01.07.2024, Universität Konstanz
Der Nase nach im Schwarm
Heuschrecken passen ihren Geruchssinn an, um auch in gewaltigen Schwärmen bestehend aus Milliarden Tieren spärliche Nahrungsquellen riechen zu können. Das fanden Forscher*innen des Exzellenzclusters Kollektives Verhalten der Universität Konstanz heraus und publizierten diese Ergebnisse im Fachjournal Nature Communication.
„Ich konnte das Ausmaß nicht begreifen, bis ich es mit eigenen Augen sah“, berichtet Einat Couzin-Fuchs. Als eine Heuschreckenplage in Kenia vor vier Jahren ausbrach, waren sie und ihr Team vor Ort: „Einige Gebiete waren völlig befallen und nach dem Durchzug der Heuschrecken blieben nur noch giftige Pflanzen zurück.“
Zurück an ihrem Arbeitsplatz, der Universität Konstanz, planten sie auf der Basis der im Feld erhobenen Daten Experimente und Modellierungen. Sie wollen die Entstehung von Heuschreckenplagen besser verstehen, denn jeder zehnte Mensch auf der Erde ist von den Ausmaßen betroffen. Laut der Welternährungsorganisation FAO verschlingt ein Heuschreckenschwarm mit einer Milliarde Tieren etwa 1,500 Tonnen Nahrung allein an einem Tag. Dies ist so viel wie 2.500 Menschen täglich zum Essen benötigen.
Große Unterschiede zwischen solitären und gregären Tieren
Es ist wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass Heuschrecken nicht immer im Schwarm auftreten. Die Insekten können innerhalb von wenigen Stunden zwischen einem solitären (einzeln lebenden) und gregären (in Gemeinschaft lebenden) Zustand wechseln. Dieser Zustandswechsel hat große Auswirkungen auf das Verhalten des Tieres. Letztendlich sogar auf sein Nervensystem und Körperfarbe, die sich von grün zu auffällig gelb-schwarz ändert.
„Durch diesen extremen Wandel in der Lebensweise verändert sich, wie die Tiere nach Nahrung suchen und auch die Verfügbarkeit verschiedener Informationen, die die Tiere während ihrer Nahrungssuche zur Verfügung stehen haben“, sagt Doktorandin Inga Petelski. Deshalb führte sie Verhaltensexperimenten durch, bei denen solitäre und gregäre Tiere zwischen verschiedenen Optionen wählen konnten: Die Optionen konnten entweder visuell oder olfaktorisch oder kombiniert wahrgenommen werden. Mit den gewonnenen Daten erarbeitet ihr Kollege Yannick Günzel ein Entscheidungsfindungsmodell. „Auf der Basis der Verhaltensexperimente und des Entscheidungsfindungsmodells fanden wir heraus, dass der Geruchssinn bei gregären Tieren bei der Nahrungssuche ungemein wichtig ist“, so der Neurobiologe.
Schlüssel im olfaktorischen System der Tiere
Für das Forschungsteam war somit klar, dass im olfaktorischen System ein zentraler Schlüssel liegt. Daher schauten sie den Gehirnbereich, der für die Geruchsverarbeitung zuständig ist, mit Hilfe eines in vivo Kalzium-Bildgebungsverfahrens genauer an. Das ist ein Verfahren, bei dem die Informationsverarbeitung über gesamte Gehirnareale hinweg sichtbar gemacht werden kann.
Das eindeutige Resultat: „Wenn man Essens- und Heuschreckenduft paart, erhält man einen synergetischen Effekt: die Gehirnaktivität ist signifikant stärker ausgeprägt, als man von der reinen Addition vermuten würde. Dieser Effekt ist lediglich in der gregären Heuschrecke zu finden“, so Inga Petelski. Das bedeutet, dass Heuschrecken ihren Geruchssinn anpassen, wenn sie in die gregäre Lebensweise übergehen. Ihr olfaktorisches System scheint nun dafür spezialisiert, Essensgerüche im Geruchscocktail des Schwarms besser wahrnehmen zu können. Ihr Kollege Yannick Günzel schlussfolgert daraus: „Das ist der Grund, warum von Heuschrecken im Schwarm immer noch vernünftig Essen wahrgenommen werden kann.“
„Durch die Kombination von Kalzium Imaging-Experimenten und computergestützten Analysen ist es unserem Team gelungen, besser zu verstehen, wie sich Heuschrecken an neue Umweltbedingungen anpassen“, sagt Gruppenleiterin Einat Couzin-Fuchs. „Wir haben jetzt ein besseres mechanistisches Verständnis der neuronalen Veränderungen, die beim Übergang zu Schwärmen stattfinden.“ Sie ist überzeugt, dass ihre Forschung und die Entwicklung neuer Methoden zur Untersuchung von Schwärmen dazu beitragen wird, künftige Ausbrüche von Heuschreckenplagen besser vorherzusagen und damit kontrollierbarer zu machen.
Originalpublikation: Petelski, I., Günzel, Y., Sayin, S. et al. Synergistic olfactory processing for social plasticity in desert locusts. Nat Commun 15, 5476 (2024).
Link: https://doi.org/10.1038/s41467-024-49719-7
02.07.2024, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Amputationen retten Leben – auch bei Ameisen
Im Notfall beißen Ameisen verletzte Gliedmaßen von Artgenossinnen ab, um deren Überleben zu sichern. Ob sie diesen radikalen Schritt gehen, hängt davon ab, wo sich die Wunde befindet. Das berichtet ein Forschungsteam aus Würzburg und Lausanne im Journal „Current Biology“.
Sie zeigen ein Verhalten, das bisher nur vom Menschen bekannt war: Die Florida-Holzameisen (Camponotus floridanus) amputieren vorsorglich Gliedmaßen, um das Leben verwundeter Artgenossinnen zu retten. Bei bestimmten Verletzungen an den Beinen beißen sie diese komplett ab.
Der rabiate Eingriff verhindert, dass sich lebensgefährliche Wundinfektionen im Körper der Ameisen ausbreiten. Die Erfolgsrate ist sehr gut: Rund 90 Prozent der amputierten Tiere überleben die Behandlung. Trotz des Verlust eines ihrer sechs Beine können sie danach ihre Aufgaben im Nest wieder im vollen Umfang übernehmen.
Überraschend: Amputiert wird nur bei verletztem Oberschenkel
Das berichtet eine Forschungsgruppe der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg und der Universität Lausanne im Journal Current Biology. Das Team um Dr. Erik Frank vom Würzburger Biozentrum und Dr. Laurent Keller aus Lausanne hat eine weitere verblüffende Beobachtung gemacht: Die Ameisen schreiten nur dann zur Amputation, wenn die Beinverletzungen am Oberschenkel liegen – egal ob die Wunden steril oder mit Bakterien infiziert sind.
Befinden sich die Wunden dagegen am Unterschenkel, wird niemals amputiert. Stattdessen treiben die Ameisen in solchen Fällen einen höheren Aufwand bei der Pflege der Verwundeten: Sie lecken die Wunden intensiv aus. Vermutlich säubern sie sie damit auf mechanischem Weg von Bakterien. Auch diese Therapie ist mit einer Überlebensrate von rund 75 Prozent relativ erfolgreich.
Aussichtslos: Amputation bei verletzten Unterschenkeln
Warum entfernen die Ameisen nicht auch die Beine von Artgenossinnen mit Unterschenkelverletzungen – schließlich könnte man annehmen, dass sich die Überlebensrate dadurch noch deutlich steigern ließe?
Um die Antwort zu finden, führten die Forschenden selbst Amputationen bei Ameisen mit verwundeten und bakteriell infizierten Unterschenkeln durch. Das Ergebnis fiel überraschend aus: Die Überlebensrate nach der Amputation lag bei nur 20 Prozent.
Weshalb das so ist, kann das Team plausibel erklären: Computertomographische Untersuchungen zeigten, dass im Oberschenkel der Ameisen viele Muskeln sitzen, deren Aktivität für die Zirkulation des „Ameisen-Blutes“ sorgt, der Hämolymphe. Ameisen besitzen kein zentral pumpendes Herz wie Menschen, sondern mehrere über den Körper verteilte Herzpumpen und Muskeln, die diese Funktion übernehmen.
„Verletzungen am Oberschenkel beeinträchtigen die Muskeln und behindern die Zirkulation“, sagt Erik Frank. Weil der Blutfluss gemindert ist, gelangen Bakterien nicht so schnell von der Wunde in den Körper. In diesem Fall lohnt sich die Amputation: Bei schnellem Handeln ist die Chance groß, dass der Körper noch frei von Bakterien ist.
Im Unterschenkel dagegen liegen keine Muskeln, die für die Zirkulation der Hämolymphe relevant sind. Ist er verwundet, dringen die Bakterien sehr schnell in den Körper vor. Das Zeitfenster für eine erfolgreiche Amputation ist dann eng, die Chance auf Rettung gering.
„Genau das scheinen die Ameisen zu ‚wissen‘, wenn man es vermenschlichend ausdrücken will“, sagt der Würzburger Biologe. „Unsere Studie belegt erstmals, dass auch Tiere im Zuge der Wundbehandlung prophylaktische Amputationen einsetzen. Und sie zeigt, dass die Ameisen die Behandlung an der Art der Verletzung ausrichten“, so Laurent Keller.
Gefährlich: Kämpfe gegen andere Ameisenvölker
Die in der Studie untersuchte Ameisenart Camponotus floridanus kommt im Südosten der USA vor. Die rotbraunen Tiere werden mit bis zu 1,5 Zentimeter Körperlänge relativ groß. Sie nisten in verrottendem Holz und verteidigen ihr Nest energisch gegen rivalisierende Ameisenvölker. Kommt es zu Kämpfen, besteht Verletzungsgefahr.
Warum das Team gerade diese Ameisen für die Studie ausgewählt hat? Weil sie keine Metapleuraldrüse besitzen. Mit dieser Drüse produzieren andere Ameisenarten ein antibiotisch wirksames Sekret, das sie auf infizierte Wunden auftragen. So kam die Frage auf, welche anderen Mittel Camponotus-Ameisen gegen Infektionen einsetzen. Dass es sich dabei um verletzungsspezifische Amputationen handelt, war eine große Überraschung.
Fraglich: Wie agieren in Deutschland heimische Ameisenarten?
Mit Verletzungen bei Ameisen und deren Reaktion darauf wird sich Erik Frank auch weiterhin befassen. Der Leiter einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Emmy-Noether-Gruppe bereitet zu diesem Thema aktuell eine Studie über Ameisenarten vor, die in Deutschland vorkommen.
Für seine Forschungen über die Wundversorgung bei Tieren zeichnete die Hector Fellow Academy Erik Frank im Januar 2024 mit einem Preis für junge Forschende aus, einem Hector Research Career Development Award, dotiert mit einer voll finanzierten Promotionsstelle und zusätzlichen 55.000 Euro. „Dieser Preis wird es meiner Gruppe ermöglichen, das Verhalten der sozialen Wundpflege bei Tieren weiter zu erforschen. Wir möchten damit untersuchen, wie Ameisen, die in einer engen Beziehung mit Akazienbäumen leben, die Wunden ihrer Wirtspflanzen heilen.“
Originalpublikation:
Wound-dependent leg amputations to combat infections in an ant society. Erik. T. Frank, Dany Buffat, Joanito Liberti, Lazzat Aibekova, Evan P. Economo, Laurent Keller. Current Biology, 2. Juli 2024
02.07.2024, Veterinärmedizinische Universität Wien
Dorngrasmücken während des Vogelzugs – lieber essen als schlafen
Schlafen ist erholsam und hat unter anderem auf den Stoffwechsel einen erheblichen Einfluss. Inwieweit die Dorngrasmücke (Curruca communis) – ein im Sommer in großen Teilen Europas und im Winter südlich der Sahara heimischer Zugvogel – diesen Fitness-Vorteil während ihrer interkontinentalen Flugreisen nützt, untersuchte eine aktuelle Studie, die unter Leitung der Veterinärmedizinischen Universität Wien entstand. Demnach setzen diese gefiederten Langstreckenreisenden nur teilweise auf die energetischen Vorteile aus dem Schlaf. Stattdessen konzentrieren sie sich eher auf die Nahrungssuche.
In ihrer Studie untersuchten Forscher:innen aus Italien und Österreich bei der Dorngrasmücke die Beziehung zwischen Schlafverhalten und -haltung, Stoffwechselzustand und Energieerhaltungsstrategien während des Vogelzugs. Die Feldarbeit wurde auf der Insel Ponza durchgeführt, rund 50 km vor der Westküste Italiens gelegen und ein bedeutender Zwischenlandeplatz an einer der wichtigsten Zugrouten für paläarktische Sperlingsvögel.
Metabolische Vorteile aus dem Schlaf werden nicht voll ausgeschöpft
„Wir konnten bestätigen, dass das Schlafen in gebückter Haltung zu Energieeinsparungen im Stoffwechsel führt, was in einer geringeren Wachsamkeit und einer damit verbundenen höheren Gefährdung durch Raubtiere resultiert. Allerdings zeigten die Dorngrasmücken keine Veränderungen ihres Schlafverhaltens als Reaktion auf die Menge der gespeicherten Energiereserven“, umreißt Ivan Maggini vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung (KLIVV) der Vetmeduni die zentralen Forschungsergebnisse.
Dies deutet laut Maggini darauf hin, dass die Singvögel die metabolischen Vorteile des Schlafs zumindest in der beobachteten Phase ihres Zuges nicht voll ausschöpfen. „Wir vermuten, dass Dorngrasmücken für eine optimale Energieakkumulation und zur Maximierung der Effizienz bei ihren Zwischenlandungen der Nahrungssuche gegenüber dem Schlaf den Vorzug geben“, so der Forscher.
Wichtige neue Erkenntnisse für den Naturschutz
Die dahinter stehenden ökologischen Ursachen erfordern laut den Forscher:innen weitere Studien und einen vergleichenden Ansatz. Vor allem auch deshalb, da bislang nur Langstrecken-Zugvögel untersucht wurden, so dass bisher unbekannt ist, wie Arten mit kürzeren Wanderungen mit dem Schlaf umgehen. Generell sind Studien zum Schlaf von Bedeutung für den Naturschutz, da sie zeigen, wie Zugvögel die verschiedenen Rastplätze nutzen. Dazu Maggini: „Diese Erkenntnisse sind unerlässlich, um die Lebensbedingungen an diesen Rastplätzen zu erhalten und zu verbessern, da davon das Überleben zahlreicher Vogelarten abhängt.“
Schlaf ist während des Vogelzugs überlebenswichtig
Rastplätze, an denen sich die Vögel ausruhen und ihre Energiereserven wieder auffüllen, spielen eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der mit dem Vogelzug verbundenen Herausforderungen. Der Schlaf gilt zwar für alle Organismen als lebenswichtig, doch während der Migration, wo das Energiemanagement zu einer Überlebensfrage wird, gewinnt er noch an Bedeutung – dies konnten bereits vorangehende Studien wissenschaftlich eindeutig belegen.
Originalpublikation:
Der Artikel „Sleep Posture Influences Metabolic Rate and Vigilance in the Common Whitethroat (Curruca Communis)“ von Maia Pastres, Ivan Maggini, Massimiliano Cardinale, Leonida Fusani und Andrea Ferretti wurde in „Integrative and Comparative Biology“ veröffentlicht.
Sleep Posture Influences Metabolic Rate and Vigilance in the Common Whitethroat (Curruca Communis)
https://academic.oup.com/icb/advance-article/doi/10.1093/icb/icae031/7673075
03.07.2024, Technische Universität Berlin
Pinguine in Ekstase
Mit neuartigen „Eventkameras“ bringen TU-Forscher*innen Licht in ein merkwürdiges Verhalten von antarktischen Pinguinen
Sie strecken sich, schauen in den Himmel, schlagen mit ihren Flügeln und stoßen einen lauten Ruf aus. In der Fachwelt wird dieses häufige, aber bisher unverstandene Verhalten „ecstatic display“ (ekstatische Vorführung) genannt. Erste Hinweise zu seiner Erklärung hat nun ein Team aus Wissenschaftler*innen der TU Berlin am Exzellenzcluster „Science of Intelligence (SCIoI)“, der University of Oxford sowie der Oxford Brookes University gefunden. Ihre Hypothese: das ecstatic display ist eine Art Revierverhalten, das besonders dann auftritt, wenn ein Pinguin lange auf seinen Partner oder seine Partnerin warten muss. Diese Erkenntnis hat das Team mit Hilfe des völlig neuen Konzepts der „Eventkameras“ gewonnen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Kameras nehmen sie nicht ganze Bilder auf einmal auf, sondern registrieren für jedes Pixel getrennt nur die Veränderungen in der Helligkeit (die „Events“). Eventkameras könnten neben vielen anderen Anwendungsmöglichkeiten die Tierbeobachtung wesentlich erleichtern und verbessern.
Es sind eine Stunde Fußmarsch von der spanischen Forschungsstation auf Deception Island, einer Insel im Norden des antarktischen Kontinents, bis hinauf zur Punta Descubierta. Wie der spanische Name andeutet, handelt es sich um einen Wind und Wetter ausgesetzten, mit Algen spärlich bewachsenen Felsrücken. Hier befindet sich eine Kolonie von sogenannten Zügelpinguinen, die in der Antarktis zahlreich vorkommen. „Insgesamt leben dort etwa 20.000 Tiere, die sich auch durch die häufigen Winde von über 100 Kilometern pro Stunde nicht abschrecken lassen“, erzählt Dr. Ignacio Juarez Martínez vom Fachbereich Biologie der University of Oxford.
Frühere Studien wurden wiederlegt
Juarez Martínez erforschte in seiner Doktorarbeit das Verhalten der Zügelpinguine; unter anderem wollte er mehr über das merkwürdige Phänomen des ecstatic display herausbekommen. „Eine der wenigen Studien dazu beschäftigte sich mit Adeliepinguinen, einer mit den Zügelpinguinen verwandten Art. Dort schien es, dass nur Männchen das ecstatic display zeigen, und das vor allem im antarktischen Frühling im Oktober. Die Forschenden gingen deshalb davon aus, dass es sich um ein Paarungsritual handeln könnte. Wir konnten nun zeigen, dass dies nicht stimmen kann.“
Exzellenzcluster Science of Intelligence bringt Forscher*innen zusammen
Geholfen hat Ignacio Juarez Martínez einer jener wichtigen Zufälle in der Wissenschaft, die zustande kommen, wenn man Forscher*innen unterschiedlicher Disziplinen zusammenbringt. Der Exzellenzcluster „Science of Intelligence“, der an der TU Berlin angesiedelt ist, fördert genau diesen wissenschaftlichen Austausch, indem er Wissenschaftler*innen aus über zwölf Disziplinen vereint, um die Prinzipien von Intelligenz zu erforschen. „Dort ist einer von Ignacios Doktorvätern, Prof. Dr. Alex Kacelnik, leitender Wissenschaftler, um die Intelligenz von Tieren zu erforschen“, erzählt Doktorand Friedhelm Hamann von der TU Berlin. „Er kam am Cluster mit meinem Doktorvater ins Gespräch.“ Hamanns Betreuer, Prof. Dr. Guillermo Gallego, leitet an der TU Berlin das Fachgebiet „Robotic Interactive Perception“ und ist ebenfalls Mitglied des Exzellenzclusters. Im Rahmen der Erforschung neuer Sinne für Roboter hat er die Technik der Eventfotografie entscheidend weiterentwickelt. Gallego und Kacelnik stellten fest, dass die Vorteile der Eventkameras auch für die Tierbeobachtung nützlich sein könnten, so kam eine Kollaboration ihrer Doktoranden zustande.
Eventfotografie arbeitet ohne Belichtungszeit
Die Eventfotografie ist vom menschlichen Sehen inspiriert: Ähnlich wie bei den Vorgängen in der Netzhaut trägt jedes lichtempfindliche Pixel der Kamera zeitlich unabhängig zum Gesamtbild bei – es gibt also keine Belichtungszeit, nach der alle Pixel auf einmal ausgelesen werden. Da die Pixel nur ein Signal senden, wenn sich die Stärke des Lichteinfalls ändert, verbrauchen Eventkameras weniger Energie. Und weil es keine Belichtungszeit gibt, für die sich die Kamera entscheiden muss, können helle wie dunkle Bereiche annähernd gleich gut dargestellt werden. Eventkameras eigenen sich also sehr gut für schlechte Lichtverhältnisse. Zudem ist die Reaktionszeit einer Eventkamera durch den Wegfall der Belichtungszeit kleiner, was es einfacher macht, schnelle Bewegungen – wie etwa das Schlagen der Pinguinflügel – zu analysieren.
Aufnahmen der Eventkameras werde mit Maschinellem Lernen ausgewertet
„In Vergleichstests haben wir ermittelt, dass die für das Projekt verwendete Eventkamera fünfmal weniger Energie verbraucht als eine herkömmliche Kamera“, berichtet Friedhelm Hamann. „Diese Eigenschaft sowie die gute Aufnahmequalität auch bei schlechten Lichtverhältnissen prädestiniert die Eventkamera für den Einsatz in entlegenen Orten wie den der Pinguinkolonie. Wir konnten die Tiere so fast kontinuierlich beobachten.“ 16 Nester wurden dabei zur Brutzeit mehrere Wochen lang gefilmt. Anschließend haben die Forscher*innen 24 je zehnminütige Videosequenzen untersucht und die Stellen markiert, an denen ein Pinguin das ecstatic display zeigte. „Dies kommt erstaunlich oft vor, rund 20-mal pro Stunde“, so Hamann. Mit diesen markierten Videosequenzen wurden Algorithmen trainiert, die danach aus den gesamten Aufnahmen diejenigen mit ecstatic display herausfiltern konnten. „Diese Algorithmen wurden ursprünglich für Spielkonsolen entwickelt, bei denen die Bewegungen der Spieler*innen detektiert werden müssen“, erklärt Hamann.
Ekstatische Wellen laufen durch die Pinguinkolonie
Zusätzlich zu diesen Computeranalysen wurde den beobachteten Pinguinen Blut abgenommen, um ihr Geschlecht zu bestimmten – sie haben nämlich keine von außen sichtbaren Geschlechtsorgane. „Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass beide Geschlechter gleich häufig das ecstatic display zeigen. Da wir zudem die Pinguine außerhalb der Paarungszeit beobachtet haben, kann es sich nicht um ein Paarungsritual handeln“, berichtet Ignacio Juarez Martínez. Stattdessen stellten die Wissenschaftler*innen zum einen fest, dass das ecstatic display quasi ansteckend ist; direkte Nachbarn werden von diesem Verhalten dazu angeregt, es ebenfalls zu zeigen. „Auf diese Weise kann tatsächlich so etwas wie eine ekstatische Welle durch die gesamte Pinguin-Kolonie laufen“, so Juarez Martínez.
Ekstatisches Verhalten beim Warten auf den Partner
Was allerdings noch viel interessanter ist: Jeder Pinguin zeigt umso öfter das ecstatic display, je länger er bereits auf seinen Partner beziehungsweise die Partnerin wartet. „Pinguine teilen sich das Brüten und auch die Versorgung der Küken. Immer abwechselnd sitzen sie auf dem Nest, während der andere im Meer nach Krill jagt. Die Jungtiere werden mit hervorgewürgtem Mageninhalt gefüttert“, erklärt Juarez Martínez. In dieser Fütterungszeit steigt die Anzahl der ecstatic displays exponentiell mit der bereits verstrichenen Zeit seit der Wachablösung. „Besonders nach der sechsten Stunde, zu der der Partner eigentlich wieder zurück sein sollte, nimmt die Häufigkeit extrem zu.“ Der dahinterstehende Zweck ist für die Forscher*innen immer noch unklar. Sie halten es für möglich, dass es sich um eine Art Revierverhalten handelt und wollen mit dieser Arbeitshypothese nun weitere Untersuchungen anstellen.
Vielfältige Anwendungen der Eventfotografie
„Der hohe Informationsgehalt des Datensatzes der Eventkamera hat dazu beigetragen, dass wir das ecstatic display so genau untersuchen konnten“, sagt Juarez Martínez. Die Wissenschaftler*innen am Exzellenzcluster SCIoI der TU Berlin haben inzwischen weitere Projekte mit Tierforscher*innen vereinbart. So werden sie mit der Eventkamera zum Beispiel das Verhalten von Vögeln analysieren. „Besonders vorteilhaft ist hier die schnelle Reaktionszeit der Kamera, die extreme Zeitlupenaufnahmen ermöglicht“, sagt Friedhelm Hamann. Er freut sich über diese neue Anwendungen. „Eventkameras können Robotern das Sehen erleichtern, autonom fahrende Autos sicherer machen, Industrieprozesse analysieren. Große Chiphersteller arbeiten sogar daran, sie in die Kameras von Smartphones einzubauen. Dass wir jetzt auch der Verhaltensforschung helfen können, zeigt, wie vielseitig diese neue Technologie und wie interdisziplinär die Forschung hier bei SCIoI ist.“
PDF der Veröffentlichung: https://arxiv.org/pdf/2312.03799
03.07.2024, Universität Rostock
Korallenriffe im roten Meer unter Druck
Das Deutsche Meeresmuseum in Stralsund beobachtete in Zusammenarbeit mit der Universität Rostock über einen Zeitraum von fast vier Jahrzehnten die Entwicklung von Korallenriffen im Roten Meer. Es ist eine der längsten Untersuchungen, die in dieser Meeresregion je stattfanden. Die besorgniserregenden Erkenntnisse eines internationalen Wissenschaftlerteams wurden nun veröffentlicht.
Die Korallenriffe vor der Küste der Republik Sudan gehören noch immer zu den unberührtesten Riffen im Roten Meer. Bereits seit 1980 verfolgen Forschende des Deutschen Meeresmuseums dort die Entwicklung von vier großen Test-Arealen im Meeres-Nationalpark Sanganeb. Aufgrund ihrer abgelegenen Position und des eingeschränkten Zugangs fand eine Überwachung des Zustands der Riffe bisher nur sporadisch statt. Die komplexen küstennahen Saumriffe, vorgelagerten Bänke und Untiefen der Dungonab-Bucht im Norden und des weiter südlich gelegenen Sanganeb-Atolls, etwa 23 km vor der Festlandküste, wurden 2016 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen.
Ein internationales Team von Riffforschenden des Deutschen Meeresmuseums, der Universität Rostock und der Universität Wien haben die Flächen zuletzt im Jahr 2019 digital kartiert und ausgewertet. Der ungewöhnlich lange Untersuchungszeitraum erlaubt es, Auswirkungen der Meereserwärmung auf die Riffe zu beobachten. „Während der Netto-Riffzuwachs von 1980 bis 1991 im Schnitt zwischen 2,27 und 2,72 Zentimeter jährlich betrug, lag er im Zeitraum von 1991 bis 2019 lediglich bei 0,28 bis 0,42 Zentimetern. Das heißt, das Wachstum des Riffes hat sich um rund 80 Prozent verringert und somit überraschend deutlich verlangsamt“, erklärt die Erstautorin der neuen Studie, Meeresbiologin Sarah Abdelhamid von der Universität Rostock.
Seit 1980 bekannte Einzelstöcke von Korallen belegen, dass dort seit über 40 Jahren allgemein beständige ökologische Bedingungen herrschen, etwa in Bezug auf Strömungen und chemische Prozesse. Zugleich deuten jedoch Verschiebungen in der Artenzusammensetzung auf einen Wandel der Korallengemeinschaften hin. Ursachen sind zum Beispiel die Korallenbleichen von 2010 und 2015. Der Nachwuchs empfindlicher Geweihkorallen (Acropora) wird dort von robusteren Katzenpfötchen-Korallen (Pocillopora) verdrängt. „Infolge des Klimawandels kommen Warmwasserereignisse, die zu Korallenbleichen führen, immer häufiger vor. Riffgemeinschaften haben so immer weniger Zeit, sich zu regenerieren. Widerstandsfähigere Arten etablieren sich dann erfolgreicher. Das Bild, das wir heute von den Riffen im Roten Meer haben, ändert sich fortlaufend weiter, quasi vor unseren Augen“, verdeutlicht der Leiter der Untersuchungen Dr. Götz-Bodo Reinicke vom Deutschen Meeresmuseum.
Auch die allgemeine Entwicklung der Riffe verändert sich im Zusammenhang regionaler Einflüsse des Klimawandels. Zusammen mit sudanesischen Partnern und dem Sanganeb-Nationalpark-Team plant das Deutsche Meeresmuseum deshalb, die langfristige Beobachtung der Testareale in dem Schutzgebiet fortzusetzen. Die Erkenntnisse der Studie fließen in die internationale Wissenschaft und können als Grundlage für Entscheidungsträger dienen. Reinicke ist überzeugt: „Maßnahmen gegen den Klimawandel sind eine politische Frage und müssen global organisiert werden. Studien wie unsere, die das Problem immer wieder sichtbar machen, können ein schnelles Handeln nachdrücklich befördern.“
Die Studie „Korallenriff-Langzeitstudie im Sudan zeigt über 39 Jahre stagnierendes Riffwachstum, Kontinuität und Veränderung im Roten Meer“ wurde vom Österreichischen Wissenschaftsfond FWF finanziell gefördert. Sie ist unter folgendem Link abrufbar: https://doi.org/10.3390/d16070379.
Referenz der Studie: Abdelhamid, S.; Reinicke, G.B.; Klaus, R.; Höhn, J.; Saad, O.S.; Grenzdörffer, G. Red Sea Coral Reef Monitoring Site in Sudan after 39 Years Reveals Stagnant Reef Growth, Continuity and Change. Diversity 2024, 16, 379. https://doi.org/ 10.3390/d16070379.
Originalpublikation:
Referenz der Studie: Abdelhamid, S.; Reinicke, G.B.; Klaus, R.; Höhn, J.; Saad, O.S.; Grenzdörffer, G. Red Sea Coral Reef Monitoring Site in Sudan after 39 Years Reveals Stagnant Reef Growth, Continuity and Change. Diversity 2024, 16, 379. https://doi.org/ 10.3390/d16070379.
03.07.2024, Rote-Liste-Zentrum
Neue Rote Liste: Die Kellerassel ist ungefährdet, die Höhlenassel vom Aussterben bedroht
Der Zustand der Binnenasseln hat sich in den vergangenen Jahren nur in geringem Maße verändert. Das zeigt die neue Rote Liste, die das Bundesamt für Naturschutz (BfN) und das Rote-Liste-Zentrum (RLZ) jetzt veröffentlicht haben. Für einige Asselarten ergeben sich jedoch Gefährdungen aus Lebensraumverlusten oder der Fragmentierung ihrer Lebensräume. So wurde die ehemals ungefährdete Gefleckte Körnerassel jetzt in die Vorwarnliste aufgenommen und die Art Armadillidium zenckeri in die Rote-Liste-Kategorie „Stark gefährdet“ hochgestuft.
Die neue Rote Liste behandelt nicht nur die in ihrem Bestand gefährdeten Arten, sondern alle 49 als etabliert geltenden Arten der Binnenasseln in Deutschland. Aktuell sind 5 Arten (10,2 %) als bestandsgefährdet eingestuft, davon ist eine Art – die Höhlenassel Proasellus cavaticus – vom Aussterben bedroht. Eine Asselart, Proasellus nolli, gilt deutschlandweit als ausgestorben oder verschollen. Von Natur aus extrem selten sind 6 Asselarten, 2 Arten stehen auf der Vorwarnliste und 29 Arten (59,2 %) gelten als ungefährdet, darunter auch die bekannte Kellerassel. Die meisten Arten werden hinsichtlich ihrer langfristigen und kurzfristigen Bestandstrends als mehr oder weniger stabil in ihren Beständen eingeschätzt.
BfN-Präsidentin Sabine Riewenherm: „Es ist erfreulich, dass bei den Asseln, im Vergleich zu anderen wirbellosen Tieren, ein geringerer Anteil der Arten bestandsgefährdet ist. Als Zersetzer organischen Materials im Boden haben sie eine wichtige Funktion im Ökosystem. Aber auch anpassungsfähige Tiere wie die Asseln leiden darunter, dass Lebensräume verschwinden, insbesondere die Spezialisten unter den Asseln. Artenschutz für Binnenasseln ist deshalb in erster Linie Lebensraumschutz. Dazu gehört die Erhaltung eines möglichst vielfältigen Mosaiks von Biotopen sowie deren Vernetzung.“
Dr. Jörg Haferkorn, Hauptautor der Roten Liste, ergänzt: „Gefährdungen für die Bestände zahlreicher Asselarten ergeben sich unter anderem durch Bodenversiegelung oder eine Intensivierung der Flächenbewirtschaftung. Wenn beispielsweise extensiv bewirtschaftete Streuobstwiesen aufgegeben oder durch Intensivobstplantagen ersetzt werden, wirkt sich dies negativ auf Asseln dieses Lebensraumtyps aus. Darüber hinaus werden Asseln durch die Fragmentierung ihrer Lebensräume gefährdet. Eine positive Bestandsentwicklung konnten wir für keine Art in den letzten 25 Jahren dokumentieren.“
In der Gruppe der Binnenasseln werden die auf dem Land sowie im Süßwasser lebenden Asselarten zusammengefasst. Sie besiedeln nahezu alle limnischen und terrestrischen Lebensräume Deutschlands. Bedingt durch die gute Anpassung vieler Asselarten an das Landleben können auch trockene, grundwasserferne und warme Standorte besiedelt werden. Kalte und trockene Witterungsperioden verbringen Landasseln in der oberen Bodenschicht, unter Steinen oder unter der Borke von Gehölzen. Süßwasserasseln leben in Stand- und Fließgewässern sowie in Höhlen und im Grundwasser.
Asseln gehören zu den Krebstieren und sind die einzigen Vertreter dieser Ordnung, die sich im Laufe der Evolution zu echten Landbewohnern entwickelt haben. Ursprüngliche Arten, z. B. die Sumpfassel, besitzen eine noch nahezu amphibische Lebensweise. Sofern sie an Land leben, benötigen viele Asselarten eine hohe Luftfeuchtigkeit zur Atmung. Die bekanntesten Arten sind die Kellerassel und die Mauerassel. Asseln zeigen keine Schadwirkung und übertragen keinerlei Krankheiten.
Die Rote Liste der Binnenasseln Deutschlands wurde von erfahrenen Experten der Bodenzoologie verfasst. Die bundesweiten Roten Listen werden vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) herausgegeben und in dessen Auftrag vom Rote-Liste-Zentrum (RLZ) koordiniert. In den bundesweiten Roten Listen wird der Gefährdungsstatus von Tier-, Pflanzen- und Pilzarten für den Bezugsraum Deutschland dargestellt. Die Roten Listen sind zugleich Inventarlisten für einzelne Artengruppen und bieten Informationen nicht nur zu den gefährdeten, sondern zu allen in Deutschland vorkommenden Arten der untersuchten Organismengruppen. Die Autorinnen und Autoren bewerten die Gefährdungssituation insbesondere anhand der Bestandssituation und der Bestandsentwicklung. Die Grundlagen für die Gefährdungsanalysen werden von einer großen Zahl von ehrenamtlichen Artenkennerinnen und Artenkennern ermittelt. Die Roten Listen selbst werden von den Autorinnen und Autoren ebenfalls in weiten Teilen ehrenamtlich erstellt.
Für den Schutz der Artenvielfalt in Deutschland stellen Rote Listen eine entscheidende Grundlage dar. Sie dokumentieren den Zustand von Arten und mittelbar die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Natur. Damit sind sie Frühwarnsysteme für die Entwicklung der biologischen Vielfalt.
Das Rote-Liste-Zentrum koordiniert seit Dezember 2018 im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz die Erstellung der bundesweiten Roten Listen. Das Bundesumweltministerium fördert das Zentrum mit jährlich 3,1 Millionen Euro. Es ist am Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Bonn angesiedelt und wird fachlich vom BfN betreut. Das Rote-Liste-Zentrum unterstützt die Autoren und Autorinnen sowie weitere beteiligte Fachleute der Roten Listen, indem es sie bei der Erstellung fachwissenschaftlich begleitet und Kosten für die Koordination, die Arbeitstreffen der Fachleute und andere vorbereitende Arbeiten übernimmt.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.19217/rl1708