zwischen der westeuropäischen Tiefebene und dem Ural gelegen, ist eine Schlüsselregion um diese Wanderungen zu verstehen und Fragen zur Anpassungsfähigkeit und Biologie der Neandertaler im periglazialen Lebensraum beantworten zu können. Der Backenzahn Stajnia S5000 ist ein wirklich außergewöhnlicher Fund, der ein neues Licht auf die Debatte zur weiten Verbreitung der Micoquien-Artefakte wirft“, sagt Andrea Picin, Erstautor der Studie und Postdoc am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Genetische Analysen
Es gibt nur sehr wenige Überreste von Neandertalern, die mit dem Micoquien in Verbindung gebracht werden können. Genetische Information wurden bisher nur aus Proben aus Deutschland, dem Nordkaukasus und dem Altai gewonnen. „Wir waren uns der geografischen Bedeutung dieses Zahns bewusst, da er die Verbreitungskarte genetischer Informationen von Neandertalern erweitert“, sagt Mateja Hajdinjak, Mitautorin der Studie und Postdoc am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Wir fanden heraus, dass das mitochondriale Genom von Stajnia S5000 dem von Mezmaiskaya 1, einem Neandertaler aus dem Kaukasus, am ähnlichsten war. Wir benutzten dann die molekulargenetische Uhr, umdas ungefähre Alter dieses neuen Genoms zu bestimmen. Obwohl der Ansatz der molekularen Astverkürzung mit einer großen Fehlerspanne einhergeht, ermöglichte es uns die Verknüpfung dieser Informationen mit den archäologischen Daten, das Fossil zeitlich zu Beginn des letzten Eiszeitalters einzuordnen.“
Der Zahn wurde 2007 bei Feldarbeiten unter der Leitung von Mikołaj Urbanowski, einem Mitautor der Studie, zwischen Tierknochen und einigen Steinwerkzeugen entdeckt. Die Öffnung der Höhle war für eine längerfristige Besiedlung wahrscheinlich zu eng, und wurde jeweils nur für kurze Zeiträume von Neandertalern genutzt. Die Fundstätte könnte ein logistischer Standort gewesen sein, der bei Streifzügen in das Krakau-Tschenstochauer Jura genutzt wurde.
„Als die genetische Analyse ergab, dass der Zahn mindestens etwa 80.000 Jahre alt war, waren wir begeistert. Fossilien dieses Alters sind sehr schwer zu finden, und oft ist die DNA dann nicht gut erhalten“, so Wioletta Nowaczewska von der Universität Wrocław und Adam Nadachowski vom Institut für Systematik und Evolution der Tiere der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Mitpublizierende der Studie. „Anfangs dachten wir, dass der Zahn jünger sei, da er in einer der oberen Schichten gefunden wurde. Die Stajnia-Höhle ist eine komplexe Fundstelle mit Frosteinwirkung, die Artefakte nach ihrer Ablagerung bewegt und Schichten vermischt hat. Wir waren von dem Ergebnis freudig überrascht“. Bezüglich der paläoanthropologischen Merkmale des Fundes fügt Mitautor Stefano Benazzi von der Universität Bologna hinzu: „Die Morphologie des Zahnes ist typisch für Neandertaler, was auch durch die genetische Analyse bestätigt wurde. Der abgenutzte Zustand der Krone lässt vermuten, dass der Zahn einer erwachsenen Person gehörte“.
Neandertaler in periglazialen Umgebungen
Die Widerstandsfähigkeit der Neandertaler in diesen Regionen und das Fortbestehen des Micoquiens in einem riesigen Gebiet für mehr als 50.000 Jahre, hat Archäologen lange Zeit verblüfft. Über die taphonomischen Aspekte hinaus weist das lithische Material von Stajnia eine Reihe von Merkmalen auf, die mehreren wichtigen Fundstellen in Deutschland, auf der Krim, im Nordkaukasus und im Altai gemein sind. Diese Ähnlichkeiten sind wahrscheinlich das Ergebnis der zunehmenden Mobilität von Neandertalergruppen, die häufig durch die nord- und osteuropäischen Ebenen zogen, um an die Kälte angepasste Wandertiere zu jagen. Die Flüsse Prut und Dnjestr wurden von ihnen wahrscheinlich als Hauptkorridore für die Ausbreitung von Mitteleuropa in den Kaukasus genutzt. Ähnliche Korridore könnten auch vor etwa 45.000 Jahren benutzt worden sein, als andere westliche Neandertaler, die Micoquien-Steinwerkzeuge bei sich trugen, die lokalen Populationen in der Mesmaiskaja-Höhle im Kaukasus ersetzten.
Sahra Talamo von der Universität Bologna fasst die weitreichenden Implikationen dieser Studie zusammen: „Ein multidisziplinärer Ansatz ist immer der beste Weg, um komplexe archäologische Fundstätten zu untersuchen, wie in dieser Studie deutlich wird. Das Ergebnis im Falle des Stajina-Neandertalers ist ein großartiges Beispiel dafür, dass die molekulare Uhr für die Datierung von Funden, die älter als 55.000 Jahre sind, unglaublich effektiv ist“.
Originalpublikation:
Andrea Picin et al.
New perspectives on Neanderthal dispersal and turnover from Stajnia Cave (Poland)
Scientific Reports, 8 September 2020, https://doi.org/10.1038/s41598-020-71504-x

09.09.2020, Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT)
Suez- und Panamakanal: Hotspots für die Verbreitung invasiver Arten
Invasive gebietsfremde Organismen stellen weltweit eine der Hauptbedrohungen für die Artenvielfalt natürlicher Lebensräume dar. Sie können zu schweren ökologischen und wirtschaftlichen Schäden führen und eine Ursache für den Verlust biologischer Vielfalt sein. Künstlich hergestellte Meereskanäle sind als Hotspots für die Invasion verschiedenster Arten von Meeresorganismen bekannt. Wissenschaftler des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) und des Smithsonian Tropical Research Institute in Panama haben jetzt Veränderungen im Salzgehalt des Gatúnsees festgestellt, der für den Bau des Panamakanals durch die Aufstauung eines Flusses angelegt wurde.
Eine 29 km lange Teilstrecke des Panamakanals führt durch den Gatúnsee, dessen Süßwasser die meisten marinen Arten bisher davon abhielt, den Kanal zu überqueren. Ein brackiger Gatúnsee jedoch könnte bedeuten, dass Hunderte Fischarten, die einen niedrigen Salzgehalt vertragen, zukünftig durch den Panamakanal die Reise vom Pazifik zum Karibischen Meer und umgekehrt meistern könnten, schreiben die Forschenden jetzt im Fachmagazin Nature Ecology & Evolution.
„Der 2016 abgeschlossene Ausbau des Panamakanals verändert die Bedingungen, die den Gatúnsee zu einer erfolgreichen Barriere machen“, erklärt Erstautor Dr. Gustavo Castellanos-Galindo vom ZMT. „Es wurden neue Schleusen gebaut, um größere Schiffe durchzulassen, die die alten Schleusen von 1914 nicht passieren konnten.“
Der Wissenschaftler vermutet, dass durch das neue Schleusendesign, welches eine Rezirkulation des Schleusenwassers vorsieht, sowie dem zunehmenden Schiffsverkehr und eine intensivere Schleusennutzung mehr Salzwasser aus dem Meer in den See gerät und ihn so leicht brackig werden lässt. „In Zukunft könnte es diese Veränderung einigen Meeresorganismen ermöglichen, den See zu durchqueren und so durch den Kanal von einem Ozean zum anderen zu gelangen“, so der Forscher. „Es könnten sich also Faunen vermischen, die seit Millionen von Jahren voneinander getrennt sind. Die ökologischen und sozio-ökonomischen Folgen dieses Austauschs sind derzeit schwer vorhersehbar, aber in der Vergangenheit konnten wir Ähnliches am Suezkanal beobachten.“
Durch den Suezkanal, der das Rote Meer mit dem Mittelmeer verbindet, konnten seit Eröffnung des Kanals im Jahre 1869 mehr als 100 marine Fischarten aus dem Roten Meer in das Mittelmeer gelangen, ein invasionsbiologischer Vorgang, den Wissenschaftler als Lessepssche Migration bezeichnen – benannt nach Ferdinand de Lesseps, dem französischen Erbauer des Suezkanals.
„Nach dem Bau eines zusätzlichen 35 Kilometer langen Kanals, der 2015 seinen Betrieb aufnahm, wurde im Mittelmeer ein Anstieg von Fischarten aus dem Roten Meer beobachtet. In jüngster Zeit wurden beispielsweise giftige Feuerfische im Mittelmeer entdeckt“, berichtet Castellanos-Galindo. „Die fortschreitende ‚Tropikalisierung‘ des Mittelmeeres mit steigenden Wassertemperaturen als eine Folge des Klimawandels bedeutet auch, dass an wärmere Gewässer gewöhnte migrierende Fischarten aus dem Roten Meer langfristig günstigere Bedingungen vorfinden können, um in der neuen Umgebung des Mittelmeeres zu gedeihen.“
Die Wissenschaftler sehen diese Entwicklungen mit Sorge und empfehlen den Einsatz wissenschaftlicher Methoden für das Management sowohl in der globalen Schifffahrtspolitik als auch bei lokalen Bemühungen, um invasive gebietsfremde Arten daran zu hindern, über Kanäle in neue Lebensräume einzudringen.
„Mit wissenschaftlichen Methoden wie beispielsweise der Messung von DNA in Umweltproben könnte man Invasionen im Frühstadium erkennen“, schlägt Castellanos-Galindo vor, „oder es könnten Abschreckungsmittel wie akustische Technologien eingesetzt werden, um zu verhindern, dass Fische durch die Kanalschleusen schwimmen.“
In verschiedenen Programmen der Vereinten Nationen wie etwa im Nachhaltigkeitsziel SDG 15 ‚Leben an Land‘ sind Ziele verankert, um sowohl biologische Vielfalt zu erhalten als auch das Einbringen invasiver gebietsfremder Arten zu verhindern. Castellanos-Galindo hofft, dass auch die UN-Dekade der Ozeane (2021-2030) eine gute Möglichkeit bieten wird, „Wissenschaft und Management weiter voranzubringen, um die Ausbreitung invasiver Arten über Schifffahrtskanäle einzudämmen.“
Der Fischökologe meint: „Von Seiten der Wissenschaft ist es wichtig, die Mechanismen zu verstehen, die bei Invasionen und bei der Gestaltung möglicher Präventions- und Eindämmungsmaßnahmen eine Rolle spielen. Maßnahmen der Politik und des Managements auf lokaler und regionaler Ebene können dazu beitragen, das Risiko, das von invasiven Arten ausgeht, auf diesen wichtigen Handelsrouten zu verringern.“
Originalpublikation:
Castellanos-Galindo GA, Robertson DR, Torchin ME (2020) A new wave of marine fish invasions through major shipping canals. Nature Ecology and Evolution. DOI: 10.1038/s41559-020-01301-2
Link: https://rdcu.be/b6Dp4

10.09.2020, WWF World Wide Fund For Nature
Tierbestände auf dem Tiefpunkt
Berlin: Um die biologische Vielfalt war es noch nie so schlecht bestellt wie heute: Der Bestand von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien ging im Vergleich zu 1970 weltweit im Schnitt um 68 Prozent zurück. Darunter verzeichnen Süßwasserarten mit 84 Prozent den stärksten Schwund innerhalb der rund 21.000 untersuchten Bestände von über 4.400 Wirbeltierarten. Damit fällt der „Living Planet Index“, ein Barometer für den weltweiten ökologischen Gesundheitszustand der Erde, auf einen neuen Tiefpunkt. Das geht aus dem 13. Living Planet Report hervor, den der WWF heute in Berlin vorgestellt hat. Teile des Reports erscheinen heute auch im Fachmagazin Nature. Christoph Heinrich, Vorstand Naturschutz bei WWF kommentiert: „Die Kurve der Tierbestände zeigt inzwischen eine dramatische Entwicklung. Wäre der Living Planet Index ein Aktienindex, würde er die größte Panik aller Zeiten auslösen. Wir konsumieren unsere Ökosysteme zu Tode. Wir müssen schleunigst die Reißleine ziehen und in den natürlichen Grenzen der Erde wirtschaften und leben. Denn die Natur ist systemrelevant“. Der WWF fordert angesichts der erschreckenden Zahlen einen Systemwechsel bei der Agrarpolitik, dem Ernährungssystem und den globalen Lieferketten. Zudem müsse bis 2030 ein Drittel der Erde unter Schutz gestellt werden.
In Süd- und Zentralamerika sind die Tierbestände mit 95% besonders stark geschrumpft. Dazu Heinrich: „Um günstiges Soja für unser Billigfleischsystem anzubauen, werden in Südamerika Regenwälder gerodet. Statt mit dem Finger nur auf die Verbraucher und Landwirte zu zeigen, müssen Politik und Wirtschaft sich an die eigene Nase fassen. Sie müssen Verbraucher davor schützen, dass Entwaldung auf ihrem Teller landet.“ Der WWF fordert auf nationaler wie europäischer Ebene wirksame Gesetze für nachhaltige Lieferketten. „Produkte dürfen in die EU nur noch eingeführt werden, wenn für sie keine Urwälder abgeholzt oder Moore trockengelegt wurden. Auch das Freihandelsabkommen Mercosur ist ohne wirksame und einklagbare Umweltstandards unhaltbar.“
In Europa geht die Kurve des Living Planet Index‘ ebenfalls abwärts, zum Beispiel bei den Schmetterlingen des Grünlandes. Die Bestände in der EU gingen seit 1990 um 39 Prozent zurück. Intensive Landwirtschaft und der Umbruch von Grünland sind die Hauptgründe. Dazu Heinrich: „Mit der Zukunftskommission Landwirtschaft und der Neugestaltung der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik haben wir die Möglichkeit einen kompletten Systemwechsel in der Ernährungs- und Agrarpolitik einzuläuten. Mindestens 50 Prozent der Agrar-Subventionen gehören in die Hand von Landwirtinnen und Landwirten, die nachweislich auf ihren Feldern Klima- und Umweltschutzziele umsetzen.“
Zu den besonders gefährdeten Tieren gehört der Östliche Flachlandgorilla im Kongo (87 Prozent seit 1994), Lederschildkröten in Costa Rica (84 Prozent seit 1995) und Störe im Jangtse (97 % seit 1970). Wachsende Bestände des Eurasischen Bibers und Waldelephanten im Bia Nationalpark in Ghana zeigen, dass der Negativtrend auch gestoppt werden kann. Mit mehr Schutzgebieten, einer Umstellung der Landbewirtschaftung und nachhaltigerem Konsum ließe sich der Verlust terrestrischer Biodiversität noch aufhalten, so der Living Planet Report. Der WWF fordert die Bundesregierung auf sich dafür einzusetzen, dass 30 Prozent der Erde bis 2030 geschützt werden. In der EU-Biodiversitätsstrategie der EU-Kommission ist das Ziel 30% der EU-Fläche unter Schutz zu stellen schon enthalten. Allerdings muss die Strategie noch durch den EU-Umweltministerrat im Herbst. Im Rahmen einer UN-Konferenz zum Schutz der biologischen Vielfalt in 2o21 hat die EU zudem die Chance, dieses Ziel zu einem globalen Maßstab zu erklären. Heinrich sagt: „Deutschland hat es mit dem EU-Ratsvorsitz mit in der Hand, ob Europa vorangeht – und damit auf der Weltbühne als Vorreiter auftritt. Auch vor der eigenen Haustür gibt es Verbesserungsbedarf, bisher sind nur rund 15 Prozent der deutschen Landfläche durch Natura 2000-Schutzgebiete abgedeckt. Was wir von Entwicklungs- und Schwellenländern fordern, müssen wir auch vor der Haustür umsetzen: Wir brauchen mehr Schutz für die heimische Natur.“ Bereits Ende des Monats hat die Politik die Chance zu zeigen, dass sie den Niedergang der Natur stoppen will. Der WWF fordert von Bundeskanzlerin Merkel, sich auf dem Ende September stattfindenden UN-Biodiversitätsgipfel klar für die Relevanz von Naturschutz und Nachhaltigkeit zu bekennen.
Der Living Planet Report zeigt Veränderungen der weltweiten Biodiversität. Die Studie wird seit 1998 vom WWF veröffentlicht, seit 2000 erscheint sie im zweijährigen Turnus. Die aktuelle 13. Ausgabe wurde vom WWF gemeinsam mit der Zoologischen Gesellschaft London (ZSL) erstellt.
Der Living Planet Index (LPI) erfasst den Zustand und die Entwicklung der weltweit untersuchten biologischen Vielfalt. Er basiert aktuell auf Daten zu rund 21.000 untersuchten Populationen von circa 4.400 Wirbeltierarten auf der ganzen Erde. Für den Zeitraum von 1970 bis 2016 ermittelt der globale LPI einen Rückgang von 68 Prozent. Zum Vergleich: Im ersten Living Planet Report lag der ermittelte Rückgang noch bei 30 Prozent für den Zeitraum 1970 bis 1995. Die deutsche Zusammenfassung des Living Planet Reports: https://www.wwf.de/living-planet-report

10.09.2020, Jacobs University Bremen gGmbH
Bremer Forscher: 94 Prozent der tropischen Korallenriff-Lebensräume gefährdet
In einer gemeinsamen Studie haben Wissenschaftler der Jacobs University Bremen, des Leibniz-Zentrums für Marine Tropenforschung (ZMT) und der Universität Bremen erstmals die Anfälligkeit von tropischen Korallenriff-Habitaten gegenüber messbaren Umweltfaktoren prognostiziert. Danach müssen 94 Prozent der weltweiten Korallenriff-Lebensräume als gefährdet angesehen werden. Nur sechs Prozent gelten als Refugien, als weitgehend unbeeinträchtigte Gebiete. Die Studie der Bremer Wissenschaftler ist kürzlich in der renommierten Zeitschrift „Global Change Biology“ erschienen.
Korallenriffe zählen zu den bedeutendsten Ökosystemen der Erde. Sie sind Lebensraum für fast ein Viertel der marinen Tierarten der Welt, schützen als Wellenbrecher die Küsten und sind in vielen Regionen aufgrund von Fischerei und Tourismus eine wichtige Nahrungs- und Einkommensquelle. Baumeister der Riffe sind die Korallen – Nesseltiere, die im Durchschnitt nur wenige Millimeter im Jahr wachsen. Die ökologisch enorm wichtigen und zugleich spektakulär schönen Ökosysteme sind besonders bedroht. Sie sind anfällig gegenüber Umweltveränderungen, etwa steigenden Wassertemperaturen, und gelten deshalb als Frühwarnsystem für den globalen Klimawandel.
„In unserer Studie unterscheiden wir zwischen globalen und regionalen Stressfaktoren, die mess- und quantifizierbar sind“, erläutert Dr. Agostino Merico, Professor für Ökologische Modellierung an der Jacobs University und Leiter der Arbeitsgruppe Systemökologie am ZMT. Zu den globalen Faktoren zählen die Anstiege in der Meerwassertemperatur und die Versauerung der Ozeane – beides Größen, die durch menschengemachte Emissionen von Kohlendioxid verursacht werden. Zu den lokalen Faktoren gehört die Eutrophierung, die Anreicherung vor allem von Nitraten und Phosphaten im Meer, meist verursacht durch fehlende Kläranlagen, oder die Düngung auf Feldern in der küstennahen Landwirtschaft.
Ausgewertet wurden Daten für Riffe in sechs Weltregionen – in der Karibik, in Südost-Asien, dem Indischen Ozean, im Pazifik, im Roten Meer und für das Great Barrier Reef vor Australien. Laut der Studie sind 22 Prozent der Riffe durch lokale Faktoren bedroht, 11 Prozent durch globale Faktoren und 61 Prozent durch eine Kombination aus beiden. Sechs Prozent der untersuchten Gebiete erwiesen sich als robust gegenüber der Kombination aus allen untersuchten Stressfaktoren. Zu diesen Refugien gehören etwa die Andamanen und die Nikobaren, Inselgruppen im Indischen Ozean.
Dass die Riffe sehr unterschiedlich auf einzelne Stressfaktoren oder auf eine Kombination von mehreren reagieren, ist eine weitere zentrale Erkenntnis aus der Studie. So gedeihen Korallenriffe in Südost-Asien noch bei höheren Wassertemperaturen als dies etwa beim Great Barrier Reef der Fall ist. Als besonders bedroht gelten etwa Riffe in der Karibik oder im Roten Meer.
Die unterschiedliche Anfälligkeit zeigt auch Lösungswege für die Genesung der Riffe auf. „Lokale Stressfaktoren können durch lokale Maßnahmen erfolgreich eingedämmt werden, etwa durch den Bau von Kläranlagen“, erläutert Professor Merico. „Solche Maßnahmen verschaffen uns Zeit. Sie sind sehr wirksam, denn immerhin sind knapp ein Viertel der Korallenriffe davon betroffen.“ Um die globalen Faktoren erfolgreich bekämpfen zu können, ist die Reduktion der Treibhausgase durch internationale Abkommen die einzige Lösung.
Auch die Identifizierung von besonders robusten Gebieten vermittle Hoffnung, betont Dr. Christian Wild, Professor für Marine Ökologie an der Universität Bremen, der an der Erstellung der Studie beteiligt war. „Wenn es gelingt, die Refugien dauerhaft zu schützen, auch vor Überfischung, könnten sie zur Erholung gefährdeter Riffe beitragen – als Reservoir für deren Besiedelung mit Larven.“
Originalpublikation:
Yi Guan, Sönke Hohn, Christian Wild, Agostino Merico:
Vulnerability of global coral reef habitat suitability to ocean warming, acidification and eutrophication

10.09.2020, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Der Abwärtstrend der biologischen Vielfalt ist umkehrbar
Die Politik muss in den kommenden Jahrzehnten alles daran setzen, die noch bestehenden natürlichen Lebensräume zu schützen, viele bereits verloren gegangene wiederherzustellen und vor allem die Ernährungsgewohnheiten und Nahrungsproduktion nachhaltig zu gestalten. Nur so sei der Verlust der biologischen Vielfalt bis 2050 oder früher zu stoppen. Dieses Rezept haben Wissenschaftler unter Leitung des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA) und Beteiligung von Forschern des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) mithilfe von Modellen errechnet. Die in der Zeitschrift Nature veröffentlichte Studie ist Teil des jüngsten WWF-Living-Planet-Reports.
Die biologische Vielfalt – die Vielfalt und Individuenzahl der Arten sowie die Größe und Qualität der Ökosysteme, die diese beheimaten – nimmt seit vielen Jahren in alarmierendem Tempo ab. Grund dafür ist die menschliche Lebensweise.
Während in vielen verschiedenen politischen Prozessen ehrgeizige Schutzziele vorgeschlagen wurden, erschweren praktische Fragen wie die Ernährung der wachsenden menschlichen Bevölkerung der Erde das Erreichen solcher Ziele, denn: Naturschutz und Nahrungsmittelproduktion konkurrieren um die gleichen Flächen.
Eine neue Studie eines internationalen Wissenschaftlerteams unter der Leitung des IIASA untersucht erstmals so ehrgeizige Politikziele wie die Umkehrung globaler Biodiversitätstrends und zeigt auf, wie zukünftige Wege zur Erreichung dieses Ziels aussehen könnten.
„Wir wollten auf fundierte Weise beurteilen, ob es machbar ist, die vor allem durch Landnutzung abwärtsgerichtete Kurve der globalen Biodiversität umzubiegen, ohne andere Ziele der nachhaltigen Entwicklung zu gefährden“, erklärt David Leclère, Erstautor der Studie und IIASA-Forscher. „Und sollte sich dies tatsächlich als möglich erweisen, wollten wir auch herausfinden, wie wir dorthin gelangen können – genauer gesagt, welche Art von Maßnahmen in Bezug auf Landnutzung erforderlich wären und welche Kombinationen verschiedener Typen von Maßnahmen am wenigsten Kompromisse und am meisten Synergien hervorrufen.“
Die Studie untersucht anhand verschiedener Modelle und neu entwickelter Szenarien, wie integrative Politikansätze dazu beitragen könnten, die Biodiversitätsziele zu erreichen, und gibt Informationen über mögliche Wege, wie die Vision der Biodiversitätskonvention (CBD) der Verienten Nationen für 2050 – „Leben in Harmonie mit der Natur“ – verwirklicht werden könnte. Um den globalen Trend der Biodiversität an Land zu stoppen und eine Erholung bis 2050 oder früher zu ermöglichen, sind nach Ansicht der Forscher Maßnahmen in zwei Schlüsselbereichen erforderlich:
1) Ehrgeizige Anstrengungen zur Erhaltung und Wiederherstellung von Ökosystemen bei wesentlich effektiverem Management: Die Studie geht davon aus, dass Schutzgebiete schnell auf 40 % der weltweiten Landfläche ausgeweitet werden. Dies sollte mit verstärkter Wiederherstellung degradierter Flächen (die in den Studienszenarien bis 2050 etwa 8 % der terrestrischen Flächen erreichen) und einer Landnutzungsplanung einhergehen, die Produktions- und Erhaltungsziele auf allen bewirtschafteten Flächen in Einklang bringt. Ohne solche Anstrengungen könnte der Rückgang der biologischen Vielfalt nur verlangsamt und nicht gestoppt werden, eine mögliche Erholung wäre nur sehr verlangsamt möglich.
2) Grundlegende Umgestaltung des Ernährungssystems: Da mutige Schritte zur Erhaltung und Wiederherstellung allein wahrscheinlich nicht ausreichen werden, sind zusätzliche Maßnahmen erforderlich, um dem globalen Druck des Ernährungssystems auf die biologische Vielfalt zu begegnen. Die Forscher führen hier die Verringerung der Nahrungsmittelabfälle, eine umweltfreundlichere Ernährung, nachhaltige Intensivierung der Produktion und nachhaltigen Handel auf.
Integrierte Maßnahmen müssten jedoch in beiden Bereichen gleichzeitig ergriffen werden, um die Kurve des Biodiversitätsverlusts bis 2050 oder früher nach oben zu biegen.
In einem Szenario, indem sich die Politik nur auf verstärkte Schutz- und Wiederherstellungsanstrengungen beschränkt, ließen sich nur ca. die Hälfte der Biodiversitätsverluste gegenüber einem „Weiter-wie-bisher-Ansatzes“ vermeiden. Ein „Umbiegen der Kurve nach oben“ war nicht bei allen Modellen zu beobachten, und wo dies der Fall war, kam dies oft erst in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts zustande. Darüber hinaus stellten die Forscher fest, dass ein sich Beschränken auf Erhaltung und Wiederherstellung der Ökosysteme den Preis von Nahrungsmitteln in die Höhe treiben könnten, wodurch möglicherweise künftige Fortschritte bei der globalen Bekämpfung des Hungers behindert würden.
Szenarien, in denen die Politik massiv in Erhaltung und Wiederherstellung investiert und gleichzeitig das Ernährungssystem auf globaler Ebene verändert, Produktion und Konsumgewohnheiten in nachhaltige Bahnen lenkt, eröffneten hingegen wesentlich mehr Möglichkeiten zur Erhaltung und Wiederherstellung von Ökosystemen und gleichzeitig geringere Risiken für die Ernährungssicherheit. Diese Kombination, so zeigte das Modell, ermögliche es, den durch Landnutzungsänderungen bedingten globalen Abwärtstrend bis 2050 zu stoppen und sogar umzukehren.
„Eine grundlegende Umgestaltung der Ernährungs- und Landnutzungssysteme brächte außerdem einen erheblichen Zusatznutzen“, sagt Co-Autor Dr. Carsten Meyer vom iDiv. „Diese Maßnahme wäre ein großer Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele und verringerte den Druck auf die Wasserressourcen und den Überschuss an reaktivem Stickstoff in der Umwelt, was sich auch förderlich für die menschliche Gesundheit auswirkt.“
Da die CBD derzeit einen neuen Strategische Plan für die biologische Vielfalt bis 2030 entwickelt, sind die Ergebnisse der Studie unmittelbar relevant für die laufenden Verhandlungen im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt der Vereinten Nationen.
„Unsere Ergebnisse stellen eine sehr positive Botschaft für Regierungen dar, die derzeit die neuen Biodiversitätsziele diskutieren“, sagt Meyer. „Klar wird aber auch, dass es unmöglich sein wird, die Biodiversität allein durch klassische Naturschutzinstrumente wie Schutz und Renaturierung von Ökosystem zu erhalten. Vielmehr werden zusätzlich dazu weitreichende Maßnahmen auf Verbraucher- und Erzeugerseite der Nahrungsmittel- und Bioenergie-Sektoren nötig sein – insbesondere in Regionen mit besonders hoher Biodiversität.“
Originalpublikation:
Leclere D, Obersteiner M, Barrett M, Butchart SHM, Chaudhary A, De Palma A, DeClerck FAJ, Di Marco M, et al. , incl. Meyer, C. (2020). Bending the curve of terrestrial biodiversity needs an integrated strategy. Nature. https://www.nature.com/articles/s41586-020-2705-y

11.09.2020, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL
Kadaver im Yellowstone: Wie Wolfsrisse das Leben im Boden verändern
Wenn Wölfe Huftiere fressen, bleibt ausser Knochen, Haut und Mageninhalt wenig übrig. Darunter gedeiht jedoch eine überraschend artspezifische Mikrobengemeinschaft, zeigt eine von der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL geleitete Studie. Bedeutsam ist das nicht nur für das Verständnis der Wechselwirkungen im Ökosystem, sondern möglicherweise auch für Kriminalisten.
Wenn ein Tier stirbt, dann setzt sich eine Kettenreaktion von Verwesungsprozessen in Gang. Bisher ging man davon aus, dass diese nach einem weitgehend festen und damit vorhersagbaren Schema abläuft. Die Gerichtsmedizin jedenfalls verlässt sich darauf, dass die auf (oder unter) einer Leiche vorhandenen Organismen Hinweise auf die Todesumstände liefern.
Doch von Wölfen gerissene Huftier-Leichen halten sich nicht an einfache Regeln, zeigt nun eine einzigartige Studie von WSL-Forschenden an Wolfsrissen auf. Das Team von Anita Risch, Leiterin der Gruppe Tier-Pflanzen Interaktionen, hat zusammen mit Partnern der Universität Minnesota, im Yellowstone Nationalpark in den USA den Boden unter Kadavern untersucht.
So gedeihen unter einem Bisonriss ganz andere Bakterien und Pilze als unter einem Wapitiriss, ergab die in der Fachzeitschrift Functional Ecology veröffentlichte Arbeit. Die mikrobielle Vielfalt unter den Rissen ist zwar geringer als im Boden neben Rissen, da wenige, auf Kadaver spezialisierte Arten dominieren und andere Mikroben verdrängen.
Seltene Nährstoffe unter Kadavern
Unter Kadavern fanden sich jedoch hohe Konzentrationen von sonst seltenen Nährstoffen. Diese fördern den Wuchs von Pflanzen, die deutlich nährstoffreicher sind als diejenigen neben Rissen. Solche Pflanzen sind wiederum attraktiv für Pflanzenfresser, die von der hochwertigen Nahrung angezogen werden. «So entsteht in der Landschaft ein Mosaik von Hotspots mit überdurchschnittlich gutem Nahrungsangebot», sagt Risch.
Veränderungen der Mikrobengemeinschaften über die Zeit liessen sich nicht messen, denn aus Sicherheitsgründen konnten die Forschenden nur Kadaver besuchen, die älter als 40 Tage waren. Davor wäre das Risiko zu gross gewesen, an den Kadavern auf Grizzlybären zu stossen.
Dies ist gemäss Risch die erste grossangelegte Studie in freier Wildbahn zur Frage, wie Mikrobengemeinschaften unter Kadavern zusammengesetzt sind. „Die toten Tiere sind so etwas wie Inseln in der Landschaft, auf denen sich Nährstoffe konzentrieren und sich die Artenvielfalt im Boden verändert“, sagt Risch, die mit ihrem Mitautor Joseph Bump von der University of Minnesota insgesamt 19 Wolfsrisse im Nationalpark untersucht hat.
Der Yellowstone Nationalpark bietet eine einmalige Gelegenheit für die Untersuchung von Kadavern in einer natürlichen Umgebung: Die fünf Wolfsrudel in der „Northern Range“ mit etwa 33 Individuen sind mit Satellitensendern ausgerüstet und die Lage ihrer Risse ist somit bekannt. Wapitis und Bisons sind zudem so gross, dass für die Forschenden genügend Knochen, Mageninhalt und Haare liegen bleiben, um die Überreste auch noch 40 Tage nach dem Riss zu finden.
Originalpublikation:
Risch, A.C.; Frossard, A.; Schütz, M.; Frey, B.; Morris, A.W.; Bump, J.K., 2020: Effects of elk and bison carcasses on soil microbial communities and ecosystem functions in Yellowstone, USA. Functional Ecology, 34: 1933-1944. doi: 10.1111/1365-2435.13611

11.09.2020, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Seeotter-Schutz könnte Folgen des Klimawandels abmildern
– GEOMAR datiert Kalkalgen für komplexe Ökosystemstudie in Alaska –
Weil der Bestand von Seeottern vor den Aleuten (Alaska, USA) seit den 1990er Jahren extrem geschrumpft ist, wirkt sich der Klimawandel besonders stark auf die dort verbreiteten Kalkalgenriffe aus. Diesen Zusammenhang belegt eine Studie, die heute in der Fachzeitschrift Science erschienen ist. Die äußerst komplexen Analysen, die der Studie zugrunde liegen, werden gestützt von Altersbestimmungen, die am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel für die betroffenen Algen durchgeführt wurden.
Große Seetang-Wälder, die auf von Kalkalgen gebildeten Riffen wachsen, sind charakteristisch für die Ökosysteme vor der Inselgruppe der Aleuten (Alaska, USA). Doch diese Kalkriffe könnten schon in naher Zukunft verschwinden. Schuld daran sind unter anderem die Erwärmung der Ozeane sowie sinkende pH-Werte des Meerwassers aufgrund zunehmender Kohlendioxidaufnahme. Ergebnisse einer internationalen Studie unter Leitung des Meeresbiologen Dr. Douglas Rasher vom Bigelow Laboratory for Ocean Science (Maine, USA) mit Beteiligung des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel zeigen, dass der stark geschrumpfte Bestand von Seeottern ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Die Ergebnisse wurden heute in der internationalen Fachzeitschrift Science veröffentlicht.
Die Riffe vor der Küste der Aleuten bestehen aus Kalk, gebildet von der Rotalge Clathromorphum nereostratum. Ein natürlicher Fressfeind der Algen sind Seeigel. Diese stehen wiederum auf dem Speiseplan von Seeottern. Deren Bestand ist aber schon in den 1990er Jahren so weit geschrumpft, dass sie ihre Funktion als Räuber im Ökosystem nicht mehr erfüllen können. Infolgedessen ist die Zahl der Seeigel explodiert und sie haben angefangen, das Erscheinungsbild des Küstenökosystems stark zu verändern. Zuerst haben sie die dichten Seetang-Wälder deutlich gelichtet. Jetzt greifen sie deren Grundlage, die Kalkalgenriffe, an.
Die Alge Clathromorphum produziert ein Skelett aus Kalk, das sie eigentlich vor Feinden schützt. Doch die Seeigel bohren sich durch die Schutzschicht hindurch – ein Prozess, der aufgrund des Klimawandels einfacher geworden ist. „Die Erwärmung und Versauerung der Ozeane erschwert kalkbildenden Organismen die Produktion ihrer Schalen, in diesem Fall des Schutzskeletts“, sagt Douglas Rasher. „Die Schlüsselart Clathromorphum nereostratum ist nun sehr anfällig für die Beweidung durch Seeigel. Gleichzeitig hat die Zahl der Seeigel stark zugenommen. Das ist eine verheerende Kombination.“
Schon einmal, als der Seeotter im 18. und 19. Jahrhundert wegen seines Fells fast bis zur Ausrottung gejagt wurde, vermehrten sich die Seeigel vor den Aleuten massiv. Damals konnten sich die Clathromorphum-Riffe aber behaupten. „Inzwischen hat sich die Situation jedoch drastisch verändert. Unsere Studie zeigt, dass der Seeigel-Fraß an den Riffen in den letzten Jahren aufgrund der sich abzeichnenden Auswirkungen des Klimawandels viel gefährlicher ist“, betont Rasher.
Da die Alge jedes Jahr eine neue Schicht zu ihrem Skelett hinzufügt, bildet sie Wachstumsbänder – wie Jahresringe bei Bäumen. Diese Bänder archivieren auch, ob und wie massiv Seeigel in jedem Jahr geweidet haben. So konnte das Team die Vergangenheit des Ökosystems rekonstruieren. Dabei zeigte sich, dass die Beweidungsraten in jüngster Zeit in Verbindung mit steigenden Meerwassertemperaturen zunehmen.
Die Proben der Kalkalgen wurden mit Hilfe der Uran-Thorium-Methode am GEOMAR in Kiel datiert, um so eine eindeutige Chronologie der Riffentwicklung zu erhalten. „So umfassende Ökosystemrekonstruktionen wie in diesem Fall sind nur möglich, wenn viele verschiedene Disziplinen und Analysemethoden zusammenkommen. Wir arbeiten schon viele Jahre mit den Kolleginnen und Kollegen in den USA und Kanada zusammen. Deshalb hat es uns besonders gefreut, auch an dieser Studie mitzuwirken, die die Folgen des Klimawandels mit dem Verlust wichtiger Räuber und dem Verschwinden von Seetangwäldern in Beziehung setzen konnte“, sagt der Physiker Dr. Jan Fietzke vom GEOMAR.
„Es ist gut dokumentiert, dass der Mensch die Ökosysteme der Erde beeinflusst, indem er einerseits das Klima verändert und andererseits große Raubtiere dezimiert. Aber die Kombination solcher Prozesse wird selten untersucht“, betont auch Dr. Rasher. Die Entdeckung dieses Zusammenspiels zwischen Raubtieren und Klimawandel gibt aber auch Anlass zu Hoffnung. Zwar sind direkte Anstrengungen gegen die fortschreitende Erwärmung und Ozeanversauerung die wichtigsten Maßnahmen, um den Klimawandel und seine Auswirkungen auf globaler Ebene einzudämmen. Regional kann aber auch der Schutz wichtiger Arten – in diesem Fall des Seeotters – zur Stabilisierung eines ganzen Ökosystems beitragen.
Originalpublikation:
Rasher, D. B., R. S. Steneck, J. Halfar, K. J. Kroeker, J. B. Ries, T. Tinker, P. T. W. Chan, J. Fietzke, N. A. Kamenos, B. H. Konar, J. S. Lefcheck, C. J. D. Norley, B. P. Weitzman, I. T. Westfield, J. A. Estes (2020): Keystone predators govern the pathway and pace of climate impacts in a subarctic marine ecosystem. Science, https://doi.org/10.1126/science.aav7515

11.09.2020, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Kohlmotte nutzt Pflanzenabwehrstoff als Signal für die Eiablage
Ein Forschungsteam der Landwirtschaftlichen Universität in Nanjing, China, und des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena konnte zeigen, dass Isothiocyanate, die Kreuzblütengewächse eigentlich zur Verteidigung gegen Fraßfeinde bilden, Kohlmottenweibchen als Duftsignale dienen, damit sie ihre Eier auf diesen Pflanzen ablegen können. Die Wissenschaftler identifizierten zwei Geruchsrezeptoren, deren einzige Aufgabe darin besteht, diese Duftstoffe aufzuspüren und den Weg zum idealen Eiablageplatz zu weisen. Sie konnten damit zeigen, warum ein auf bestimmte Wirtspflanzen spezialisiertes Insekt von Substanzen angelockt wird, die eigentlich Schädlinge fernhalten sollen.
Vom Abwehrstoff zum Lockstoff
Kreuzblütengewächse, wie Kohl, Raps, Senf und Meerrettich, bilden giftige Isothiocyanate, um sich gegen gefräßige Insekten zur Wehr zu setzen. Wenn das Pflanzengewebe verletzt wird, z.B. durch ein kauendes Insekt, werden Senfölglycoside aus dem Gewebe durch ein pflanzeneigenes Enzym so gespalten, dass eine Reihe von Giftstoffen, hauptsächlich Isothiocyanate, gbildet werden, mit denen Pflanzen ihre Fraßfeinde abschrecken. Dieser Abwehrmechanismus funktioniert auch bei den meisten Pflanzenfressern sehr gut. Die Kohlmotte Plutella xylostella hat allerdings im Laufe der Evolution Mechanismen entwickelt, diese Abwehr außer Kraft zu setzen und Pflanzen der Kohlfamilie erfolgreich zu befallen.
„Wir wollten wissen, ob die Falter Isothiocyanate als Dufthinweise nutzen, um ihre Wirtspflanzen zu finden. Tatsächlich konnten wir in Verhaltensexperimenten mit weiblichen Faltern zeigen, dass drei Isothiocynate Schlüsselsignale für die Eiablage darstellen,“ sagt Studienleiter Shuang-Lin Dong von der Landwirtschaftlichen Universität in Nanjing.
Zwei auf Isothiocyanate spezialisierte Geruchsrezeptoren steuern die Eiablage
Die eigentliche Frage aber war für die Wissenschaftler, auf welchen molekularen Mechanismen die Wahl des Eiablageplatzes durch die Kohlmottenweibchen beruht. Daher prüften sie, welche Geruchsrezeptoren verstärkt in weiblichen Faltern gebildet werden und exprimierten diese „weiblichen“ Rezeptoren in den Eizellen von Fröschen. „Mit dieser Methode konnten wir bestimmen, welcher einzelne Geruchsrezeptor auf welchen Duft reagiert. Es zeigte sich, dass zwei Rezeptoren, OR35 und OR49, auf die drei Isothiocyanate reagierten, die wir zuvor als entscheidend für die Eiablage identifiziert hatten“, sagt Markus Knaden aus der Abteilung Evolutionäre Neuroethologie des Max-Planck-Instituts in Jena.
Diese beiden Rezeptoren reagierten auf keine anderen Pflanzenduftstoffe oder die Sexuallockstoffe der Falter. Vermutlich haben sich OR35 und OR49 zielgerichtet entwickelt, um genau die Isothiocyanate als Eiablage-Signale aufzuspüren. „Warum es gleich zwei Rezeptoren sind, hat uns überrascht. Die Rezeptoren spüren allerdings die Isothiocyanate unterschiedlich empfindlich auf. Der empfindlichere Rezeptor könnte daher dafür sorgen, dass weibliche Falter Pflanzen schon von weitem lokalisieren können, während der andere Rezeptor dabei hilft, höhere Konzentrationen der Substanzen auf der Pflanze zu entdecken. So erhält das Kohlmottenweibchen mehr Informationen über das Substrat, auf das es seine Eier ablegen wird,“ meint Shuang-Lin Dong.
Überprüfung der Genfunktion mittels CRISPR-Cas9-Knockout
Die Forscher nutzten die CRISPR-Cas9-Genschere, um in Faltern die die Rezeptoren kodierenden Gene auszuschalten. Diese Methode wird dafür genutzt, um die Funktion eines bestimmten Merkmals zu überprüfen. Für die Eiablage- Experimente verwendeten sie die Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana, eine Modellpflanze, die auch zu den Kreuzblütengewächsen gehört. Eine Gruppel dieser Pflanzen war unverändert und produzierte Isothiocyanate, während eine andere Gruppe aus Mutanten bestand, die nicht in der Lage waren, die für die Falter attraktiven Substanzen zu bilden. War einer der beiden Geruchsrezeptoren der Motten inaktiviert, legten sie deutlich weniger Eier auf die normalerweise bevorzugten, nach Isothiocyanaten duftenden Pflanzen. Waren jedoch beiden Rezeptoren ausgeschaltet, dann war es den Motten unmöglich, zwischen unveränderten Arabidopsis-Pflanzen und den Mutanten zu unterscheiden.
Mogler im Wettstreit zwischen Pflanzen und Insekten
Im Laufe der Evolution haben Pflanzen vielfältige Strategien entwickelt, um sich gegen Pflanzenfresser zu verteidigen. Hierzu gehört auch die chemische Kommunikation. „Meistens ist es für eine Pflanze von Nutzen, wenn sie möglichen Fraßfeinden signalisieren kann, dass sie ihr Verteidigungssystem aktiviert hat. Allerdings gibt es immer jemanden, der diese Kommunikation für seine eigenen Zwecke missbraucht, wie etwa die Kohlmotte, die ein Verteidigungssignal nutzt, um sich auf dieser Pflanze zu vermehren,“ sagt Markus Knaden. Herauszufinden, wie diese „Mogler“ die Abwehr der Pflanze austricksen und sogar für ihren eigenen Vorteil nutzen, könnte dazu beitragen, die Bekämpfung weltweiter Ernteschädlinge, wie der Kohlmotte, zu verbessern: „Unsere Ergebnisse bieten verschiedene Ansätze, diesen Schädling zu kontrollieren: Einerseits könnten wir die identifizierten Isothiocyanate oder ähnlich attraktive Substanzen als Lockstoffe nutzen. Andererseits könnten wir versuchen, durch andere Substanzen die Wahrnehmung der Isothiocyanate so zu manipulieren, dass die Falter ihre Wirtspflanzen nicht mehr finden können,“ fasst Shuang-Lin Dong zusammen.
Weitere Untersuchungen sind geplant, um zu überprüfen, ob auch andere Schädlinge auf Kreuzblütlern spezielle Rezeptoren nutzen, um Isothiocyanate aufzuspüren und ihre Eier auf den Pflanzen abzulegen. Die Ergebnisse werden darüber Aufschluss geben, wie weit die spezialisierte Wahrnehmung dieser Gerüche auch in anderen Arten erhalten ist.
Originalpublikation:
Liu, X.-L., Zhang, J., Yan, Q., Miao, C.-L., Han, W.-K., Hou, W., Yang, K., Hansson, B- S., Peng, Y.-C., Guo, J.-M., Xu, H., Wang, C.-Z., Dong, S.-L., Knaden, M. (2020). The molecular basis of host selection in a crucifer-specialized moth. Current Biology, https://doi.org/10.1016/j.cub.2020.08.047

14.09.2020, Universität Bayreuth
Forscherin der Universität Bayreuth entdeckt neue Spinnenart
Im Hochland von Kolumbien hat Charlotte Hopfe, Doktorandin der Universität Bayreuth am Lehrstuhl Biomaterialien unter der Betreuung von Prof. Dr. Thomas Scheibel, während eines Forschungsaufenthalts im Rahmen ihrer Promotion zum Thema „Spinnenseide“ eine neue Spinnenart entdeckt und zoologisch beschrieben. Die bislang unbekannten Spinnentiere sind in einer Höhe von über 3.500 Metern in der zentralen Kordillere unweit der Pazifikküste heimisch. In der Zeitschrift PLOS ONE stellt die Bayreuther Wissenschaftlerin die von ihr „Ocrepeira klamt“ genannte Spinnenart vor.
„Den zoologischen Namen ‚Ocrepeira klamt‘ habe ich gewählt, um an meine Deutschlehrerin Ulrike Klamt aus meiner Gymnasialzeit zu erinnern. Der Enthusiasmus, mit dem sie ihrem Beruf nachgeht, und das Interesse, das sie für ihre Schüler und für Literatur aufbringt, sind für mich ein Vorbild“, sagt Charlotte Hopfe.
Die Kordilleren in Kolumbien sind bekannt für eine ungewöhnliche große Artenvielfalt. Dabei verteilen sich die Lebensräume dieser Arten auf Höhenlagen mit sehr verschiedenen Klimabedingungen, Vegetationen und Ökosystemen. Exemplare von mehr als 100 Spinnenarten hat die Bayreuther Forscherin in diesen Habitaten gesammelt und zoologisch bestimmt. Dabei war sie überwiegend in einer Region unterwegs, die erst seit dem Ende des kolumbianischen Bürgerkriegs im Jahr 2016 wieder für Forschungsarbeiten zugänglich ist. In Höhenlagen von über 3.500 Metern hat sie die neue Spinnenart entdeckt, die sich von verwandten Arten durch die auffällige Struktur ihrer Fortpflanzungsorgane unterscheidet. Bei der Bestimmung dieser und vieler weiterer Spinnen-Exemplare erhielt Hopfe tatkräftige Unterstützung von Forschern der kolumbianischen Universidad del Valle in Cali, mit der die Universität Bayreuth eine Forschungskooperation hat. Kolumbien wurde im Rahmen der Internationalisierungsstrategie der Universität Bayreuth als ein Schwerpunkt-Land identifiziert, weswegen die Universität Bayreuth mit mehreren kolumbianischen Universitäten enge Zusammenarbeit pflegt.
In der Untersuchung von Spinnenarten aus klimatisch und ökologisch sehr verschiedenen Regionen liegt möglicherweise auch eine Chance, Antworten auf zwei bislang noch unerforschte Fragen zu finden: Es ist noch nichts darüber bekannt, ob Temperaturen, Niederschläge und andere klimatische Faktoren die Evolution von Spinnenarten und ihrer Seideneigenschaften beeinflussen. Ist beispielsweise im Tieflandregenwald der Anteil der Spinnenarten mit extrem elastischer Spinnenseide höher als in der Halbwüste? Und ebenso ist noch offen, ob die Eigenschaften der von einer Spinnenart produzierten Seide durch klimatische Faktoren modifiziert werden. Würde eine im Hochgebirge lebende Spinnenart, wie etwa Ocrepeira klamt, dieselbe Spinnenseide herstellen, wenn sie in einer weitaus tiefer gelegenen Region der Kordilleren heimisch wäre? Die Antwort auf diese Fragen könnte aufschlussreiche Hinweise enthalten, unter welchen Voraussetzungen sich außergewöhnliche Spinnenseiden entwickeln.
Interessant ist auch, ob auf diese Weise Proteine der Spinnenseide gefunden werden können, die aufgrund ihrer Eigenschaften für bestimmte Anwendungen in der Biomedizin und Biotechnologie noch besser geeignet sind als die bisher bekannten Seidenproteine. „Je größer die Vielfalt der Spinnenseiden ist, deren Strukturen und Eigenschaften wir kennen, desto größer ist das Potenzial, um auf der Basis von Seidenproteinen bereits bekannte Biomaterialien optimieren oder neuartige Biomaterialien entwickeln zu können“, erklärt Hopfe.
Originalpublikation:
Charlotte Hopfe, Bryan Ospina-Jara, Thomas Scheibel, Jimmy Cabra-García: Ocrepeira klamt sp. n. (Araneae: Araneidae), a novel spider species from an Andean páramo in Colombia. PLOS ONE (2020), DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0237499

14.09.2020, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Staudämme verschärfen Auswirkungen des Klimawandels auf Fische
Eine mögliche Anpassung von Flussfischen an Klimaveränderungen ist es, sich neue Lebensräume zu erschließen. Doch was passiert, wenn Staudämme und Wehre den Weg behindern, und sind heimische und gebietsfremde Arten davon gleichermaßen betroffen? Dies haben Forschende vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und der spanischen Universität Girona (UdG) untersucht.
Viele Flüsse sind durch Staudämme und Wehre verbaut. Durch diese sogenannte Fragmentierung können einheimische Fische entlang eines Flusses oft keine neuen Lebensräume besiedeln, auch wenn die Auswirkungen des Klimawandels wie Veränderungen der Wassertemperatur und -qualität sie dazu treiben.
Gleichzeitig könnte eine Fragmentierung von Flüssen gebietsfremden, invasiven Arten erschweren, sich auszubreiten. Ob das so ist, wie sich Lebensräume von einheimischen und gebietsfremden Fischarten unter verschiedenen Klimaszenarien verändern und welche Rolle Staudämme dabei spielen, hat das Forschungsteam am Beispiel des Flusses Ebro im Nordosten Spaniens untersucht.
„Die Fische im Ebro leiden besonders unter den Auswirkungen des Klimawandels und der Invasion gebietsfremder Fischarten. Zusätzlich ist der Ebro durch 300 große Staudämme und viele kleine Querbauwerke unterbrochen, was die Situation für die heimischen Arten verschärft“, so Emili García-Berthou, Professor an der Universität Girona und Koautor der Studie.
Anhand räumlicher Modelle zeigten die Forschenden, dass der Anteil geeigneter Lebensräume, die unter zukünftigen Klimaszenarien erschlossen werden können, durch Querbauwerke eingeschränkt wird .Bei Klimaveränderungen werden einheimische Arten ihre Lebensräume vor allem am Unter- und Mittellauf größerer Ebrozuflüsse verlieren; gebietsfremde Arten werden dagegen dort voraussichtlich Lebensräume zugewinnen. Ihren Ergebnissen zufolge wird die Mehrheit der Arten ihr Verbreitungsgebiet flussaufwärts verschieben, wobei gebietsfremde invasive Fischarten wie Moskitofisch, Wels und Karpfen sich voraussichtlich stark ausbreiten.
„Im Ebro leben viele endemische Fischarten die ausschließlich auf der Iberischen Halbinsel vorkommen. Diese Arten sind besonders bedroht, wenn sie durch Staudämme ihr Verbreitungsgebiet nicht anpassen und somit den Folgen des Klimawandels nicht entgehen können. Staudämme verhindern oft nicht die Ausbreitung invasiver Arten. Tatsächlich können sich gebietsfremde Fische durch die veränderten Strömungs- und Lebensraumbedingungen, die sich durch das Aufstauen von Flüssen ergeben, oft sogar leichter ansiedeln“, sagt IGB-Forscher Johannes Radinger, Hauptautor der Studie.
Die Ergebnisse machen deutlich, dass die Fischgemeinschaften in stark fragmentierten und vom Klimawandel betroffenen Flüssen besonders vom Artenverlust bedroht sind. „Das Gewässermanagement sollte sich vor allem auf eine Wiederherstellung des natürlichen Abflussregimes, der Lebensräume und deren Vernetzung, sowie auf die Verhinderung weiterer Einschleppungen nicht heimischer Arten fokussieren“, so die Schlussfolgerung der Forschenden.
Originalpublikation:
Radinger, J., & García-Berthou, E. (2020). The role of connectivity in the interplay between climate change and the spread of alien fish in a large Mediterranean river. Global Change Biology. https://doi.org/10.1111/gcb.15320

15.09.2020, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Schimpansenverhalten und -kultur sind in variabler Umwelt am vielfältigsten
Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und dem Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) hat den Einfluss der Umweltvariabilität auf das Verhaltensrepertoire von 144 sozialen Gruppen untersucht. Die Forschenden fanden heraus, dass die Verhaltensvielfalt bei den Schimpansen größer ist, die weiter entfernt von historischen Waldrefugien leben, die unter saisonalen Bedingungen leben, und die eher in Savannenwäldern als in dicht bewaldeten Lebensräumen beheimatet sind.
Verhaltensflexibilität ermöglicht es vielen Arten, sich beispielsweise durch Innovation und größere kognitive Fähigkeiten an instabile und sich verändernde ökologische Bedingungen anzupassen. Tatsächlich leben einige Vogel- oder Primatenarten in Lebensräumen, die stark saisonabhängig sind und eine veränderliche Verfügbarkeit an Ressourcen aufweisen. In ähnlicher Weise wird angenommen, dass unsere eigene Art ein hohes Maß an Verhaltensflexibilität entwickelt hat, um sich an schwankende und unvorhersehbare Umweltbedingungen anzupassen und zu überleben.
Schimpansen, eine uns am nächsten verwandte Art, verfügen über eine breites Spektrum verschiedenster Verhaltensweisen. Diese können unter verschiedenen Bedingungen beobachtet werden und kommen zumeist nur bei einigen aber nicht allen freilebenden Populationen vor. Dazu gehören zum Beispiel der Gebrauch von Werkzeugen zur Kommunikation, zur Nahrungssuche nach Insekten, Algen, Nüssen oder Honig und Verhaltensweisen, die der Regulierung der Körpertemperatur dienen, wie zum Beispiel das Baden in Tümpeln oder die Benutzung von Höhlen in extrem heißen Umgebungen. Einige dieser Verhaltensweisen werden durch soziales Lernen an die nächste Generation weitergegeben. Bei ihnen handelt es sich um kulturelle Traditionen, die bestimmten Schimpansengruppen zueigen sind. Diese beispielhafte Verhaltensvielfalt bietet Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine einzigartige Gelegenheit, die Auswirkungen von Umweltbedingungen auf die kulturelle Diversität und das Verhaltensrepertoire innerhalb einer Art zu untersuchen.
Freilandforschung mit Literaturrecherche kombiniert
Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Ammie Kalan und Hjalmar Kühl vom Pan African Programme: the Cultured Chimpanzee (PanAf) am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie hat einen Datensatz erstellt, der die Erkenntnisse aus der von PanAf an 46 Feldstandorten durchgeführten Freilandforschung mit einer eingehenden Literaturrecherche zur Schimpansenforschung kombiniert. Die Forschenden untersuchten die vorhandenen Daten zu 144 Schimpansengruppen dahingehend, unter welchen Umweltbedingungen die Tiere mehr Verhaltensmerkmale erwerben. Sie verwendeten ihren einzigartigen Datensatz, um zu testen, ob Schimpansengruppen eher dann ein größeres Repertoire an Verhaltensmerkmalen aufweisen, wenn sie in saisonalen Lebensräumen leben, oder wenn sie in Lebensräumen beheimatet sind, in denen sich die Waldbedeckung in den letzten Jahrtausenden über sehr lange Zeiträume hinweg wiederholt verändert hat. Die Verhaltensweisen, größtenteils der Gebrauch von Werkzeugen, wurden in früheren Studien etwa zur Hälfte als kulturelle Verhaltensweisen beschrieben.
Den Publizierenden zufolge steht eine größere Verhaltens- und kulturelle Vielfalt bei Schimpansen in enger Verbindung mit einer erhöhten Umweltvariabilität, sowohl historisch gesehen, wie auch unter aktuellen Bedingungen. „Schimpansen, die saisonabhängiger sind, in Savannen-Wäldern leben und weiter entfernt von historischen Waldrefugien aus dem Pleistozän beheimatet sind, verfügen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit über eine größere Anzahl von Verhaltensweisen“, sagt Kalan. Die Ergebnisse der Forschenden deuten darauf hin, dass die eng mit dem Menschen verwandte Art sich mittels Verhaltensflexibilität an saisonalere und unvorhersehbarere Umgebungen anpasst. „Da die von uns untersuchten Verhaltensweisen weitgehend als kulturell angesehen werden, könnten wir weiterhin schlussfolgern, dass Umweltvariabilität auch bei Schimpansen die kulturelle Diversifizierung fördert“, sagt Kalan.
Umweltvariabilität als Triebkraft für die Diversifizierung
Im Hinblick auf die menschliche Evolution ist es oft schwierig, Verhalten allein anhand von Fossilien zu untersuchen. Daher können Studien wie diese zu nichtmenschlichen Primaten uns einen vergleichenden Einblick in den potenziellen Selektionsdruck geben, der möglicherweise auch in unserer eigenen Vergangenheit erheblich gewesen ist. „Viele Studien deuten darauf hin, dass Umweltvariabilität eine wichtige Triebkraft für eine Diversifizierung in Verhalten und Kultur sein kann, sowohl beim Menschen als auch bei Tieren. Die Erkenntnisse aus unserer Studie mit den ersten vergleichenden Daten von Populationen innerhalb einer Art unterstützen diese Annahme“, sagt Kalan.
Die aktuelle Studie belegt das große Potenzial eines populationsübergreifenden Forschungsansatzes und wird weitere faszinierende Einblicke in die Entstehung der Diversität von Schimpansenpopulationen liefern. „Während wir in dieser Studie viel über die Beziehung zwischen Umweltvariabilität und Verhaltensvielfalt bei Schimpansen gelernt haben, gibt es möglicherweise noch andere demographische und soziale Faktoren, die ebenfalls eine wichtige Rolle im Prozess der Verhaltensdiversifizierung gespielt haben“, sagt Kühl, Forscher am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig. „Auch weiterhin werden zahlreiche Schimpansenpopulationen untersucht und miteinander verglichen, sodass ich überzeugt bin, dass auch in Zukunft viele weitere spannende Entdeckungen gemacht werden, die neue Einblicke in die Mechanismen der Verhaltensdiversifizierung bei Schimpansen geben werden, die uns aber auch dabei helfen werden, unsere eigene Evolutionsgeschichte besser zu verstehen.“
Das PanAf-Projekt sammelt auch weiterhin über die Plattform Chimp&See Informationen zu Tierarten und ihrem Verhalten. Dort kann sich jede und jeder die Aufzeichnungen der im gesamten Schimpansengebiet aufgestellten Kamerafallen ansehen und durch die Klassifizierung der beobachteten Arten und Verhaltensweisen zum wachsenden PanAf-Datensatz beitragen.
Originalpublikation:
Ammie K. Kalan et al.
Environmental variability supports chimpanzee behavioural diversity
Nature Communications, 15 September 2020, https://doi.org/10.1038/s41467-020-18176-3

16.09.2020, Ludwig-Maximilians-Universität München
Paläontologie – Älteste Spermien der Welt
In einem Bernstein entdeckte ein internationales Team von Paläontologen im Inneren eines weiblichen Muschelkrebses 100 Millionen Jahre alte Riesenspermien. Offenbar hatte das winzige Krustentier sich kurz zuvor gepaart, ehe es im Baumharz eingeschlossen wurde.
Es ist ein faszinierender Blick in die Vergangenheit, konserviert in Bernstein aus Myanmar. In einem winzigen Krebstier, das in der Kreidezeit vor etwa 100 Millionen Jahren in Harz eingeschlossen wurde, entdeckte ein internationales Team von Paläontologen riesige Spermien und damit eindeutige Hinweise darauf, wie sich die Tiere fortpflanzten. Es sind die bislang ältesten Nachweise von Spermien überhaupt. Produziert hat die Riesenzellen eine bislang unbekannte Krebstierart, die die Forscher Myanmarcypris hui nannten. Die winzigen Krustentiere mit ihrem typischen zweiklappigen, verkalkten Panzer gehören zu den sogenannten Ostrakoden und erinnern ein wenig an Muscheln. Sie existieren seit 500 Millionen Jahren, heute finden sich Tausende Arten. Sie leben in Meeren, Seen und Flüssen. Fossile Schalen dieser Krebse finden sich häufig, aber beim Exemplar aus Myanmar entdeckten die Forscher sogar versteinerte „Weichteile“, darunter innere Organe und sogar Fortpflanzungsorgane. „Es war eine überaus seltene Möglichkeit, etwas über die Evolution dieser Organe zu erfahren“, sagt die an der Auswertung wesentlich beteiligte LMU-Geobiologin Renate Matzke-Karasz.
Während der Kreidezeit lebten die Ostrakoden wahrscheinlich in den Küstengewässern des heutigen Myanmar, wo sie in einem Klecks Baumharz eingeschlossen wurden. Der sogenannte Kachin-Bernstein von Myanmar brachte in den vergangenen Jahren hervorragende Funde zutage, eingeschlossen im Harz, darunter Frösche, Schlangen und einen gefiederten Dinosaurierschwanz. Hunderte neuer Arten wurden in den vergangenen fünf Jahren beschrieben, und viele von ihnen veranlassten Evolutionsbiologen dazu, die gängigen Hypothesen darüber zu überdenken, wie sich bestimmte Abstammungslinien und ökologische Beziehungen entwickelten.
Mithilfe von Röntgenmikroskopie fertigte das Team computergestützte 3-D-Rekonstruktionen der in den Bernstein eingebetteten Ostrakoden an. Die Bilder enthüllten erstaunliche Details: In den Schalen waren nicht nur die winzigen Gliedmaßen der Tiere erhalten geblieben, die Forscher konnten auch deren Fortpflanzungsorgane sehen – und eben die 100 Millionen Jahre alten Spermien. Verblüffend war dabei, dass sie die Spermien ausgerechnet im Inneren eines Weibchens entdeckten – und zwar in den beiden beutelartigen Behältern, in denen die sie aufbewahrt werden, bis die Eier befruchtungsreif sind. „Dieses Weibchen muss sich kurz vor dem Einschluss im Baumharz noch gepaart haben“, sagt Studienautor He Wang von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Nanjing. Die Rekonstruktionen enthüllten auch die charakteristischen muskulösen Spermienpumpen und zwei Penisse, mit denen männliche Muschelkrebse die Weibchen begatten.
Noch nie ließ sich ein derart alter und raffinierter evolutionärer Mechanismus in den Funden in so vielen Details dokumentieren. Die vorgefundene sehr weitgehende Anpassung werfe die Frage auf, so Matzke-Karasz, ob die Fortpflanzung mit Riesenspermien ein evolutionär stabiler Weg sein kann. Die Männchen der meisten Tiere (einschließlich des Menschen) produzieren in der Regel winzige Spermien in sehr großen Mengen. Nur wenige Tiere, darunter manche Fruchtfliegen und eben die Ostrakoden, stellen eine relativ kleine Anzahl überdimensionaler Spermien her, die um ein Vielfaches länger sind als das Tier selbst.
„Um zu zeigen, dass der Einsatz von Riesenspermien bei der Fortpflanzung keine Extravaganz der Evolution ist, sondern ein dauerhafter Vorteil für das Überleben einer Art sein kann, müssen wir wissen, wann sie zum ersten Mal aufgetreten sind“, sagt Matzke-Karasz. Fossilisierte Spermien aus dem Tierreich sind extrem selten; die ältesten bekannten Muschelkrebs-Spermien waren 17 Millionen Jahre alt, den Rekord hielten bislang Wurmspermien von 50 Millionen Jahren. Der neue Nachweis aus Myanmar, dass Tiere sich bereits seit mehr als hundert Millionen Jahren erfolgreich mit Riesenspermien fortpflanzen, beweise den Erfolg dieser Strategie, sagt Matzke-Karasz. „Das ist ziemlich beeindruckend für ein Merkmal, das sowohl von Männchen als auch von Weibchen eine so beträchtliche Investition erfordert. Sexuelle Fortpflanzung mit Riesenspermien muss also evolutionär gesehen durchaus vorteilhaft sein.“
Originalpublikation:
Wang H, Matzke-Karasz R, Horne DJ, Zhao X, Cao M, Zhang H, Wang B. 2020 Exceptional preservation of reproductive organs and giant sperm in Cretaceous ostracods.
Proceedings of the Royal Society B 20201661. Early online edition, XXXXX http://dx.doi.org/10.1098/rspb.2020.1661

Dieser Beitrag wurde unter Wissenschaft/Naturschutz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert