Das Schicksal des Geieradlers ist auch dem Kondor (Sarcorhamphus gryphus, magellanicus, Cuntur und Condor, Vultur gryphus, Cathartes gryphus) geworden. Ebenso wie jenen hat man ihn verkannt und verschrieen, über ihn die wunderbarsten Sagen erzählt und geglaubt. Erst den Forschern unseres Jahrhunderts blieb es vorbehalten, seine Naturgeschichte von Fabeln zu reinigen. Humboldt, Darwin, d’Orbigny und J.J. von Tschudi verdanken wir so genaue Nachrichten über den bis zur Veröffentlichung ihrer Forschungen fabelhaften Vogel, daß wir uns gegenwärtig eines vollkommen klaren Bildes seiner Lebensweise versichert halten dürfen.
Das Gefieder des ausgefärbten Kondors ist schwarz, schwach dunkelstahlblau glänzend; die Fittigfedern sind mattschwarz, die äußersten Deckfedern aller drei Ordnungen sowie die aus weichen, haarig wolligen aber ziemlich langen Federn bestehende Krause weiß, die Armschwingen an der äußeren Fahne weiß gesäumt.
Dieser Saum wird bei den Arm- und Schulterfedern immer breiter und erstreckt sich zuletzt auch auf den inneren Fahnentheil, so daß die eigentlichen Schulterfedern ganz weiß und nur an der Wurzel schwarz sind. Hinterkopf, Gesicht und Kehle haben schwärzlichgraue, ein schmaler Hautlappen an der Kehle wie die beiden warzigen Hautfalten zu beiden Halsseiten des Männchens lebhafter rothe, der Hals fleischrothe, die Kropfgegend blaßrothe Färbung. Das Auge ist feurig karminroth, bei zwei mir bekannten Männchen aber lichtgrünlich erzfarben, der Schnabel am Grunde und auf der Firste hornschwarz, an den Seiten und an der Spitze horngelb, der Fuß dunkelbraun. Nach Humboldts Messungen beträgt die Länge des Männchens 1,02, die Breite 2,75, die Fittiglänge 1,15 Meter, die Schwanzlänge 37 Centimeter, die Länge des Weibchens 2,5, die Breite 24 Centimeter weniger.
Das Hochgebirge Südamerikas ist die Heimat des Kondors. Er verbreitet sich von Quito an bis zum fünfundvierzigsten Grade südlicher Breite. In den Andes bevorzugt er einen Höhengürtel zwischen drei-bis fünftausend Meter über dem Meere; an der Magelhaensstraße und in Patagonien horstet er in steilen Klippen unmittelbar an der Küste. Auch in Peru und Bolivia senkt er sich oft bis zu dieser Küste hernieder, ist aber, laut Tschudi, in der Höhe mindestens zehnmal so häufig als in der Tiefe. Nach Humboldt sieht man ihn oft über dem Chimborazo schweben, sechsmal höher als die Wolkenschicht, welche über der Ebene liegt, siebentausend Meter über dem Meere.
Lebensweise und Betragen des Kondor sind im wesentlichen die anderer Geier. Er lebt während der Brutzeit paarweise, sonst in Gesellschaften, wählt sich steile Felszacken zu Ruhesitzen und kehrt, wie die Menge des abgelagerten Mistes beweist, regelmäßig zu ihnen zurück. Beim Wegfliegen erheben sich die Kondore durch langsame Flügelschläge; dann schweben sie gleichmäßig dahin, ohne einen Flügel zu rühren. Erspäht einer von ihnen etwas genießbares, so läßt er sich hernieder, und alle übrigen, welche dies sehen, folgen ihm rasch nach. »Es ist«, sagt Tschudi, »oft unbegreiflich, wie in Zeit von weniger als einer Viertelstunde auf einem hingelegten Köder sich Scharen von Kondoren versammeln, während auch das schärfste Auge keinen einzigen von ihnen entdecken konnte.« Waren sie im Fange glücklich, so kehren sie gegen Mittag zu ihren Felsen zurück und verträumen hier einige Stunden.
Der Kondor ist, ebenso wie andere Geiervögel, vorzugsweise Aasfresser. Humboldt berichtet, daß ihrer zwei nicht bloß den Hirsch der Andes und die Vicuña, sondern selbst das Guanaco und sogar Kälber angreifen, diese Thiere auch umbringen, verfolgen und so lange verwunden, bis sie athemlos hinstürzen, und Tschudi bestätigt, daß die Kondore den wilden und zahmen Herden folgen und augenblicklich über ein verendetes Thier herfallen. Unter Umständen stürzen sie sich auf junge Lämmer, Kälber, selbst aufgedrückte Pferde, welche sich ihrer nicht erwehren können und es geschehen lassen müssen, daß sie das Fleisch rings um die Wunde wegfressen, bis sie in die Brusthöhle gelangen und jene endlich umbringen. Beim Ausweiden erlegter Vicuñas oder Andeshirsche sieht sich der Jäger regelmäßig von Scharen von Kondoren umkreist, welche mit gieriger Hast auf die weggeworfenen Eingeweide stürzen und dabei nicht die geringste Scheu vor dem Menschen an den Tag legen. Ebenso sollen sie den jagenden Puma beobachten und die Ueberreste seiner Tafel abräumen. »Wenn die Kondore«, sagt Darwin, »sich niederlassen und dann alle plötzlich sich zusammen erheben, so weiß der Chilese, daß es der Puma war, welcher, ein von ihm erbeutetes und getödtetes Thier bewachend, die Räuber hinwegtreibt.« In der Lammzeit der Schafe beobachtet der Kondor auch die Herden sehr genau und nimmt die Gelegenheit wahr, junge Ziegen oder Lämmer zu rauben. Hochträchtige Kühe müssen, laut Tschudi, immer in einem in der Nähe der Wohnungen errichteten, mit einer Mauer eingefaßten Corral oder Hag getrieben und dort sorgfältig überwacht werden; denn sobald eine Kuh gekalbt hat, erscheinen unverzüglich die Riesenvögel, um sich des Kalbes zu bemächtigen. Wird es nicht kräftig durch Menschen vertheidigt, so ist es verloren. Schäfer- und Hirtenhunde der von Kondoren heimgesuchten Gegenden sind abgerichtet, herauszulaufen, so lange der Feind in den Lüften ist, nach oben zu sehen und heftig zu bellen. Am Meeresstrande nähren sich die Vögel von den durch die Flut ausgeworfenen großen Seesäugethieren, welche Südamerika in großer Menge umschwärmen. Menschliche Wohnungen meiden sie, greifen auch nicht Kinder an. Oft schlafen solche in der freien Höhe, während ihre Väter Schnee sammeln, ohne daß diese irgend welche Sorge bezüglich der Raublust des Kondors haben müßten. Indianer versichern einstimmig, daß letzterer dem Menschen nicht gefährlich wird.
Bei der Mahlzeit verfahren die Kondore genau wie andere Geier. »Zuerst«, sagt Tschudi, »werden diejenigen Theile, welche am wenigsten Widerstand bieten, weggerissen, besonders die Augen, die Ohren, die Zunge und die weichhäutigen Theile um den After. Hier öffnen sie gewöhnlich ein großes Loch, um in die Bauchhöhle zu gelangen. Wenn sich eine größere Anzahl dieser Vögel auf einem Thiere versammelt, so reichen die natürlichen Oeffnungen nicht hin, um ihrem Heißhunger rasche Befriedigung zu gewähren. Sie reißen sich also einen künstlichen Weg auf, gewöhnlich an der Brust oder am Bauche. Die Indianer behaupten, der Kondor wisse ganz genau, wo das Herz der Thiere liege, und suche dies immer zuerst auf.« Vollgefressen wird der Kondor träge und schwerfällig, und auch er würgt, wenn er gezwungen auffliegen muß, die im Kropfe aufgespeicherte Nahrung heraus. »Der Kondor ist ein stolzer, majestätischer Vogel, wenn er mit ausgebreiteten, fast bewegungslosen Schwingen sich in den Lüften wiegt oder, auf einer hervorragenden Felsenspitze sich reckend, scharf das Land hinein nach Beute späht:
›Er packt den Fels mit krall’ger Hand,
Der Sonne nah‘ im öden Land,
Im blauen Luftmeer ist sein Stand.‹
Wenn er aber mit unsäglicher Gier seine Beute kröpft, große Fetzen von Aas hinunterwürgt und dann, vollgefressen, kaum noch einer Bewegung fähig, neben den Resten seines die Umgebung verpestenden Mahles zusammengekauert dasitzt, ist er doch nur ein ekelhafter Aasgeier.«
Die Brutzeit des Kondors fällt in unsere Winter-oder Frühlingsmonate. Absonderliche Liebeserklärungen seitens des Männchens gehen der Paarung voraus. Wie ich angefangenen Kondoren beobachtete, balzen beide Geschlechter förmlich, um ihre Gefühle auszudrücken. In Zeitabständen, welche je nach der Höhe ihrer Erregung länger oder kürzer sein können, breiten sie die Flügel, biegen den vorher gestreckten und etwas aufgeblähten Hals nach unten, so daß die Schnabelspitze fast den Kropf berührt, lassen unter ersichtlichem Zittern der Zunge eigenartige, trommelnd murmelnde oder polternde Laute vernehmen, welche mit so großer Anstrengung hervorgestoßen werden, daß Gurgel und Bauch in zitternde Bewegungen gerathen, und drehen sich, langsam, mit kleinen Schritten trippelnd und mit den Flügeln zitternd, um sich selbst. Nach Verlauf einer, zwei oder drei Minuten stoßen sie den scheinbar eingepreßten Athem fauchend aus, ziehen den Hals zurück und die Flügel ein, schütteln ihr Gefieder, schmeißen wohl auch und nehmen ihre frühere Stellung wieder ein. Der andere Gatte des Paares nähert sich mitunter dem balzenden, streichelt ihn zärtlich mit Schnabel und Kopf, umhalst ihn förmlich und empfängt von ihm ähnliche Liebkosungen. Das ganze Liebesspiel währt ungefähr eine Minute, wird aber im Laufe einer Vormittagsstunde zehn- bis zwanzigmal wiederholt. Der Horst steht auf unzugänglichen Felsen, ist aber kaum Nest zu nennen; denn oft legt das Weibchen seine zwei Eier auf den nackten Boden. Die Eier, deren Längsdurchmesser hundertundacht, und deren Querdurchmesser zweiundsiebzig Millimeter beträgt, sind einfarbig und glänzend weiß. Häufiger als beim Bartgeier entschlüpfen zwei Junge. Sie kommen in graulichem Dunenkleide zur Welt, wachsen langsam, bleiben lange im Horste und werden auch nach dem Ausfliegen noch von ihren Eltern ernährt. Bei Gefahr vertheidigen sie letztere mit großem Muthe. »Im Mai 1841«, sagt Tschudi, »verirrten wir uns bei Verfolgung eines angeschossenen Hirsches in die steilen Kämme des Hochgebirges und trafen kaum anderthalb Meter über uns auf drei brütende Weibchen, welche uns mit grausenerregendem Gekrächze und mit den drohendsten Geberden empfingen, so daß wir fürchten mußten, durch dieselben von dem kaum sechzig Centimeter breiten Felsenkamme, auf dem wir uns befanden, in den Abgrund gestoßen zu werden. Nur der schleunigste Rückzug auf einen breiteren Platz konnte uns retten.«
Die Indianer fangen viele Kondore, weil es ihnen Vergnügen gewährt, sie zu peinigen. Man füllt den Leib eines Aases mit betäubenden Kräutern an, welche den Kondor nach dem Genusse des Fleisches wie betrunken umhertaumeln machen, legt in den Ebenen Fleisch inmitten eines Geheges nieder, wartet, bis er sich vollgefressen hat, sprengt, so schnell die Pferde laufen wollen, herbei und schleudert die Wurfkugeln unter die schmausende Gesellschaft, wendet endlich auch eine absonderliche Fangweise an, welche schon von Molina geschildert und von Tschudi und anderen bestätigt wird. Ein frisches Kuhfell, an welchem noch Fleischstücke hängen, wird auf den Boden gebreitet, so daß es einen unter ihm liegenden, hinlänglich mit Schnüren versehenen Indianer verdeckt. »Dieser schiebt, nachdem die Aasvögel herbeigekommen sind, das Stück des Felles, auf welchem ein Kondor sitzt, an dessen Füßen wie einen Beutel in die Höhe und legt um letztere eine Schnur. Sind einige so gefesselt, so kriecht er hervor, andere Indianer springen herbei, werfen Mäntel über die Vögel und tragen sie ins Dorf, woselbst sie für Stierhetzen aufgespart werden. Eine Woche vor Beginn dieses grausamen Vergnügens erhalten die Kondoren nichts zu fressen. Am bestimmten Tage wird je ein Kondor einem Stier auf den Rücken gebunden, nachdem dieser mit Lanzen blutig gestochen worden. Der hungrige Vogel zerfleischt nun mit seinem Schnabel das gequälte Thier, welches zur großen Freude der Indianer wüthend auf dem Kampfplatze herumtobt. In der Provinz Huarochirin befindet sich auf der Hochebene eine Stelle, wo diese Vögel mit Leichtigkeit in Menge erlegt werden. Dort ist ein großer, natürlicher, ungefähr zwanzig Meter tiefer Trichter, welcher an seiner oberen Mündung ebenso viel Durchmesser hat. An seinem äußersten Rande wird ein todtes Maulthier oder Lama hingelegt. Bald versammeln sich die Kondoren, stoßen beim Herumzerren das Thier in die Tiefe, und folgen ihm, um es dort zu verzehren. Sobald sie vollgefressen sind, können sie sich nicht mehr aus dem kaum fünf Meter weiten Boden des Trichters erheben. Dann steigen die Indianer, mit langen Stöcken bewaffnet, hinunter, und schlagen die ängstlich kreischenden Vögel todt.« Tschudi, welcher vorstehendes erzählt, fügt hinzu, daß er selbst an einem solchen Fange theilgenommen habe, bei dem achtundzwanzig Stück erlegt wurden. An gefangenen Kondoren sind sehr verschiedene Wahrnehmungen gemacht worden. Einzelne werden überaus zahm, andere bleiben wild und bissig. Häckel pflegte längere Zeit ihrer zwei, welche höchst liebenswürdig waren. »Ihren Besitzer«, schreibt Gourcy, »haben sie bald sehr lieb gewonnen. Das Männchen schwingt sich auf seinen Befehl von der Erde auf die Sitzstange, von dieser auf seinen Arm, läßt sich von ihm herumtragen und liebkost sein Gesicht mit dem Schnabel aufs zärtlichste. Dieser steckt ihm den Finger in den Schnabel, setzt sich ihm fast frei auf den Rücken, zieht ihm die Halskrause über den Kopf und treibt mit ihm allerlei Spielereien, wie mit einem Hunde. Dabei wird das Weibchen über das verlängerte Fasten ungeduldig und zieht ihn am Rocke, bis es Futter bekommt. Ueberhaupt sind sie auf die Liebkosungen ihres Herrn so eifersüchtig, daß ihm oft einer die Kleider zerreißt, um ihn von dem anderen, mit dem er spielt, wegzubringen.« Unter mitgefangenen Familienverwandten wissen sie sich Achtung zu verschaffen und diese zu behaupten. Wenn es zum Beißen kommt, gebrauchen sie ihren Schnabel mit Geschicklichkeit, Gewandtheit und Kraft, so daß selbst die bissigen Gänsegeier ihnen ehrfurchtsvoll Platz machen.
»Wie der Kondor die Aufmerksamkeit der ersten Reisenden in Peru auf sich zog«, sagt Tschudi, »so that es in Mejiko und Südamerika der Königsgeier. Er wird schon von Hernandez angeführt. Sein lebhaftes, zierliches Gefieder, wie es bei keinem anderen Raubvogel vorkommt, verdient ihm den Namen Rex vulturum, König der Geier.« Zudem ist er, wie alle großen Arten seiner Familie, welche mit kleineren verkehren, der Fürst und Beherrscher dieser letzteren, welche er durch Stärke und Eigenwillen in höchster Achtung hält.