Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

08.01.2024, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Landwirtschaftliche Nutzung von natürlichen Lebensräumen gefährdet junge Primaten
Das regelmäßige Aufsuchen von Palmölplantagen führt zu einer deutlich erhöhten Sterblichkeitsrate unter jungen Südlichen Schweinsaffen (Macaca nemestrina) in freier Natur. Das zeigt eine neue Studie, die in Current Biology veröffentlicht wurde. Die Forscherinnen begründen dies mit einem höheren Risiko durch Raubtiere und den Menschen. Auch der Kontakt mit potentiell schädlichen Chemikalien, die in der Landwirtschaft zum Einsatz kommen, könnte die Entwicklung der jungen Primaten beeinträchtigen.
Für wildlebende Populationen ist das Überleben des Nachwuchses entscheidend für den Fortbestand der Art in einer sich verändernden Umwelt. Landwirtschaftliche Flächen, die an den tropischen Regenwald angrenzen, können für Wildtiere Fluch und Segen zugleich sein: Während die Plantagen einen einfachen Zugang zu Nahrung versprechen, bergen sie auch Gefahren, die wahrscheinlich dazu beitragen, dass bei verschiedenen Wildtierarten immer weniger Jungtiere überleben.
Besuch von Palmölplantagen erhöht Säuglingssterblichkeit
In einem gemeinsamen Forschungsprojekt der Universiti Sains Malaysia (USM), des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), der Universität Leipzig und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (MPI EVA) untersuchten die Wissenschaftlerinnen mögliche Zusammenhänge zwischen dem Aufsuchen von Palmölplantagen zur Futterbeschaffung und einer besonders hohen Kindersterblichkeit, die sie bei wildlebenden Südlichen Schweinsaffen auf der Malaiischen Halbinsel beobachtet hatten. Bei einer Population, die an die Anwesenheit der Forschenden gewöhnt war, verstarben zwischen 2014 und 2023 insgesamt 57 % aller geborenen Jungtiere innerhalb ihres ersten Lebensjahres – das ist deutlich mehr als das, was für andere wildlebende Primatenarten n erfasst wurde.
Über einen Zeitraum von fast 10 Jahren folgten die Forscherinnen zwei Makakengruppen, die in einer Mosaiklandschaft aus Regenwald und Palmölplantagen leben. Sie fanden heraus, dass durchschnittlich längere Aufenthaltszeiten in den Ölpalmenplantagen während des Säuglingsalters die Wahrscheinlichkeit der Säuglingssterblichkeit verdreifachten. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass auf den Plantagen häufiger Raubtiere sowie Menschen anzutreffen sind. Auch der Kontakt zu potentiell schädlichen Chemikalien wie Pestiziden könnte zu der erhöhten Sterblichkeit beitragen.
„Teilweise ist es relativ eindeutig: Jungtiere fallen streunenden Hunden auf den Plantagen zum Opfer, die dort in Rudeln unterwegs sind, oder sie werden von Menschen eingefangen und illegal als Haustiere verkauft“, erklärt Dr. Nadine Ruppert von der USM, die die Forschungsstation ins Leben rief und leitet. „Aber welche Auswirkungen die Behandlung der Monokulturen mit Pestiziden langfristig auf wildlebende Säugetiere hat, ist weniger offensichtlich und auch kaum untersucht.“
Pestizide könnten fötale Entwicklung beeinträchtigen
In ihrer Studie konnten die Wissenschaftlerinnen außerdem zeigen, dass die Säuglingssterblichkeit erhöht war, wenn die Mutter erstgebärend war oder längere Zeit kein Jungtier zur Welt gebracht hatte. Das steht im Gegensatz zu Studien an unbeeinflussten Wildtierpopulationen, denen zufolge die Sterblichkeit bei einem kürzeren Abstand zwischen zwei Geburten erhöht war. Die Ansammlung oder Aufnahme von Pestiziden im Körper der Mutter könnte hier eine entscheidende Rolle spielen: „Frühere Veröffentlichungen legen nahe, dass bestimmte schädliche Substanzen, die in der Landwirtschaft zum Einsatz kommen, über die Plazenta auf das ungeborene Junge übertragen werden können. Außerdem ist bekannt, dass bestimmte fettlösliche Moleküle über die Muttermilch abgegeben werden“, erklärt Erstautorin Dr. Anna Holzner (iDiv, MPI EVA, UL und USM). „Je länger sich die Chemikalien also im Körper der Mutter ansammeln, desto stärker könnten die Auswirkungen auf die fötale Entwicklung während der Schwangerschaft und auch während der Stillzeit sein.“
Die Studie unterstreicht den dringenden Handlungsbedarf aufgrund der anthropogenen Bedrohung von Tieren in landwirtschaftlich geprägten Landschaften. „Es ist bekannt, dass der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft zu einem drastischen Rückgang von Insekten geführt hat. Daher sind chemische Analysen dringend nötig, um den Einfluss von Pestiziden auf Säugetiere zu untersuchen“, sagt Seniorautorin Prof. Dr. Anja Widdig (UL, MPI EVA und iDiv). „Unsere Ergebnisse zeigen, dass es unbedingt umweltfreundliche Anbaumethoden braucht, die die Risiken für wildlebende Populationen minimieren – und auch für die Menschen, die in der Nähe der Plantagen leben.“
Originalpublikation:
Anna Holzner, Nurul Iza Adrina Mohd Rameli, Nadine Ruppert, Anja Widdig (2024): Agricultural habitat use affects infant survivorship in an endangered macaque species. Current Biology, DOI: https://doi.org/10.1016/j.cub.2023.12.002

09.01.2024, Institute of Science and Technology Austria
Seescheiden nutzen Reibung für die Embryonalentwicklung
Im Töpferstudio hilft uns die Reibung zwischen unseren Händen und dem weichen Ton, ihn in alle möglichen Formen und Kreationen zu verwandeln. Auf erstaunlich ähnliche Weise nutzen die Eizellen von Seescheiden dasselbe Prinzip. Durch die Reibung zwischen den Komponenten in ihrem Zellinneren kommt es zu Formveränderungen, die deren Entwicklung vorantreiben. Wie das funktioniert, zeigt uns eine neue Studie von der Heisenberg Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA), welche im Fachjournal Nature Physics publiziert wurde.
Ein Blick ins Meer eröffnet eine völlig neue Welt. Algen, bunte Fische, Meeresschnecken oder Seescheiden treiben durch die Tiefe des Ozeans. Vor allem Seescheiden oder Aszidien sind besonders außergewöhnlich. Als Larve bewegen sie sich nämlich frei im Wasser, lassen sich dann aber nieder und heften sich an Felsen oder Korallen an. Dort entwickeln sie ihre charakteristischen Röhren (Siphons). Ausgewachsen wirken die Meeresbewohner auf ersten Blick zwar wie gummiartige Klumpen, doch sind sie jene Wirbellose, die mit Menschen am nächsten verwandt sind. Vor allem als Larven sind sie uns erstaunlich ähnlich.
Aus diesem Grund werden sie in der Grundlagenforschung häufig als Modellorganismen zur Untersuchung der frühen Embryonalentwicklung von Wirbeltieren, zu denen wir Menschen gehören, verwendet. „Während Aszidien grundlegende Entwicklungs- und morphologischen Merkmale von Wirbeltieren aufweisen, haben sie zusätzlich die typische zelluläre und genomische Einfachheit von Wirbellosen“, erklärt Carl-Philipp Heisenberg, Professor am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). „Speziell die Aszidienlarve ist ein ideales Modell, um die frühe Wirbeltierentwicklung zu analysieren.“
Detaillierte Einblicke in genau diesen Lebensabschnitt gibt uns nun die neueste Arbeit seiner Forschungsgruppe, die in Nature Physics veröffentlicht wurde. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Reibungskräfte in befruchteten Aszidien-Eizellen eine entscheidende Rolle bei der Umformung und Reorganisation ihres Zellinneren spielen – und somit die nächsten Schritte in ihrer Entwicklungskaskade einläuten.
Die Umgestaltung der Eizellen entschlüsselt
Unter Oozyten versteht man weibliche Keimzellen, die an der Fortpflanzung beteiligt sind. Nach ihrer erfolgreichen Befruchtung durch männliche Spermien kommt es bei tierischen Eizellen typischerweise zu einer zytoplasmatischen Umstrukturierung, bei der sich ihre Zellinhalte und -bestandteile verändern. Dieser Prozess legt den Bauplan für die spätere Entwicklung des Embryos fest. Bei den Aszidien beispielsweise führt dieser Umbau zur Bildung einer glockenartigen Ausstülpung (sozusagen einer kleinen Beule oder Nase), die als Kontraktionspol (CP, aus dem Englischen contraction pole) bekannt ist. In diesem Pol sammeln sich wichtige Materialien, die die Reifung des Embryos fördern. Wie genau diese Ausstülpung aber entsteht, war bis jetzt ungeklärt.
Zusammen mit Kolleg:innen der Université de Paris Cité, dem CNRS, dem King’s College in London und der Sorbonne Université, machten sich Forschende am ISTA daran, dieses Geheimnis zu entschlüsseln. Für dieses Unterfangen wurden erwachsene Seescheiden von der Meeresstation Roscoff in Frankreich nach Klosterneubug an den ISTA-Campus importiert. Beinahe alle Seescheiden sind Hermaphroditen (Zwitter), d.h. sie produzieren sowohl männliche als auch weibliche Keimzellen. „Im Labor halten wir sie artgerecht in Salzwassertanks, um ihre Eier und Spermien für die Untersuchung ihrer frühen Embryonalentwicklung zu gewinnen“, erklärt Silvia Caballero-Mancebo, Erstautorin und ehemalige Doktorandin im Heisenberg Lab.
Aszidien-Eizellen wurden befruchtet und anschließend mikroskopisch untersucht. Dabei stellten die Forschenden fest, dass die Zellveränderungen, die zur Bildung des Kontraktionpols führen, genauestens reproduzierbar sind. Die anfängliche Spurensuche fokussierte sich auf den Aktomyosin-(Zell-)Kortex – eine dynamische Struktur, die sich in tierischen Zellen unter der Zellmembran befindet. Dieses Netzwerk besteht aus Aktin-Filamenten und Motorproteinen und dient im Wesentlichen als Impulsgeber für die Formveränderungen der Zellen.
„Unsere Untersuchung ergab, dass sich der Aktomyosin-Kortex nach der Befruchtung durch die erhöhte Spannung zusammenzieht und dadurch in strömende Bewegung gerät. Dies führt zu den ersten Formveränderungen der Zelle“, so Caballero-Mancebo weiter. Die Aktomyosin-Ströme stoppten jedoch während der Ausweitung des Kontraktionspols – ein Hinweis, dass es eventuell weitere Faktoren gibt, die für die Beule verantwortlich sind.
Reibungskräfte beeinflussen die Umformung der Zellen
Die Wissenschafter:innen machten sich in Folge auf die Suche nach anderen Zellkomponenten, die möglicherweise an der Ausdehnung des Kontraktionspols beteiligt sind. Dabei nahmen sie das Myoplasma genauer unter die Lupe. Bei dieser Zellstruktur handelt es sich um eine Schicht, die sich aus intrazellulären Organellen und Molekülen zusammensetzt (verwandte Formen davon finden sich auch in den Eiern vieler Wirbeltiere und Wirbelloser) und sich im unteren Bereich der Zelle befindet. „Diese spezielle Schicht verhält sich wie ein elastischer Festkörper und verändert so während der Befruchtung ihre Form zusammen mit der Eizelle“, klärt Caballero-Mancebo auf.
Während des stromhaften Fluss des Aktomyosinkortex faltet sich das Myoplasma und bildet aufgrund der Reibungskräfte, die zwischen den beiden Komponenten entstehen, zahlreiche Wölbungen. Wenn die Aktomyosinbewegung aufhört, verschwinden auch die Reibungskräfte. „Dieser Stillstand führt schließlich zu einer Ausdehnung des Kontraktionspols, da sich die zahlreichen Myoplasmawölbungen in eine gut definierte glockenförmige Beule auflösen“, fügt Caballero-Mancebo hinzu.
Die Studie liefert neue Erkenntnisse darüber, wie mechanische Kräfte die Form von Zellen und Organismen bestimmen. Sie verdeutlicht die zentrale Bedeutung von Reibungskräften in der Gestaltung und Formung eines sich entwickelnden Organismus. Allerdings stehen die Wissenschafter:innen erst am Anfang dessen, was die spezifische Rolle von Reibung in der Embryonalentwicklung ausmacht. Heisenberg fügt hinzu: „Außerdem würden wir gerne mehr über das Myoplasma herausfinden, da es auch an anderen embryonalen Prozessen der Aszidien beteiligt ist. Dessen ungewöhnliche Materialeigenschaften zu erforschen und dadurch zu begreifen, wie diese bei der Gestaltung von Seescheiden beteiligt sind, wird besonders spannend.“
Originalpublikation:
S. Caballero-Mancebo, R. Shinde, M. Bolger-Munro, M. Peruzzo, G. Szep, I. Steccari, D. Labrousse-Arias, V. Zheden, J. Merrin, A. Callan-Jones, R. Voituriez & C.P. Heisenberg. 2024. Friction forces determine cytoplasmic reorganization and shape changes of ascidian oocytes upon fertilization. Nature Physics. DOI: https://doi.org/10.1038/s41567-023-02302-1

10.01.2024, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau
Rothirschbestände in Europa: Stärker vom Menschen beeinflusst als von Wölfen und anderen Beutegreifern
• Studie zeigt, dass menschliche Jagd und Landnutzung entscheidend die Rothirschdichte in Europa prägen.
• Nur bei gleichzeitigem Vorkommen von Wolf, Luchs und Bär verringert sich die Rothirschdichte.
• Forschungsergebnisse werfen neues Licht auf die Rückkehr des Wolfes nach Mitteleuropa.
Rothirsche sind, neben vereinzelten Wisenten und Elchen, Europas größtes einheimisches Wildtier. Eine internationale Studie unter der Federführung von Wildtierökolog*innen der Universität Freiburg hat nun die Faktoren untersucht, die sich auf den Bestand von Rothirschen in einem bestimmten Gebiet auswirken. Die Forschenden konnten zeigen, dass die Bestandsdichte der Tiere in Europa vor allem durch menschliche Jagd und Landnutzung beeinflusst wird und nicht durch große Beutegreifer wie Wolf, Luchs und Braunbär. „Während Großraubtiere in ungestörten Ökosystemen oft als Schlüsselfaktoren für die Kontrolle von Beutepopulationen gelten, ist dies in menschlich geprägten Landschaften weniger sichtbar. Unsere Studie verdeutlicht, dass diese Wechselwirkungen kontextabhängig sind“, sagt Dr. Suzanne T. S. van Beeck Calkoen, ehemalige Doktorandin am Lehrstuhl für Wildtierökologie und Naturschutzbiologie an der Universität Freiburg und Erstautorin der Studie.
Die Forschenden sammelten Daten zur Populationsdichte von Rothirschen an über 492 Untersuchungsstandorten in 28 europäischen Ländern und analysierten den Einfluss verschiedener Faktoren wie Lebensraumproduktivität, das Vorhandensein von großen Beutegreifern, menschliche Aktivitäten, klimatische Variablen und Schutzstatus des Gebietes. Die Auswertung der Daten ergab, dass menschliche Jagd die Rothirschdichte stärker verringerte als das Vorkommen aller großen Beutegreifer. Menschliche Landnutzung führte hingegen zu einem Anstieg der Rothirschdichte. Das Vorkommen von großen Beutegreifern hatte in den meisten Fällen keinen statistisch signifikanten Effekt auf die Rothirschpopulation. Nur wenn die drei Beutegreifer Wolf, Luchs und Bär gemeinsam in einem Gebiet vorkamen, sank dort die Zahl der Rothirsche. Allerdings untersuchte die im Journal of Applied Ecology publizierte Studie nicht, wie sich die Präsenz von Beutegreifern auf das Verhalten der Rothirsche auswirkt.
Die Rückkehr des Wolfes
Die Studie wirft auch ein neues Licht auf die anhaltende Diskussion um die Rückkehr des Wolfes in Mitteleuropa, bemerkt Prof. Dr. Marco Heurich, Professor für Wildtierökologie und Naturschutzbiologie an der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen der Universität Freiburg und Initiator der Studie: „Unsere Forschung zeigt, dass die Rückkehr eines großen Beutegreifers wie dem Wolf allein keinen großen Einfluss auf das Vorkommen der Rothirsche hat. Denn in Mitteleuropa überwiegen menschliche Einflüsse sowohl indirekt über Eingriffe in den Lebensraum der Rothirsche als auch direkt durch das Erlegen der Tiere.“ Darüber hinaus sei die Sterblichkeit der Wölfe in mitteleuropäischen Landschaften vor allem durch den Straßenverkehr sehr hoch, was ihren Einfluss auf Beutetierpopulationen zusätzlich einschränke. „Allerdings haben wir auch eine hohe Variabilität der Rothirschdichten gefunden, die darauf hindeuten, dass es spezifische Situationen geben kann, in denen große Beutegreifer sehr wohl einen Einfluss haben. Dies zu untersuchen wird die Aufgabe der nächsten Studien sein“, kommentiert Heurich.
• Originalpublikation: Suzanne T. S. van Beeck Calkoen, Dries P. J. Kuijper, Marco Apollonio, Lena Blondel, Carsten F. Dormann, Ilse Storch, Marco Heurich: „Numerical top-down effects on red deer (Cervus elaphus) are mainly shaped by humans rather than large carnivores across Europe“. In: Journal of Applied Ecology (2023). DOI: 10.1111/1365-2664.14526
https://besjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/1365-2664.14526

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