Die meisten Vogelkundigen betrachten einen der wundersamsten Vögel der Erde, unseren Mauerläufer, Alpen- oder Mauerspecht (Tichodroma muraria, phoenicoptera, macrorhynchos, media, brachyrhynchos, europaea, nipalensis und subhimalayana, Certhia muraria), als einen Baumläufer; ich sehe in ihm ein Mittelglied zwischen Baumläufern und Wiedehopfen und, da er sich weder in der einen noch in der anderen Gruppe einreihen läßt, das Urbild einer besonderen, nur aus ihm selbst bestehenden Familie (Tichodromidae).
Diese kennzeichnet sich durch eher gedrungenen als gestreckten Leib, kurzen Hals, großen Kopf, sehr langen, dünnen, fast runden, nur an der Wurzel kantigen, vorn spitzigen, sanftgebogenen Schnabel, ziemlich starke Füße mit schlanken Zehen, welche mit sehr großen, stark gebogenen, feinen und spitzigen Krallen bewaffnet sind, mittellange, breite, kurze und abgerundete Flügel, in denen die erste Schwinge sehr kurz und die vierte oder die fünfte die längste ist, kurzen, aus weichen, breiten, an der Spitze abgerundeten Federn bestehenden Schwanz und lockeres, zerschlissenes, seidenweiches Gefieder von angenehmer, zum Theil lebhafter Färbung, welche nach den Jahreszeiten verschieden ist. Die Zunge erinnert im allgemeinen an die der Spechte; sie ist so lang, daß sie bis gegen die Schnabelspitze reicht, nadelspitzig, jedoch nur in geringem Grade vorschnellbar und mit einer Menge borstenartiger Widerhaken besetzt.
Das Gefieder ist der Hauptfärbung nach aschgrau, die Kehlgegend im Sommer schwarz, im Winter weiß; die Schwingen und die Steuerfedern sind schwarz, die ersteren von der dritten an bis zur funfzehnten an ihrer Wurzelhälfte prächtig hochroth wie die kleinen Flügeldeckfedern und schmale Säume an den Außenfahnen der großen Deckfedern, die Steuerfedern an der Spitze weiß gesäumt; die Innenfahnen der zweiten bis fünften Schwinge sind verziert mit einem oder zwei weißen, die Innenfahnen der übrigen mit gelben Flecken, welche nach dem Körper zu schwächer werden und schließlich ganz verschwinden, auch ihrer Anzahl nach mannigfach abändern. Das Auge ist braun, der Schnabel und die Füße sind schwarz. Die Länge beträgt sechzehn, die Breite siebenundzwanzig, die Fittiglänge neun, die Schwanzlänge sechs Centimeter.
Der Mauerläufer bewohnt alle Hochgebirge Mittel-und Südeuropas, West- und Mittelasiens, nach Osten hin bis Nordchina, soll auch in Habesch beobachtet worden sein. In unseren Alpen ist er nicht selten, in den Karpathen und Pyrenäen nicht minder zahlreich vertreten. Von den Alpen aus verfliegt er sich zuweilen nach Deutschland, von den Karpathen aus besucht er Ungarn, so, nach Beobachtungen des Kronprinzen Erzherzog Rudolf von Oesterreich, sogar in kleinen Gesellschaften die Kaiserburg in Ofen.
Ueber seine Lebensweise lagen bis in die neueste Zeit nur dürftige Berichte vor. Der alte Geßner war der erste Naturforscher, welcher seiner Erwähnung that; später theilten uns Steinmüller, Sprüngli, Schintz und Tschudi einiges über ihn mit. Aber erst im Jahre 1864 haben wir durch Girtanner das Leben dieses Vogels wirklich kennen gelernt. Ich kann deshalb nichts besseres thun, als diesen ausgezeichneten Beobachter anstatt meiner reden zu lassen, wobei ich ausdrücklich bemerke, daß ich außer zwei veröffentlichten Abhandlungen noch über einen wahren Schatz von Briefen des genannten Forschers zu verfügen habe.
»Wenn der Wanderer im schweizerischen Gebirge beim Eintritte in die oberen Züge des Alpengürtels die Grenze des Hochwaldes überschritten hat und nun immer tiefer in das wilde Felsenwirrsal eindringt, so hört er, besonders in gewissen Alpengebieten, nicht gar selten hoch von der Felswand herab einen feinen, lang gezogenen Pfiff ertönen. Derselbe erinnert zumeist an den bekannten Gesang unseres Goldammers: er besteht aus einigen ziemlich lauten, schnell aufeinander folgenden, auf gleicher Tonhöhe stehenden Silben, welche mit einem, um mehrere Töne höheren, lang gezogenen Endtone schließen und etwa wiedergegeben werden können durch die Silben ›Dü dü dü düiii‹. Erstaunt und erfreut zugleich, mitten in dem schweigenden Steingewirre plötzlich wieder Lebenszeichen eines anderen Wesens zu vernehmen, schaut er hinauf an die kahle Felswand und wird dann, gewöhnlich erst nach längerem Suchen, zwischen den Steinen eines kleinen Vogels gewahr, welcher mit halbgeöffneten rothen Flügeln ohne Anstrengung die senkrechte, stellenweise überhängende Wand hinaufklettert. Es ist der Mauerläufer, die lebendige Alpenrose, welcher sich in seinem heimatlichen Gebiete umhertummelt, ohne Scheu auf den keuchenden Wanderer herabschauend, welcher sich mühsam genug bis zu seinem hohen Wohnsitze emporarbeitete. Hat der Bergsteiger es nun nicht gar so eilig, so setzt er sich gern still auf einen bemoosten Stein, um diesem wunderbaren Geschöpfe eine kleine Weile zuzusehen. Aber so scharf er auch nach oben sieht, so weh ihm der Nacken thut: er ist anfangs nicht im Stande, das sonderbare Farbenspiel und die flatternden Bewegungen, welche mehr an die eines Schmetterlings als an den Flug eines Vogels denken lassen, zu verstehen. Der Mauerläufer selbst will ihm erscheinen wie ein Traumbild, und der Wunsch wird rege, das wunderbare Geschöpf in der Nähe zu betrachten. Hat der Beobachter nun eine sichere Vogelflinte mitgebracht, und treibt ihn nicht elende Vernichtungssucht, sondern der Eifer des Forschers, so mag er sein Gewehr vom Rücken herabnehmen, und wenn der Vogel einen Augenblick lang unschlüssig ist, wohin er sich wende, recht scharf zielen. Er darf dann freilich einen kleinen Steinhagel nicht fürchten, den ihm der alte Berggeist, ergrimmt über die stete Verfolgung seiner Schützlinge, sofort nach gefallenem Schusse von oben herab zuschleudert, muß sich auch darauf gefaßt machen, daß ihm der Alte vom Berge die Bosheit anthut, gerade im schönsten Zielen einen kleinen Stein unter dem rückstehenden Fuße wegzuziehen, wie es eben zu geschehen pflegt in den Bergen und am ehesten, wenn es gilt, sich dieses Alpenkindes zu bemächtigen. Hat der Jäger Glück, so sieht er nach dem Schusse den kleinen Wicht todt herabfallen, und wenn den Leichnam nicht eine barmherzige Felsschrunde in sich aufnimmt und begräbt, hält er den Prachtvogel wirklich in seiner Hand.
Leichter freilich gelingt es, diesen zu berücken, wenn er im Winter in tiefere Gegenden herabkommt. Wie alle Alpenvögel ist auch der Mauerläufer ein Strichvogel. Er geht an sonnigen Tagen den Felshängen entlang bis über dreitausend Meter unbedingter Höhe empor. Man hat ihn schon hier und da mitten in den Gletschern getroffen, an einem Felsblocke eifrig mit Kerbthierjagd beschäftigt. Unter den Alpengürtel hinab steigt er im Sommer nur selten, obwohl er zuweilen auch hier gesehen wird. Wenn jedoch die Tage immer kürzer, die Nächte immer länger und kälter werden, wenn die Sonne des kurzen Tages die langsame, aber stete Zunahme der Eisrinde nicht mehr zu verhindern vermag: dann freilich bleibt auch diesem Alpenbewohner nichts anderes mehr übrig, als sich allmählich in die tieferen, wärmeren und geschützteren Gürtel zurückzuziehen, da jede einigermaßen dicke Eiskruste eine für seinen zarten Schnabel unüberwindliche Scheidewand zwischen ihm und seiner Nahrung bildet. So kam er im Winter von 1863 zu 1864, welcher sich durch seine ausdauernde große Kälte auszeichnete, wieder einmal bis St. Gallen her unter. Ich beobachtete ihn häufig an den Nagelfluefelsen der Steinachschlucht unmittelbar vor der Stadt sowie an den Kirchthürmen und an altem Gemäuer, oft nahe über dem Boden, und ich konnte ihn zuweilen in so großer Nähe betrachten, daß ich einen von ihnen, welcher sich flink und fröhlich an einem Felsen umhertrieb, buchstäblich fast mit der Hand hätte erreichen können. Folgt aber eine kurze Reihe sonniger Tage, so eilt er sofort wieder höheren Gegenden zu, und erst die wiederkehrende Kälte bringt auch ihn ins Thal zurück.
Nur ganz kahle Felsen beklettert der Mauerläufer gern, und je wilder und pflanzenloser ein Alpengebiet, um so sicherer ist er dort zu finden. Breite Grasbänder, welche sich den Hängen entlang ziehen, besucht er nur, um dort den Kerbthieren, überhaupt, um seiner Nahrung nachzugehen; sonst überfliegt er sie eiligst und strebt, so bald wie möglich, das nackte Gestein zu erreichen. An Baumstämme geht er nie; ich sah ihn auch niemals sich auf Gestrüpp oder aus den Felsen hervorragendes Astwerk setzen. Er lebt nur in der Luft und an steilen Felsen. Auch den Erdboden liebt er nicht. Dort liegende Kerbthiere sucht er womöglich vom Felsen aus zu ergreifen, erreicht er aber trotz alles Streckens und Wendens seinen Zweck auf diese Weise nicht, so fliegt er eilends zu, setzt sich einen Augenblick, ergreift die Beute und haftet im nächsten Augenblicke schon wieder an der Wand, wo er sich nun erst eine bequeme Stelle zur Verspeisung der geholten Nahrung aussucht. Kleine Käfer, welche sich todt stellen und in der Hoffnung, an eine unerreichbare Stelle zu fallen, sich über die Steine herunterrollen lassen, Spinnen, die sich in aller Eile an ihrem Rettungstau über die Felsen hinunterzuflüchten suchen, fängt er mit Leichtigkeit in der Luft auf.
Beim Aufklettern trägt er den Kopf stets gerade nach oben gerichtet und sieht dann fast ebenso kurzhalsig aus wie der Kleiber. An überhängenden Stämmen beugt er ihn sogar zurück, um den zarten Schnabel nicht an vorstehenden Steinen zu beschädigen. Theils in einzelnen Sätzen, von denen jeder durch einen gleichzeitigen Flügelschlag unterstützt wird und oft, besonders bei großer Eile oder Anstrengung, von einem kurzen Kehltone begleitet wird, theils förmlich springend, geht es nun mit erstaunlicher Schnelligkeit die steilsten Felswände, die höchsten Thürme hinauf. Nie stützt er sich dabei auf die Spitze der Schwungfedern, wie dies oft gehört wird: hierzu wären dieselben viel zu weich und schwach. Aus der Ferne beobachtet, hat es allerdings diesen Anschein; ist man ihm aber nahe, so sieht man ihn seine Flügel gerade im umgekehrten Sinne benutzen. Indem er nämlich das Elnbogengelenk tief stellt, läßt er die Schwingen nach hinten und oben von dem in senkrechter Lage befindlichen, mit dem Felsen gleichlaufenden Körper und somit auch vom Felsen abstehen, und hierdurch wird es ihm möglich, unmittelbar von oben auf die unter ihm liegende Luftsäule zu wirken und sich so aufwärts zu befördern. Diese Benutzungsweise der Flügel steht mit ihrer eigenthümlich stark abgestumpften Gestalt in engster Verbindung: spitzige Flügel würden die aufwärts treibende Kraft entschieden benachtheiligen. Der Mauerläufer lüftet sie übrigens während des Flatterns nur so weit, als nöthig ist, um aus ihnen einen ordentlichen Windfang zu bilden; die einzelnen Schwingen müssen sich also gegenseitig noch genügend decken. Den kurzen Schwanz sucht er beim Klettern, wobei er ihm keinerlei Dienste thut, möglichst weit vom Felsen zu entfernen, um ihn nicht zu beschädigen. Beim Beklettern der Felsenwand zeigt er eine solche Kraft und Gewandtheit, daß man wohl annehmen kann, es gäbe im ganzen Gebirge keine Felsplatte, welche für ihn zu glatt oder zu steil wäre. Gefangene laufen mit Leichtigkeit an den Tapeten des Zimmers empor. Je steiler und glatter aber die zu erklimmende Fläche ist, um so schneller muß auch die Reise vor sich gehen, da an ganz glatten Flächen auch er sich nur auf Augenblicke im Gleichgewichte zu halten vermag. Oben angehängt oder überhaupt so hoch angekommen, als er zunächst gelangen wollte, sieht man ihn oft mit ziemlich weit entfalteten Flügeln, so daß die weißen Flecken deutlich sichtbar werden, schmetterlingsartig am Felsen hängen und rüttelnd sich erhalten, wobei sein Kopf sich links und rechts wendet, indem er über die Schultern weg die Stelle weiter unten am Felsenhange, welcher er zunächst zufliegen will, ins Auge faßt. In dieser Stellung, in welcher sich der freilebende Mauerläufer noch am ehesten auf Augenblicke ruhig beobachten läßt, nimmt er sich in der That aus, als ob er auf der Spitze der Schwungfedern ruhe. Mit einem kräftigen Stoße schnellt er sich plötzlich vom Felsen weg in die Luft hinaus, wendet sich in ihr mit Leichtigkeit, überschlägt sich sogar zum Zeitvertreibe und fliegt nun bald, mit schmetterlingsartigen, unregelmäßigen Flügelschlägen, bald mit ganz ausgebreiteten Schwingen sich herabsenkend, bald wie ein Raubvogel mit nach unten gerichtetem Kopfe und angezogenen Flügeln herniederschießend, der auserlesenen, oft sehr viele, oft nur wenige Meter tiefer liegenden Stelle zu. Dort haftet er im nächsten Augenblicke, den Kopf bereits wieder nach oben gerichtet, und deshalb geschieht dieses Herabfliegen oft in einem schönen, unten kurz gebrochenen Bogen. Nach der Seite hin bewegt er sich meist fliegend; doch läuft er auch zuweilen mit stark gebogenen Fersengelenken auf einem schmalen Gesimse dahin; aber er liebt dies nicht und fliegt bald wieder ab. Er ist überhaupt ein guter Flieger, weniger vielleicht in wagerechter Richtung auf weitere Strecken als in senkrechter, wie es eben auch für ihn nothwendig ist. In dieser Richtung ist er in jeder Lage Meister, und nichts schöneres kann es geben, als ein Pärchen dieser Vögel über dunklen Abgründen im Glanze der Sonne sich tummeln zu sehen.
Die Nachtruhe hält der Mauerläufer stets in einer geschützten Fels- oder Mauerspalte. Im Gebirge hatte ich ihn an gewissen Felswänden, welche ich als seine Lieblingsplätze kannte, und an denen er sonst den Tag über stets zu finden war, immer erst erscheinen sehen, wenn die anderen Alpenvögel sich schon längst hören und sehen ließen. Ich war deshalb der Meinung gewesen, daß er solchen Gegenden um diese Zeit schon aus anderen Alpengebieten zufliege und sich abends wieder dorthin zur Nachtruhe begebe, wie dies manche Alpenvögel zu thun pflegen. Jetzt freilich steht es für mich außer Zweifel, daß er einfach eine lange Nachtruhe hält. Er hat auch in der That Recht und Grund genug dazu; denn einmal muß ihn die beständige und sehr anstrengende Bewegung während des Tages ermüden, und zudem würde ihn ein weiteres Herumklettern am späteren Abende bei dem versteckten Aufenthalte seiner Beute in den schon früh in tiefem Schatten liegenden Schluchten nichts mehr eintragen. Auch im Sommer sinkt in diesen Höhen die Wärme während der Nacht oft sehr tief. Die Felsen überziehen sich dann mit Reif und tropfen in der Frühe unaufhörlich. Was hätte nun unser Mauerläufer davon, schon in der Morgendämmerung, abgesehen von der mangelhaften Beleuchtung, an ihnen herumzustöbern? Er würde seine Flügel beschmutzen und nässen und dann nicht im Stande sein, seinen Füßen die nöthige Nachhülfe zu leisten. Trotz seiner starken Nägel wäre es ihm nicht möglich, an den überrieselten Felswänden sich festzuklammern. Daß ihn seine Bewegung sehr ermüden muß, sieht man aus seiner Lage im Schlafkämmerchen. Er liegt im Grunde der Felsspalte, zu welcher er sich zurückzieht, auf dem Bauche, wie ein brütender Vogel, unzweifelhaft nur, um seine Flatter- und Kletterwerkzeuge gehörig ausruhen zu können.
Außer der Fortpflanzungszeit sieht man den Mauerläufer selten paarweise. Er durchstreift meist einsam die öden Gebiete und läßt dabei seine kurze und unbedeutende, aber angenehm klingende Strophe fleißig hören. Gegen andere seiner Art, welche dieselbe Gegend durchstreifen, benimmt er sich entweder gleichgültig oder sucht sie durch Herumjagen zu vertreiben. Mit fremdartigen Vögeln kommt er ohnehin nicht in nähere Berührung, und wenn es geschieht, flüchtet er vor ihnen. Die Nahrung besteht aus Spinnen und Kerbthieren, welche jene Höhen auch nicht mehr in zahlreichen Arten bewohnen, und er wird deshalb nicht sehr wählerisch sein dürfen. Mit seinem feinen Schnabel erfaßt er auch die kleinste Beute mit Sicherheit, wie mit einer feinen Kneifzange. Die Dienste der Zunge bestehen darin, die mit der Schnabelspitze erfaßten und in ihr liegenden Kerfe oder deren Larven und Puppen durch rasches Vorschnellen anzuspießen und beim Zurückziehen im hinteren Theile des Schnabels abzustreifen. Größere Thiere, Raupen z.B., ergreift er zuerst natürlich, wie er sie eben mit seiner Schnabelspitze erwischt, dreht und schüttelt sie dann aber, bis sie endlich quer über die Mitte in ihr liegen, schleudert sie links und rechts gegen die Steine und wirft sie schließlich durch Vor- und Rückwärtsschlenkern des Kopfes der Länge nach in den Schlund, worauf er nie vergißt, den Schnabel nach beiden Seiten sorgfältig am Gesteine abzuwischen. Kerbthiere, welche eine feste Bedeckung haben, Käfer z.B., vermag er schon deshalb nicht anzuspießen, weil sich in dem dann nothwendigerweise ziemlich weit geöffneten Schnabel die dünne Zunge beim Anstemmen gegen den Käferpanzer zu stark biegen würde, was dieselbe bei geschlossenem, sie überall umschließenden Schnabel nicht kann. Obwohl der Vogel nicht im Stande ist, mit seinem Schnabel an Eis und Stein etwas erkleckliches auszurichten, beweist doch das heftige und schallende Pochen gefangener gegen das Gitter ihres Käfigs deutlich, daß er an den Felsen angefrorene Kerbthiere, Puppen usw. loszulösen und in die Erde sich flüchtende lebende Beute durch Nachstoßen mit dem Schnabel oder Wegräumen anderer geringen Hindernisse nichtsdestoweniger zu erreichen weiß. Im Winter wird er sich an Eier, Puppen und erstarrte Kerbthiere halten müssen; dann ist er auch ohne Zweifel den ganzen Tag mit dem mühevollen Zusammensuchen seines Lebensunterhaltes beschäftigt, und übrigens weckt bekanntlich die nur auf kurze Zeit fallende Sonne das Leben einer Menge erstarrter Kerbthiere.«
Die Brutzeit fällt in die Monate Mai und Juni; das Nest, ein großer, runder, niedriger, flacher und auffallend leichter Bau aus feinem Moose, Pflanzenwolle, Wurzelfasern, großen Flocken Schafwolle, Gewebstücken, Haaren und dergleichen, steht in flachen Felsenhöhlen. Vier, etwa funfzehn Millimeter lange, elf Millimeter dicke Eier, welche auf weißem Grunde mit braunschwarzen, scharf umrandeten Punkten, am dichtesten am stumpfen Ende, gezeichnet sind, bilden das Gelege.
Nach unsäglichen Mühen und geduldigem Harren gelang es Girtanner, alt gefangene Mauerläufer an Käfig und Stubenfutter zu gewöhnen und später wiederholt Nestjunge aufzuziehen. An ihnen sammelte er einen Theil der unvergleichlichen Beobachtungen, welche ich vorstehend wiedergegeben habe. Der Güte des Freundes danke ich, daß ich ebenfalls die seltenen Vögel pflegen konnte. Sie sind im Käfige ebenso reizend wie im Freien, leider aber sehr hinfällig, so wettertrotzig sie in ihrem Wohngebiete auch sich zeigen. In meinen »Gefangenen Vögeln« habe ich ihr Betragen im Gebauer geschildert.
»Die gefährlichsten Feinde des freilebenden Mauerläufers«, schließt Girtanner, »sind wohl die kleinen Falkenarten, besonders der Sperber, welcher seine Raubzüge auch in die höchsten Gebirgsgürtel ausdehnt. Er fängt manchen Alten weg und nimmt wohl auch manches Nest aus. Doch gelingt es dem Mauerläufer, dank seiner Flugfertigkeit, zuweilen sogar diesem gewandten Räuber zu entfliehen. Das habe ich einst selbst mit angesehen. Ein Sperber suchte vergebens erfolgreich auf einen Mauerläufer zu stoßen, welcher eine weite Schlucht überflog. Je kühnere Wendungen der Verfolger ausführte, umsomehr entwickelte auch der verfolgte seine Kunstfertigkeit. Durch die Angriffe des Sperbers scheinbar vollauf beschäftigt, wußte er sich doch, stets flink ausweichend, allmählich der gegenüber liegenden Felswand zuzuziehen. Vermag er sie glücklich zu erreichen, so ist er in meinen Augen gerettet. Kaum in der Nähe derselben angekommen, gibt er plötzlich die Vertheidigung auf, schießt pfeilschnell in gerader Richtung auf die Felswand zu, erreicht sie unversehrt und ist im nächsten Augenblicke schon in einer Spalte verschwunden. Sogleich gibt nun auch der Sperber die vergebliche Jagd auf und zieht unter ärgerlichem Kreischen von dannen.
Von Schaden kann beim Mauerläufer, einem reinen Kerbthierfresser, nicht die Rede sein; jedoch auch sein Nutzen fällt in Anbetracht der Gebiete, denen er seine Nahrung entnimmt, natürlich sehr gering aus. Als eine der größten Zierden unserer Alpen aber ist er für den Freund der Gebirgswelt von unendlichem Werth. Wenn plötzlich seine kurze Strophe in den öden Höhen ertönt, begrüßt der Wanderer freudig die Nähe eines so schönen Wesens, und sein Blick ruht mit Wohlgefallen auf dieser lebendigen Alpenrose, welche die großartige, aber in ewiger Erstarrung liegende Umgebung so angenehm belebt.«