Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

25.05.2020, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ
Schmetterlinge à la carte / Der erste gesamtdeutsche Atlas der Tagfalter und Widderchen ist erschienen
Wie sehen die aktuellen Trends in der deutschen Schmetterlingswelt aus? Welche Arten flattern durch welche Regionen? Welche Bestände sind in den letzten Jahrzehnten verschwunden, welche haben noch eine Chance? Und wo haben sich Neuankömmlinge etabliert? Die Antworten auf solche Fragen liefert der neue „Verbreitungsatlas der Tagfalter und Widderchen Deutschlands“, an dem auch Wissenschaftler vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle intensiv mitgearbeitet haben. Zum ersten Mal gibt es damit nun einen detaillierten gesamtdeutschen Überblick über die Vorkommen dieser populären Insekten.
Wer einen Apollo-Falter einmal live sehen möchte, hat in Deutschland kaum noch Gelegenheit dazu. Viele seiner Lebensräume in sonnigen, blütenreichen Felslandschaften hat der Schmetterling mit den schwarzen und roten Flecken auf den Flügeln im 20. Jahrhundert verloren. Heute kommt die streng geschützte Art nur noch in ein paar vereinzelten Gebieten in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern vor.
Viel bessere Chancen haben interessierte Falter-Beobachter dagegen beim dekorativen Schwalbenschwanz. Dessen Verbreitung hat zwar vor allem im Norden und Nordwesten des Landes einige Lücken. Ansonsten aber flattert er bundesweit durch zahlreiche offene Landschaften und lässt sich immer wieder auch in Gärten sehen.
Solche Informationen bietet der neue Atlas nicht nur für die 184 in Deutschland heimischen Tagfalter-Arten. Vertreten sind auch die 24 verschiedenen Widderchen, die tagsüber aktiv sind, wenngleich sie eigentlich zu den Nachtfaltern gehören. Jede dieser insgesamt 208 Arten stellen die Autoren mit attraktiven Fotos und einem kurzen Portrait vor, in dem Informationen zu Lebensräumen und Biologie, Gefährdung und Schutz zusammengefasst sind. Vor allem aber gibt es für die Tagfalter detaillierte Verbreitungskarten, die in zehn mal zehn Kilometer große Quadrate unterteilt sind. In jedem davon verrät ein Symbol, ob die Art dort bis zum Jahr 1900, in verschiedenen Abschnitten des 20. Jahrhunderts oder nach dem Jahr 2000 nachgewiesen wurde.
All diese Informationen zusammenzutragen, war allerdings eine echte Herausforderung. „Als wir vor etwa zehn Jahren die Idee und das Konzept für den Atlas entwickelten, war nicht abzusehen, welchen materiellen, technischen, personellen und administrativen Aufwand es zu bewältigen galt“, sagt Erst-Autor Rolf Reinhardt aus dem sächsischen Mittweida, als Vertreter der Entomofaunistischen Gesellschaft. Nur dank der meist ehrenamtlichen Mitarbeit zahlreicher Falter-Enthusiasten aus ganz Deutschland habe man das Mammut-Projekt überhaupt realisieren können.
Denn hinter jedem Punkt auf der Karte steckt viel Arbeit und Erfahrung. Schließlich galt es, möglichst zahlreiche Informationen über die Vorkommen der einzelnen Arten auszuwerten, auf ihre Plausibilität und Aktualität zu prüfen und wenn möglich auch über längere Zeiträume zu vergleichen. Da Tagfalter populäre Insekten sind, gibt es zu diesem Thema auch reichlich Beobachtungen. Landesämter und Behörden haben ebenso Daten zusammengetragen wie Vereine, Museen, Arbeitsgemeinschaften, wissenschaftliche Projekte oder interessierte Privatleute. Das UFZ hat 2005 zudem gemeinsam mit der Gesellschaft für Schmetterlingsschutz (GfS) ein Citizen Science-Projekt namens „Tagfalter-Monitoring Deutschland“ ins Leben gerufen, bei dem alle Interessierten mitmachen können. Bundesweit laufen Falter-Fans seither im Sommerhalbjahr immer wieder festgelegte Strecken ab und zählen die dabei beobachteten Tiere.
Das Problem war nur, dass all diese Informationen in unterschiedlichen Datenbanken gespeichert waren, die nicht unbedingt miteinander kompatibel sind. Diesen Wissensschatz verwertbar zu machen, war für Bioinformatiker Alexander Harpke vom UFZ daher ein hartes Stück Arbeit. Mehr als sechs Millionen Datensätze hat er dafür im Laufe der Jahre aufbereitet. „Die eigens für den Atlas entwickelte Daten-Infrastruktur ist wegweisend und soll als Basis auch für zukünftige Biodiversitätsprojekte dienen“, betont der Forscher.
Mit ihrer Hilfe ist es nun zum ersten Mal gelungen, einen kompletten Überblick über die Vorkommen sämtlicher Tagfalter und Widderchen Deutschlands zu gewinnen. Das einzige vergleichbare Werk, das es bisher gab, stammte noch aus den 1980er Jahren und beschränkte sich auf das Gebiet der DDR. Ansonsten war die Falter-Welt nur für einzelne Bundesländer oder Regionen genau erfasst worden. Entsprechend stolz ist man beim Verlag Eugen Ulmer auf den ersten bundesweiten Atlas. „Der Band ist ein Highlight unseres äußerst erfolgreichen Buchprogramms zu Natur- und Artenschutz, in dem in den letzten Jahren Standardwerke zu Wildbienen, Amphibien und dem Wolf veröffentlicht wurden“, sagt Programmleiter Volker Hühn.
In ihrem Vorwort zum Atlas betont Prof. Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz (BfN): „Mit dem ersten bundesweiten Verbreitungsatlas der Tagfalter und Widderchen liegen ein beeindruckender Überblick und ein Referenzwerk vor. Er soll aber auch dazu anregen, am Schutz der Tagfalter aktiv mitzuwirken und sich im Rahmen von Kartierprojekten weiter zu engagieren. Denn die kontinuierliche Erfassung der Artenvielfalt und die Durchführung von gezielten Schutz- und Pflegemaßnahmen sind zum dauerhaften Erhalt der biologischen Vielfalt unbedingt notwendig“.
Selbst wer sich nur aus ästhetischen Gründen für Schmetterlinge interessiert, kommt dank der zahlreichen Fotos auf seine Kosten. Vor allem aber können sich Behörden-Vertreter und Wissenschaftler, Naturschützer und andere Falter-Fans nun einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen in der Schmetterlingswelt verschaffen – sei es bundesweit oder vor der eigenen Haustür.
So tauchen in dem Atlas auch Kandidaten auf, die bis vor kurzem in Deutschland gar nicht vorkamen. Der wärmeliebende Karst-Weißling, der inzwischen auf Schleifenblume und Wilder Rauke in Gärten lebt, ist zum Beispiel erst im Jahr 2008 aus der Schweiz eingewandert und breitet sich nun auch hierzulande aus.
„Die Karten zeigen aber auch sehr deutlich, wo welche Arten im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwunden sind“, erklärt Schmetterlingsexperte Prof. Josef Settele vom UFZ. Das sei vor allem für den Naturschutz interessant. So werde man bei der Erstellung künftiger Roter Listen auf diese Informationen zurückgreifen. „Und wir können auch leicht erkennen, welche Regionen eine besondere Verantwortung für den Erhalt bestimmter Arten haben.“ Vom Blauschillernden Feuerfalter zum Beispiel gibt es größere Vorkommen nur noch in der Eifel und im Westerwald sowie im Voralpenraum. Falls die Schutzmaßnahmen für den Feuchtgebietsbewohner dort nicht greifen sollten, hat Deutschland in vermutlich nicht allzu ferner Zukunft eine Falterart weniger.

25.05.2020, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Kulturelle Vielfalt bei Schimpansen
Bisher ging man davon aus, dass das Angeln von Termiten bei Schimpansen nur in zwei Formen vorkommt und mithilfe eines oder mehrerer Werkzeuge durchgeführt wird, um aus oberirdisch oder unterirdisch gelegenen Bauten Termiten zu holen. Durch die sorgfältige Beobachtung von zehn Schimpansengruppen und ihrer Art und Weise an Termiten zu gelangen, ist es Forschenden vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig nun gelungen, für jeden im Rahmen der Studie untersuchten Schimpansen einen Katalog von Verhaltensweisen zu erstellen.
Die Übertragung kultureller Merkmale von Generation zu Generation findet außer beim Menschen nur bei wenigen Arten statt. Auch Schimpansen verfügen über eine große Vielfalt an kulturellen Verhaltensweisen und Werkzeuggebrauch. Obwohl einige dieser Verhaltensweisen an wenigen Langzeitforschungsstationen bereits gut dokumentiert sind, ist über die gesamte kulturelle Vielfalt verschiedener Schimpansenpopulationen nur wenig bekannt. Um diese Vielfalt besser zu verstehen, haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Jahr 2010 das Projekt „Pan African Programme: The Cultured Chimpanzee“ (PanAf) ins Leben gerufen. Anhand eines standardisierten Protokolls platzierten die Wissenschaftler an über 40 Standorten in Afrika Kamerafallen, sammelten Proben und nahmen ökologische Daten auf.
Bisher ging man davon aus, dass das Angeln von Termiten nur in zwei Formen vorkommt und mithilfe eines oder mehrerer Werkzeuge durchgeführt wird, um aus oberirdisch oder unterirdisch gelegenen Bauten Termiten zu holen. Durch die sorgfältige Beobachtung von zehn Schimpansengruppen und ihrer Art und Weise an die Termiten zu gelangen, hat Christophe Boesch nun für jeden einzelnen Schimpansen einen Katalog von Verhaltensweisen (Ethogramm) erstellt.
Dabei identifizierten Boesch und Kollegen 38 verschiedene Elemente, aus denen sich die verschiedenen Verhaltensweisen des Termitenfischens zusammensetzen. In jeder dieser Schimpansengruppen wurde ein Teil dieser Elemente genutzt und zusätzlich auf unterschiedliche Weise kombiniert. Darüber hinaus haben Angehörige derselben Gemeinschaft im Vergleich zu Schimpansen aus anderen Gruppen beim Termitenfischen mehr dieser Verhaltenselemente gemein und kombinieren diese auf eine jeweils einzigartige Weise.
Überraschende Vielfalt
„Die Vielfalt der Techniken, die Schimpansen beim Angeln von Termiten anwenden, war für mich eine große Überraschung. Jede Gemeinschaft verfügt nicht nur über ihre ganz eigene Art des Angelns, sondern kombiniert auch eine Reihe verschiedener technischer Elemente in ganz eigenen Formen“, erklärt Christophe Boesch. „Die auffallendsten Beispiele dafür sind, wie die Wonga Wongue Schimpansen in Gabun sich normalerweise auf die Seite legen, um Termiten zu fischen, während die Korup Schimpansen in Kamerun sich auf den Ellbogen stützen und die Schimpansen aus Goualougo in der Republik Kongo beim Angeln sitzen.“
Da die Schimpansengemeinschaften in ähnlichen Lebensräumen mit Zugang zu den gleichen Ressourcen leben, konnten ökologische Unterschiede zur Erklärung der beobachteten Unterschiede weitgehend ausgeschlossen werden. „Das unterstützt die Annahme, dass Schimpansen in der Lage sind, Techniken des Termitenfischens zu imitieren, was über alternative Erklärungen hinausgeht, wie zum Beispiel, dass jedes Individuum das Termitenfischen jedes Mal neu erfindet“, erklärt Co-Autorin Ammie Kalan.
Anpassung an die Gruppe
Ähnlich wie bei kulturell geprägten Verhaltensweisen beim Menschen dreht sich auch bei Schimpansen nicht alles um Effizienzsteigerung, sondern vielmehr darum, sich dem Verhalten der Gruppe anzupassen. Beim Menschen kann man dies in den verschiedenen Esskulturen in Asien beobachtet. „In Thailand und Japan zum Beispiel sind die Essstäbchen nicht nur irgendwie anders geformt, sondern auch die Art, wie sie gehalten werden, unterscheidet sich. Das erinnert sehr an das, was wir hier bei Schimpansen sehen: In La Belgique in Kamerun formen Schimpansen ihre Stäbchen, indem sie sie zerfasern, um eine lange Bürste zu erhalten. Dann legen sie das mit Termiten bedeckte Stäbchen während des Essens auf ihr Handgelenk. An einem anderen Ort in Kamerun namens Korup hingegen machen die Schimpansen überhaupt keine Bürste und benutzen ihren Mund, um den eingeführten Stock zu schütteln, während er sich im Erdhügel befindet“, erklärt Christophe Boesch.
Beim Menschen wurde kulturelle Vielfalt in Hunderten verschiedener Populationen dokumentiert. Dies erklärt, warum die Schimpansenkultur im Vergleich so begrenzt erscheint. „Was wir zuvor über Schimpansen wussten, stammte aus höchstens 15 Gemeinschaften“, sagt Co-Autor Hjalmar Kühl. „Durch das PanAf-Projekt konnten wir viel mehr Gemeinschaften untersuchen und dadurch mehr über den Reichtum der Schimpansenvielfalt und -kultur erfahren und konnten zeigen, dass es noch so viel mehr zu entdecken gibt.“
Weitere Analysen von Videos und anderen im Rahmen des PanAf-Projektes gesammelten Daten sind derzeit im Gange. „Das Angeln von Termiten und andere kulturelle Verhaltensweisen von freilebenden Schimpansen können aus erster Hand beobachtet werden, wenn man sich als Bürgerwissenschaftler auf Chimp&See anmeldet“, sagt Co-Autorin Mimi Arandjelovic. „Auf Chimp&See können sich Bürgerwissenschaftler über eine Million Videoclips von Schimpansen, Gorillas, Elefanten, Büffeln, Leoparden und vielen anderen Arten ansehen, die im Rahmen des PanAf-Projektes in ganz Afrika aufgenommen wurden. Unter www.chimpandsee.org kann Jede und Jeder als Bürgerwissenschaftler dazu beitragen, Daten zu analysieren und bei weiteren Entdeckungen aus dem Freiland dabei sein.“
Originalpublikation:
Christophe Boesch et al.
Chimpanzee Ethnography Reveals Unexpected Cultural Diversity
Nature Human Behaviour, 25 May 2020, https://doi.org/10.1038/s41562-020-0890-1

25.05.2020, Veterinärmedizinische Universität Wien
Tierwelt ungenügend vorbereitet auf Extremtemperaturen
Welche Folgen für das spätere Leben hat die Temperatur während des Heranwachsens von Vögeln und Säugetieren? Eine Frage, die angesichts des Klimawandels auch für uns Menschen von großer Bedeutung ist. Eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts für Wildtierkunde und Ökologie (FIWI) der Vetmeduni Vienna hat nun untersucht, ob sich durch frühe klimatische Herausforderungen später im Leben Vorteile ergeben oder nicht.
Bei allen Unterschieden von Vögeln und Säugetieren – auf schwankende Temperaturen während ihrer Entwicklung im Ei oder Mutterleib bzw. bis zum Erreichen des Erwachsenenalters reagieren beide Arten ähnlich empfindlich. Denn die thermische Umgebung während des Heranwachsens kann Änderungen der thermoregulatorischen Kontrolle auslösen. Ob dies positiv oder negativ ist, untersuchten Sylvain Giroud vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie am Department für Interdisziplinäre Lebenswissenschaften der Vetmeduni Vienna und Andreas Nord von der Lund Universität (Schweden) und nahmen dazu bereits erschienene Forschungsarbeiten unter die Lupe.
Fähigkeit zur Temperaturanpassung kann sich verbessern, aber auch verschlechtern
Bevor sich eine kompetente Endothermie entwickelt, reagieren Säugetiere und Vögel empfindlich auf Temperaturschwankungen. Auf ökologischer Ebene ist bisher nur unvollständig erforscht, wie sich solche Reaktionen später im Leben auf die Temperaturtoleranz auswirken. Laut Giroud sind aufgrund der derzeit vorliegenden Studien keine eindeutigen Schlussfolgerungen möglich: „In einigen Fällen führen Änderungen der Temperatur vor und nach der Geburt dazu, dass Organismen in der Lage sind, sich im Erwachsenenalter besser an die thermische Umgebung anzupassen. In anderen Fällen scheint die Entwicklungstemperatur jedoch die Temperaturtoleranz später im Leben zu beschränken.“
Thermoregulation von Tieren nur unzureichend auf Extremwetter vorbereitet
Einige Studien deuten darauf hin, dass niedrige Temperaturen während der Entwicklungszeit den Einsatz energiesparender Strategien wie Hypometabolismus erhöhen und die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der Normaltemperatur verbessern. Analog dazu scheint durch hohe Temperaturen während der Entwicklungszeit die Toleranz gegenüber warmen Umweltbedingungen zu steigen. Immer häufiger auftretende extreme Wetterereignisse könnten diesem Mechanismus laut den Forschern aber einen Strich durch die Rechnung machen, da sich die Tiere im Laufe der Evolution – aufgrund mangelnder Notwendigkeit – an häufig stark schwankende Wetterbedingungen nicht oder nur unzureichend angepasst haben.
Derzeit viele Fragen offen, neue Studien dringend nötig
Laut den beiden Forschern entscheiden der Zeitpunkt, die Dauer und die Höhe der Temperatur während des Heranwachsens darüber, wann eine thermische Belastung statt zu einer verbesserten zu einer eingeschränkten Adaptionsfähigkeit an Extremtemperaturen führt. Genaue Daten sind jedoch insbesondere für Säugetiere und für die postnatale Periode bisher kaum vorhanden. Giroud betont, dass deshalb neue Studien dringend erforderlich sind: „Das richtige Verständnis der Ontogenese und Akklimatisierungskapazität sowie der Temperaturtoleranz ist der Schlüssel zur Vorhersage, wie Individuen und Populationen auf die Herausforderung des Klimawandels und der damit verbundenen zunehmend extremen Wetterbedingungen reagieren werden.“
Der Artikel „Lifelong effects of thermal challenges during development in birds and mammals“ von Andreas Nord und Sylvain Giroud wurde in Frontiers in Physiology veröffentlicht. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fphys.2020.00419/full

26.05.2020, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich)
Hummeln bringen Pflanzen schneller zur Blüte

Wenn Pollen Mangelware sind, beschädigen Hummeln Blätter von Blütenpflanzen so, dass diese schneller blühen. Das zeigt ein ETH-​Forschungsteam sowohl an Gewächshauspflanzen als auch im Freiland.
Dieser Frühling kam so früh wie nie zuvor. Viele Pflanzen standen bereits Mitte April in voller Blüte, also rund drei bis vier Wochen früher als normal. Solche Anomalien treten als Folge des Klimawandels immer häufiger auf, und die daraus resultierende Unsicherheit droht die jahreszeitliche Abstimmung zwischen Pflanzen und ihren Insektenbestäubern zu stören.
Nun hat aber ein Forschungsteam unter der Leitung der ETH-​Professoren Consuelo De Moraes und Mark Mescher ein eigenartiges Verhalten von Hummeln entdeckt, das die zeitliche Abstimmung zwischen den Pollensammlerinnen und den von ihnen bestäubten Pflanzen verbessert.
Die Forschenden zeigen in einer soeben im Fachmagazin «Science» veröffentlichten Studie auf, dass Hummelarbeiterinnen mit ihren Mundwerkzeugen in die Blätter von blütenlosen Pflanzen kneifen. Der daraus entstandene Schaden regt die Pflanzen zur Produktion neuer Blüten an, die früher blühen als diejenigen von Pflanzen, denen Hummeln diesen «Stupser» nicht gegeben haben.
«Frühere Arbeiten zeigten, dass verschiedene Arten von Stress Pflanzen zum Blühen bringen können. Aber dass die von Hummeln verursachten Schäden die Blütenproduktion beschleunigen, war unerwartet», sagt Mescher.
Hummelverbiss als Problem
Erstmals bemerkt hatten die Forschenden das Verhalten während anderer Experimente mit Hummeln und Pflanzen. Eine der Erstautorinnen der Studie, Foteini Pashalidou, beobachtete im Gewächshaus, wie die Insekten nicht-​blühende Versuchspflanzen anbissen. Auch von anderen Wissenschaftlern wurde dieses Verhalten schon beobachtet. Genauere Untersuchungen fehlten aber.
In der Folge führten die ETH-​Forschenden mehrere Labor-​ und Freilandversuche mit Kolonien von Erdhummeln (Bombus terrestris) aus Zuchten und an einer Vielzahl an Pflanzen durch.
Anhand der Laborversuche mit Tomaten-​ und Senfpflanzen konnten die Forschenden aufzeigen, dass die Neigung der Hummeln, Blätter zu schädigen, stark von der verfügbaren Pollenmenge abhängt. Stehen den Bestäuberinnen keine oder nur wenige Pollen zur Verfügung, schädigen sie die Blätter ihrer potenziellen Nahrungslieferantinnen häufiger und stärker, als wenn genug Pollen vorhanden sind.
Die Forschenden fanden weiter heraus, dass sich die Schäden an Blättern der Versuchspflanzen stark auf die Blütezeit auswirken. Tomatenpflanzen, die dem Hummelverbiss ausgesetzt waren, blühten bis zu 30 Tage früher als solche ohne Verbiss. Bei Senfpflanzen verschob sich der Blühzeitpunkt um zwei Wochen nach vorne.
«Die durch die Bestäuberinnen zugefügten Schäden hatten einen dramatischen Einfluss auf die Blüte. Dieser wurde bisher wissenschaftlich noch nicht beschrieben», sagt De Moraes. Es komme zudem darauf an, in welchem Entwicklungsstadium eine Pflanze sei, wenn sie gebissen werde. «Dies beeinflusst ebenfalls, wie stark die Blüte beschleunigt wird». Die Forschenden wollen diesen Zusammenhang noch genauer untersuchen.
Die Wissenschaftlerinnen versuchten zudem, die Schadensmuster der Hummeln manuell zu verursachen, um zu schauen, ob sie den Effekt auf die Blütezeit reproduzieren konnten. Aber obwohl beide Pflanzenarten nach diesem Eingriff etwas früher blühten, war der Effekt nicht annähernd so stark wie der durch die Hummeln verursachte. De Moraes vermutet deshalb, dass innerhalb der Pflanze ein chemisches Signal beteiligt sein könnte. «Oder wir konnten die Blattschäden nicht genau genug nachahmen», sagt sie.
Phänomen auch im Freiland beobachtet
Das ETH-​Forschungsteam konnte das Verhalten der Hummeln auch unter natürlicheren Bedingungen beobachten. Unter Leitung von Doktorandin Harriet Lambert führten die Forschenden Folgeexperimente auf den Dächern zweier ETH-​Gebäude im Zentrum von Zürich durch. Auch bei diesen Versuchen beobachteten die Forschenden, dass hungrige Hummeln mit ungenügender Pollenversorgung häufig die Blätter nicht blühender Pflanzen beschädigten. Die Insekten reduzierten das Verhalten jedoch konsequent, wenn ihnen die Forschenden mehr Blüten zur Verfügung stellten.
Darüber hinaus verbissen nicht nur die Zuchthummeln aus den Versuchskolonien die Pflanzenblätter. Auch mindestens zwei Arten Wildhummeln schädigten die Blätter von Pflanzen auf den Versuchsflächen. Andere nahverwandte Bestäuberinnen wie Honigbienen zeigten jedoch kein solches Verhalten. Die Bienen schienen nicht blühende Pflanzen zu ignorieren, obwohl sie nahe gelegene Flecken mit blühenden Pflanzen häufig besuchten.
Eingespielte Balance droht zu kippen
«Hummeln haben möglicherweise eine wirksame Methode entwickelt, um lokal Pollenmangel zu lindern», sagt De Moraes, «und draussen in der Natur gibt es auch andere Bestäuber, die von den Bemühungen der Hummeln profitieren könnten».
Es bleibe jedoch abzuwarten, ob dieses Verhalten ausreiche, um die Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen. Insekten und Blütenpflanzen teilen eine lange gemeinsame Entwicklungsgeschichte, die ein empfindliches Gleichgewicht zwischen Blühzeitpunkt und Bestäuberentwicklung hervorbrachte.
Die globale Erwärmung und andere menschgemachte Umweltveränderungen könnten den zeitlichen Ablauf dieser und anderer ökologisch wichtiger Wechselwirkungen zwischen den Organismen stören. Solche raschen Umweltveränderungen könnten dazu führen, dass die Entwicklung von Insekten und Pflanzen zunehmend asynchron verlaufen. «Dabei werden beide Seiten verlieren», sagt Mescher.
Originalpublikation:
Paschalidou FG, Lambert H, Peybernes T, Mescher MC, De Moraes CM. Bumble bees damage plant leaves and accelerate flower production when pollen is scarce. Science, online publiziert 21. Mai 2020. DOI: 10.1126/science.aay0496

26.05.2020, MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften an der Universität Bremen
Artenvielfalt der tropischen Ozeane sinkt als Folge der globalen Erwärmung
Anhand von Änderungen in der Vergangenheit, Rückschlüsse für die Zukunft ziehen: Internationales Team untersucht Foraminiferen-Vielfalt der Tropen
Ändert sich das Umfeld einer Art, sucht sie sich einen anderen Lebensraum und wandert ab. Steigt etwa die Temperatur, ziehen wärmeliebende Arten in höhere Breiten. Der so entstandene Verlust der Artenvielfalt in den Herkunftsregionen kann durch das Einwandern anderer Arten kompensiert werden. Eine Ausnahme bilden hier die Tropen: Da es außerhalb der tropischen Breiten keine Arten gibt, die an wärmere Bedingungen angepasst sind, kann infolge einer Erwärmung die Artenvielfalt der Tropen nur sinken. Eine neue Studie zeigt, dass ein solcher Rückgang der Biodiversität im tropischen Ozean nach der letzten Eiszeit stattgefunden hat. Ein internationales Team, zu dem auch Prof. Michal Kucera und Dr. Kerstin Kretschmer vom MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen zählen, hat dafür gut erhaltene Mikrofossilien in Meeressedimenten untersucht. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Artenvielfalt weiter verringert, wenn die menschenverursachte Klimaveränderung nicht begrenzt wird.
Die im Fachjournal Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlichte Forschungsarbeit rekonstruiert anhand von Fossilien die globalen ozeanischen Biodiversitätsmuster für die letzte Eiszeit (vor etwa 20.000 Jahren) und für die Zeit vor dem Anfang der aktuellen Erderwärmung. Diese Ergebnisse haben die Forschenden genutzt, um Prognosen für die nahe Zukunft (2090er-Jahre) zu erstellen. Aktuell gibt es in äquatorialen Breiten einen Einbruch in der Artenvielfalt – laut der Forschenden ähnlich dem in vorindustrieller Zeit. Im Gegensatz hierzu gab es diesen so genannten „Diversitätseinbruch“ allerdings nicht während der letzten Eiszeit.
Der Rückgang der Artenvielfalt in den Tropen ist eine Folge davon, dass sich die Erde nach der letzten Eiszeit erwärmt hat. Das, so schlussfolgern die Forschenden, wird aktuell durch die menschengemachte Erwärmung verstärkt. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts könnte so die tropische Vielfalt auf ein Niveau zurückgehen, das seit Millionen von Jahren nicht mehr beobachtet wurde, wenn die Zukunft mit dem „Business-as-usual“-Szenario der CO2-Emissionen übereinstimme, heißt es in der Veröffentlichung. Das würde sich auch auf den gesamten Ozean als größten Lebensraum der Erde auswirken. Ändert sich etwa die Vielfalt und so die Produktivität des Phytoplanktons, könnten ganze Nahrungsketten bis hin zum Menschen gestört werden – und so die Artenvielfalt im Ozean weiter verringern.
Um den vergangenen Zustand der tropischen Artenvielfalt zu rekonstruieren, haben die Forschenden winzige Kalkgehäuse von fossilem Plankton, den Foraminiferen, verwendet. Deren Schalen sind in marinen Sedimenten konserviert und dienen durch ihre Zusammensetzung den Forschenden als eine Art Archiv vergangener Umweltbedingungen.
„Die Biodiversität ist in den Tropen normalerweise hoch und an den Polen niedrig. Wir nennen dieses wichtige Muster den ‚Breitengradient der Biodiversität‘“, sagt Moriaki Yasuhara von der Universität Hongkong (China). Anhand dieses Gradienten lässt sich die Artenvielfalt auch global betrachten und vergleichen. Neuere Studien hätten laut Yasuhara jedoch gezeigt, dass die Artenvielfalt am Äquator abnimmt: der Breitengradient der Diversität flacht ab. „Wir wollten untersuchen, was die Ursache dafür ist und ob es sich dabei um ein neueres Muster handelt.“
Das Autorenteam sieht einen Zusammenhang zwischen der globalen Erwärmung und der rückläufigen Artenvielfalt in den Tropen. „Das bedeutet, dass die ozeanische Vielfalt am Äquator bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf ein in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesenes Niveau zurückgehen könnte“, sagt Co-Autor Derek P. Tittensor, Professor an der Dalhousie Universität (Kanada).
„Unsere Ergebnisse zeigen wie die Untersuchung vergangener mariner Ökosysteme, überliefert in Sedimenten der Tiefsee, Szenarien des Diversitätswechsels als Folge der Erderwärmung liefern können, die es uns ermöglichen, die Folgen des globalen Wandels besser zu bewerten“, fügt Co-Autor Michal Kucera vom MARUM hinzu.
Originalpublikation:
Moriaki Yasuhara, Chih-Lin Wei, Michal Kucera, Mark J. Costello, Derek P. Tittensor, Wolfgang Kiessling, Timothy C. Bonebrake, Clay Tabor, Ran Feng, Andrés Baselga, Kerstin Kretschmer, Buntarou Kusumoto, and Yasuhiro Kubota (2020): Past and future decline of tropical pelagic biodiversity. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. DOI: 10.1073/pnas.1916923117

26.05.2020, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Honigbienen: Pflanzenschutzmittel stört Brutpflegeverhalten und Larven-Entwicklung – Einzigartige Langzeitvideos
Durch eine neu entwickelte Videotechnik konnten Wissenschaftler der Goethe-Universität Frankfurt am Institut für Bienenkunde der Polytechnischen Gesellschaft erstmals die komplette Entwicklung einer Honigbiene im Bienenstock aufzeichnen. Dabei stellten die Forscher fest, dass bestimmte Pflanzenschutzmittel – Neonikotinoide – das Verhalten der Ammenbienen veränderten: Sie fütterten die Larven seltener. Die Larven benötigten bis zu 10 Stunden länger in ihrer Entwicklung. Eine längere Entwicklungszeit im Stock kann den Befall mit Bienenschädlingen wie der Varroa-Milbe begünstigen (Scientific Reports, DOI 10.1038/s41598-020-65425-y)
Honigbienen haben ein sehr komplexes Brutverhalten: Eine Putzbiene reinigt eine leere Wabe (Brutzelle) von den Resten der vorherigen Brut, bevor die Bienenkönigin ein Ei hineinlegt. Sobald die Bienenlarve geschlüpft ist, wird sie sechs Tage lang von einer Ammenbiene gefüttert. Dann verschließen die Ammenbienen die Brutzelle mit einem Deckel aus Wachs. Die Larve spinnt sich in einen Kokon ein und durchläuft eine Metamorphose, während der sie ihren Körper umformt und Kopf, Flügel und Beine entwickelt. Drei Wochen nach der Eiablage schlüpft die ausgewachsene Biene aus dem Kokon und verlässt die Brutzelle.
Wissenschaftler der Goethe-Universität Frankfurt konnten nun am Institut für Bienenkunde der Polytechnischen Gesellschaft durch eine neue Videotechnik erstmals die komplette Entwicklung einer Honigbiene im Bienenvolk aufzeichnen. Dazu konstruierten die Forscher einen Bienenstock mit einer Glasscheibe und konnten auf diese Weise viele Brutzellen von insgesamt vier Bienenvölkern gleichzeitig über mehrere Wochen hinweg mit einem speziellen Kamera-Aufbau filmen. Dabei nutzten sie Rotlicht, um die Bienen nicht zu stören, und zeichneten alle Bewegungen der Bienen an den Brutzellen auf.
Die Forscher interessierten sich dabei speziell für das Brutpflegeverhalten der Ammenbienen, deren Futter (ein Zuckersyrup) sie geringe Mengen an Pflanzenschutzmitteln, so genannten Neonikotinoiden, zusetzten. Neonikotinoide sind hoch wirksame Insektizide, die in der Landwirtschaft vielfach eingesetzt wurden und werden. In natürlicher Umgebung gelangen Neonikotinoide durch Nektar und Pollen, den die Bienen sammeln, in das Bienenvolk. Es ist bereits bekannt, dass diese Stoffe unter anderem die Navigationsfähigkeit und das Lernverhalten der Bienen stören. Einige Neonikotinoide hat die Europäische Union für den Pflanzenbau verboten, was seitens der Agrarindustrie kritisiert wurde.
Über Machine-Learning-Algorithmen, die die Wissenschaftler zusammen mit Kollegen des Centers for Cognition and Computation der Goethe-Universität entwickelten, konnten sie das Brutpflegeverhalten der Ammenbienen halbautomatisch auswerten und quantifizieren. Das Ergebnis: Bereits geringe Dosen der Neonikotinoide Thiacloprid oder Clothianidin führen dazu, dass die Ammenbienen an einigen Tagen der 6-tägigen Larvenentwicklung weniger häufig und somit kürzer fütterten. Manche der so aufgezogenen Bienen benötigten bis zu 10 Stunden länger bis zum Verschluss der Zelle mit einem Wachsdeckel.
„Neonikotinoide wirken auf das Nervensystem der Bienen, indem sie den Rezeptor für den Nerven-Botenstoff Acetylcholin blockieren“, erklärt Dr. Paul Siefert, der in der Arbeitsgruppe von Prof. Bernd Grünewald am Institut für Bienenkunde Oberursel die Experimente durchgeführt hat. Siefert: „Wir konnten erstmals zeigen, dass Neonikotinoide auch das Sozialverhalten der Bienen verändern. Das könnte ein Hinweis auf die von anderen Wissenschaftlern beschriebenen Störungen der Brutentwicklung durch Neonikotinoide sein.“ Auch Parasiten wie die gefürchtete Varroa-Milbe (Varroa destructor) profitieren von einer verlängerten Entwicklung, denn die Milben legen ihre Eier in Brutzellen kurz vor der Verdeckelung ab: wenn diese länger geschlossen sind, können sich die Milbennachkommen ungestört entwickeln und vermehren.
Es sei allerdings noch zu klären, so der Wissenschaftler, ob die Verzögerung der Larvenentwicklung auch auf die Verhaltensstörung der brutpflegenden Bienen zurückzuführen sei oder ob sich die Larven durch veränderten Futtersaft langsamer entwickeln. Solchen Futtersaft produzieren die Ammenbienen und füttern die Larven damit. „Wir wissen aus anderen Studien aus unserer Arbeitsgruppe“, so Siefert, „dass sich durch Neonikotinoide die Konzentration von Acetylcholin im Futtersaft verringert. Andererseits haben wir beobachtet, dass sich bei höheren Dosierungen auch die frühe Embryonalentwicklung im Ei verlängert, in einem Zeitraum also, in dem noch nicht gefüttert wird.“ Weitere Studien müssten klären, welche Faktoren hier zusammenwirken.
Die neue Videotechnik und die Auswertungs-Algorithmen jedenfalls bieten großes Potenzial für weitere Forschungsprojekte. Denn neben den Fütterungen konnten auch Heiz- oder Bauverhalten zuverlässig erkannt werden. Siefert: „Unsere innovative Technologie erlaubt es, grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen über die sozialen Interaktionen im Bienenvolk, über die Biologie von Parasiten und die Sicherheit von Pflanzenschutzmitteln.“
Originalpublikation:
Paul Siefert, Rudra Hota, Visvanathan Ramesh, Bernd Grünewald. Chronic within-hive video recordings detect altered nursing behaviour and retarded larval development of neonicotinoid treated honey bees. Sci. Rep. 10, 8727 (2020) (Scientific Reports, DOI 10.1038/s41598-020-65425-y)

26.05.2020, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Ähnlich wie Menschen entwickeln sich Schimpansen langsam
Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben systematisch Entwicklungsmeilensteine bei freilebenden Schimpansen im Taï-Nationalpark (Elfenbeinküste) untersucht und festgestellt, dass sie sich langsam entwickeln und mehr als fünf Jahre benötigen, um wichtige motorische, kommunikative und soziale Meilensteine zu erreichen. Dieser Zeitrahmen ähnelt dem des Menschen und deutet auf eine langsame Reifung des Gehirns hin.
Nur wenige Arten entwickeln sich so langsam wie der Mensch, sowohl in Bezug auf die Entwicklung von Erwachsenen-Fähigkeiten als auch in Bezug auf die Gehirnentwicklung. Menschliche Kleinkinder werden so unterentwickelt geboren, dass sie nach der Geburt einige Jahre lang ohne Pflege und Ernährung durch Erwachsene nicht überleben können. Kinder müssen grundlegende Fähigkeiten wie das Gehen, Essen, Sprechen, den Umgang mit Werkzeugen und vieles mehr erst erlernen. Anhand des Zeitpunkts, wann diese Entwicklungsmeilensteine erstmals auftauchen, können Ärzte feststellen, ob sich Kinder und die Gehirne von Kindern normal entwickeln. Darüber in welchem Alter andere langlebige, nahverwandte Arten, wie Schimpansen, motorische und soziale Entwicklungsmeilensteine erreichen und was das für ihre Gehirnentwicklung bedeutet, ist bisher nur wenig bekannt. Wann zum Beispiel beginnen Schimpansen zu laufen, sich selbst zu ernähren, soziale Fellpflege zu betreiben und Werkzeuge zu benutzen? Vergleichende Studien zu wichtigen Entwicklungsschritten bei Schimpansen und anderen Arten helfen dabei, die evolutionäre Grundlage ausgedehnter Entwicklungsperioden zu verstehen.
Forschende am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben nun systematisch ein breites Spektrum von Verhaltensweisen freilebender Schimpansen dokumentiert und untersucht, wann diese erstmals ausgeübt werden. Für diese Studie beobachteten die Forschenden 19 Schimpansenkinder (acht Weibchen und 11 Männchen) aus dem Taï-Nationalpark, Elfenbeinküste, vom ersten Monat nach der Geburt bis zu einem Alter von fünf Jahren. Die Ergebnisse zeigten, dass sich die grobmotorischen Fähigkeiten mit etwa vier Monaten, kommunikative Eigenschaften mit 12 Monaten, die Fähigkeiten zur sozialen Interaktion mit 14 Monaten und die feinmotorischen Fähigkeiten mit 15 Monaten entwickeln. „Nicht nur der zeitliche Rahmen, sondern auch die Erwerbsreihenfolge ähneln sich bei Schimpansen und Menschen, was unsere gemeinsame Evolutionsgeschichte widerspiegelt“, sagt Erstautorin Aisha Bründl. „Unsere Ergebnisse stimmen mit der Hypothese des verzögerten Nutzens überein, die besagt, dass eine längere Entwicklungsdauer für den Erwerb von Erwachsenen-Fähigkeiten notwendig ist.“
„Solche Entwicklungsmeilensteine können uns wertvolle Informationen über die Reifung des Gehirns liefern“, sagt Senior-Autorin Catherine Crockford, eine der Leiterinnen des Projekts Evolution of Brain Connectivity (EBC) der Max-Planck-Gesellschaft. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich einige Teile des Schimpansengehirns so langsam entwickeln wie beim Menschen.“ Das muss jedoch im Rahmen des neuen EBC-Projekts noch untersucht werden, einer Zusammenarbeit zwischen den Leipziger Max-Planck-Instituten für evolutionäre Anthropologie und für Kognitions- und Neurowissenschaften, bei dem Forschende post mortem Gehirne von Menschenaffen scannen und analysieren und die Ergebnisse mit dem Verhalten der Tiere in Beziehung setzen.
Außerdem stellten die Forscher fest, dass komplexere Fähigkeiten, wie etwa der Gebrauch von Werkzeugen und soziale Interaktionen im Laufe der Entwicklung erst später auftauchen. Darüber hinaus unterscheidet sich der Zeitpunkt, wann diese Fähigkeiten erstmals auftreten, zwischen einzelnen Schimpansen stärker, als das bei weniger komplexen Fähigkeiten der Fall ist. „Diese Variation kann durch grundlegende Unterschiede im sozialen Umfeld, in dem ein Schimpanse aufwächst, aber auch durch andere Faktoren wie zum Beispiel die Ernährung verursacht werden und muss noch weiter untersucht werden“, erklärt Co-Autor Patrick Tkaczynski.
„Eine solche Entwicklungsstudie benötigt Langzeitdaten, da Schimpansen eine ähnlich langsame Lebensgeschichte wie Menschen haben“, betont Roman Wittig, ein weiterer Senior-Autor der Studie und Leiter des Taï-Schimpansen-Projekts. „Wir haben Glück, dass wir über Beobachtungsdaten freilebender Schimpansen über einen Zeitraum von 40 Jahren verfügen.“ Insgesamt betrachtet ist diese Studie die bisher umfassendste Beschreibung von Entwicklungsmeilensteinen bei Schimpansen und bringt die Erforschung gemeinsamer Entwicklungsverläufe bei verschiedenen Menschenaffenarten weiter voran.
Originalpublikation:
Aisha C. Bründl, Patrick J. Tkaczynski, Grégoire Nohon Kohou, Christophe Boesch, Roman M. Wittig,Catherine Crockford
Systematic mapping of developmental milestones in wild chimpanzees
Developmental Science, 15 May 2020, https://doi.org/10.1111/desc.12988

26.05.2020, Stiftung Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig, Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere
Chamäleons in Rüstung aus knöchernem Stachelpanzer
Bonner Wissenschaftler fanden gemeinsam mit Kollegen aus München, Köln und Bremen ganz eigentümliche spitze Knochen in der Haut eines madagassischen Erdchamäleons. Diese Knochen wachsen entlang der Flanken und Beine aus der Haut heraus und sollen Fressfeinden offenbar den Appetit verderben. Die Ergebnisse sind nun im „Journal of Morphology“ veröffentlicht.
„Bei Chamäleons denken die meisten vermutlich sofort an ein prächtiges Farbenspiel und dessen Bedeutung für die innerartliche Kommunikation und Tarnung“, sagt Dr. Markus Lambertz, Zoologe an der der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (Universität Bonn) und am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig – Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere (ZFMK, Museum Koenig). Auf Madagaskar gibt es aber Arten, die ganz andere Strategien verfolgen. Viele Erdchamäleons der Gattung Brookesia sind kleine, braune Tiere, die versteckt im Unterholz leben. Ihre umgestaltete Wirbelsäule ähnelt bei manchen Arten einer Säge auf dem Rücken und soll die Tiere offenbar vor Fressfeinden schützen. Besonders extrem sind diese Strukturen bei Brookesia perarmata entwickelt, eine Spezies, die auch durch spitze Dornen an Kopf, Beinen und Flanken auffällt. „Wir kennen diese Art mit ihrem bizarren Stachelpanzer seit fast einem Jahrhundert, aber es war bisher völlig unklar, was diese Strukturen überhaupt sind“, sagt Dr. Frank Glaw von der Zoologischen Staatssammlung in München.
Die Wissenschaftler beschlossen der Sache gemeinsam auf den Grund zu gehen. Pia J. Schucht untersuchte das Gewebe dieser Hautstrukturen mikroskopisch: „Es zeigte sich sehr schnell, dass diese Auswüchse einen knöchernen Kern besitzen.“ erklärt die Doktorandin an der Universität Bonn. Solche Verknöcherungen der Lederhaut werden als Osteoderme bezeichnet. Man kennt sie zum Beispiel von Krokodilen, die man aufgrund der flächigen Körperbedeckung mit Osteodermen häufig auch als Panzerechsen bezeichnet. Wie sieht es aber nun bei unserem Erdchamäleon aus? Das Team, inzwischen um die Doktoranden Peter T. Rühr von der Universität Köln und Benedikt Geier vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen erweitert, setzte auf die Mikrocomputertomographie, um eine Vorstellung der dreidimensionalen Verteilung der Osteoderme bei Brookesia perarmata zu erlangen.
Wie die äußere Erscheinungsform bereits vermuten ließ, treten die Osteoderme nur vereinzelt entlang der Flanken und Beine auf. Einen durchgängigen Knochenpanzer gibt es nicht. Wie kann dies einen effektiven Schutz vor Beutegreifern bewirken? Erdchamäleons haben besonders Schlangen und Vögel als Räuber zu fürchten, die ihre Beute meist in einem Stück herunterschlucken. Ein flächiger Bissschutz wie bei den Krokodilen brächte ihnen also gar keinen besonders großen Vorteil. Die dornige „Osteoderm-Rüstung“ von Brookesia perarmata hingegen scheint eine ideale Abwehrstrategie, um solchen Räubern das Herunterschlucken unangenehm und schmerzhaft zu machen.
„Osteoderme sind nicht unbedingt eine Seltenheit bei Reptilien, aber man kannte sie bislang weder von Chamäleons noch in dieser speziellen Ausprägung“, sagt Dr. Lambertz. Schucht fügt hinzu: „So verschieden die Form der Osteoderme bei den Reptilien ist, so verschieden scheint auch ihre funktionelle Bedeutung“. Besonders der innere Aufbau aus zahlreichen miteinander verbundenen und mit Knochenmark gefüllten Hohlräumen stellt die Forscher noch vor Rätsel. Dass die spitzen Osteodermen Brookesia perarmata vor Fressfeinden schützen, ist ziemlich offensichtlich, aber es ist gut möglich, dass dies nicht ihre einzige Funktion ist und die knochenmarkhaltigen Hautstrukturen auch eine wichtige Rolle im Stoffwechsel der Tiere spielen. Welche genau gilt es nun zu klären. Lambertz erläutert: „Wie bei den meisten Projekten werfen auch die jetzt vorliegenden Erkenntnisse unmittelbar neue Fragen auf und es bleibt wahnsinnig spannend die Formenvielfalt der Natur zu untersuchen.“
Originalpublikation:
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/jmor.21135

27.05.2020, Universität Rostock
Wissenschaftlerinnen erforschen das Zeitgefühl von Robben
Wissenschaftlerinnen der Universität Rostock konnten zeigen, dass Hundsrobben und Ohrenroben sehr ähnliche Fähigkeiten der Zeitwahrnehmung besitzen, obwohl die Robbenarten sich ansonsten in sehr vielen Aspekten unterscheiden.
Rätselhaft ist die Zeit, und dennoch verfügen wir Menschen über eine erstaunliche Zeitwahrnehmung. Wie aber sieht es mit der Zeit und der Zeitwahrnehmung bei Tieren aus?
Die mit einer Lichtenberg-Stiftungsprofessur ausgezeichnete Professorin Frederike Hanke forscht seit September letzten Jahres am Marine Science Center der Universität Rostock in Warnemünde-Hohe Düne. Hier befasst sich die Wissenschaftlerin mit der visuellen Wahrnehmung. Visuelle Reize spielten auch eine wichtige Rolle in den Zeitexperimenten ihrer Doktorandin Tamara Heinrich.
Nach ihrer ersten Studie zum Zeitsinns des Seehunds 2016 stellte sie sich die Frage, wie das „Timing“ bei anderen Robbenarten aussieht. Neben Seehunden, die zu den Hundsrobben gehören, lebt in der Robbenforschungsstation in Warnemünde auch der südafrikanischer Seebär „Fin“. Er gehört zu den Ohrenrobben, die sich, so Professorin Hanke, ganz erheblich von Hundsrobben unterscheiden. Die beiden Robbenfamilien weisen nicht nur anatomische Unterscheide auf: Der Seehund ist ein Einzelgänger, der auf den Sandbänken zum Beispiel der Nord- und Ostsee gesichtet wird. Der südafrikanische Seebär jedoch lebt an der Atlantikküste Südafrikas und Namibias in großen Kolonien, in denen Interaktionen mit Artgenossen permanent notwendig sind, um zum Beispiel die Rangordnung zu klären. Unterschiede in der Jungtieraufzucht, im Jagdverhalten und in der Kommunikation zwischen Seehund und Seebär sind nur ein paar weitere Bespiele, die auch eine unterschiedliche Zeitwahrnehmung mit sich ziehen könnten.
Bei den Experimenten sahen Seehund „Luca“ und Seebär „Fin“ auf einem Bildschirm einen weißen Punkt, der für eine genau bestimmte Zeitdauer präsentiert wurde. Nachdem der Kreis verschwunden war, mussten sie zeigen, ob sie einen festgelegten Standardreiz von z.B. drei Sekunden Dauer oder einen Vergleichsreiz länger als drei Sekunden z. B. von fünf Sekunden Dauer gesehen hatten. Durch eine Kopfbewegung an einen rechten bzw. linken Ball teilten sie ihre Entscheidung mit. Zu Beginn wich der Vergleichsreiz zeitlich sehr stark von dem Standardreiz ab. Diese Reize zu unterscheiden war sowohl für Luca als auch für Fin eine leichte Übung. Im Laufe des Experimentes glich die Meeresbiologin Tamara Heinrich die Dauer des Vergleichsreizes und des Standardreizes immer mehr an, bis der Unterschied nur noch Bruchteile einer Sekunde betrug. Doch absolvierten beide Tiere diese Aufgabe mit ähnlich guten Ergebnissen. „Es hat uns sehr überrascht“, sagt Tamara Heinrich, „dass beide Robbenarten die Aufgabe so schnell lernten und einen so guten und ähnlich ausgeprägten Zeitsinn zeigten.“ Diese unerwartete Entdeckung wurde zusammen mit Dr. Andrea Ravignani vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmwegen sorgfältig studiert und jüngst in dem renommierten Journal „Animal Cognition“ veröffentlicht.
Das Forscherteam sieht viele Bereiche, in denen Zeitwahrnehmung für Robben eine Rolle spielen könnte. Professorin Hanke erläutert: „Bisher haben wir nur die Informationen der klassischen Sinnessysteme bedacht, wenn es um Entscheidungen bei der Futtersuche oder auch um Navigation auf dem offenen Meer geht – der Zeitsinn könnte hierzu jedoch maßgeblich beitragen.“ Den Rätseln des Zeitsinns versuchen die Rostocker Forscherinnen nun mit weiteren Verhaltensexperimenten mit ihren Robben auf die Spur zu kommen.
Originalpublikation:
https://link.springer.com/article/10.1007/s10071-020-01390-3

27.05.2020, Universität Hohenheim
Winterliches Bienensterben: Zucker aus Waldhonig gefährdet Überleben der Völker
Studie der Uni Hohenheim: spezieller Zucker im Waldhonig reduziert Lebensdauer von Bienen und führt zu starken Ertragsverlusten / Gegenmaßnahmen nur rechtzeitig möglich
Imker kennen das Problem, wenn der Honig beim Schleudern wie Zement in den Waben klebt. Ursache ist ein hoher Gehalt eines besonderen Zuckers, der Melezitose. Er ist verantwortlich dafür, dass der Honig schon in den Waben auskristallisiert und nicht mehr herausgeschleudert werden kann. Die Folge sind nicht nur massive Ertragsverluste. Die sogenannte Waldtrachtkrankheit steht auch im Verdacht, ganze Bienenvölker in Gefahr zu bringen. Eine Vermutung, die jetzt erstmals von Wissenschaftlern der Universität Hohenheim in Stuttgart anhand von Laborexperimenten bestätigt wurde. Demnach führt der spezielle Zucker zur Schädigung der Darmbakterien der Bienen und reduziert so ihre Lebensdauer. Details berichten Victoria Seeburger von der Landesanstalt für Bienenkunde und ihre Kollegen in ihrer aktuellen Publikation im Journal PloS ONE https://doi.org/10.1371/journal.pone.0230871
Honigbienen ernähren sich im Frühjahr überwiegend von Honig, den sie aus Blütennektar herstellen. Im Sommer nehmen nektarliefernde Blüten ab und der Honigtau wird attraktiver und stellt oft die Hauptnahrungsquelle dar.
Was so appetitlich klingt sind nichts anderes als die Ausscheidungen von verschiedenen Lausarten, die sich von dem Pflanzensaft vor allem von Nadelbäumen ernähren. Das Ergebnis ist zwar ein wohlschmeckender Waldhonig, Imkern ist aber bekannt, dass dieser Honigtauhonig vor allem zu Beginn des Winters bei ihren Honigbienen zur so genannten Waldtrachtkrankheit führen kann.
Die Hinterleiber der betroffenen Bienen sind angeschwollen oder sie erleiden einen massiven Haarausfall. Oft zeigen sie auch ein verändertes Verhalten: Viele Bienen bleiben am Eingang des Bienenstocks, anstatt auszufliegen. Dieser Zustand kann sich soweit verschlechtern, dass ganze Stöcke innerhalb kurzer Zeit eingehen. Allerdings wurde als Ursache für die Waldtrachtkrankheit bislang der hohe Mineralstoffgehalt im Waldhonig vermutet.
Melezitose-Zucker als Ursache erstmals bestätigt
Honigtau enthält im Vergleich zu Blütennektar eine größere Zahl von speziellen Zuckern, die von den Läusen produziert werden. Dazu gehört auch die Melezitose. Sie ist in Blütennektar nicht zu finden, kann aber im Honigtau von Läusen, die auf Fichten leben, bis zu 70 % des Zuckeranteils ausmachen. Sie steht schon lange im Verdacht für die Erkrankung der Bienen verantwortlich zu sein.
Um diese Vermutung zu überprüfen, führte Victoria Seeburger im Rahmen ihrer Doktorarbeit in drei aufeinanderfolgenden Jahren Fütterungsexperimente mit Honigbienen durch. Dabei zeigt sich, dass mit Melezitose gefütterte Bienen deutlich mehr im Vergleich zu Bienen fraßen, denen eine Kontrolldiät verabreicht wurde.
Darüber hinaus wiesen die mit Melezitose gefütterten Bienen schwere Krankheitssymptome auf, wie ein geschwollener Hinterleib, das Tippen mit dem Hinterleib auf den Boden und Bewegungsstörungen bis hin zur kompletten Lähmung. Schließlich starben auch viele von ihnen. Dies bestätigt zum ersten Mal, dass Melezitose die Symptome der Waldtrachtkrankheit auslösen kann.
Die Analyse ihrer Darmbakterien (Mikrobiota) mit Hilfe der Hochdurchsatzsequenzierung zeigte, dass sich bei den Bienen, die mit Melezitose gefüttert wurden, das Artenspektrum der Milchsäurebakterien verändert hat. „Wir gehen deshalb davon aus, dass Melezitose von den Bienen nicht gut verdaut werden kann und sich im Darm ansammelt“, sagt Victoria Seeburger. Die Bienen sind offenbar mangelhaft ernährt, obwohl sie eigentlich ausreichend fressen. „Die geschwächten Tiere sind zudem auch anfälliger für Krankheitserreger, was die Sache noch verschlimmert.“
Imker sollten rechtzeitig reagieren
Für Imker hat Victoria Seeburger die Empfehlung, Honigtau mit einem hohen Gehalt an Melezitose zu vermeiden: „Sie sollten ihre Kolonien aus den Wäldern entfernen, wenn die Umweltbedingungen die Melezitoseproduktion begünstigen.“ Dies sei beispielsweise bei Honigtau der von Imkern gefürchteten großen schwarzen Fichtenrindenlaus der Fall.
Aber auch im Winter kann es zu Problemen kommen: „Bienen sind sehr saubere Tiere, die nur außerhalb des Stockes abkoten. Wenn sie im Winter den Stock nicht verlassen, kann sich die Melezitose im Darm anreichern.“ Deswegen sollten mit Melezitosehonig gefüllte Waben möglichst aus den Stöcken entfernt werden, so dass sie den Tieren nicht mehr als – kaum zu verdauendes – Futter zur Verfügung stehen.
Eine Gefahr für Menschen sieht Seeburger übrigens nicht, auch wenn es dazu keine Untersuchungen gibt: „Flüssiger Waldhonig hat nur einen niedrigen Melezitosegehalt und mit diesen geringen Mengen sollte das menschliche Verdauungssystem gut klarkommen.“
Aktuelle Publikation und Projektförderung:
Seeburger VC, D’Alvise P, Shaaban B, Schweikert K, Lohaus G, Schroeder A, Hasselmann, Martin (2020) The trisaccharide melezitose impacts honey bees and their intestinal microbiota. PLoS ONE 15(4): e0230871. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0230871
Die Förderung des Vorhabens erfolgt aus Mitteln des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages. Die Projektträgerschaft erfolgt über die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) im Rahmen des Programms zur Innovationsförderung.

27.05.2020, Universität Wien
Das evolutionäre Rätsel des Säugetierohrs
Wie konnte sich das Ohr der Säugetiere – mit seinen kleinsten Knöchelchen des Skelettes – an die unterschiedlichsten Funktions- und Umweltbedingungen am Land, im Wasser und an der Luft anpassen? Dieses Rätsel versuchen Evolutionsbiolog*innen um Philipp Mitteröcker von der Universität Wien zu lösen. Ihr Fazit: Die Integration der Knochen des ursprünglichen Kiefergelenks in das Ohr der Säugetiere hat die evolutionäre Freiheit für eine unabhängige Anpassung des Ohres erst möglich gemacht.
Das Ohr der Wirbeltiere ist eine außergewöhnliche Struktur. Eng eingekapselt in den dichtesten Knochen des Skeletts, umfasst es die kleinsten Knochen – die Gehörknöchelchen – und ist Ursprung des Gehör- und Gleichgewichtssinns. Es ist auch an der Aufrechterhaltung von Kopf- und Körperhaltung sowie der Blickstabilisierung bei Kopfbewegungen beteiligt. Nirgendwo sonst im Wirbeltierskelett sind so verschiedene funktionelle Einheiten derart eng aneinandergereiht, was eine unabhängige Evolution der einzelnen Ohrkomponenten erschwert.
Erschwerte evolutionäre Bedingungen
Auch das Wachstumsmuster des Ohrs weicht von dem des restlichen Skeletts ab: Bei Menschen und anderen Säugetieren erreichen das Innen- und Mittelohr bereits vor oder sehr früh nach der Geburt ihre endgültige Größe. Dies erschwert zusätzlich die evolutionäre Veränderung des Ohres, da die nachgeburtliche Entwicklung wesentlich zu den Unterschieden zwischen vielen Säugetierarten beiträgt.
Dies alles macht es rätselhaft, wie Säugetiere in der Lage waren, als vorwiegend nachtaktive und auf das Hören angewiesene Gruppe eine so große Vielfalt von ökologischen Nischen im Wasser, an Land, unter der Erde und in der Luft zu besiedeln. Denn diese verschiedenen Lebensweisen benötigen nicht nur Anpassungen der Hörfähigkeiten, sondern auch eine erstaunliche Diversität der Fortbewegung und Körperhaltung. Wie konnten sich die verschiedenen, eng miteinander verbundenen Teile des Ohrs unabhängig voneinander an diese unterschiedlichen Funktions- und Umweltbedingungen anpassen?
Transformation des Kiefergelenks in das Ohr
Trotz seiner ähnlichen Funktion besteht das Ohr bei Säugetieren, Vögeln und Reptilien aus verschiedenen Knochenelementen. Bei Vögeln und Reptilien besteht der Unterkiefer und dessen Gelenk aus mehreren Knochen und lediglich ein einziges Gehörknöchelchen überträgt den Schall. Im Gegensatz dazu haben heute lebende Säugetiere drei Gehörknöchelchen – Hammer, Amboss und Steigbügel – und einen Knochen (Ectotympanon), der das Trommelfell trägt, die alle vom Kiefer getrennt sind. „Diese evolutionäre Transformation des ursprünglichen Kiefergelenks in die Gehörknöchelchen von Säugetieren ist einer der herausragendsten Schritte der Wirbeltierevolution. Warum diese komplexe Veränderung stattgefunden hat, ist weitgehend unklar“, so Philipp Mitteröcker vom Department für Evolutionsbiologie der Universität Wien.
Fähigkeit zur adaptiven Evolution
Mitteröcker und eine Gruppe von Forscher*innen der Universität Wien und des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung suchten eine Erklärung für dieses evolutionäre Rätsel. Ihre Hypothese: Die Integration der Knochen des ursprünglichen Kiefergelenks in das Ohr der Säugetiere hat – zusätzlich zur direkten Verbesserung von Kauen und Hören – auch die „Evolvierbarkeit“ (die Fähigkeit zur adaptiven Evolution) des Ohrs und die damit verbundenen sensorischen Funktionen erhöht. Damit steigerte sich die Zahl der genetischen und entwicklungsbedingten „Knöpfe“, an denen die natürliche Selektion „drehen“ kann, und in Folge auch die evolutionäre Freiheit für eine unabhängige Anpassung der verschiedenen Komponenten des Ohrs. „Nur so konnte die erfolgreiche Anpassung der Säugetiere an die zahlreichen ökologischen Nischen gelingen. Säugetiere entwickelten im Vergleich zu Vögeln tatsächlich eine viel größere morphologische und funktionelle Vielfalt und sogar evolutionäre Neuheiten – und dies, obwohl Vögel in ihrer Artenzahl vielfältiger sind als Säugetiere „, schließt Philipp Mitteröcker.
Publikation in Evolutionary Biology
Anne Le Maître, Nicole D.S. Grunstra, Cathrin Pfaff, Philipp Mitteroecker
„Evolution of the mammalian ear: An evolvability hypothesis“
DOI: https://doi.org/10.1007/s11692-020-09502-0

27.05.2020, Veterinärmedizinische Universität Wien
Die Tribute von Tanimbar: Kakadus konkurrieren gegeneinander in einer „Innovation Arena“
WissenschafterInnen der Vetmeduni Vienna und des Indonesischen Instituts der Wissenschaften (LIPI) entwickelten einen neuen Ansatz, um die Innovationsfähigkeit zu vergleichen. Wer schneidet besser ab: Wilde oder vom Menschen gehaltene Papageien?
Zu den wichtigsten Zutaten des Rezepts von Mutter Natur für die evolutionäre Entwicklung der Intelligenz zählen Komplexitäten in der sozialen und physischen Umgebung eines Tieres, die nicht einfach durch spezialisierte Anpassungen wie z. B. eine besonders lange Zunge oder einen starken Schnabel überwunden werden können. Um in einer komplexen unvorhersehbaren Umgebung zu überleben, müssen Tiere in der Lage sein, auf jede Art von Situation zu reagieren, indem sie zu erfinderischeren Problemlöser werden. Die Innovationsrate wird daher allgemein als wichtige Kennzahl für die Intelligenz von Tieren angesehen.
Nun haben ForscherInnen der Veterinärmedizinischen Universität in Wien und des Indonesischen Instituts der Wissenschaften (LIPI) einen neuen Ansatz zur direkten Untersuchung der Innovationsrate bei Tieren entwickelt, indem sie die Tiere einzeln in einer sogenannten „Innovation Arena“ gegeneinander antreten ließen. Hier treffen einzelne Vögel aus verschiedenen Gruppen auf eine halbkreisförmige Arena bestehend aus einer Auswahl von 20 verschiedenen „Puzzle-Boxen“, für die jeweils unterschiedliche Aktionen erforderlich sind, um Zugang zu einer leckeren Futterbelohnung zu erhalten. Jeder Tierkandidat hat eine begrenzte Zeit, um so viele Belohnungen wie möglich zu ergattern, bevor er die Arena verlassen muss. Wenn das Tier beim nächsten Mal die frisch beköderte Arena betritt, findet es dieselben Aufgaben in einer anderen Reihenfolge angeordnet vor. Diese Prozedur wird fortgesetzt, bis ein Teilnehmer entweder alle oder keine neuen Lösungen mehr findet. Auf diese Weise können die ForscherInnen nicht nur die beiden konkurrierenden „Teams“ bezüglich ihrer Innovationsrate zeitabhängig vergleichen, indem sie untersuchen, wie viele Aufgaben die Tiere in mehreren Testläufen entdecken, sondern auch aufgaben- oder ortsspezifische Präferenzen untersuchen.
Die „Innovation Arena“ wurde nun erstmals genutzt, um den sogenannten „Haltungseffekt“auf die tierische Intelligenz bei Kakadus zu untersuchen. Der Haltungseffekt setzt aufgrund der Nähe zum Menschen und einer weitgehend künstlichen Umgebung eine höhere Innovationsfähigkeit bei langfristig in Gefangenschaft gehaltenen Tieren im Gegensatz zu ihren wilden Artgenossen voraus. Bei dem Goffinkakadu handelt es sich um eine Papageienart, die sich in ihren technischen Fähigkeiten zur Problemlösung bereits als äußerst intelligent und geschickt erwiesen hat und sogar in der Lage ist, eigene Werkzeuge herzustellen, um Lebensmittel in Reichweite zu bringen.
Die meisten Studien zu dieser Vogelart wurden jedoch an in Europa gezüchteten Tieren durchgeführt, während der Goffinkakadu ursprünglich auf den kleinen zu den Molukken zugehörigen Tanimbar-Inseln Indonesiens endemisch ist.
Die ForscherInnen ließen nun Wildvögel aus Tanimbar und in Volierenhaltung lebende Vögel aus Österreich in einem Fernkampf in der „Innovation Arena“ gegeneinander antreten. „Wir haben festgestellt, dass einzelne Vögel entweder sehr eifrig mit den Puzzle-Boxen interagieren und die Probleme lösen wollten oder dies nur ungern taten“, so Berenika Mioduszewska, die die Wildvögel in Indonesien im Goffin Lab Tanimbar testete. „Obwohl keiner der Vögel Angst vor dem Aufbau hatte, zeigten weniger wilde als gefangen gehaltene Vögel Interesse an einer Interaktion mit der Arena. Allerdings entdeckten die Wildvögel die schon zur Teilnahme motiviert waren Lösungen im gleichen Tempo wie die langjährig in Gefangenschaft gehaltenen Spieler und lösten letztendlich die meisten Aufgaben in der Arena.“
„Für uns WissenschaftlerInnen bedeutet dies letztendlich, dass der Unterschied zwischen Team ‚Wild‘ und Team ‚Zahm‘ in diesem Experiment eher in der Motivation als in der kognitiven Gesamtfähigkeit zur Lösung der Probleme besteht, die in beiden Gruppen ähnlich zu sein scheinen. Mit anderen Worten: die Wildvögel können sich perfekt mit den in Gefangenschaft gehaltenen Vögeln messen – wenn sie nur wollen“, erklärt Alice Auersperg, Leiterin des Goffin Lab Goldegg in Österreich. Die ForscherInnen vermuten, dass bezüglich technischer Innovationen eine natürliche Situation wie eine tropische Insel mit ihren vielen unvorhersehbaren und saisonalen Ressourcen letztendlich wesentlich kognitiv herausfordernder sein sollte als die langfristige Nähe zum Menschen.
„Interessanterweise zeigten die beiden Gruppen auch Parallelen in Bezug darauf welche Arten von Aufgaben sie leichter oder schwieriger fanden“, fährt Theresa Rößler, die die Vögel in Österreich testete, fort. „Zum Beispiel schienen beide Gruppen Probleme mit einigen Aufgaben zu haben, die mehrere sich wiederholende Aktionen erforderten, wie z. B. das Durchbeißen von Toilettenpapier oder das Drehen einer Mühle, aber nicht mit anderen, wie z. B. das Drehen einer flachen Scheibe bei einer Aufgabe mit DJ-ähnlichen Bewegungen. Bei einer der 20 Aufgaben stellten wir jedoch einen Unterschied fest: die in Gefangenschaft gehaltenen Vögel übertrafen die Wildvögel bei der „Knopf-Aufgabe“, bei der die Tiere einen Bolzen stumpf drücken mussten, um die Belohnung von einer Plattform zu stoßen. Wir glauben, dass dieser Unterschied durch frühere Erfahrungen der in Gefangenschaft gehaltenen Vögeln erklärt werden kann, da diese an Studien teilgenommen haben, in denen sie Stöcke als Sondierungswerkzeuge verwenden mussten. Dies zeigt, wie wichtig es ist, eine Vielzahl von Aufgaben zu verwenden, wie es in der Arena der Fall war, um verschiedene Gruppen zu vergleichen, da die Ergebnisse einer einzelnen Aufgabe dazu führen könnten, dass die ForscherInnen zu falschen Schlussfolgerungen über die Unterschiede gelangen, die sie untersuchen“, fügt sie hinzu.
Das Team plant nun, die Konkurrenz für die klugen Vögel zu verschärfen, indem verschiedene entfernt verwandte aber großhirnige Tiere wie z. B. Rabenvögel, Primaten oder sogar Kindergartenkinder in derselben Arena getestet werden.
Die Studie „Using an Innovation Arena to compare wild-caught and laboratory Goffin’s cockatoos“ von Theresa Rößler, Berenika Mioduszewska, Mark O’Hara, Ludwig Huber, Dewi Prawiradilaga und Alice Auersperg wurde im Fachjournal „Scientific Reports“ veröffentlicht. https://www.nature.com/articles/s41598-020-65223-6?utm_source=other&utm_medium=other&utm_content=null&utm_campaign=JRCN_2_LW01_CN_SCIREP_article_paid_XMOL

27.05.2020, Stiftung Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig, Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere
Schutzmaßnahmen für die Warane Mikronesiens fordern und Ausrottungspläne ad acta legen
Zwei neu entdeckte Waranarten der mikronesischen Inselwelt sind ursprünglich einheimisch und wurden nicht aus anderen Regionen eingeführt. Derzeitige Ausrottungspläne auf der Basis falscher Annahmen müssen daher überdacht werden.
Mikronesische Warane: Einheimisch oder eingeführt?
Warane gehören zu den größten Reptilien. Ungefähr 80 Waranarten bewohnen von Afrika über Süd- und Südostasien bis nach Osten auf vielen der pazifischen Inseln die verschiedensten Ökosysteme von Wüsten bis hin zu Regenwäldern. Eine Gruppe, die Pazifik-Warane, war auf vielen abgelegenen Inseln des südwestlichen Pazifiks besonders erfolgreich. Es wird jedoch allgemein angenommen, dass diese am Rande Ihres Verbreitungsgebietes vorkommenden Waranpopulationen in der Vergangenheit absichtlich von Menschen eingeführt wurden. Daher werden sie vielerorts als invasive Schädlinge angesehen, die möglicherweise einheimische Tierarten dieser Inseln sowie Nutzgeflügel gefährden.
Eine neue Studie in der Zeitschrift Royal Society Open Science löst nun diese seit langer Zeit bestehende Frage, die praktische Konsequenzen für die Erhaltung dieser pazifischen Warane hat. Ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Dr. Valter Weijola von der Universität Turku (Finnland) und unter Mitwirken von Dr. André Koch vom Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn stellte fest, dass die Warane von Palau, den westlichen Karolinen und den Marianen zwei getrennte und endemische Arten darstellen, die am engsten miteinander verwandt sind. Ihre nächsten Verwandten sind zwei Arten aus den nördlichen Molukken und den Talaud-Inseln in Ost-Indonesien, was darauf hindeutet, dass die Besiedlung Mikronesiens aus dieser Region stattgefunden hat und vermutlich durch Meeresströmungen begünstigt wurde. Warane sind gute Schwimmer.
Eine neue Art und eine „wiederbelebte“ alte Art
Nachdem die mikronesischen Warane als eigenständige Arten erkannt worden waren, benötigten sie eindeutige wissenschaftliche Namen. Die Populationen auf den Marianen wurden bereits 1929 von Kyukichi Kishida, einem japanischen Entomologen, beschrieben, der sie Varanus tsukamotoi nannte, um seinen Kollegen Iwasaburo Tsukamoto zu ehren. V. tsukamotoi wurde lange Zeit jedoch als Synonym für den weit verbreiteten Pazifik-Waran (Varanus indicus) angesehen, da der ursprünglichen Beschreibung eine detaillierte Diagnose und ein Vergleich mit eng verwandten Arten fehlten. Basierend auf einer breiteren morphologischen Stichprobe und unterstützt durch einen molekularen Datensatz über die gesamte Gruppe der pazifischen Warane wurde der Name V. tsukamotoi nun für die Warane der Marianen revalidiert, das heißt „wiederbelebt“.
Die Warane von Palau, den Westlichen Karolinen und der Insel Sarigan wurden neu beschrieben und Varanus bennetti genannt. Der Hauptautor Valter Weijola erklärt die Benennung wie folgt: „Wir haben die neue Art unserem verstorbenen Freund und Kollegen Daniel Bennett gewidmet, um sein langjähriges Engagement für die Untersuchung und Erhaltung von Waranen in Afrika und Südostasien zu würdigen.“ Daniel Bennett (1966-2020) verbrachte den größten Teil seines Lebens damit, Warane zu erforschen und zu schützen. Er machte umfangreiche Feldstudien in Ghana sowie auf den Philippinen und hatte eine wichtige Rolle in der Waran-Expertengruppe (Monitor Lizard Specialist Group, MLSG) innerhalb der Weltnaturschutzorganisation IUCN. Dr. Koch ist Co-Vorsitzender der MLSG.
Schutzmaßnahmen anstatt Ausrottungspläne!
Aufgrund der historischen Vermutung, dass die Warane Mikronesiens nicht einheimisch seien und aufgrund ihrer Rolle als potentielle Bedrohung von Nutzgeflügel und endemischen Tierarten, wurden diese Reptilien von der einheimischen Bevölkerung häufig als entbehrliche Schädlinge angesehen. Daher wurden in der Vergangenheit einige Versuche unternommen, die Anzahl der Warane auf einzelnen Inseln auszurotten oder zumindest zu kontrollieren. Einige der mikronesischen Inseln östlich von Palau haben tatsächlich nicht einheimische Waranpopulationen, die wahrscheinlich im letzten Jahrhundert von Kolonialregierungen eingeführt wurden. „Unsere neue Erkenntnis, dass die Warane in weiten Teilen Mikronesiens jedoch endemisch sind, spricht für Vorsicht, wenn Ausrottungspläne in Betracht gezogen werden, um sicherzustellen, dass Populationen, die entfernt werden sollen, tatsächlich eingeführt wurden und nicht einheimisch sind. Die Erhaltung gesunder Populationen dieser Top-Räuber muss in Zukunft Priorität haben.“, erklärt André Koch. Warane sind wichtige Beutegreifer auf vielen pazifischen Inseln, da es dort keine anderen Raubtiere gibt.
Publikation:
Weijola, V., V. Vahtera, A. Koch, A. Schmitz & F. Kraus (2020). Taxonomy of Micronesian monitors (Reptilia: Squamata: Varanus): endemic status of new species argues for caution in pursuing eradication plans. Royal Society open Science, 7(5): 200092.
http://dx.doi.org/10.1098/rsos.200092

27.05.2020, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Schimpansen-Weibchen tragen zum Schutz des Territoriums bei
Beim Menschen scheinen Kriegsführung und Territorialverhalten den Männern vorbehalten zu sein. Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig konnte nun belegen, dass das bei Schimpansen nur bedingt der Fall ist: Weibchen und andere Gruppenmitglieder spielen im Wettbewerb mit anderen Gruppen eine wichtigere Rolle als bisher angenommen. Erwachsene Männchen werden vor allem bei der Gebietsvergrößerung aktiv; zur Gebietserhaltung und zu Wettbewerbsvorteilen anderen Gruppen gegenüber tragen alle Gruppenmitglieder bei. Das ergaben ausgiebige Untersuchungen mehrerer benachbarter Schimpansengruppen im Taï Nationalpark (Elfenbeinküste).
Obwohl größere Gruppen kleineren Nachbargruppen gegenüber reale Wettbewerbsvorteile haben, ging man bei vielen sozialen Tierarten – einschließlich des Menschen – bisher davon aus, dass erwachsene Männchen bei der Territorialität eine maßgebliche Rolle spielen. Diese möglicherweise durch eine anthropozentrische Perspektive verzerrte Wahrnehmung, stellen Forschende des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig nun im Rahmen einer neuen Studie differenzierter dar.
Bei Schimpansen, die zu unseren nächsten lebenden Verwandten und neben dem Menschen zu einer der territorialsten Primatenarten zählen, beteiligen sich die Männchen aktiv an Konflikten zwischen Gruppen und verhalten sich territorial, während die Weibchen sich aus diesen „Männerangelegenheiten“ größtenteils heraushalten. Dieses Muster scheint auf die meisten Schimpansenpopulationen in Ostafrika zuzutreffen. Frühere Befunde bei Schimpansen aus dem Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste in Westafrika ließen jedoch bereits vermuten, dass Weibchen bei der Territorialität eine wichtigere Rolle spielen als bisher angenommen. Doch bisher blieb unklar, wie es um die Verteidigung des Territoriums vor dem Hintergrund variabler Sozialsysteme bei Schimpansen bestellt war.
„Um die Mechanismen zu entschlüsseln, die Gruppenkonkurrenz und -dominanz bei sozialen Arten steuern, benötigen wir Langzeitdaten von mehreren Gruppen innerhalb einer Population“, sagt Sylvain Lemoine, Erstautor einer neuen Studie, die diese Mechanismen bei westafrikanischen Schimpansen untersucht. Daten zu vier benachbarten Schimpansengemeinschaften westafrikanischer Schimpansen, die die Wissenschaftler im Rahmen des Taï Chimpanzee Project (TCP) in mehr als 20 Jahren zusammengetragen haben, und Informationen über Verbreitungsmuster und Begegnungen zwischen den Gruppen, ergaben: Die Gruppengröße erklärt Unterschiede hinsichtlich Kosten und Nutzen im Wettstreit zwischen den Gruppen besser als die Anzahl erwachsener Männchen in einer bestimmten Gruppe.
Vorteile für größere Gruppen
Obwohl die Zunahme der Anzahl erwachsener Männchen in einer Gruppe meist eine Gebietsvergrößerung nach sich zieht, gewinnen größere Gruppen – darunter Weibchen, jugendliche Tiere und Jungtiere – Vorteile gegenüber kleineren Gemeinschaften. Dies geschieht indem sie den Zugang zu größeren Gebieten aufrechterhalten und weniger unter dem Nachbarschaftsdruck leiden. Größere und sicherere Futtergebiete könnten dann einzelnen Tiere Vorteile bei der Fortpflanzung und Aufzucht des Nachwuchses verschaffen.
„Von den Taï-Schimpansen wissen wir, dass Männchen und Weibchen sehr gesellig miteinander umgehen und es starke soziale Bindungen und eine ausgeprägte Zusammenarbeit zwischen den Tieren gibt“, sagt Roman Wittig, einer der beiden Senior-Autoren der Studie und Direktor des TCP. In dieser Population, die als „bisexuell gebunden“ qualifiziert wird, bewohnen Männchen und Weibchen derselben Gemeinschaft ein ähnliches Territorium, anstatt getrennt voneinander ihren jeweils eigenen, miteinander überlappenden, Lebensraum zu nutzen. Beide Geschlechter beteiligen sich in Form von „Grenzpatrouillen“ am Schutz ihres Heimatgebiets und tragen Territorialkonflikte mit feindlichen Nachbarn aus. Gruppierungs- und Sozialisierungsmuster können also möglicherweise erklären, warum die Gruppengröße – und nicht nur die Anzahl der Männchen – für die Konkurrenzfähigkeit dieser Schimpansenpopulation entscheidend ist.
Weniger Tötungen
„Erwachsene Männchen spielen vor allem bei der Vergrößerung des Territoriums eine Rolle. Die Bewahrung des Territoriums, die Dominanz über und das Zurückdrängen benachbarter Gruppen hingegen, erfordern auch den Einsatz von Weibchen und anderen Gruppenmitgliedern“, fügt Sylvain Lemoine hinzu. Diese Befunde können teilweise erklären, warum es in dieser Population im Vergleich zu ostafrikanischen Schimpansen, wesentlich seltener zu Tötungen von Schimpansen aus anderen Gruppen kommt: Wenn zwei gegnerische Gruppen miteinander im Wettstreit stehen und alle Gruppenmitglieder an der Auseinandersetzung beteiligt sind, verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ungleichgewicht der Machtverhältnisse entsteht. Damit verringern sich auch die Möglichkeiten, einen Nachbarn zu töten, ohne dabei selbst ein großes Risiko einzugehen.
Catherine Crockford, die andere Senior-Autorin der Studie, ergänzt: „Wir sammeln gerade überzeugende Belege dafür, dass die Zusammenarbeit zwischen nicht verwandten Tieren sowie zwischen Männchen und Weibchen – aufgrund des Wettstreits zwischen benachbarten Gruppen – möglicherweise unter Selektion stand. Die Ergebnisse unserer Studie haben für unser Verständnis der Evolution von Kooperation bei sozialen Arten und insbesondere beim Menschen eine große Bedeutung. Kontinuierliche und langfristige Forschungs- und Arterhaltungsbemühungen sind notwendig, wenn wir das Wechselspiel zwischen Konkurrenz und Kooperation bei dieser für die menschliche Evolution so symbolträchtigen Art verstehen wollen und wie dieses mit der Evolution unserer eigenen Art in Verbindung steht.“
Originalpublikation:
Sylvain Lemoine, Christophe Boesch, Anna Preis, Liran Samuni, Catherine Crockford and Roman M. Wittig
Group dominance increases territory size and reduces neighbour pressure in wild chimpanzees
Royal Society Open Science, 27 May 2020, https://doi.org/10.1098/rsos.200577

28.05.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Przewalski-Pferd: Bestand der Wildpferde nicht durch Inzucht gefährdet
Senckenberg-Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der Bestand des Przewalski-Pferds nicht durch Inzucht gefährdet ist. Genetische Untersuchungen zeigen, dass die seit 1992 ausgewilderten Wildpferde trotz des kleinen Zuchtbestandes keine verringerte genetische Variabilität aufweisen. Die Studie erschien kürzlich im Fachjournal „Mongolian Journal of Biological Sciences“.
Das Przewalski-Pferd (Equus ferus przewalskii) ist die letzte noch existierende Wildpferdart – allerdings gilt sie seit 1969 in freier Wildbahn als ausgestorben. Da die in Gefangenschaft lebenden Tiere weitergezüchtet werden konnten, ist die Art dennoch bis heute erhalten geblieben. „Der heutige Bestand geht auf lediglich zwölf Pferde zurück, die in Zoohaltung Nachwuchs zeugten – ein genetischer Flaschenhals, der das Risiko inzuchtbedingter Krankheiten birgt, etwa eine verringerte Widerstandsfähigkeit oder verkürzte Lebenserwartung“, erklärt Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Ansorge vom Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz und fährt fort: „Auswilderungsversuche der Przewalski-Pferde sind unter diesen Umständen eine Herausforderung: Nur mit einer hohen genetischen Variabilität kann eine Art auf Umweltveränderungen reagieren!“
1992 begannen die ersten erfolgreichen Versuche, das Przewalski-Pferd wieder in seiner Heimat, der mongolischen Steppe, anzusiedeln – heute leben dort zirka 746 Individuen wieder in freier Wildbahn. Ein internationales Team rund um Ansorge hat in den letzten Jahren die ausgewilderten Przewalski-Pferde und historisches Sammlungsmaterial morphologisch unter die Lupe genommen. Insgesamt 130 Schädel aus einem Zeitraum von 110 Jahren untersuchten die Forschenden. Aufschlüsse über die genetische Variabilität gab der Vergleich nichtmetrischer Merkmale. „Hierbei handelt es sich um definierte Ausprägungen am Schädel, deren Aussehen sich qualitativ differenzieren lässt“, erklärt Ansorge und ergänzt: „Dies können beispielsweise natürliche kleine Löcher sein, durch die Blutgefäße oder Nervenstränge gehen. Unterschiede in Aussehen und Symmetrie dieser Merkmale können uns so Rückschlüsse auf genetische Unterschiede geben.“
Die Untersuchungen zeigen, dass die ausgewilderten Populationen der Przewalski-Pferde anders als vermutet eine vergleichbar hohe genetische Vielfalt aufweisen. Erstautor der Studie und Leiter des Auswilderungsprojektes, Dorj Usukhjargal vom Hustai National Park in der Mongolei, zeigt sich von den Forschungsergebnissen überrascht: „Wir haben damit gerechnet, dass durch lange Phasen der Inzucht die Przewalski-Pferd-Populationen eventuell genetisch zu eng miteinander verwandt sind, um langfristig in der Wildnis überlebensfähig zu sein.“
Dass die Przewalski-Pferde nun doch größere Chancen haben, in freier Wildbahn zu überleben, erklärt sich Usukhjargal mit der bedachten Auswahl der Tiere: „Die Pferde, die für die Auswilderung bestimmt werden, müssen grundsätzlich gute genetische Voraussetzungen haben; hier wird bereits eine Vorauswahl getroffen. Hinzu kommt, dass auch die Zoos und Wildreservate in den letzten Jahrzenten mit einer strikten Zuchtbuchführung und Austauschprogrammen die genetische Vielfalt ihrer Bestände verbessert haben.“ Laut Studie werden somit keine Hinweise auf eine reduzierte Entwicklungsstabilität der ausgewilderten Przewalski-Pferde gefunden.
„Nachdem das Przewalski-Pferd vor 50 Jahren praktisch ausgestorben war, stehen die Chancen nun also besser als erwartet, dass diese letzte Wildpferdart auf Dauer bestehen kann“, schließt Ansorge.
Originalpublikation:
USUKHJARGAL, Dorj et al. Epigenetic Variability of the Highly Endangered Przewalski’s Horses in Temporal and Geographical Populations. Mongolian Journal of Biological Sciences, [S.l.], v. 18, n. 1, p. 31-40, mar. 2020. ISSN 2225-4994. https://www.biotaxa.org/mjbs/article/view/60628/60358

29.05.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Die Rückkehr der Luchse
In enger Zusammenarbeit haben Forscher*innen des Nationalparks Harz und des Senckenberg Forschungsinstituts und Naturmuseums Frankfurt die genetische Struktur der Harzluchse seit ihrer Auswilderung unter die Lupe genommen und mit anderen Vorkommen verglichen. Die Studie wurde nun in der internationalen Fachzeitschrift „Conservation Genetics“ veröffentlicht.
Neben dem standardmäßig durchgeführten Monitoring aus Kontrollen von Luchs-Beuteresten, Fotofallennachweisen und der Auswertung von Sichtungen wurden zwischen 2001 und 2016 im gesamten Vorkommensgebiet der sogenannten Harzpopulation 379 DNA-Proben gesammelt und im Labor für Wildtiergenetik der Senckenberg-Außenstelle im hessischen Gelnhausen analysiert. Mittels der vor allem anhand von Spurenmaterial, wie Haaren, Kot oder Speichel von gerissenen Beutetieren erhaltenen DNA-Profile ließen sich 105 Luchs-Individuen genetisch identifizieren.
„Ein besonderer Erfolg war dabei, wenn es gelang, einen Luchs zum Beispiel an einem gerissenen Reh mit der Fotofalle abzulichten und nach der Analyse der dort gesammelten Speichel- oder Haarprobe das genetische Profil desselben Tieres zur Verfügung zu haben. Durch die Zusammenführung von Foto- und DNA-Daten ließ sich so die Lebensgeschichten etlicher Tiere vervollständigen. Hierdurch haben wir nun ein viel deutlicheres Bild der Populationsentwicklung“, berichtet Ole Anders, Koordinator des Luchsprojektes beim Nationalpark Harz.
ie Harzpopulation ging vor 20 Jahren aus der Auswilderung von Luchsen aus Zoos und Wildparks hervor. Durch die Verwendung hochauflösender DNA-Methoden konnten die Forscher*innen die Nachkommen der ausgewilderten Harzluchse schon wenige Jahre nach Gründung der Population genetisch von Tieren aus Zoos oder anderen wildlebenden Populationen unterscheiden.
Die DNA-Proben wurden in einer Distanz von bis zu rund 160 Kilometern zum Harzrand gesammelt. Mit den Methoden des Standardmonitorings gelang es darüber hinaus sogar nachzuweisen, dass einzelne Männchen zwischen zwei Bestätigungen bis zu 280 Kilometer zurücklegten. Kritiker*innen des Harzer Luchsprojektes stellten anfangs infrage, ob es den Luchsen gelingen kann, den Harz zu verlassen und in andere Gebiete abzuwandern, da das Mittelgebirge von teils sehr waldarmen Landschaften umgeben ist. Die nun veröffentlichten Daten belegen aber ebensolche Wanderungen zweifelsfrei. Die für den langfristigen Erhalt der Art entscheidend wichtige Vernetzung mit anderen Populationen ist also auch in unserer zerschnittenen Kulturlandschaft prinzipiell möglich.
Erfreulich ist ferner, dass der Luchsbestand im Harz und seiner Umgebung weiter anwächst und sich dabei räumlich ausdehnt. Das Vorkommensgebiet der Harzpopulation umfasst heute mehr als 8.500 Quadratkilometer und berührt mehrere Bundesländer. Der genetisch rekonstruierte Stammbaum der Harzluchse belegt, dass sich von den 105 identifizierten Luchsen immerhin 25 mit Sicherheit fortgepflanzt haben. Hierbei handelt es sich in der Regel um gut etablierte Individuen. Forschungen in anderen Luchspopulationen bestätigen, dass sich darin meist nur eine relativ kleine Anzahl von Tieren erfolgreich vermehrt. Diese sind für den Fortbestand der Population von entscheidender Bedeutung.
Trotz der Ausbreitung der Tiere nimmt die verglichen mit anderen wiederangesiedelten Populationen derzeit noch vergleichsweise hohe genetische Vielfalt durch die nach wie vor bestehende Isolation des Bestandes von Generation zu Generation ab. „Wir haben zu diesem Zeitpunkt erfreulicherweise mit der Harzpopulation ein sehr vitales Vorkommen dieser bedrohten Wildtierart mitten in Deutschland, das sich offensichtlich ausbreitet, sagt Tobias Reiners, Senckenberg-Forscher und Mitautor der Studie. „Dennoch belegen unsere Ergebnisse, dass wir langfristig unbedingt eine Vernetzung mit anderen Luchsvorkommen benötigen, um die genetische Vielfalt der Population zu erhalten und Inzucht vorzubeugen“. Einen Grund, sich auf dem Erreichten auszuruhen, gibt es also nicht. Die intensiven Bemühungen um einen langfristigen Erhalt dieser faszinierenden Wildtierart in Deutschland müssen weitergehen.
Ein in diesem Zusammenhang spektakulärer Befund gelang jüngst im Rhein-Main-Gebiet: Ein Anfang des Jahres in der Umgebung des Wildparks Alte Fasanerie in Hanau gesichteter Luchs erwies sich nach der Analyse genetischer Proben als Harzluchs. Das Tier war also kein Tierparkflüchtling, wie zuerst angenommen, sondern hat die Strecke von gut 200 Kilometer Luftlinie eigenständig zurückgelegt. Der Wildpark Alte Fasanerie hatte vor zwei Jahrzehnten eine der ersten weiblichen Luchse für die Auswilderung im Harz zur Verfügung gestellt. Das jetzt aufgetauchte Luchsmännchen kannte diesen Zusammenhang vermutlich nicht, versuchte aber dennoch mit den Luchsweibchen im Gehege anzubändeln, denn wildlebende Geschlechtspartnerinnen dürften so weit entfernt von der Harzer Quellpopulation kaum zu finden sein. Nach zwanzig Jahren fand also ein Nachkomme der Auswilderungstiere quasi zu seinen Ursprüngen zurück. „Mit dem Ende der Paarungszeit hat das Männchen sein Interesse an den Artgenossinnen hinter dem Zaun allerdings wieder verloren und es ist vorerst Ruhe eingekehrt im Wildpark“, schließt Anders.
Originalpublikation:
Mueller, S.A., Reiners, T.E., Middelhoff, T.L. et al. The rise of a large carnivore population in Central Europe: genetic evaluation of lynx reintroduction in the Harz Mountains. Conserv Genet 21, 577–587 (2020). https://doi.org/10.1007/s10592-020-01270-w

02.06.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
“Dead Urchin Walking“ am Meeresboden

Senckenberg-Wissenschaftler Max Wisshak hat gemeinsam mit seinem Kollegen Christian Neumann vom Museum für Naturkunde in Berlin den Überlebenskampf eines Seeigels am Meeresgrund vor Spitzbergen dokumentiert. In ihrer kürzlich im Fachjournal „Polar Biology“ erschienen Studie zeigen sie, dass der Meeresbewohner aus der Gattung Strongylocentrotus trotz schwerer Verletzungen – mehr als ein Drittel seines Panzers und wichtige Organe fehlten – sich noch mindestens 43 Stunden weiter über den Meeresboden bewegte und dabei sogar dem Angriff einer großen Krabbe auswich. Der Fall dokumentiert das hohe Regenerationsvermögen der Seeigel, dass im Laufe ihrer Evolution aufgebaut wurde.
Stachelhäuter, zu denen unter anderem Seeigel, Seesterne und Seegurken gehören, haben ein gutes Regenerationsvermögen: Seesterne können beispielsweise ganze Arme ersetzen und in besonderen Fällen sogar aus einem einzigen Arm weitere Arme nachwachsen lassen. „Zu den Selbstheilungskräften von Seesternen gibt es schon einige Studien, ob Seeigel ebenfalls über solche Fähigkeiten verfügen, wurde bislang aber kaum erforscht“, erläutert Dr. Max Wisshak von Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven und fährt fort: „Anhand einer Reihe von Fotoaufnahmen vom Meeresboden vor Spitzbergen konnten wir nun die Widerstandsfähigkeit eines dieser Tiere in seinem natürlichen Umfeld direkt beobachten.“
Die spektakulären Aufnahmen entstanden 2016 während einer Expedition mit dem Forschungsschiff Maria S. Merian nach Spitzbergen, bei der eine Experimentplattform mit Messgeräten und einem automatischem Kamerasystem für eine Woche auf dem Meeresgrund platziert wurde. Dabei kam auch der Seeigelprotagonist ins Blickfeld: Ein etwa 38 Millimeter großer Seeigel aus der Gattung Strongylocentrotus. „Trotz eines großen Lochs im schützenden Panzer, an dessen Stelle eigentlich seine Sexualorgane, sein After und weitere wichtige Organe liegen sollte, konnten wir beobachten, wie sich der kleine Meeresbewohner 43 Stunden und 20 Minuten auf dem Meeresboden weiterbewegte. Sogar einem Angriff einer großen Krabbe konnte der Seeigel noch ausweichen!“, erzählt der Wilhelmshavener Geobiologe.
Der Grund, warum der kleine Seeigel trotz seiner tödlich aussehende Wunde so lang überlebte, liegt laut der Studie darin, dass Seeigel statt einem echten Gehirn ein dezentrales Nervensystem haben, dass auch im Fall von schweren Verletzungen weiter funktioniert.
Wie der Seeigel zu seinen Beschädigungen kam ist unklar. Die Tiere stehen unter anderem auf dem Speiseplan von Fischen und großen Krebsen, die den Panzer des Seeigels aufbrechen können und sich die weichen Organe einverleiben. „Eine natürliche Verletzung ist daher gut möglich. Leider können wir aber auch nicht ausschließen, dass wir selbst den Stachelhäuter beim Herablassen unserer Forschungsgeräte verletzt haben“, so Wisshak. Sollte Letzteres der Fall sein, wäre der Seeigel sogar bereits 4 Tage in seinem Zustand gewesen bevor er in das Blickfeld der Kamera gelangte.
Offen bleibt auch, ob der Meeresgrundbewohner überlebte, nachdem die Aufnahmen beendet wurden. „Von fossilen Seeigeln kennen wir zum Teil beträchtliche Brüche in den Schalen, die anschließend wieder komplett verheilt sind. Wir glauben daher, dass Seeigel – wie ihre Verwandte, die Seesterne – hohe Regenerationsfähigkeiten haben und gehen davon aus, dass die Selbstheilung ein Teil ihrer Evolution ist, um als Beutetier bessere Überlebenschancen zu haben“, schließt Wisshak.
Originalpublikation:
Wisshak, M., Neumann, C. (2020) Dead urchin walking: resilience of an arctic Strongylocentrotus to severe skeletal damage. Polar Biol 43, 391–396. https://doi.org/10.1007/s00300-020-02634-1

04.06.2020, NABU
So viele Vogelzähler wie noch nie zuvor bei der Stunde der Gartenvögel
Vom Blaumeisensterben möglicherweise auch Rotkehlchen und Goldammer betroffen
Bei der diesjährigen „Stunde der Gartenvögel“, die vom 8. bis 10. Mai stattfand, wurde der bisherige Teilnehmerrekord der Aktion aus dem Vorjahr mehr als verdoppelt. „Über 161.000 Menschen haben Zählergebnisse von 108.000 Gärten, Parks oder von Balkons und Fenstern übermittelt. 2019 hatten 76.000 Leute mitgemacht“, freut sich NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller. „Sicherlich hat der Corona-Shutdown zu einem verstärkten Interesse für die Natur vor der Haustür und damit zu den hohen Mitmach-Zahlen geführt. Wir wünschen uns, dass die vielen Erst-Teilnehmer auch in Zukunft wieder mitzählen und wir noch mehr Menschen für den Schutz der Natur in unserem unmittelbaren Lebensumfeld begeistern können.“
Besonders im Fokus stand die Blaumeise. Im März und April wurden auffällig viele an Krankheit verstorbene Vögel dieser Art gemeldet. Über ein Online-Formular sammelt der NABU diese Hinweise. Bis heute gingen darüber bundesweit über 21.000 Meldungen mit knapp 40.000 betroffenen Vögeln ein. Das vogelspezifische Bakterium Suttonella ornithocola konnte als Auslöser dieser Epidemie identifiziert werden.
„Bundesweit betrachtet sind 22 Prozent weniger Blaumeisen pro Garten gemeldet worden“, berichtet Lars Lachmann, Leiter des Bereichs Vogelschutz beim NABU, „Statt 2,16 Blaumeisen pro Meldung sind es in diesem Jahr nur noch 1,66 – mit Abstand der niedrigste Wert seit Beginn der Zählungen im Jahr 2005.“
Um das Blaumeisensterben als Ursache des Rückgangs zu identifizieren, haben die Forscher für jeden Postleitzahlbereich die Veränderungen der Blaumeisenzahlen mit der Anzahl der Meldungen kranker Meisen korreliert. Es ergab sich ein eindeutiger Zusammenhang: „Je mehr Berichte toter Meisen, desto größer waren dort auch die Bestandsrückgänge“, so Lachmann, „In Gebieten ohne Totfundmeldungen gab es im Mittel auch keinen Rückgang. Wir können daher sicher davon ausgehen, dass das diesjährige Blaumeisensterben mindestens einen Teil des beobachteten Rückgangs erklärt.“ Auch bei Rotkehlchen und Goldammer konnte der gleiche Zusammenhang festgestellt werden. Beide Arten tauchen auch in den an den NABU übermittelten Epidemie-Meldungen vermehrt auf, während ein Labornachweis des Bakteriums bei diesen Arten noch aussteht.
Es bleibe die Hoffnung, dass sich die überlebenden Blaumeisen zur jetzigen Brutzeit gut vermehrten, um die Verluste möglichst schnell wieder auszugleichen. „Vogel- und insektenfreundliche Gärten mit vielen Laubbäumen und Blütenpflanzen helfen ihnen dabei sehr“, so Lachmann.
Im Durchschnitt konnten die Teilnehmer der Aktion in diesem Jahr innerhalb einer Stunde gut 30 Vogelindividuen von elf verschiedenen Arten entdecken, bestimmen und melden. Insgesamt wurden 223 verschiedene Vogelarten gemeldet. Wie immer in den letzten Jahren war dabei der Haussperling mit 5,3 Vögeln pro Garten der am häufigsten gemeldete Gartenvogel, gefolgt von Amsel, Kohlmeise, Star, Feldsperling und Blaumeise. Deutschlands zuverlässigster Gartenvogel ist dagegen weiterhin die Amsel: Sie wurde in 94 Prozent aller Gärten innerhalb einer Stunde gesehen.
Große Verlierer dieses Jahres sind neben der Blaumeise auch der Star und – wie schon in den Vorjahren – der Grünfink. Auch beim kleinen Zaunkönig sinken die Zahlen konstant von Jahr zu Jahr. Zu den Gewinnern zählen vor allem Ringeltaube und Türkentaube, die beide ihr bisheriges Bestergebnis einfliegen. Auch bei Eichelhäher und Buntspecht ist kein Ende des zunehmenden Trends in Sicht.
Detaillierte Ergebnisse sind auf Bundes-, Landes- und Landkreisebene auf www.stundedergartenvoegel.de abrufbar und können mit vergangenen Jahren verglichen werden.

05.06.2020, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Hahnenköpfiger Schlangenfüßler ist ein „Multikulti“
Ein Hahnenkopf sitzt auf einem Menschenkörper und die Beine darunter bestehen aus Schlangen. Diese magische Gottheit ist ein eigenartiges Mischwesen, das sich durch die Geschichte der vergangenen fast 2000 Jahre zieht und in vielen Kulturen heimisch geworden ist. Der Ägyptologe Prof. Dr. Ludwig D. Morenz hat die antike Hybridgestalt untersucht und ein Buch dazu herausgegeben.
Die magische Gottheit ist ein echter „Multikulti“: Seine markante Bildgestalt mischt griechische, jüdische und altägyptische Elemente. Sein spezifischer Name war „IAO“, also die griechische Transposition des hebräischen Gottesnamens „JHWH“. In antiken Quellen ist als sein Beiname „Abrasax“ (so die griechische Form, lateinisch mit Buchstabendreher: Abraxas) besonders geläufig, weil sich nach der griechischen Buchstabenmystik daraus die Zahl 365 ableiten lässt. „Das entspricht der Zahl der Tage eines Jahres und ist ein Symbol für das Allumfassende“, sagt der Ägyptologe Prof. Dr. Ludwig D. Morenz von der Universität Bonn.
Der Forscher untersuchte antike Gemmen, auf denen der hahnenköpfige Schlangenfüßler prominent abgebildet ist. Bei „Gemmen“ handelt es sich um handliche, meist zwei bis fünf Zentimeter große geschnittene Steine, in denen Darstellungen eingraviert sind. „Die Anfänge der Gestalt gehen vermutlich auf das zweite Jahrhundert nach Christus zurück“, so Morenz. „Offenbar wird IAO eine Allmacht über Zeit und Raum zugeschrieben – wie einem Gott der Magie ohne allerdings wirklich eine geglaubte und verehrte Gottheit zu sein.“
Denn während Gottheiten wo irgend möglich mit prominenten Darstellungen „verewigt“ wurden, ist das Mischwesen zwar auf hunderten handlichen Gemmen überliefert, fehlt aber auf großflächigen Darstellungen in Tempeln und anderen Gebäuden, hatte keine Kultbilder. „Eine IAO-Abraxas-Gemme wurde offensichtlich als Amulett mitgeführt, um Böses und Krankheiten von den Menschen abzuwenden“, sagt der Ägyptologe. Die Menschen suchten offenbar bei einer personifizierten Allmacht Schutz. Dieses Ritual wich vom herkömmlichen Götterkult ab.
Beistand ohne Wenn und Aber
„Normalerweise muss sich der ins Dasein geworfene Mensch den Göttern fügen und deren Gebote beachten“, erläutert Morenz. Die Chimäre sei dagegen erschaffen worden, um dem Menschen ohne Wenn und Aber in Notsituationen Beistand zu leisten. „Deshalb versprachen sie sich davon eher göttliche Magie als einen herrschenden Gott.“ Auffällig ist auch die Verbindung von Bild und Schrift: Der griechische Gottesname „IAO“ (= hebräisch Jahwe) wird in der Mischgestalt durch formale Ähnlichkeit umgesetzt mit den Bildelementen Hahnenkopf (I), die menschliche Gestalt (A) und die Schlangenbeine (O). „Durch diese bildliche Umsetzung des Namens wird die Symbolik nochmals verstärkt“, sagt der Wissenschaftler, „weil die Bildelemente beim antiken Betrachter mythologische Vorstellungen erweckten“.
Gemmen mit dem magischen Mischwesen waren in der Antike weit verbreitet. Sie wurden in großem Stil hergestellt und gehandelt, zahlreiche Handwerker und Händler verdienten mit den Amuletten Geld. Während der Renaissance, als die kulturellen Leistungen der Antike wieder im Vordergrund standen, erfuhren auch die Gemmen eine Wiedergeburt, wenn auch teils als Fälschungen.
Als „Abraxas“ lebte die Chimäre sogar in Johann Wolfgang von Goethes „West-östlicher Divan“ wieder auf: „Doch Abraxas bring ich selten! Hier soll meist das Fratzenhafte, Das ein düstrer Wahnsinn schaffte, Für das Allerhöchste gelten. Sag‘ ich euch absurde Dinge, Denkt, dass ich Abraxas bringe.“ Über die Jahrhunderte wandelte sich der hahnenköpfige Schlangenfüßler vom magischen Helfer zum Dämon. „Ursprünglich steht das Mischwesen IAO aber für den menschlichen Wunsch nach Externalisierung von Ängsten, indem einer magischen Allmacht, die in Form von Symbolen und Metaphern dargestellt, die Lösung aller Probleme zugeschrieben wird“, sagt Morenz.
Die Studie entstand im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekt „Sinnüberschuss und Sinnreduktion von, durch und mit Objekten“, das sich mit der Krisenbewältigung innerhalb unterschiedlicher Kulturen befasst. Dazu gehören Rituale und Objekte, die eine schützende Wirkung entfalten sollten, genauso wie Handlungen, durch die Dinge zum materialisierten schlechten Omen wurden.
Originalpublikation:
Ludwig D. Morenz, Multikulturelle Magie und ihr alt-neuer Gott. Zur antiken Hybridgestalt des alectorocephalen Anguipeden, Hans-Bonnet-Studien zur Ägyptischen Religion, Band 4, EBVerlag, 112 Seiten, 17,80 Euro

Dieser Beitrag wurde unter Wissenschaft/Naturschutz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert