Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

28.01.2020, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Laufkäfer aus der Forschungssammlung des Berliner Naturkundemuseums reflektieren 125 Jahre Berliner Umweltbedingungen
Umweltveränderungen führen meist dazu, dass ursprüngliche Tier- und Pflanzengemeinschaften durch neue Artengemeinschaften ersetzt werden. Es gibt aber auch Arten die mit den Veränderungen zurechtkommen und bleiben. Dazu müssen sie sich an die neuen Bedingungen anpassen. Ein Team von Forscherinnen und Forschern vom Museum für Naturkunde Berlin konnte nun an einer Laufkäferart zeigen, dass sich die Lebensbedingungen für diesen Käfer über die letzten 125 Jahre in der Stadt zum Besseren geändert haben. Die Studie im Fachmagazin ‚Frontiers in Ecology and Evolution‘ zeigt auch exemplarisch, wie relevant naturkundliche Sammlungen für die Erforschung von Veränderungen über lange Zeiträume sind.
Menschen verändern die Umwelt permanent. Insbesondere Verstädterung und Landwirtschaft führten und führen zur Entstehung neuer Ökosysteme. Die Artenzusammensetzung in diesen unterscheiden sich oft fundamental von denen der ursprünglichen Lebensräume. Viele Arten verschwinden, neue wandern ein. Es gibt jedoch auch Arten die mit den Veränderungen zurechtkommen und an Ort und Stelle überdauern. Im Berlin-Brandenburgischen Institut für Biodiversitätsforschung (BBIB), einem Zusammenschluss von vier Universitäten und fünf Leibniz-Instituten, untersuchen Forscherinnen und Forscher verschiedenster Disziplinen die Biodiversität und Ökologie von Tieren und Pflanzen in Berlin und Brandenburg. Innerhalb dieses Forschungsverbundes hat es sich ein Team von Forscherinnen und Forschern des Museums für Naturkunde Berlin zur Aufgabe gemacht zu untersuchen, ob und wie sich Arten dieser Region in den letzten 125 Jahren an die Veränderungen angepasst haben. Hierfür nutzen sie insbesondere die Forschungssammlung des Museums für Naturkunde Berlin.
Für eine jetzt im Fachmagazin ‚Frontiers in Ecology and Evolution‘ veröffentlichte und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten Studie, wählten die Forscherinnen und Forscher des Naturkundemuseums eine auch heute noch im Berlin-Brandenburger Raum häufig anzutreffende Laufkäferart aus. Da Vergleiche des Verhaltes oder der Biologie rückwirkend nicht mehr möglich sind, suchten die Forscherinnen und Forscher Merkmale, die über die Lebensweise der Art Aufschluss geben könnten und an altem Sammlungsmaterial noch zuverlässig zu erfassen sind. Die untersuchte Art kann drei unterschiedliche Färbungen aufweisen: grün, bronzen oder gemischtfarbig. Diese Farben sind an präparierten Käfern, auch nach über 100 Jahren, unverändert zu erkennen. Insgesamt standen dem Team 660 Individuen, gesammelt zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Lebensräumen in Berlin und Brandenburg, zur Verfügung. Das älteste Tier kam im Jahr 1893 ins Museum für Naturkunde Berlin.
Die Autoren konnten zeigen, dass die meisten Tiere grün gefärbt sind. Lediglich Weibchen aus Berlin, die vor oder um den zweiten Weltkrieg gesammelt wurden – also zu einer Zeit, in der die Umweltverschmutzung weit höher war als heute – wiesen vermehrt bronzefarbene Individuen auf. Ab den 1950er Jahren bis heute nahm die Anzahl an bronzefarbenen Weibchen wieder ab und die Zahl grüner Weibchen wieder zu. Bei den männlichen Käfern blieben der Anteil der verschiedenen Farbvarianten über den gesamten Zeitraum, sowohl im ländlichen Brandenburg, als auch im Stadtbereich Berlins kontant. Die Forscherinnen und Forscher des Museums für Naturkunde Berlin interpretieren diese Ergebnisse als Resultat unterschiedlicher Prozesse von natürlicher und sexuellen Selektion. Da die grünen Tiere in (ruß)verschmutzten Lebensräumen auffälliger für Räuber sind als die bronzefarbenen Tiere, überlebten eher bronzene Weibchen die verschmutzte Stadt. Als die Rußverschmutzung in Berlin aufgrund von Umweltschutzmaßnahmen abnahm, setzte sich die grünen Tiere, die auch in eher natürlichen Lebensräumen dominierten, wieder durch. Silvia Keinath, die Erstautorin der Studie erklärt: „Es ist bemerkenswert, dass es zu so deutlichen Anpassungen einer Art innerhalb einer so kurzen Zeitspanne kommen konnte und dass diese Veränderungen geschlechtsspezifisch sind.“ Die Autoren vermuten, dass die weiblichen Käfer eine größere Vorliebe für grüne Männchen haben. Sexuelle Selektion wirkte damit einer Anpassung der Männchen an die verschmutzte Umwelt entgegen. Mark-Oliver Rödel, Leiter der Studie ergänzt: „Diese Arbeit zeigt exemplarisch auf, welch wichtigen Beitrag Forschungssammlungen an Museen leisten können, um Veränderungen von Arten und Ökosystemen über lange Zeiträume zu verfolgen und zu verstehen.“
Zitat: Keinath S, Frisch J, Müller J, Mayer F and Rödel M-O (2020) Spatio-Temporal Color Differences Between Urban and Rural Populations of a Ground Beetle During the Last 100 Years. Front. Ecol. Evol. 7: 525. doi: 10.3389/fevo.2019.00525
Die Veröffentlichung ist frei zugänglich: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fevo.2019.00525/full

29.01.2020, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Bestäubung funktioniert in Städten besser als auf dem Land
Blütenpflanzen werden in Städten besser bestäubt als im Umland. Das zeigt ein Experiment mitteldeutscher Forscher. Diese fanden zwar auf dem Land insgesamt eine größere Vielfalt an Fluginsekten – in den Städten sorgten aber mehr Bienen und Hummeln für mehr bestäubte Blüten an den Testpflanzen. Mit Abstand am fleißigsten bestäubten Hummeln, die vermutlich von einer höheren Zahl geeigneter Lebensräume in der Stadt profitieren. Um Bestäubung zu fördern, empfehlen die Forscher, die Bedürfnisse von Bienen bei der Grünflächenplanung besser zu berücksichtigen. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Nature Communications veröffentlicht.
Städte dehnen sich weltweit aus. Dass sich die Umwandlung von Naturflächen in Bauland auf das Vorkommen von Insekten auswirkt, haben mehrere Untersuchungen gezeigt. Oft sinken Vielfalt und Anzahl der Insekten, manchmal profitieren aber einzelne Artengruppen. Was die Verstädterung jedoch für die ökologischen Leistungen der Insekten wie etwa die Bestäubung der Pflanzen bedeutet, ist kaum bekannt.
Ein Wissenschaftler-Team unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) wollte den Effekt eines urbanen Umfeldes auf Insektenbestäuber und die Bestäubung untersuchen. Dafür verglich es blütenreiche Flächen in Innenstadtlage wie Parks und botanische Gärten mit solchen im direkten Umland neun deutscher Großstädte (Berlin, Braunschweig, Chemnitz, Dresden, Göttingen, Halle, Jena, Leipzig und Potsdam).
An allen Orten dienten Rotklee-Topfpflanzen als Referenzpflanze für Bestäubung. Die Wissenschaftler erfassten die Artenvielfalt mit Insektenfallen. Darüber hinaus zeichneten sie alle Insektenbesuche an ihren Rotkleeblüten 20 Mal am Tag für 15 Minuten auf. Später zählten sie die produzierten Samen und bestimmten damit den Bestäubungserfolg.
Am erfolgreichsten wurden Pflanzen in den Innenstädten bestäubt. Hier wurden die Blüten häufiger besucht als auf dem Land. Zwar fanden die Forscher auf dem Land eine insgesamt höhere Artenvielfalt und Biomasse von Fluginsekten als in der Stadt – insbesondere von Fliegen und Schmetterlingen. Letztere trugen jedoch nur wenig zur Bestäubung des Rotklees bei. Dies taten jedoch umso mehr Bienen, von denen in den Städten mehr Arten vorkamen und die die Blüten auch wesentlich häufiger besuchten als andere Insekten. Drei von vier der erfassten Blütenbesucher waren Hummeln. Die Honigbiene war mit nur 8,7 Prozent der Blütenbesuche zweitwichtigster Bestäuber.
Die große Vielfalt und Anzahl an Wildbienen und Hummeln in den Städten erklären die Forscher mit einer höheren Zahl geeigneter Lebensräume. So finden sie gute Nistmöglichkeiten in freiliegenden Böden, Totholz und Mauerhohlräumen und dauerhaft Nahrung durch die große Vielfalt an Blütenpflanzen in Parks und Gärten. Vermutlich kommen Bienen aber auch mit den gesamten Lebensbedingungen dort besser zurecht als andere Insektengruppen.
„Städte verändern ständig ihr Bild. Sich darin zu orientieren, ist eine Herausforderung, der besonders Bienen mit ihren ausgeprägten Fähigkeiten zur Orientierung und zum Lernen gewachsen sind“, sagt der Leiter der Studie, Prof. Robert Paxton, Wissenschaftler der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv). „Fliegen und Schmetterlingen haben es hier offenbar schwerer.“
Grundsätzlich profitierten fast alle untersuchten Insektenarten von vielfältigen Lebensraumstrukturen, die dauerhaft Nahrung, Nistplätze und Orientierung boten. Das sind im Agrarland Blühstreifen, Grünland, Wald und Hecken; in Innenstadtlagen sind es Gärten, Brachen und Parks. In einer weitreichend ausgeräumten Agrarlandschaft fehlen diese häufig. „Ich war wirklich erschüttert, wie durchgehend schlecht die Bestäubungsleistung im Agrarland war“, erzählt Paxton. „Aus anderen Studien ist bekannt, dass gerade Wildbienen und Hummeln besonders anfällig für Pestizide sind. Das könnte auch erklären, weshalb ihre Vielfalt auf dem Land geringer ausfällt bzw. in der Stadt höher ist, wo Insektizide kaum eine Rolle spielen.“
Wie wichtig Bestäubung für die Ökosysteme und uns Menschen ist, zeigen die Zahlen. 90 Prozent aller Blütenpflanzenarten sind Schätzungen zufolge auf die Bestäubung durch Tiere angewiesen. Damit bewahren Bestäuber wesentlich die Pflanzenvielfalt. Doch auch unsere Ernährung hängt von Bestäubung ab. Ihr Wert für die globale Landwirtschaft lag 2015 zwischen 235 bis 557 Mrd. US-Dollar, was in etwa ein Zehntel des Marktwertes aller angebauten Nahrungspflanzen ausmacht.
Doch auch in der Stadt spielen Blütenpflanzen und ihre Bestäuber eine wichtige Rolle. „Was wären unsere städtischen Grünanlagen ohne Blumen?“, sagt Erstautor Dr. Panagiotis Theodorou, Wissenschaftler des Forschungszentrums iDiv, der MLU und des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ). „Auch die Zahl städtischer Gemüse- und Obstgärten wächst – aber ohne Bestäuber reifen dort keine Früchte.“
Mittelfristig könnten die Städte jedoch auch dabei helfen, die Bestäubung auf dem Lande zu erhalten. „Wenn das Agrarland weiter degradiert, könnten Städte als Quelle für Bestäuber im landwirtschaftlichen Umland dienen“, sagt Theodorou. Entsprechend raten die Forscher, die Städte für Bestäuber attraktiver zu machen und die Bedürfnisse vor allem der fleißigen Hummeln bei der Grünflächenplanung zu berücksichtigen. Doch natürlich müssten auch auf dem Land mehr blütenreiche Flächen und Nistmöglichkeiten geschaffen und mit den Lebensräumen in den Städten verbunden werden, etwa um die Bestäubung in kommerziellen Obstgärten zu fördern.
Die Studie führte der Erstautor Panagiotis Theodorou im Rahmen seiner Doktorarbeit bei der Graduiertenschule yDiv durch. Sie wurde finanziert vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), FZT 118 (DFG).
Originalpublikation:
Theodorou, P., Radzevičiūte, R., Lentendu, G., Kahnt, B., Husemann, M., Bleidorn, C., Settele, J., Schweiger O., Grosse, I., Wubet, T., Murray, T.E., Paxton, R. J. (2020): Urban areas as hotspots for bees and pollination but not a panacea for all insects. Nature Communications DOI: 10.1038/s41467-020-14496-6

30.01.2020, Universität Wien
Klimawandel könnte Artenvielfalt der Alpen künftig stärker beeinflussen als Landwirtschaft
Intensive landwirtschaftliche Nutzung wirkt sich stark auf die Artenvielfalt aus. Der Klimawandel könnte die Landwirtschaft in Zukunft aber als Hauptursache der Biodiversitätskrise ablösen. Modellrechnungen dazu waren bislang selten, da Vorhersagen über die Entwicklung der Landwirtschaft schwierig sind. Wissenschafter*innen der Universität Wien und der Universität für Bodenkultur haben ein kombiniertes Modell für eine Beispielregion in den österreichischen Alpen entwickelt. Die Ergebnisse bestätigen, dass der Klimawandel tatsächlich zum einflussreichsten Faktor für die Verbreitung von Arten in dieser Region werden könnte. Die Studie erscheint in der Fachzeitschrift Global Change Biology.
Die massiven Auswirkungen intensiver landwirtschaftlicher Nutzung auf wildlebende Tier- und Pflanzenarten sind gut dokumentiert. Modellrechnungen zur Zukunft der Biodiversität konzentrieren sich bislang aber stärker auf den Klimawandel als auf die Landnutzung. Ein Team von Biolog*innen der Universität Wien und Sozial-Ökolog*innen der Universität für Bodenkultur hat jetzt ein gekoppeltes Modell entwickelt, das Bewirtschaftungsentscheidungen von ca. 1.300 landwirtschaftlichen und Forstbetrieben simuliert und daraus die Folgen für die Pflanzendiversität einer Beispielregion – den oberösterreich-steirischen Eisenwurzen – berechnet.
Die Land- und Forstwirt*innen reagieren in der Simulation auf verschiedene mögliche Entwicklungen der wirtschaftlichen und klimatischen Rahmenbedingungen. Sie entscheiden nach Kriterien, die aus Daten über den Strukturwandel der letzten Jahrzehnte und Interviews mit Akteur*innen in der Region entwickelt wurden. Die simulierten Entscheidungen führen zu Veränderungen in der Landschaft, die, gemeinsam mit dem Klimawandel, die Lebensräume der Pflanzen verändern.
Handlungsspielraum der Landwirt*innen beschränkt
Die Ergebnisse der Berechnungen legen nahe, dass die Lebensräume der meisten Arten in der Region – unter allen Annahmen über die wirtschaftliche und klimatische Entwicklung der nächsten Jahrzehnte – schrumpfen werden. Für diese Lebensraumverluste spielt der Klimawandel eine wesentlich größere Rolle als die Landnutzung. „Dieses Ergebnis überrascht“, sagt Iwona Dullinger vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien, „weil ein großer Teil der von uns modellierten 834 Pflanzenarten sensibel auf Landnutzungsunterschiede reagiert.“
Der scheinbare Widerspruch entsteht, weil das Modell keine großen Änderungen der Landnutzung vorhersagt. Diese Stabilität hat verschiedene Ursachen. Einerseits ist der Wald, die regional vorherrschende Nutzungsform, in Österreich gesetzlich geschützt. Andererseits eignen sich große Teile der heutigen Wiesen und Weiden aufgrund der gebirgigen Lagen kaum für weitere Intensivierung oder alternative Nutzungsformen. „Der Handlungsspielraum der Landwirte ist unter den von uns angenommenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen begrenzt“, erklärt Projektleiter Stefan Dullinger.
Ergebnisse nicht auf alle Weltregionen übertragbar
Im Unterschied dazu führt der Klimawandel bei etwa 60 Prozent der Arten zu Lebensraumverlusten. Diese Verluste sind teilweise massiv, besonders bei Arten, die heute schon höhere Berglagen besiedeln. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedrohung der Biodiversität von Gebirgslebensräumen durch den Klimawandel.
Den allgemeinen Schluss, dass die Zukunft der Biodiversität stärker vom Klimawandel als von der Landnutzung bestimmt wird, möchte Dullinger aber trotzdem nicht ziehen. „Das ist eine regionale Studie, die für andere Landschaften in den Randlagen der Alpen repräsentativ sein kann, aber sicher nicht für Gegenden der Welt, in denen starke Veränderungen natürlicher oder naturnaher Ökosysteme eventuell noch bevorstehen, wie zum Beispiel in vielen tropischen Ländern“. Die Modellregion hat den großen landwirtschaftlichen Strukturwandel längst hinter sich, und größere Umbrüche sind daher nur in Reaktion auf massive Veränderungen der Rahmenbedingungen möglich. „Um deutlicher positive Effekte auf die Lebensräume von Arten in der Region zu erzielen, bräuchte es eine wirklich ambitionierte Agrarpolitik mit starken finanziellen Anreizen für eine biodiversitätsfreundliche Landwirtschaft“, meint Stefan Dullinger.
Publikation in Global Change Biology:
Dullinger, I., Gattringer, A., Wessely, J., Moser, D., Plutzar, C., Willner, W., Egger, C., Gaube, V., Haberl, H., Mayer, A., Bohner, A., Gilli, C., Pascher, K. Essl, F. & Dullinger, S. 2020: A socio-ecological model for predicting impacts of land-use and climate change on regional plant diversity. Global Change Biology.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/gcb.14977

30.01.2020, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Einzigartig erhaltener fossiler Chamäleonschädel wirft neues Licht auf den Ursprung der Schuppenkriechtiere
In Zusammenarbeit mit einem internationalen Team hat Senckenberg-Wissenschaftler Thomas Lehmann einen etwa 18 Millionen Jahre alten fossilen Chamäleonschädel aus Kenia untersucht. Das Fossil aus dem frühen Miozän ist außergewöhnlich gut erhalten und zählt zu den ältesten Chamäleonfunden weltweit. Der Schädel gehört zu einer bislang unbekannten Art der Gattung Calumma und ist der erste Nachweis für einen afrikanischen Ursprung der – heute endemisch auf Madagaskar lebenden – Tiere. Die Studie erschien kürzlich im Fachjournal „Scientific Reports“.
Über die Hälfte aller Chamäleon-Arten leben heute auf Madagaskar. Auch die Gattung Calumma – farbenfrohe Chamäleons mit der Fähigkeit zu deutlichen Farbveränderungen – ist in dem Inselstaat endemisch. „Lange war man daher davon ausgegangen, dass die ‚Wiege der Chamäleons’ auf Madagaskar liegt“, erklärt Dr. Thomas Lehmann vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Wir haben nun den ersten Nachweis für den Ursprung der charakteristischen Schuppenkriechtiere auf dem afrikanischen Festland gefunden!“
Lehmann hat gemeinsam mit einem internationalen Team ein außergewöhnlich gut erhaltenes Schädelfossil eines Chamäleons aus der wissenschaftlichen Sammlung des National Museums of Kenyas mittels Mikro-Tomographie untersucht.
„Der Schädel stammt aus dem frühen Miozän und ist damit eines der ältesten Chamäleonfossilien weltweit. Die vollständige Erhaltung macht das Fossil einzigartig“, erläutert Dr. Job Kibii, Kurator am National Museums of Kenya den besonderen Fund.
Durch die hochauflösenden Scans konnten die Forschenden das Fossil aus der kenianischen Fundstelle Rusinga Island einer neuen Art aus der Gattung Calumma zuordnen. „Das ist insofern sehr überraschend, weil heutige Tiere dieser Gattung ausschließlich auf Madagaskar leben!“, ergänzt Erstautor der Studie Dr. Andrej Čerňanský von der Comenius Universität in Bratislava das Ergebnis. Die Forschenden schließen aus dem außergewöhnlichen Fund, dass der Ursprung der auf Madagaskar lebenden Chamäleons auf dem afrikanischen Festland liegen muss.
Doch wie gelangten die – als eher schlechte Schwimmer bekannten – Chamäleons von Kenia nach Madagaskar, zumal sich die Insel bereits vor 100 Millionen Jahren in der Zeit des späten Mesozoikums vom afrikanischen Kontinent abspaltete?
„Wir gehen davon aus, dass die Chamäleons auf ‚schwimmenden Inseln’, Flößen aus Baumstämmen und Ästen, nach Madagaskar kamen. Solche Transportwege sind bereits von verschiedenen Tierarten bekannt – bei einer baumlebenden Art erscheint dieses Szenario zudem sehr wahrscheinlich“, antwortet der Frankfurter Paläontologe.
Das internationale Team hat die neue Art Calumma benovskyi daher auch konsequenterweise nach einem bedeutenden Abenteurer und Forschungsreisenden benannt: Móric Beňovský segelte als erster Europäer – sieben Jahre vor James Cook – über den Nordpazifik. „Die Chamäleons sind ihre Reise nach Madagaskar nicht absichtlich angetreten – sie waren auf dieser aber nicht allein: Einige Halbaffen, wie beispielsweise das Fingertier, haben über den gleichen Weg die Insel besiedelt. Heute sind diese Tiere nicht mehr aus Madagaskar wegzudenken“, schließt Lehmann.
Originalpublikation:
Čerňanský, A., Herrel, A., Kibii, J.M. et al. The only complete articulated early Miocene chameleon skull (Rusinga Island, Kenya) suggests an African origin for Madagascar’s endemic chameleons. Sci Rep 10, 109 (2020) doi:10.1038/s41598-019-57014-5

31.01.2020, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Der Speiseplan tropischer Raupen
Eine aktuelle Studie von SNSB-Zoologen untersucht die Nahrung der Raupen tropischer Schmetterlinge – durch die genetische Analyse ihres Darminhaltes. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler nun in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift PLOS ONE.
Studien über die Beziehungen von Schmetterlingslarven zu ihren Futterpflanzen in den Tropen gibt es bisher kaum, denn die Erforschung des Fressverhaltens von Raupen ist äußerst schwierig. Das hat vor allem praktische Gründe: So sind gerade Baumkronen, der natürliche Lebensraum vieler Raupen, meist sehr schwer zugänglich – vor allem die Suche nach nachtaktiven Arten ist für Forscher nahezu unmöglich. Häufig bleibt unklar, ob es sich bei einem Raupenfund auf einer bestimmten Pflanze nur um einen Rastplatz oder um einen echten Fraßnachweis handelt. Von den meisten Schmetterlingslarven weiß man daher bislang nicht, von welchen Pflanzen sie sich ernähren, so dürfte bei weniger als 10% der tropischen Schmetterlingsarten bekannt sein, auf welche Futterpflanzen sie spezialisiert sind.
In einer Pilotstudie haben Wissenschaftler der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM) nun die Beziehungen südamerikanischer Schmetterlinge zu ihren Futterpflanzen untersucht – und zwar anhand der genetischen Analyse ihres Darminhaltes.
Für die Studie wurden Raupen von fast 50 Bäumen rund um die Panguana-Forschungsstation im Regenwald von Peru untersucht. Ihre Proben erhielten die Forscher durch sogenanntes gezieltes „Fogging“ (Benebeln) von ausgesuchten Baumkronen mit natürlichem Pyrethrum. Die so gefangenen Raupen, der Inhalt ihres Darms sowie die gefoggte Baumart wurden später im Labor genetisch analysiert und identifiziert. Mit einem überraschenden Ergebnis: Entgegen der bisherigen Annahme scheinen sich nur 20% der untersuchten Larven direkt von der Pflanze ernährt zu haben, auf der sie gefunden wurden. Im Darm der überwiegenden Mehrheit der Tiere fanden sich verdaute Reste von Lianen und Moosen oder von benachbarten Bäumen.
„Die molekulare Identifizierung der Larven und Wirtsbäume in Korrelation mit der Analyse der Darminhalte gibt uns wichtige Einblicke in die Ernährungsbiologie der Schmetterlingsraupen. Wir wollen die Methodik nun in größerem Maßstab anwenden. Weitere Projekte wurden bereits in Angriff genommen“, berichtet Axel Hausmann, Kurator für Schmetterlinge an der ZSM und Leiter der Studie.
Originalpublikation:
DNA barcoding of fogged caterpillars in Peru: A novel approach for unveiling host-plant relationships of tropical moths (Insecta, Lepidoptera) Hausmann A, Diller J, Moriniere J, Höcherl A, Floren A, et al. (2020) DNA barcoding of fogged caterpillars in Peru: A novel approach for unveiling host-plant relationships of tropical moths (Insecta, Lepidoptera). PLOS ONE 15(1): e0224188. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0224188

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