04.03.2024, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Von Deutschland nach Spanien: Weiteste Wanderung eines Wolfs nachgewiesen
Die Zusammenarbeit dreier DNA-Labore, darunter das Zentrum für Wildtiergenetik am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, hat es möglich gemacht, die Wanderroute eines Wolfes von Deutschland nach Nordspanien nachzuverfolgen. Die Luftlinie zwischen dem deutschen und dem spanischen Probenfund beträgt 1.190 Kilometer und ist damit die längste bislang dokumentierte Wanderdistanz eines Wolfs weltweit.
Drei Länder durchquerte der als „GW1909m“ registrierte und in Deutschland geborene Wolf (Canis lupus). Das männliche Tier wanderte von seinem Geburtsort im niedersächsischen Nordhorn quer durch Frankreich, bevor es sich offenbar in der Nähe eines Dorfes in den katalanischen Pyrenäen niederließ, wo er zuletzt im Februar 2023 gesichtet wurde. „Weite Wanderungen sind von Wölfen durchaus bekannt – im gleichmäßigen Trab können die Tiere mühelos viele Kilometer am Stück zurücklegen. Verlassen junge Wölfe ihr elterliches Rudel, legen sie auf der Suche nach geeigneten Territorien manchmal sehr weite Distanzen zurück. Die nun nachgewiesene Strecke ist aber auch für dieses Raubtier eine Besonderheit“, erklärt Dr. Carsten Nowak, Leiter des Zentrums für Wildtiergenetik am Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt.
Nowak und sein Team waren daran beteiligt, die Reiseroute des Beutegreifers mit genetischen Methoden zu rekonstruieren: Eine im Juni 2022 in Frankreich untersuchte Haarprobe aus dem französischen Burgund konnte einem Wolf mit dem – typisch mitteleuropäischen – Haplotypen HW01 zugeordnet werden und wurde daher zur näheren Analyse zu Senckenberg geschickt. „Wir konnten die Probe dem bereits bekannten Individuum GW1909m zuordnen. Laut genetischen Verwandtschaftsanalysen wurde der Wolf 2020 im ‚Rudel Nordhorn‘ in Niedersachsen geboren“, ergänzt Nowak.
Im Februar 2023 wurden in Alta Ribagorça im nordspanischen Katalonien Kotproben eines Wolfes gesammelt, die nach einer ersten Analyse an der Autonomen Universität Barcelona in einem französischen Labor ebenfalls als Hinterlassenschaften von GW1909m identifiziert wurden.
Auf seiner Reise von Norddeutschland bis Katalonien durchwanderte das Tier nicht nur große Naturgebiete, sondern legte auch lange Strecke in anthropogen geprägten Landschaften zurück.
„Die längste bisher aufgezeichnete Strecke eines Wolfes lag mit 1.092 Kilometer zwischen Norwegen und Finnland – unser Individuum hat gut 100 Kilometer Wanderdistanz obendrauf gelegt. Die Zusammenarbeit zwischen den Laboren in Deutschland, Frankreich und Spanien hat es ermöglicht, diese bemerkenswerte Ausbreitungsbewegung zu dokumentieren“, so Nowak und weiter: „Die Ausbreitung über weite Entfernungen ist ein Schlüssel zur Verbindung entfernter Wolfspopulationen, welcher dazu beiträgt, genetische Isolation und Inzucht zu verhindern.“
Seit Februar 2023 wurden in der Region Alta Ribagorça keine Hinweise mehr für die Anwesenheit von GW1909m gefunden. „Es bleibt also abzuwarten, ob zukünftige genetische Analysen in der Lage sein werden, diesen tierischen Langstreckenläufer oder sogar seine Nachkommen wieder aufzuspüren“, schließt Nowak.
06.03.2024, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Seehundlaus – Königin des Klammerns
Forschende der Uni Kiel entschlüsseln überlegene Haltekräfte der Seehundlaus, ein obligater Ecktoparasit, unter extremen Bedingungen im Meer. Die Ergebnisse tragen zu neuen Erkenntnissen über Parasiten im Meer bei und geben Impulse für die Entwicklung etwa von Unterwassergreifern nach dem Vorbild der Natur. Die neue Studie ist kürzlich in der Nature-Fachzeitschrift Communications Biology erschienen.
Insekten sind die vielfältigste und artenreichste Tiergruppe und kommen in fast allen Lebensräumen auf der Erde vor. Trotz ihrer weiten Verbreitung an Land, ist ihr Vorkommen im Meer erstaunlich gering. Tatsächlich gibt es nur eine einzige Insektengruppe mit lediglich 13 Arten, die über lange Zeiträume im offenen Meer überleben kann. Eine davon ist die Seehundlaus, ein obligater Ektoparasit von Robben, der sich außen an das Fell ihrer marinen Wirtstiere wie Seehunde oder Kegelrobben festhält und sich von deren Blut ernährt. Das zwei Millimeter große Insekt kommt in der Nord- und Ostsee vor, übersteht tiefe Tauchgänge, große Temperaturschwankungen und verliert auch bei hohen Schwimmgeschwindigkeiten nicht den Kontakt zu ihrem Wirtstier. Forschenden der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) ist es nun gelungen, den Mechanismus dieses wirkungsvollen wie auch komplexen Verklammerungssystems der Seehundlaus zu entschlüsseln, seine Struktur und die Materialzusammensetzung der Hautschicht (Cuticula) zu analysieren und die von den Seehundläusen erzeugten außergewöhnlichen Haltekräfte unter Laborbedingungen zu messen. Die Ergebnisse tragen zu neuen Erkenntnissen über Parasiten im Meer bei und geben Impulse für die Entwicklung etwa von Unterwassergreifern nach dem Vorbild der Natur. Die neue Studie ist kürzlich in der renommierten Nature-Fachzeitschrift Communications Biology erschienen.
Seehundlaus entwickelt Haltekräfte in Millionen Jahren
Saugläuse oder Echinophthiriidae (Phthiraptera: Anoplura) wanderten vor Millionen von Jahren mit ihrem Wirt, den Robben (Pinnipedia), vom Land zurück ins Meer und mussten sich als ehemals terrestrische Insekten an einen völlig neuen Lebensraum mit neuen Herausforderungen anpassen. Eine dieser 13 Läusearten ist die Seehundlaus, Echinophthirius horridus. Sie überlebt extreme Bedingungen im Meer wie hohen Salzgehalt, Sauerstoffmangel (Hypoxie), schwankenden Temperaturen von rund 30 Grad an Land bis zu 0 Grad im Meer, außergewöhnlich hohen hydrostatischen Druck und hohen Strömungswiderstand während die Robben auf ihren 20 bis 25minütigen Tauchgängen sind. Da der Kontaktverlust zum Wirt bei Schwimmgeschwindigkeiten von etwa 18 bis 20 km/h den sicheren Tod der Laus bedeutet, setzt sie alles daran, um sicher und dauerhaft auf ihrem Wirt bleiben zu können. Dies gelingt ihr mit einem im Vergleich zu anderen Insekten außergewöhnlich hohem Haltevermögen.
„Parasiten wie die Seehundlaus sind perfekt an die Lebensbedingungen im Meer angepasst und verfügen über außergewöhnliche Werkzeuge, um sich am Fell von Robben festzuklammern. Wenig erforscht sind aber die Mechanismen, mit denen sie sich an ihren Wirten festkrallen und wieder lösen. Dazu konnten wir in unserer Studie neue Erkenntnisse liefern“, sagt Anika Preuss, die zu diesem Thema am Institut für Zoologie in der Arbeitsgruppe Funktionelle Morphologie und Biomechanik an der CAU promoviert.
Seehundlaus verwendet besonderen Klammermechanismus
Im Gegensatz zu anderen Vertretern von Läusen, die sich ebenso von außen an ihre Wirtstiere klammern, verwenden Seehundläuse eine stark modifizierte Mechanik vergleichbar mit Karabinerhaken. Das System erlaubt es ihnen gleichzeitig, sich wiederholt, aber dauerhaft am Fell des Wirtstiers zu verklammern und sich ebenfalls wieder von diesem zu lösen. Das ist immer dann erforderlich, wenn Wirtstiere sterben oder die Nachkommen der Laus auf eigene Wirtstiere wechseln. „Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Laus mit ihren sechs Krallen über spezielle Greiforgane verfügt, mit denen sie sich außergewöhnlich gut festhalten kann. Neben ihren ausgeprägten Krallen besitzt die Laus zusätzlich weiche, polsterartige Strukturen an der Innenseite der Kralle, die wie eine Art Gummiring funktionieren. Wenn die Laus die Kralle schließt, kommen diese weichen Pads in direkten Kontakt mit dem Seehundhaar und erhöhen dabei die Reibung am Haar, so dass die Laus nicht einfach vom Fell des Seehunds abrutschen kann. Ein System, das ziemlich effizient unter Wasser und zudem bei sehr stark variablen Haardurchmessern funktioniert,“ erklärt Anika Preuss.
Seehundlaus mit höchstem je bei Insekten gemessenem Haltevermögen
Für die morphologischen Untersuchungen analysierten die Kieler Forscherinnen und Forscher die Läuse mit Hilfe der Rasterelektronenmikroskopie (REM) und anhand konfokalen Laser-Scanning-Mikroskopie (CLSM). Darüber hinaus führten sie Kraftmessungen an lebenden Läusen durch und verglichen ihre Ergebnisse mit Verklammerungssystemen von parasitären und nicht-parasitären Insekten. Die Seehundläuse wurden in aufwändigen Feldarbeiten von Wissenschaftlerinnen des Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) an Seehunden und Kegelrobben aus der Nord- und Ostsee beprobt und in der Arbeitsgruppe Funktionelle Morphologie und Biomechanik untersucht. Forschende der TiHo analysierten ferner histologische Schnitte der Läuse und stellte wichtige Informationen zur Ökologie und dem Verhalten der Tiere zur Verfügung.
Für die Kraftmessungen hatte die Promovierende Anika Preuss die lebenden Seehundläuse an menschlichen Haaren befestigt und unter Wasser mit dem Seehundfell in Kontakt gebracht. Sobald die Seehundläuse an den menschlichen Haaren befestigt und unter Wasser Halt am Seehundfell gefunden hatten, wurden das Haltevermögen der Seehundläuse an Seehundhaaren dreimal täglich gemessen. Die Ergebnisse der Kraftmessungen waren erstaunlich. Die Seehundläuse zeigten außergewöhnlich hohe „Safety Factors“ (Haltekraft pro Körpergewicht) von 4.500 bis hin zu Werten um 18.000. Das bedeutet: die Seehundlaus hat sich mit dem 18.000-fachen ihres eigenen Körpergewichts an den Haaren verklammert. Ein vergleichbares Haltevermögen kann zum Beispiel bei sessilen, dauerhaft haftenden Meeresorganismen wie Seepocken gemessen werden. „Damit weisen die Seehundläuse die höchsten Haltekräfte auf, die unseres Wissens nach jemals bei Insekten gemessen wurden“, sagt Erstautorin Preuss.
Klammermechanismus kann Vorbild für Unterwassergreifer liefern
Die Ergebnisse der neuen Studie tragen einerseits dazu bei, die Rolle und funktionalen Anpassungen von Parasiten im Meer und an Meeressäugern besser zu verstehen. Andererseits lassen sich die Erkenntnisse aus der funktionalen Untersuchung dieser spannenden biologischen Systeme auf die Materialwissenschaft und -technik übertragen. „Am Beispiel der Seehundlaus lassen sich viele Herausforderungen aufzeigen, die mit Struktur-Funktions-Beziehungen bei marinen Wildtieren verbunden sind“, sagt Professor Stanislav Gorb, der sich in seiner CAU-Arbeitsgruppe „Functional Morphology and Biomechanics“ mit mechanischen Systemen und Materialien beschäftigt, die in der biologischen Evolution entstanden sind. „Der Klammermechanismus könnte uns also Hinweise für Innovationen im Bereich der Unterwasser- oder Universalgreifer liefern. Die Parasiten zeigen uns dafür hochspezialisierte Mechanismen und Strukturen“, so Gorb weiter, der auch am DFG-Schwerpunktprogramm „Physics of Parasitism“ (PoP) beteiligt ist, das von der Universität Würzburg geleitet wird. Ziel des Schwerpunktprogramms, in diesem die Forschenden der Uni Kiel mit ihren Kolleginnen und Kollegen der TiHo in Büsum zusammenarbeiten, ist es, die physikalischen Bedingungen und mechanischen Kräfte, die an der dynamischen Parasit-Wirt-Grenzfläche wirken, zu messen und zu verstehen sowie die Materialeigenschaften und die Mechanik von Parasiten in ihren Nischen zu untersuchen.
Originalpublikation:
Preuss, A., Büscher, T.H., Herzog, I. et al. Attachment performance of the ectoparasitic seal louse Echinophthirius horridus. Commun Biol 7, 36 (2024).
https://www.nature.com/articles/s42003-023-05722-0
06.03.2024, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Horizontaler Gentransfer: Wie Pilze ihre Fähigkeit zur Infektion von Insekten verbessern
Forschende des Kiel Evolution Center untersuchen erstmals im Detail, wie ein für den biologischen Pflanzenschutz wichtiger Pilz ein vorteilhaftes Chromosom horizontal weitergeben und dabei einen bislang wenig erforschten Weg des Austauschs von Erbinformationen nutzen kann
Nachhaltige, nicht auf chemischen Pestiziden beruhende Maßnahmen zum Pflanzenschutz greifen auf verschiedene Organismen und biologische Wirkstoffe zurück, um Kulturpflanzen vor Schädlingen zu schützen. Solche für den biologischen Pflanzenschutz verwendete Organismen sind zum Beispiel mikroskopisch kleine Pilze der Gattung Metarhizium, die eine Vielzahl von pflanzenschädlichen Insekten befallen und abtöten können und beispielsweise im südamerikanischen Zuckerrohranbau eingesetzt werden. Die molekularen Mechanismen der Pilzinfektion und die Immunantwort der Insekten befinden sich in einem fortlaufenden Prozess gegenseitiger evolutionärer Anpassungen. Ein Forschungsteam der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) untersuchte in einem gemeinsamen Projekt mit Kolleginnen und Kollegen vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA) die genetischen Veränderungen des Pilzes bei Infektion der invasiven Argentinischen Ameise (Linepithema humile).
Dazu untersuchten die Forscherinnen und Forscher die Genome verschiedener Stämme der Pilze Metarhizium robertsii und Metarhizium brunneum aus einem früheren Ko-Infektionsexperiment, in dem Ameisen mit dem Pilzmix infiziert worden waren. Mit den auswachsenden Sporen wurden dann über zehn aufeinanderfolgende Infektionszyklen neue Ameisen infiziert. Bei der Analyse der Pilzgenome aus diesen Infektionsreihen machte der Pilzgenetiker und Erstautor der nun erschienenen Studie, Dr. Michael Habig von der CAU, eine spannende Beobachtung: Seine Analysen zeigten, dass ein einzelnes Chromosom sehr häufig zwischen zwei unterschiedlichen Stämmen horizontal ausgetauscht wurde. Dieses Chromosom beinhaltet bestimmte Gene, von denen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass sie dem Pilz Vorteile bei der Infektion ihrer Wirte verschaffen können. Der horizontale Transfer ganzer Chromosomen ist bisher sehr selten wissenschaftlich beschrieben worden und konnte hier erstmals im Detail untersucht werden. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forschenden des Kiel Evolution Center (KEC) und des ISTA gestern in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).
Horizontaler Chromosomen-Transfer bei insektenschädlichem Pilz nachgewiesen
Mit dem Begriff des horizontalen Gentransfers beschreiben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie Lebewesen genetisches Material zwischen verschiedenen, auch artfremden Individuen übertragen können. Auf diese Weise tauschen zum Beispiel Bakterien umfangreiche genetische Informationen, häufig in Form von Plasmiden untereinander aus, um sich damit schnell an geänderte Umweltbedingungen anzupassen und dadurch beispielsweise ihre Schädlichkeit für den Wirt zu erhöhen. Die rasante Evolution verschiedener Krankheitserreger beruht unter anderem auf solchen Mechanismen. „Bei Pilzen und vielen anderen sogenannten eukaryotischen Lebewesen ist der horizontale Gentransfer in Form ganzer Chromosomen dagegen sehr selten und bislang kaum erforscht worden“, sagt Dr. Michael Habig, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der CAU. „Die Analyse der Erbinformationen der Pilzstämme zeigt, dass M. robertsii im Laufe der Ko-Infektionsexperimente insgesamt fünfmal unabhängig ein einzelnes Chromosom, aber keine weitere Erbinformation von einem Stamm zum anderen per horizontalem Transfer weitergegeben hat“, so Habig weiter.
Weitere Analysen wiesen zudem darauf hin, dass das gleiche Chromosom auch in der entfernt verwandten, ebenfalls insektenschädlichen Pilzart Metarhizium guizhouense zu finden ist, deren gemeinsamer evolutionärer Ursprung mit M. robertsii bereits rund 15 Millionen Jahre zurückliegt. „Das Chromosom ist dort deutlich weniger verändert, als man es für die lange Zeitspanne getrennter evolutionärer Entwicklung der beiden Pilzarten annehmen würde. Die Weitergabe des Chromosoms scheint also auch auf natürlichem Wege zwischen Pilzarten stattgefunden zu haben – und zwar wahrscheinlich wieder horizontal“, so Habig.
Analyse des Chromosoms deutet auf mögliche Überlebensvorteile für den Pilz hin
Bei dem untersuchten Chromosom handelt es sich um ein sogenanntes akzessorisches Chromosom. Das bedeutet, es kommt nicht bei allen Individuen einer Art vor und beinhaltet nicht-lebensnotwendige Erbinformationen. „In den Experimenten zeigte sich, dass die Pilze, die das akzessorische Chromosom empfangen hatten, unter bestimmten Bedingungen Wettbewerbsvorteile gegenüber Pilzen des gleichen Stamms hatten, der das Chromosom nicht aufgenommen hatte, und sich gegen diese durchsetzen konnten. Worauf diese Vorteile im Detail beruhen, wollen wir in Zukunft genauer untersuchen“, betont Habig. Erste Hinweise konnte das Kieler Forschungsteam bereits aus der Analyse der auf dem Chromosom befindlichen Gene ableiten. „Das Chromosom enthält Hunderte Gene, deren potenzielle Funktionen wir erst in Zukunft entschlüsseln können. Wir konnten jedoch bereits jetzt 13 Kandidatengene bestimmen, die vermutlich für sogenannte Effektoren-Proteine verantwortlich sein könnten, die zum Beispiel mit dem Immunsystem der Insekten interagieren können“, so Habig weiter.
Die Übertragung des Chromosoms birgt also möglicherweise Vorteile für den Pilz, deren funktionale Grundlagen zurzeit noch unklar sind. Eine plausible Möglichkeit dafür ist aber die Übertragung bestimmter Gene, die Chitin-spaltende Enzyme bilden und so die Fähigkeit zum Befall der Insekten verbessern können. „Bemerkenswert ist, dass wir unter anderem die Gene dreier solcher Enzyme gefunden haben, die vermutlich eine Rolle beim Abbau der Chitin-haltigen Kutikula des Wirtsinsekts spielen. Dies könnte einen entscheidenden Schritt des Infektionsprozesses beeinflussen, denn die Pilzsporen sind darauf angewiesen, das schützende Exoskelett des Wirts zu durchdringen, um ihn infizieren zu können“, vermutet Professorin Sylvia Cremer, Letztautorin der Studie, vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA).
Insgesamt bietet die nun vorgelegte Forschungsarbeit aus dem KEC interessante neue Aspekte zu einem bei Pilzen bisher wenig untersuchten Weg der Weitergabe von Erbinformationen. „Unsere neue Arbeit zeigt, dass der horizontale Chromosomen-Transfer bei Pilzen regelmäßig vorkommt und dieser Mechanismus dem Empfängerstamm zumindest im Experiment unter bestimmten Bedingungen Vorteile einräumen kann“, so Habig zusammenfassend. Damit beschreibt das Kieler Forschungsteam mit seinen Kollaborationspartnern vom ISTA erstmals im Detail einen neuen Aspekt in der Genomevolution von Pilzen, die möglicherweise Bakterien-ähnliche Mechanismen der schnellen evolutionären Anpassung nutzen können, um zum Beispiel ihre Virulenz oder Schädlichkeit für ihren Wirtsorganismus zu erhöhen und genetische Informationen über Artgrenzen hinweg zu übertragen. Künftig wolle man am Beispiel von M. robertsii die Zusammenhänge von horizontalem Chromosomentransfer, etwaigen Fitnessvorteilen und der gegenseitigen Anpassung von Pilzen und Insekten im Detail untersuchen und so weitere Erkenntnisse über diesen für den Pflanzenschutz wichtigen Organismus zusammentragen.
Originalpublikation:
Michael Habig, Anna V. Grasse, Judith Müller, Eva H. Stukenbrock, Hanna Leitner, Sylvia Cremer (2024): Frequent horizontal chromosome transfer between asexual fungal insect pathogens PNAS First published 05. March 2024
https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2316284121
06.03.2024 13:03
Widrigkeiten in den ersten Lebensjahren hinterlassen langfristige Spuren in der DNA von Pavianen
Sandra Jacob Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Frühe Erfahrungen im Leben eines Tieres können sich noch Jahre oder Jahrzehnte später auf sein Leben auswirken. DNA-Methylierung kann helfen, diese Auswirkungen zu dokumentieren. Eine Studie von Forschenden des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und der Duke University mit Daten von 256 freilebenden Pavianen zeigt einen Zusammenhang zwischen Ressourcenknappheit in den ersten Lebensjahren und vielen Unterschieden in der DNA-Methylierung, einer kleinen chemischen Markierung auf der DNA-Sequenz, die die Genaktivität beeinflussen kann. Ressourcenknappheit in den ersten Lebensjahren erwies sich im Vergleich zu anderen Umweltstressoren als ein besonders wichtiger Faktor.
Ungünstige Lebensbedingungen, insbesondere in der Kindheit, können sich langfristig auf die Gesundheit und das Überleben von Tieren auswirken. So erkranken, zum Beispiel, junge Rhesusaffen, die kurz nach der Geburt von ihren Müttern getrennt werden, im späteren Leben häufiger. Die Annahme, dass solche Unterschiede auf langfristige Veränderungen in der Biologie von Tieren zurückzuführen sind, wird als „biologische Einbettung“ bezeichnet. Veränderungen in der DNA-Methylierung, eine „epigenetische“ Veränderung der DNA, könnten bei der biologischen Einbettung eine Rolle spielen. Diese Veränderungen können dauerhaft sein, die Funktion von Genen beeinflussen und sich möglicherweise auch auf andere Merkmale auswirken. Es gibt jedoch nur wenige Studien an freilebenden Säugetieren über den möglichen Zusammenhang zwischen frühen Lebensumständen und DNA-Methylierung.
Um diesen Zusammenhang besser zu verstehen, hat ein internationales Forschungsteam des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie und der Duke University eine Gruppe freilebender Paviane in Kenia untersucht. „Unsere Studie umfasste 256 Paviane, 115 Männchen und 141 Weibchen. Wir haben ihre DNA-Methylierungsdaten im Kontext von Daten zur Ökologie, zum Verhalten und zu den Lebensverläufen der Tiere betrachtet, die über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren an diesem Studienort gesammelt wurden”, sagt Jordan Anderson, Erstautor der Studie und Doktorand an der Duke University. „Wir haben diese Gruppe ausgewählt, weil wir bereits wussten, dass Pavianweibchen, die ein schwieriges Leben in der Kindheit hatten, mehr Stresshormone und schwächere soziale Bindungen aufweisen und ihre Nachkommen eine geringere Überlebenschance haben.“
Ressourcenmangel in der Kindheit kann sich über Generationen hinweg auf die Gesundheit auswirken
Interessanterweise zeigte die Studie, dass weder der Verlust der Mutter, noch der soziale Status oder die soziale Isolation in den ersten Lebensjahren einen signifikanten Einfluss auf die DNA-Methylierung hatten. Dagegen zeigten Dürreperioden und eine schlechte Lebensraumqualität, die die Verfügbarkeit von Nahrung für die Paviane einschränkten, die deutlichsten Signaturen. Diese waren besonders ausgeprägt, wenn die Paviane in ihren ersten Lebensjahren wiederholt ungünstigen Bedingungen ausgesetzt waren. „Das wiederholte Erleben ungünstiger Bedingungen in den ersten Lebensjahren scheint sich verstärkt auf die DNA-Methylierung auszuwirken. Mit anderen Worten: Wer in einen ungünstigen Lebensraum hineingeboren wird, ist von Widrigkeiten wie Dürren besonders stark betroffen“, sagt Letztautorin und Projektleiterin Jenny Tung, Direktorin der Abteilung Verhalten und Evolution von Primaten am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Das könnte daran liegen, dass verschiedene Arten von Widrigkeiten über ähnliche Mechanismen wirken, die zum Beispiel beeinflussen, wie viel Nahrung den Tieren zur Verfügung steht.“
Die Forscherinnen und Forscher betonen, dass es auch wichtig ist zu untersuchen, ob Veränderungen in der DNA-Methylierung die Funktion von Genen beeinflussen, wie es die biologische Einbettung vorhersagt. „Wir haben einen Schritt in diese Richtung gemacht, indem wir genomische Ansätze verwendet haben, um zu testen, ob die DNA-Methylierung die Genexpression in isolierten Zellen beeinflussen kann. Aber es ist weitere Forschung nötig, um zu verstehen, wie sich ungünstige Bedingungen in den ersten Lebensjahren auf die Physiologie, die Gesundheit und das Überleben von Tieren auswirken, einschließlich, aber nicht beschränkt auf ihre Auswirkungen auf die DNA-Methylierung“, sagt Tung.
Originalpublikation:
Jordan A. Anderson , Dana Lin, Amanda J. Lea , Rachel A. Johnston, Tawni Voyles, Mercy Y. Akinyi, Elizabeth A. Archie, Susan C. Alberts, and Jenny Tung
DNA methylation signatures of early- life adversity are exposure-dependent in wild baboons
PNAS, 05 March 2024, https://doi.org/10.1073/pnas.2309469121
06.03.2024, Ruhr-Universität Bochum
Warum Vögel so schlau sind
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren sich Forschende einig: Hohe Intelligenz braucht die hohe Rechenkapazität großer Gehirne. Zudem fand man heraus, dass die typische Hirnrinde der Säugetiere, der sogenannte Kortex, notwendig ist, um damit Informationen detailliert zu analysieren und zu verknüpfen. Vogelgehirne sind jedoch sehr klein und besitzen keine Struktur, die einem Kortex ähnelt. Dennoch konnten Wissenschaftler zeigen, dass Papageien und Rabenvögel in die Zukunft planen, soziale Strategien schmieden, sich im Spiegel erkennen und Werkzeuge bauen. Sie sind somit Schimpansen ebenbürtig.
Auch weniger begabte Vögel, wie zum Beispiel Tauben, lernen orthographische Regeln, mit denen sie Tippfehler in kurzen Worten erkennen oder Bilder nach Kategorien wie „Impressionismus“, „Wasser“ oder „von Menschen gemacht“ ordnen. Wie ist das möglich? Wie schaffen sie das mit so kleinen Gehirnen und ohne Kortex? Mit ihrem Beitrag in Trends in Cognitive Science kommen Prof. Dr. Onur Güntürkün, Dr. Roland Pusch und Prof. Dr. Jonas Rose der Lösung dieses über hundert Jahre alten Rätsels näher.
Ähnliche Hirnmechanismen
Die Autoren der Studie zeigen, dass Vögel in ihrer Evolution unabhängig von den Säugetieren vier ähnliche Innovationen für Intelligenz entwickelt haben. Erstens besitzen Vögel in ihren kleinen Gehirnen sehr viel mehr Nervenzellen als vermutet. Vor allem Rabenvögel bringen diese extra Portion an Rechenkapazität in den kognitiv wichtigsten Bereichen des Gehirns unter. Zweitens haben Vögel eine spezialisierte Hirnstruktur, die dem präfrontalen Kortex bei Säugern ähnelt und für Abstraktion und Planung wichtig ist. Diese Hirnregion ist bei intelligenten Vögeln und Säugern zudem besonders groß. Drittens verfügen Vögel und Säugetiere über ein System, mit dem mittels des Neurotransmitters Dopamin die Güte ihrer Entscheidungen dem präfrontalen System ständig rückgemeldet wird. Dadurch passen sich die präfrontalen Rechenprozesse ununterbrochen den sich ändernden Situationen und dem Erfolg oder Misserfolg der eigenen Entscheidungen an. Viertens haben Vögel unabhängig von den Säugetieren ein sehr ähnliches Arbeitsgedächtnis entwickelt, mit dem sie sich kurzfristig einige Dinge merken können. Wie Jongleure, die viele Bälle ständig in der Luft halten, nutzen Vögel und Säugetiere ein flexibles Aktivitätsmuster ihrer Nervenzellen, mit denen sie viele Informationen zeitgleich aktiv halten.
Neuronale Grundlagen der Intelligenz
All diese neuronalen Merkmale scheinen sich beim Vogel und Säuger evolutionsbiologisch parallel und unabhängig voneinander entwickelt zu haben. Darum spricht viel für die Annahme, dass sie zu den grundlegenden Hirnmechanismen gehören, die kognitive Leistungen ermöglichen. Die vergleichende Arbeit der Bochumer Neurowissenschaftler des Sonderforschungsbereiches „Extinktionslernen“ der Ruhr-Universität Bochum trägt damit auch dazu bei, das Rätsel um die allgemeinen neurobiologischen Prinzipien der Intelligenz zu lösen.
Originalpublikation:
Onur Güntürkün, Roland Pusch, Jonas Rose: Why birds are smart, in: Trends in Cognitive Science, 2023, DOI: 10.1016/j.tics.2023.11.002
07.03.2024, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Von Artgenossen lernen: Schimpansen können durch soziales Lernen neue Fähigkeiten erwerben
Schimpansen, die selbst nicht in der Lage sind, ein komplexes Rätsel zu lösen, können die Lösung von anderen Schimpansen lernen, die dafür trainiert wurden. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Forschungsteam der Universität Utrecht, der University of St. Andrews und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie im Rahmen einer Studie mit Schimpansen in Sambia. Die Studie zeigt erstmals, dass Schimpansen genau wie Menschen Fähigkeiten voneinander lernen können, über die sie selbst nicht verfügen.
Schimpansen benutzen Stöcke, um Termiten zu “fischen”. Wie genau sie diese Stöcke einsetzen, ist von Gruppe zu Gruppe verschieden. In einigen Gruppen stecken sich die Menschenaffen die mit Insekten beladenen Stöcke direkt in den Mund. In anderen Gruppen streifen die Schimpansen die Insekten zuerst mit der freien Hand in einer einzigen Bewegung vom Stock und fressen die Leckerbissen dann aus der Hand.
Lange Zeit glaubte man, solche Verhaltensunterschiede zwischen Gruppen seien auf soziales Lernen zurückzuführen – die Fähigkeit, durch Beobachtung und Nachahmung von Artgenossen zu lernen. Einige Forscherinnen und Forscher bezweifeln jedoch, dass Schimpansen und andere Menschenaffen in der Lage sind, komplexe Handlungen voneinander zu “kopieren”. Sie gehen davon aus, dass einzelne Tiere das Rad immer wieder neu erfinden und sich dabei möglicherweise von Artgenossen inspirieren lassen. Die aktuelle Studie von Erstautor Edwin van Leeuwen von der Universität Utrecht in den Niederlanden und einem internationalen Forschungsteam zeigt nun, dass Schimpansen sehr wohl in der Lage sind, von ihren Artgenossen Fähigkeiten zu erlernen, die sie sich selbst nicht aneignen können.
Rätselbox bereitet Schimpansen Schwierigkeiten
In der Studie gab van Leeuwen zwei Gruppen von Schimpansen eine Rätselbox mit Erdnüssen. Obwohl die Tiere die Erdnüsse sehen und riechen konnten, waren diese nicht leicht zu erreichen. Um an das Futter zu gelangen, mussten die Schimpansen zunächst eine Holzkugel aufheben, die die Forschenden in großer Zahl in der Umgebung verteilt hatten, und diese zur Kiste bringen. Die Kiste hatte eine Schublade, die die Menschenaffen öffnen und offen halten mussten (sonst schloss sie sich durch eine Zugfeder), um die Kugel in eine Vertiefung in der Schublade zu legen. Sobald der Ball durch die Vertiefung in der Kiste verschwunden war, bekamen die Schimpansen ihre Belohnung: eine Handvoll Erdnüsse.
In beiden Gruppen, in denen die Rätselbox drei Monate lang stand, konnte keines der Tiere das Rätsel lösen. Van Leeuwen: „Sie haben alles versucht, um an die Erdnüsse zu kommen. Sie versuchten, den Deckel der Dose zu öffnen, sie klopften und warfen Bälle auf die Dose. Aber keines der Tiere fand die Lösung.” Als sich herausstellte, dass das Rätsel die Schimpansen überforderte, begannen die Forschenden, aus jeder Gruppe ein etwas älteres und intelligenteres Weibchen zu trainieren. „Man kann nicht einfach ein Tier nach dem Zufallsprinzip auswählen. Es muss ein Tier sein, das den Mut hat, das Rätsel in der Gruppe zu lösen, und dem die anderen dann auch erlauben, das Futter zu fressen”, sagt van Leeuwen.
Schimpansen lernen von trainierten Artgenossen
Sobald die Weibchen erfolgreich gelernt hatten, wie sie an das Futter gelangen konnten, wurde die Rätselbox wieder in die Gruppen zurückgebracht. Nach weiteren zwei Monaten beobachteten die Forschenden, dass nun auch 14 der insgesamt 66 untrainierten Tiere in der Lage waren, das Rätsel zu lösen. Jedes der Tiere, das schließlich an die Erdnüsse gelangte, hatte zuvor mindestens neun Mal beobachtet, wie ein Artgenosse erfolgreich eine Belohnung erhielt. Diese Schimpansen scheinen also eine neue und komplexe Fähigkeit durch soziales Lernen von bereits trainierten Tieren erworben zu haben.
Soziales Lernen wird als eine der Voraussetzungen für die kumulative kulturelle Evolution angesehen, einen Prozess, durch den Innovationen von Generation zu Generation weitergegeben werden, die sich im Laufe der Zeit zu Technologien akkumulieren, die ein einzelnes Individuum niemals hätte entwickeln können. Kumulative kulturelle Evolution ist eine der möglichen Erklärungen für die in der menschlichen Kultur beobachtete Komplexität und Vielfalt und wird von einigen Forschenden als etwas für den Menschen Einzigartiges angesehen.
Trotz der überzeugenden Ergebnisse halten es die Autorinnen und Autoren für verfrüht, aus dieser einen Studie weitergehende Schlüsse zu ziehen. Van Leeuwen: „Ich denke, diese Studie ist ein wertvoller Beitrag zu unserem Verständnis der kulturellen Evolution, aber es ist eben nur eine Studie. Es gibt immer noch große Unterschiede zwischen Schimpansen und Menschen. Während Menschen dazu neigen, voneinander zu lernen, konzentrieren sich Schimpansen viel mehr auf sich selbst. Menschen übernehmen zum Beispiel gerne Verhaltensweisen voneinander, die auf den ersten Blick keinen Nutzen zu haben scheinen, während Schimpansen das in den meisten Fällen nicht tun. Das heißt aber nicht, dass sie es nicht können. Ich vermute, dass die Hauptunterschiede zwischen Menschen und Schimpansen in ganz anderen Bereichen liegen.”
Originalpublikation:
Edwin J. C. van Leeuwen, Sarah DeTroy, Daniel Haun and Josep Call
Chimpanzees use social information to acquire a skill they fail to innovate
Nature Human Behaviour, 06 March 2024, https://10.1038/s41562-024-01836-5
08.03.2024, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart
Eierlegende Schleichenlurche produzieren Milch für ihre Jungen
Forschende berichten in der Fachzeitschrift „Science“ über Amphibien mit ähnlich komplexen Brutpflegemechanismen wie Säugetiere.
Elterliche Fürsorge für den Nachwuchs ist weit verbreitet im Tierreich und ist ein wesentlicher Bestandteil der Reproduktion, der Fortpflanzung und der Entwicklung eines Organismus. Ein internationales Team von Wissenschaftler*innen aus Brasilien, den USA und Deutschland, darunter PD Dr. Alexander Kupfer, Kurator für Amphibien und Reptilien am Naturkundemuseum Stuttgart, haben erstmals erforscht, wie eierlegende Schleichenlurchweibchen ihren Nachwuchs erfolgreich im Nest aufziehen.
Schleichenlurche gelten als eine der am wenigsten bekannten Wirbeltiergruppen und gehören zu den Amphibien. Das Forschungsteam fand heraus, dass die Weibchen von eierlegenden Schleichenlurchen, wie der Art Siphonops annulatus, eine ähnlich fettreiche Milch an ihre Jungen im Nest abgeben, wie beispielsweise eierlegende Säugetiere es tun. Diese neue Entdeckung zeigt die Komplexität der Evolution von Fortpflanzungsstrategien bei Wirbeltieren und erweitert das Wissen über die Brutpflege und Kommunikation bei den Schleichenlurchen. Die Forschungsergebnisse wurden in der renommierten Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht.
Bei den meisten Wirbeltieren ist der Dotter in der Regel die einzige Form der Nahrung, die das Weibchen für den heranwachsenden Embryo bereitstellt. Die Wissenschaftler*innen konnten beobachten, dass die Jungen der Art Siphonops annulatus über zwei Monate lang Milch zu sich nahmen, die scheinbar als Reaktion auf taktile und akustische Stimulation durch die mütterliche Kloake abgesondert wird. Die verfütterte Milch besteht hauptsächlich aus Fetten und Kohlenhydraten und wird in den Drüsen der Eileiter des Weibchens produziert.
„Wir haben durch unsere Untersuchungen bei den Schleichenlurchen nun ein Wirbeltiersystem bei Amphiben entdeckt, das ähnlich umfassende Brutpflegemechanismen entwickelt hat, wie bei den Säugetieren. Dazu gehört die Produktion von fettreicher Muttermilch und die Milchabgabe an die Jungen im Nest, die sogenannte Laktation. Das verrät uns viel über die Evolution und die Fortpflanzungsstrategien dieser immer noch wenig bekannten Wirbeltierordnung“, so Dr. Alexander Kupfer, Zoologe am Naturkundemuseum Stuttgart.
Schleichenlurche sind fußlose, schlangenförmige Amphibien, die in den tropischen Regionen der Erde verbreitet sind. Alle Schleichenlurche betreiben Brutpflege. Die Weibchen des brasilianischen Schleichenlurchs Siphonops annulatus legen Eier und ziehen ihre Schlüpflinge im Nest neben ihrer eigenen Haut als Futter auch mit fettreicher „Milch“ auf. Die elterliche Brutfürsorge ist daher sehr ähnlich der von eierlegenden Säugetieren, wie den Schnabeligeln und den Schnabeltieren.
Originalpublikation:
Originalpublikation: Pedro L. Mailho-Fontana, Marta M. Antoniazzi, Guilherme R. Coelho, Daniel C. Pimenta, Lígia P. Fernandes, Alexander Kupfer, Edmund D. Brodie Jr. & Carlos Jared (2024). Milk provisioning in oviparous caecilian amphibians. Science 383: 1092-1095.
https://doi.org/10.1126/science.adi5379