08.12.2023, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Anpassung an Sauerstoffmangel: Zooplankton beeinflusst Effizienz der biologischen Kohlenstoffpumpe im Humboldtstrom
Organismen im Ozean spielen eine entscheidende Rolle im globalen Kohlenstoffkreislauf. Pflanzliches Plankton nimmt Kohlendioxid aus der Atmosphäre auf und bindet es in organischem Material, das in die Tiefsee absinken und dort über lange Zeiträume gespeichert werden kann. Bislang wurde vermutet, dass dieser Prozess besonders effizient in sauerstoffarmen Gebieten ist. Eine neue Studie von GEOMAR-Forschenden legt nahe, dass der Einfluss bestimmter tierischer Planktonarten auf die sogenannte biologische Kohlenstoffpumpe bislang unterschätzt wurde. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler:innen jetzt im Fachmagazin Communications Earth & Environment veröffentlicht.
Im Ozean sinken organische Partikel aus dem sonnenbeschienenen Oberflächenwasser nach unten. Dieser Prozess ist ein wichtiger Teil der so genannten biologischen Kohlenstoffpumpe. Sie bindet Kohlenstoffdioxid (CO2) aus der Atmosphäre und versorgt die Ökosysteme der Tiefsee mit Energie. Bisher ging die Forschung davon aus, dass die biologische Pumpe in Gebieten mit einer Sauerstoffminimum-Zone (Oxygen Minimum Zone, OMZ) unterhalb der Oberflächenschicht besonders effizient ist. Durch den Sauerstoffmangel könnten Partikelkonsumenten wie Zooplankton den Kohlenstoffexport in die Tiefsee nicht wirksam reduzieren. Forschende des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel widerlegen diese Annahme in einer neuen Studie, die jetzt in der Fachzeitschrift Communications Earth & Environment veröffentlicht wurde. Am Beispiel des tropischen Auftriebsgebietes vor der Küste Perus konnten sie zeigen, welchen Einfluss Zooplanktonarten auf die Effizienz der biologischen Kohlenstoffpumpe in diesen Gebieten haben können.
Die Forschenden konnten nachweisen, dass Zooplanktonarten, die tolerant gegenüber Sauerstoffmangel sind, absinkende Partikel fressen und so den Kohlenstofftransfer in die Tiefsee hemmen. Sie untersuchten die Kohlenstoff-Flüsse und deren Abschwächung vor der Küste Perus in einem Gebiet, in dem sich seit Jahrtausenden eine permanente Sauerstoffminimum-Zone befindet. Dazu sammelten die Wissenschaftler:innen auf zwei Expeditionen mit dem Forschungsschiff METEOR (M136 und M138) im April und Juni 2017 Proben im Humboldtstrom. Sechsmal setzten sie treibende Sinkstofffallen aus, um absinkende Partikel in der Sauerstoffminimum-Zone, in Tiefen zwischen 50 und 600 Metern, aufzufangen und chemisch zu analysieren. Zudem nutzte das Team vertikale Multinetzfänge, die Plankton-Proben aus verschiedenen Tiefen sammeln, und einen Unterwasser-Vision-Profiler (UVP5), eine druckfeste Unterwasserkamera, um hochauflösende Daten über das Vorkommen verschiedener Zooplanktonarten zu erhalten.
„Auf der Grundlage mehrerer unabhängiger Methoden liefern unsere Ergebnisse konsistente Belege dafür, dass Zooplankton mit absinkenden Partikeln auch in sauerstoffarmen Systemen interagiert und dadurch den Kohlenstoffexport in die Tiefsee reduziert. Die vor Peru gefundenen Arten sind gut an ein Leben mit Sauerstoffarmut angepasst. Sauerstoffarme Zonen, die sich in jüngerer Zeit, zum Beispiel aufgrund von Überdüngung, gebildet haben, werden von Tieren weitgehend gemieden“, sagt die Erstautorin der Studie, Dr. Anja Engel, Professorin für Biologische Ozeanographie und Leiterin des Forschungsbereichs Marine Biogeochemie am GEOMAR.
Die Ergebnisse stellen die bislang vorherrschende Annahme einer durchgehend effizienten biologischen Kohlenstoffpumpe in Sauerstoffminimumzonen infrage. „Zooplankton erweist sich erneut als Schlüsselakteur bei der Regulierung der Kohlenstoffpumpe“, erläutert Dr. Engel. Angesichts ihrer Ergebnisse fordern die Autor:innen, dass die Beobachtungen und das Wissen über die Ökosysteme im tiefen Ozean erheblich ausgeweitet werden, um zuverlässige Vorhersagen über den marinen Kohlenstoffkreislauf treffen zu können.
Originalpublikation:
Engel, A. et al (2023): Hypoxia-tolerant zooplankton may reduce biological carbon pump efficiency in the Humboldt current system off Peru. Communications Earth & Environment. https://doi.org/10.1038/s43247-023-01140-6
08.12.2023, Georg-August-Universität Göttingen
Widerstandsfähigkeit und Erfolg invasiver Dreikantmuscheln
Forschungsteam untersucht einzigartige Fasern und Evolution der Tiere
Zebra- und Quaggamuscheln, die zu den Dreikantmuscheln gehören, sind in Westeuropa und Nordamerika weit verbreitet. Die invasiven Süßwasserarten sind eine Gefahr für die Ökosysteme, denn sie konkurrieren mit heimischen Arten um knappe Ressourcen. Auch ihr Hang zum Biofouling macht die Muscheln lästig: Mit Fäden aus einem Sekret namens Byssus haften sie sich unter Wasser hartnäckig an Oberflächen und blockieren so zum Beispiel Einlässe von Wasseraufbereitungsanlagen und Kraftwerken.
Prägend für die Evolution der zu den schädlichsten Arten zählenden Muscheln war ein seltenes genetisches Ereignis vor über zwölf Millionen Jahren. Das haben Forschende unter der Leitung der McGill University (Kanada) und der Universität Göttingen herausgefunden. Ihre Studie zeigt auch, wie die seidenähnlichen Fasern der Muscheln die Produktion nachhaltiger Materialien bereichern können. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift PNAS erschienen.
Für ihre Studie sammelten die Forschenden Material von Zebra- und Quaggamuscheln in Deutschland und Kanada. An der McGill University bestimmten sie mit verschiedenen Techniken die Eigenschaften des Byssusfadens, um zu verstehen, wie das biologische Material das widerstandsfähige Festhalten der Muscheln an nahezu jeder Oberfläche ermöglicht. Die Forschenden der Universität Göttingen identifizierten und sequenzierten ein Gen, das ein Protein des Byssusfadens kodiert. Das Protein stellt die seidenen Fasern her, die für den Byssusfaden typisch sind. Sie modellierten die Struktur und klärten mit Analysen die Evolution des Proteins auf. Prof. Dr. Daniel J. Jackson aus der Abteilung Geobiologie der Universität Göttingen war an den Untersuchungen beteiligt. Er beobachtete Dreikantmuscheln in der Northeimer Seenplatte und sagt: „Es war schockierend zu sehen, wie zahlreich Zebra- und Quaggamuscheln dort vorkommen. Das zeigt, wie invasiv sie sind und wie sie Lebensräume vollständig dominieren.“
Dass die Dreikantmuscheln so widerstandsfähig und erfolgreich sind, führten die Forschenden erstmals auf ein bisher nicht dokumentiertes evolutionäres Ereignis zurück. Jackson erklärt: „Es ist wahrscheinlich, dass vor mehr als zwölf Millionen Jahren ein einzelnes Bakterium fremdes genetisches Material in eine einzige Muschel einschleuste und ihren Nachkommen dadurch die Fähigkeit verlieh, die Fasern herzustellen. Dieser horizontale Gentransfer hat, angesichts der entscheidenden Rolle der Fasern beim Anhaften der Muscheln, deren globale Ausbreitung maßgeblich vorangetrieben.“ Die neuen Erkenntnisse steigern das Verständnis der invasiven Dreikantmuscheln mit ihren Mechanismen des Biofoulings und können Lösungsansätze zur Bewältigung der ökologischen und wirtschaftlichen Schäden bieten.
Die Forschungsarbeit kann darüber hinaus die Entwicklung nachhaltiger Materialien inspirieren. Die Forschenden fanden heraus, dass die Bausteine der Fasern riesige Coiled-Coil-Proteine sind – die größten, die je gefunden wurden. Diese Proteine, die strukturell denen im menschlichen Haar ähneln, verwandeln sich in seidenähnliche Beta-Kristalle, wenn die Muschel die Faser während ihrer Bildung streckt. Diese Methode der Faserbildung kann die biotechnologische Produktion nachhaltiger Fasern erleichtern, denn sie ist deutlich einfacher als die Herstellung von Spinnenseide, auf die sich diese Branche bisher stützt. Prof. Dr. Matthew Harrington von der McGill University erklärt: „Die Fasern der Dreikantmuscheln, die strukturell der Spinnenseide ähneln, können die Entwicklung robuster Polymerfasern inspirieren und zu haltbaren Materialien für Textilien und technische Kunststoffe beitragen.“
Originalpublikation:
Miriam Simmons et al. (2023). Invasive mussels fashion silk-like byssus via mechanical processing of massive horizontally acquired coiled coils. PNAS. https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.2311901120
11.12.2023, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
Die große Vielfalt der Fischmäuler: Welse haften anders als gedacht
Welse kennen einige aus dem heimischen Aquarium als „Fensterputzer“ – denn sie verfügen über ein Mundwerkzeug, mit dem sie sich an ganz unterschiedlichen Oberflächen festsaugen können. Das passiert nicht nur mit einem Unterdruck, den die Fische erzeugen, sondern auch aufgrund der Beschaffenheit ihrer speziellen Münder. Ein Team von Forschenden hat diese besonderen Saugmäuler genauer untersucht und ihre Ergebnisse in einer jüngst erschienenen Studie zusammengefasst.
Insgesamt untersuchte das Team 67 verschiedene Arten von Harnischwelsen und schaute ganz genau auf ihr Maul: Sie wollten genauer herausfinden, wie die Tiere an ihre Umgebung angepasst sind und welche Werkzeuge sie zum Haften an unterschiedliche Oberflächen benötigen. Dabei stießen sie auf eine Diversität, die selbst die Forschenden verblüffte.
Die Welsvielfalt ist überwältigend groß: Es gibt mehr als 1.000 verschiedene Arten der Harnischwelse, Weibchen und Männchen unterscheiden sich dabei oft im Aussehen, was eine Untersuchung noch anspruchsvoller macht. Auch verändern manche Arten ihr Aussehen bedeutend im Laufe ihres Lebens bis sie schließlich ausgewachsen sind. Dass selbst die Saugmäuler der Welse so divers sind, hat auch die Forschenden überrascht – diese sind bestückt mit kleinen, von Schleim überzogenen Erhebungen, die Papillen genannt werden: „Da es sich bei diesen Welsen um eine Fischgruppe handelt, bei denen alle relativ nah miteinander verwandt sind, hätten wir vielleicht eine oder zwei verschiedene Haftstrukturen erwartet. Wir hätten nie gedacht, dass wir bei 67 Arten so diverse Haftstrukturen entdecken, die dann noch mit vielfältigeren Köpfen versehen sind“, fasst Dr. Wencke Krings zusammen, die als Wissenschaftlerin am LIB tätig und Erstautorin der Studie ist.
„Wir erwarten eine noch größere Vielfalt an Haftstrukturen, wenn wir noch mehr Arten untersuchen“, betont Daniel Konn-Vetterlein, ebenfalls im Autorenteam der Studie. Er selbst kennt die Ökologie der Tiere genauestens, da er die Welse auf Expeditionen in Südamerika beobachtet und erforscht. Hervorzuheben ist auch, wie die Tiere für die Studie zusammengetragen wurden: Aquarianerinnen und Aquarianer stellten über Jahre hinweg ihre von selbst gestorbenen Tiere bereitwillig den Forschenden zur Verfügung.
Die Strukturen an den Mäulern der Welse, die für die Haftung zuständig sind, kamen den Forschenden nicht gänzlich neu vor: „Hier finden sich Formen wieder, die wir beispielsweise bereits von Insekten kennen: Insekten, Fische, Tintenfische – viele Tiere, die sich an etwas dranhaften, sind mit ähnlichen Strukturen ausgestattet“, erklärt Wencke Krings. Bei den Welsen sind diese auch von einem Schleim umgeben, der vermutlich zusätzlich zum Unterdruck Haftung verleiht. Vier unterschiedliche Ausprägungen dieser Papillen konnten die Forschenden bei den untersuchten Tieren finden. Die jeweiligen Spitzen dieser Papillen sind noch diverser – hier konnte das Team acht verschiedene Variationen beobachten, die sich an den bereits bekannten Haftstrukturen orientieren. Prof. Stanislav Gorb von der Universität Kiel ist Experte für biologische Haftstrukturen und erklärte die funktionelle Passung der Papillen der Welse an entsprechende Substratoberflächen in der Natur.
Verstärkung aus dem LIB bekam Wencke Krings von Prof. Bernhard Hausdorf, dem Leiter der Sektion Weichtiere am Museum der Natur Hamburg. Beide sind eigentlich auf Schnecken spezialisiert, forschen aber an diesem Projekt nicht gänzlich auf fremden Terrain: Denn wie immer steht die Evolution der Tiere im Zentrum ihrer Forschung. Hausdorf übernahm bei diesem Projekt die Rekonstruktion der Evolution der Haftstrukturen in der Stammesgeschichte. „Die Verteilung der Haftstrukturen über den Stammbaum zeigt, dass die verschiedenen Haftstrukturen mehrfach unabhängig entstanden sind. Möglicherweise haben ähnliche Selektionsfaktoren wie die Beschaffenheit des Substrates, an dem die Tiere haften, zu einer parallelen Entwicklung ähnlicher Strukturen geführt“, fügt Hausdorf hinzu.
Die Studie bietet Raum für zahlreiche neue Ansätze: Was können die Tiere noch mit den Mäulern, außer sich anzusaugen? Welches Maul ist für welchen Lebensraum besonders geeignet? Wie gehen die sehr gebietstreuen Tiere mit dem Wandel ihrer Ökosysteme um? Fragen, auf die künftige Studien von Kolleginnen sowie Kollegen Antworten finden könnten.
Originalpublikation:
Krings W, Konn-Vetterlein D, Hausdorf B, Grob S: Holding in the stream: convergent evolution of suckermouth structures in Loricariidae (Siluriformes). Frontiers in Zoology 20, Article number: 37 (2023). https://doi.org/10.1186/s12983-023-00516-w
11.12.2023, Universität Trier
40 Prozent aller Amphibienarten vom Aussterben bedroht
Eine Fallstudie in der Biogeographie der Universität Trier zu Harlekin-Kröten zeigt aber auch Erfolge von Schutzmaßnahmen auf.
Eine aktuelle Studie unter Federführung von Prof. Dr. Stefan Lötters von der Universität Trier zu den Vorkommen von Harlekin-Kröten aus Süd- und Mittelamerika enthält eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht: Die Forschenden konnten in ihrer Untersuchung mehr als 30 bereits ausgestorben geglaubte Arten der Harlekin-Kröten dokumentieren. Die schlechte Nachricht: Speziell diese Kröten könnten in Zukunft verstärkt unter dem Klimawandel leiden. Zudem stehen die Tiere als Fallbeispiel stellvertretend für die anhaltend starke Bedrohung aller Amphibienarten weltweit. Diese Hiobsbotschaft verbinden die Forschenden mit einem deutlichen Appell: „Es ist jetzt wichtiger denn je, die Bemühungen fortzusetzen und zu verstärken, um dem Notstand zu entkommen, den die Amphibienkrise immer noch darstellt.“
Die Erde beheimatet fast 9.000 Amphibienarten. Seit mehr als 100 Jahren leiden diese Tiere unter den Folgen von Abholzung, Landwirtschaft, Entwässerung von Feuchtgebieten, landwirtschaftlichen Chemikalien und Umweltverschmutzung. Laut der kürzlich aktualisierten Roten Liste der Internationalen Naturschutzorganisation International Union for the Conservation of Nature (IUCN) sind 40 Prozent aller Amphibienarten vom Aussterben bedroht. In jüngster Zeit sind neuartige Bedrohungen aufgetaucht. Dazu gehören der Klimawandel und durch den Menschen weltweit verbreitete Pilze, die bei Amphibien gefährliche bis tödliche Hautinfektionen verursachen.
Bereits vor 30 Jahren haben Forscher, Naturschützer und andere Interessengruppen die Krise der Amphibien erkannt. Dank verschiedener Initiativen auf globaler, regionaler und lokaler Ebene konnte das Wissen über die Ursachen des Rückgangs von Populationen, die dahinterstehenden Mechanismen und die Wechselwirkungen zwischen den Bedrohungen erheblich erweitert werden. Auf Basis dieser Erkenntnisse konnten gezielte Maßnahmen ergriffen werden, etwa zum Schutz natürlicher Lebensräume oder eine begleitende Zucht in menschlicher Obhut. Auch Krankheiten und ihre Erreger sind jetzt besser bekannt.
Dennoch ist es schwierig, den Stand der Amphibienkrise exakt zu beurteilen. Die Bedrohungen und die Anfälligkeit sind nicht bei allen Arten gleich und zu vielen hat die Wissenschaft nicht genügend Informationen. Amphibien, die stärker leiden, stellen „Worst-Case-Szenarien“ der Amphibienkrise dar. Zu ihnen gehören Harlekin-Kröten der Gattung Atelopus, von denen mehr als 130 Arten bekannt sind. Es handelt sich um kleine, oft farbenfrohe und tagaktive Tiere, die in Tiefland-Regenwäldern bis hin zu den moorähnlichen Paramo-Landschaften oberhalb der Baumgrenze in den Anden vorkommen.
Wissenschaftler haben seit den frühen 1990er-Jahren Daten zu ihrem Populationsstatus erhoben. Darauf konnten Lötters und 99 Kolleginnen und Kollegen, überwiegend Naturschützende und Forschende aus den Ländern, in den Harlekin-Kröten leben, in ihrer kürzlich in der Zeitschrift „Communications Earth and Environment“ veröffentlichten internationalen Studie aufbauen. Sie verglichen Daten zum Populationsstatus dieser Amphibien von 2004 und 2022, um die artspezifischen Trends in den letzten zwei Jahrzehnten zu untersuchen.
Ihre Studie bestätigt, dass die massiven Bemühungen von Wissenschaftlern, Naturschützern und lokalen Gemeinschaften zum Schutz der Tiere Erfolg hatten, beispielsweise anhand des Überlebens der 30 Arten, die als ausgestorben galten. Diese Entdeckung, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sei aber kein Grund für Entwarnung. Da die Atelopus-Arten sehr empfindlich auf Bedrohungen reagieren, ist ihr Bestand weiter vom Aussterben bedroht. Die Studie zeige zugleich, dass sich der Erhaltungszustand aller Amphibienarten nicht verbessert hat. „Ohne diese Investitionen in den Schutz der Tiere sowie die Arbeit und die Leidenschaft engagierter Akteure wären heute viele Amphibienarten bereits ausgestorben“, stellt Professor Stefan Lötters fest.
Originalpublikation:
Stefan Lötters u.a.:
Ongoing harlequin toad declines suggest the amphibian extinction crisis is still an emergency.
In: Communications Earth & Environment, 4 (2023).
http://www.nature.com/articles/s43247-023-01069-w
12.12.2023, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Artenreichtum unter der Erde: Neue umfassende Genomdaten wirbelloser Bodenlebewesen tragen zu deren Schutz bei
Sie sind winzig klein, enorm vielfältig und im Erdboden weit verbreitet: wirbellose Bodenlebewesen wie Springschwänze, Hornmilben, Tausendfüßer oder Fadenwürmer. Im Ökosystem Boden übernehmen diese Tiere wichtige Aufgaben. Daher rücken sie auch zunehmend in den Blickpunkt von behördlichen Maßnahmen zur Erhaltung der biologischen Vielfalt im Boden. Mit dem Projekt „MetaInvert“ stellen Wissenschaftler*innen umfangreiche genomische Daten zu 232 Arten dieser bisher wenig erforschten Organismen bereit. Die Informationen tragen erheblich zur Identifizierung sowie zum Wissen über Zusammensetzung und Funktion von Gemeinschaften und die Entdeckung evolutionärer Anpassungen an Umweltbedingungen bei.
Sie sind winzig klein, enorm vielfältig und im Erdboden weit verbreitet: wirbellose Bodenlebewesen wie Springschwänze, Hornmilben, Tausendfüßer oder Fadenwürmer. Im Ökosystem Boden übernehmen die oft nur unter dem Mikroskop sichtbaren Tiere wichtige Aufgaben. Daher rücken sie auch zunehmend in den Blickpunkt von behördlichen Maßnahmen zur Erhaltung der biologischen Vielfalt im Boden. Doch durch welche Eigenschaften und Fähigkeiten genau zeichnen sich die einzelnen Arten aus, welche Informationen gibt ihr Erbgut preis und wie haben sie sich im Laufe der Evolution entwickelt? Mit dem Projekt „MetaInvert“ stellt ein internationales Team von Wissenschaftler*innen umfangreiche genomische Daten zu 232 Arten dieser bisher wenig erforschten Organismen bereit. Die Informationen tragen erheblich zur Identifizierung sowie zum Wissen über Zusammensetzung und Funktion von Gemeinschaften und die Entdeckung evolutionärer Anpassungen an Umweltbedingungen bei.
Für die Gesundheit des Erdbodens ist ihre Leistung unerlässlich: Heerscharen von kleinen vielzelligen, aber wirbellosen Tieren zersetzen unermüdlich organisches Material, regulieren die Aktivität von Mikroorganismen und befördern den Kreislauf von Nährstoffen und die Speicherung von Wasser. Damit tragen sie nicht zuletzt zur Produktion von Nahrungsmitteln für uns Menschen bei. Doch so wichtig – und inzwischen auch in ihrer Bedeutung für den Boden anerkannt – Bodentiere auch sind; ihre umfassende Erforschung steht noch aus. Hier setzt das Projekt „Metagenomic monitoring of soil communities (MetaInvert)“ an, das am hessischen LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (TBG) entwickelt wurde und an dem sich neben TBG- und Senckenberg-Wissenschaftler*innen auch Forschende aus Frankreich, Spanien und Schweden beteiligen.
In einer Studie, veröffentlicht im Journal „Communications Biology“ aus der Gruppe der „Nature“-Fachzeitschriften, beschreiben sie ihren Ansatz und die von ihnen angewendeten neuen Methoden der Genomik. „Die wirbellosen Bodenlebewesen sind aufgrund ihrer mikroskopisch kleinen Größe und ihrer unglaublichen Vielfalt schwer zu erfassen. Wir vermuten, dass es weltweit noch Hunderttausende unbeschriebener Arten gibt. Neue genomische Analysemethoden ermöglichen nun ganz neue Einblicke“, berichtet Studienleiter Miklós Bálint, Professor für Funktionale Umweltgenomik am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, der Justus-Liebig-Universität Gießen und Co-Sprecher bei LOEWE-TBG.
Die Wissenschaftler*innen setzen vor allem auf Methoden der Metagenomik und Metatranskriptomik. „Während DNA- und RNA-basierte Methoden bereits seit langem zur Unterstützung der traditionellen Taxonomie und ökologischer Studien in schwierig zu analysierenden Organismengruppen angewendet werden, sequenzieren wir mit der ‚Shotgun Metagenomik‘ DNA-Fragmente aus einer Probe nach dem Zufallsprinzip. Da sie alle vorhandenen genomischen Informationen zur taxonomischen Identifizierung nutzen kann, stellt sie einen zunehmend praktikablen Ansatz dar, um das Vorhandensein höherer Lebewesen mit Zellkern, sogenannter Eukaryoten, zu erfassen“, erläutert Bálint.
Mittels Metatranskriptomik werden wiederum Gene aufgespürt, die aktiv in Ribonukleinsäuren (RNA) als wichtige Informations- und Funktionsträger einer Zelle umgeschrieben werden und somit laufende biologische Prozesse steuern. Dies gibt Aufschluss über die Stoffwechselaktivität der Mitglieder der Bodengemeinschaft und über funktionelle Veränderungen in diesen Gemeinschaften.
Umfassende Genomsammlungen und -datenbanken bilden laut der Studienautor*innen gewissermaßen das „Rückgrat“ dieser beiden Methoden. „Im Rahmen unserer Studie haben wir mit der genomischen Analyse der 232 unterschiedlichen Arten nun eine große genomische Ressource geschaffen, um Einblicke in die Struktur, die Aktivität und die Funktionsweise von Gemeinschaften wirbelloser Bodenbewohner zu gewinnen. Darüber hinaus konnten wir bestätigen, dass Theorien zur Genomevolution nicht über evolutionär unterschiedliche Wirbellosengruppen hinweg verallgemeinert werden können“, so Bálint.
Mit ihren Ergebnissen wollen die Autor*innen dazu beitragen, das Verständnis und den Schutz der biologischen Vielfalt im Boden zu stärken. Die neuen Erkenntnisse und Methoden ermöglichen laut der Studie ein detaillierteres Monitoring sowohl der Zusammensetzung als auch der Funktion von Gemeinschaften. Zudem könnten evolutionäre Anpassungen an veränderte Bodenbedingungen nachvollzogen werden.
Das parallel ebenfalls am LOEWE-Zentrum TBG initiierte Teilprojekt „MetaInvert-ISO“ hat die Erstellung eines Katalogs von standardisierten Analyseverfahren zur Beurteilung der Bodenbiodiversität zum Ziel. Anhand dieser Verfahren könne die Erfassung, Bestimmung und Nutzung von belastbaren taxonomischen Daten zum Schutz der Bodenbiodiversität in transparenter und zugleich praktikabler Weise – unabhängig von gesetzlichen Anforderungen – erfolgen.
Originalpublikation:
Publikation in Communications Biology:
Gemma Collins, Clément Schneider, Ljudevit Luka Boštjančić, Ulrich Burkhardt, Axel Christian, Peter Decker, Ingo Ebersberger, Karin Hohberg, Odile Lecompte, Dominik Merges, Hannah Muelbaier, Juliane Romahn, Jorg Rombke, Christelle Rutz, Rudiger Schmelz, Alexandra Schmidt, Kathrin Theissinger, Robert Veres, Ricarda Lehmitz, Markus Pfenninger, Miklós Bálint
“The MetaInvert soil invertebrate genome resource provides insights into below-ground biodiversity and evolution”
https://doi.org/10.1038/s42003-023-05621-4
14.12.2023, Philipps-Universität Marburg
Forschungsteam knüpft Datennetz der Artenvielfalt
Arten überwachen sich selbst: Eine Forschungsgruppe um den Marburger Geographen Dr. Dirk Zeuss hat ein neuartiges Konzept zur vernetzten Umweltbeobachtung vorgeschlagen, mit dem sich weite Naturräume über lange Zeit abbilden lassen, ohne dass die Detailgenauigkeit verlorengeht. Das vierzigköpfige Team nutzt unter anderem Tiere und Pflanzen als Träger von Messgeräten und Kameras, um Daten aus natürlichen Lebensräumen zu gewinnen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichten im Fachblatt „Global Change Biology“ über ihre Ergebnisse.
Fachleute warnen seit langem: Im medialen Schatten des Klimawandels vollzieht sich ein einschneidendes Artensterben, das auch die Ökosysteme als Ganzes und deren Leistungen gefährdet. Um sinnvoll gegenzusteuern, benötigt man Daten über den Artenbestand und dessen Veränderung. „Dabei geht bislang die Detailgenauigkeit auf Kosten des zeitlichen und räumlichen Umfangs und umgekehrt“, erklärt der Umweltinformatiker Dr. Dirk Zeuss von der Philipps-Universität Marburg, der als Erstautor der vorliegenden Studie firmiert.
So geben Satellitendaten unter anderem Auskunft über die Pflanzendecke und deren jahreszeitliche Veränderung, jedoch nicht über die Arten, aus denen sich die Vegetation zusammensetzt. Um natürliche Lebensräume als Systeme verstehen zu können, wird ein dauerhaftes Monitoring benötigt, das Informationen zu Artenvielfalt, Ökosystemleistungen und Umweltbedingungen in der Fläche liefert.
Hier setzt das Projekt „Natur 4.0“ an, das in Marburg angesiedelt ist und Fördergeld aus dem „LOEWE“-Programm des Landes Hessen erhielt. „Das interdisziplinäre Projekt kombiniert Beobachtungen von Fachleuten mit vernetzten Fernerkundungs- und Umweltsensoren“, erläutert Zeuss. Die Sensoren sind beispielsweise an ferngesteuerten Fluggeräten, fahrenden Robotern, an Bäumen oder Tieren angebracht.
„Unser vernetztes Sensorsystem besteht aus drei eng miteinander verknüpften Hauptkomponenten“, führt Zeuss aus, „nämlich Sensoren, Datenübertragung und Datenspeicherung.“ Als Testgebiet dient der Universitätswald der Philipps-Universität im oberhessischen Caldern. „Wir haben unsere neuen Verfahren der Umweltbeobachtung im Universitätswald ausprobiert, der als ‚Marburg Open Forest‘ ein wichtiger Bestandteil von Forschung und Lehre an der Philipps-Universität ist“, erzählt der Geograph.
Tiere und Pflanzen bilden dabei keine reinen Objekte der Beobachtung, sondern dienen als Teil der Infrastruktur. „Wir stellen unsere eigenen Anwendungsbeispiele aus der Praxis vor“, berichtet der Umweltinformatiker. So befestigte das Team Minikameras oder Trackinggeräte an Vögeln und Fledermäusen, die dadurch beständig Daten über ihren Lebensraum und ihr Verhalten liefern.
„Vernetzte Sensorsysteme haben das Potenzial, die Überwachungslücke zwischen Beobachtungen im Feld und flächendeckender Fernerkundung zu schließen“, resümiert Zeuss. „Sie ermöglichen den Praktikern ein dichtes Beobachtungsnetz, das die biologische Vielfalt nahezu in Echtzeit abbildet, was mit Feldbeobachtungen allein nicht möglich wäre. Im Ergebnis zeigt Natur 4.0, dass ein Umweltmonitoring mit kostengünstigen und modularen Sensorkomponenten möglich ist.“
Der Geograph Dr. Dirk Zeuss vertritt derzeit die Professur für Umweltinformatik an der Philipps-Universität Marburg, solange Mitverfasser Professor Dr. Thomas Nauss als Universitätspräsident amtiert. Neben den Marburger Fachbereichen Geographie, Biologie sowie Mathematik und Informatik beteiligten sich die Universitäten in Gießen, Frankfurt am Main, Darmstadt sowie Paris und das Senckenberg-Institut in Frankfurt an den Forschungsarbeiten, die vom Land Hessen durch die Landesexzellenzinitiative „LOEWE“ finanziell unterstützt wurden.
Originalveröffentlichung: Dirk Zeuss & al.: Nature 4.0: A networked sensor system for integrated biodiversity monitoring, Global Change Biology 2023, DOI: https://doi.org/10.1111/GCB.17056
14.12.2023, Deutsche Wildtier Stiftung
Das Rotkehlchen – Wissenswertes über den Weihnachtsvogel
Weihnachten steht vor der Tür und ein Wildtier finden wir besonders oft auf Weihnachtskarten, Tannenbaumschmuck und Tischdekoration: das Rotkehlchen. Der kleine Singvogel mit dem rot gefärbten Brustgefieder ist der Weihnachtsvogel schlechthin. Warum ist das so? Vermutlich ist dies ein Trend, der aus Großbritannien zu uns übergeschwappt ist. Denn dort ist das Rotkehlchen aus kaum einem weihnachtlich geschmückten Zimmer wegzudenken. Laut einer christliche Legende, deren Urheber nicht bekannt ist spielt der kleine Vogel eine wichtige Rolle in der Weihnachtsgeschichte: In der Nacht von Jesu Geburt waren nicht nur Ochs und Esel bei Maria und Josef im Stall, sondern auch ein braunes Vögelchen. Ein Feuer brannte. Als es zu verlöschen drohte, weil die Menschen schliefen und niemand aufpasste, flog der Vogel zur Glut und fachte das Feuer mit eifrigen Flügelschlägen wieder an. Dabei trafen die auffliegenden Funken seine Brust und färbten sie orangerot. „In der Natur haben Rotkehlchen ihr auffällig gefärbtes Brustgefieder, um während der Brutzeit im Frühjahr Rivalen zu vertreiben“, erklärt Lea-Carina Mendel, Ornithologin bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Im Winter, wenn es um die Nahrungssuche geht, geht es unter Rotkehlchen aber friedlicher zu. „Da werden Artgenossen in der Regel im Revier geduldet“, so Mendel.
Rotkehlchen ernähren sich vor allem von Insekten, Spinnen und Weichtieren. Ihr Schnabel ist pinzettenförmig – perfekt zum Herausziehen von Insektenlarven und Regenwürmern aus dem Boden oder zum Picken nach in Baumrinden oder Erdgängen versteckten Krabbeltieren. Es zählt damit zu den sogenannten Weichfutterfressern, genau wie Amsel oder Heckenbraunelle. „Solange der Boden im Winter nicht zufriert, nicht zu verdichtet ist und die Vögel in der Erde oder unter Laubhaufen noch nach Nahrung suchen können, finden sie in wilden und naturnahen Gärten ausreichend Futter“, sagt Lea-Carina Mendel. Sinkt das Thermometer aber unter null Grad, können die Vögel den gefrorenen Boden nicht mehr aufpicken. Dann sind Rotkehlchen wie auch andere Weichfutterfresser auf verrottetes Laub angewiesen, in dem sie Kleinlebewesen wie Käfer und Spinnen finden. Auch früchte- und beerentragende Gehölze wie Pfaffenhütchen, Liguster, Hartriegel, Holunder, Schneebeere, Efeu oder Faulbaum helfen, die futterarme Zeit zu überstehen.
Auch eine Futterstelle kann Rotkehlchen und andere Singvögel im Winter unterstützen: „Am besten füllt man sie mit getrockneten Mehlwürmern, Fettfutter, Rosinen oder Sonnenblumenkernen“, sagt Mendel. Das Futter kann auf dem Boden in einer Schale angeboten werden. „Wer verhindern möchte, dass auch Ratten und Mäuse sich bedienen, stellt die Schale nur am Tag raus und säubert am Abend den Boden von Resten“, rät die Vogelexpertin.
Rotkehlchen sind sowohl Standvögel als auch Teilstreckenzieher. Das heißt, sie verbringen das ganze Jahr bei uns oder aber sie ziehen nach der Brutzeit im Herbst in wärmere Gebiete Richtung Mittelmeerraum. „Dann sind sie von Portugal bis weit über Zypern hinaus zu finden“, sagt Lea-Carina Mendel. Viele Rotkehlchen, die wir bei uns im Winter im Garten sehen, kommen auch aus den skandinavischen Ländern oder aus dem Baltikum zu uns. Britische Forscher haben übrigens festgestellt, dass einige Rotkelchen lieber nachts als am Tage singen, weil es dann stiller ist. Stille Nacht, heilige Nacht!
15.12.2023, Universität Duisburg-Essen
Wie kann Europa seine Natur wiederherstellen? Das EU-Parlament stimmt Anfang 2024 ab
Anfang 2024 wird das Europäische Parlament endgültig über das „Gesetz zur Wiederherstellung der Natur“ abstimmen. Die international einzigartige und heiß diskutierte Verordnung hat das Ziel, den Verlust der biologischen Vielfalt in Europa aufzuhalten und umzukehren. Ein internationales Team von Wissenschaftler:innen unter Leitung der Universität Duisburg-Essen hat untersucht, wie erfolgsversprechend dieses Gesetz ist. Der Artikel wurde am 14.12.2023 in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht.
Das „Gesetz zur Wiederherstellung der Natur“ (Nature Restoration Law, NRL) verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten, bis 2030 wirkungsvolle Renaturierungsmaßnahmen zu ergreifen: bis 2030 auf mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen und bis 2050 in allen Ökosystemen, die einer Wiederherstellung bedürfen. Zentrale Punkte betreffen die Wiedervernässung entwässerter Moore sowie die Erholung von Bestäuberpopulationen. Das NRL hat im EU-Parlament bereits mehrere Hürden genommen: Zuletzt wurde es vom Umweltausschuss des EU-Parlaments gebilligt, nachdem Delegationen des Parlaments und des Rates den endgültigen Text verhandelt hatten. Für Anfang 2024 ist nun die Abstimmung des Europäischen Parlaments über das NRL geplant.
Aber wird die Verordnung ihre Ziele wirklich erreichen? Die Autor:innen der Studie sind ausgewiesene Expert:innen, die große europäische Projekte zur Renaturierung und zur biologischen Vielfalt leiten. Sie haben die Erfahrungen mit anderen europäischen Umweltrichtlinien und -strategien analysiert und darauf aufbauend die Erfolgsaussichten der NRL bewertet.
„Das NRL verfolgt viele erfolgsversprechende Ansätze und verdeutlicht, dass die EU Kommission von Erfahrungen mit ähnlichen Rechtsvorschriften gelernt hat. Ein zentraler Aspekt dabei: Mit der Konstruktion des NRL umgeht die EU-Kommission mehrere Fallstricke, die die Umsetzung europäischer Politiken und Verordnungen oft behindern“, sagt Prof. Dr. Daniel Hering von der Universität Duisburg-Essen, Erstautor der Studie. „Die Verordnung definiert klare Ziele und Zeitpläne und legt die Umsetzungsschritte fest. Sie muss zudem nicht, wie eine Richtlinie, formal in nationales Recht umgesetzt werden und spart damit Zeit.“ Dennoch wird die konkrete Umsetzung auf der Ebene der Mitgliedsstaaten für den Erfolg des NRL entscheidend sein. „Während die Ziele des EU-Gesetzes genau definiert und verbindlich sind, müssen die Schritte zu ihrer Erreichung im Detail von den europäischen Ländern entschieden und durchgeführt werden, und die meisten von ihnen sind freiwillig“, erläutert Prof. Dr. Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), einer der Autoren der Studie.
Ein weiterer erfolgsentscheidender Aspekt: Die Zusammenarbeit der Politik mit den Landnutzer:innen, insbesondere mit der Landwirtschaft. „Die intensive Landwirtschaft ist nach wie vor eine der Hauptursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt in Europa“, ordnet der Senior-Autor Guy Pe’er ein. „Aber die Ziele der Landwirtschaft und der Renaturierung könnten miteinander verknüpft werden, so dass beide Seiten davon profitieren können. Die Landwirtschaft profitiert direkt von gesunden Böden und sich erholenden Bestäuberpopulationen sowie von einem verbesserten Landschaftswasserhaushalt – das zeigt, wie sich die Ziele des NRL mit einem Nutzen für die Landwirtschaft verbinden lassen.“ Die Autor:innen kommen zu dem Schluss, dass ein Einsatz von Fördermitteln der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU auch zur Zielerreichung des NRL entscheidend sein wird: eine in Fachwelt und Anwendung kontrovers diskutierte These.
Insgesamt bewerten die Autor:innen das NRL positiv. Sie machen jedoch deutlich, dass eine ehrgeizige nationale Umsetzung und die Zusammenarbeit mit Wirtschaftssektoren wie der Landwirtschaft letztlich über den Erfolg der Renaturierung in Europa entscheiden werden.
Originalpublikation:
www.science.org/doi/10.1126/science.adk1658
15.12.2023, Ludwig-Maximilians-Universität München
Tödliches Hühnervirus: Alte DNA enthüllt Evolution der Virulenz
Ein internationales Team um LMU-Paläogenetiker Laurent Frantz hat mittels genetischer Analysen die Evolutionsgeschichte des Erregers einer tödlichen Hühnerkrankheit enthüllt.
Die Mareksche Krankheit ist eine in Deutschland meldepflichtige Tierkrankheit, die vom weltweit verbreiteten Marek-Virus (MDV) verursacht wird. Im letzten Jahrhundert wurde das Virus, das bei Hühnern Tumoren hervorruft und mit einer hohen Sterblichkeit verbunden ist, immer aggressiver. Seine Bekämpfung kostet die Geflügelindustrie jährlich über eine Milliarde Dollar. Ein internationales Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter der Leitung von LMU-Paläogenomiker Professor Laurent Frantz sowie Professor Greger Larson und Professor Adrian Smith von der Universität Oxford hat nun mithilfe alter DNA die Evolution des Marek-Virus entschlüsselt und aufgeklärt, was hinter der steigenden Virulenz steckt.
Das internationale Team aus den Fachbereichen Paläogenetik, Archäologie und Biologie isolierte Virengenome von bis zu 1000 Jahre alten Hühnerknochen aus 140 archäologischen Stätten in Europa und dem Nahen Osten. „Unsere Daten zeigen, dass das Virus mindestens 1.000 Jahre vor der ersten Beschreibung der Krankheit im Jahr 1907 bereits weit verbreitet war“, sagt Frantz. Als die Krankheit zum ersten Mal beschrieben wurde, führte sie nur bei älteren Hühnern zu leichten Symptomen. Mit dem drastischen Anstieg der Hühnerhaltung in den 1950er- und 1960er-Jahren hat sich das Virus weiterentwickelt und wurde trotz der Entwicklung mehrerer Impfstoffe immer virulenter.
Alte Virenstämme verursachten wahrscheinlich keine Tumoren
Durch den Vergleich mit Virusgenomen moderner Vögel ermittelten die Forschenden Mutationen in mehreren Genen, die wahrscheinlich den Schweregrad der Infektion bestimmen und mit der Zunahme der Virulenz in Verbindung stehen. Eines dieser viralen Gene – Meq – ist für die Tumorbildung verantwortlich. Indem sie alte und moderne Formen des Meq-Gens mithilfe von Zellkulturen testeten, wiesen die Forschenden nach, dass die alte Form weniger aggressiv war als die moderne – die alten Virenstämme waren daher wahrscheinlich nicht in der Lage, Tumoren zu verursachen.
Die Autoren vermuten, dass die steigende Virulenz einerseits auf die Zunahme der weltweiten Hühnerpopulation seit den 1950er-Jahren zurückzuführen sei, wodurch sich auch die Zahl neuer Mutationen erhöht habe. Außerdem habe die Verwendung bestimmter Impfstoffe, die zwar symptomatische Erkrankungen verhindern, aber die Übertragung des Virus nicht unterbinden, wahrscheinlich zu einer beschleunigten Evolution der Virulenz geführt.
„Unsere Ergebnisse entschlüsseln nicht nur die Evolutionsgeschichte des Marek-Virus, sondern bilden auch die Grundlage für ein besseres Verständnis der Virulenz des Erregers“, sagt Erstautor Steven Fiddaman von der Universität Oxford. „Durch die Kombination alter DNA-Techniken mit moderner Genomik haben wir ein Fenster in die Vergangenheit geöffnet, das uns bei künftigen Strategien zur Bewältigung von Viruserkrankungen helfen kann.“
Originalpublikation:
Fiddaman et al.: Ancient chicken remains reveal the origins of virulence in Marek’s disease virus. Science 2023
15.12.2023, Deutsche Wildtier Stiftung
Alle Jahre wieder – keine Schonzeit für Gämsen in den Bayerischen Alpen
Vor fast 40 Jahren hat der Bayerische Landtag die Sanierung und damit die Wiederbewaldung von Schutzwaldflächen in den Bayerischen Alpen beschlossen. Nachdem in den ersten Jahren vor allem Pflanzungen und technische Schutzmaßnahmen erfolgten, stehen heute Gämsen, Hirsche und Rehe im Fokus der Schutzwaldsanierer: Weil die Knospen junger Bäume zum Nahrungsspektrum der Paarhufer gehören, gibt es für sie seit fast 25 Jahren in vielen Gebieten keine Schonzeit mehr. Und so endet die Jagdzeit auf Gämsen in den Bergen am 15. Dezember erneut stellenweise nur auf dem Papier.
„Allein in Oberbayern gibt es auf über 25 000 Hektar keine Schonzeit“, sagt Dr. Andreas Kinser, Leiter Natur- und Artenschutz der Deutschen Wildtier Stiftung. Erhebungen der Stiftung zeigen, dass die Bayerischen Staatsforsten, die etwa 80 Prozent des Gamslebensraums bewirtschaften, fast jede fünfte Gams in der Schonzeit erlegen. In den Chiemgauer Alpen gibt es zum Beispiel auf nahezu allen gut geeigneten Winterlebensräumen des Gamswildes keine Schonzeit – diese Flächen werden zur Todesfalle für die Gämsen. Paradox: Es gibt Gebiete, die von Skifahrern oder Wanderern aus Rücksicht auf die Wildtiere gemieden werden sollen – in denen aber ganzjährig gejagt werden darf. „Die Schonzeit wird hier zum scheinheiligen Versprechen“, sagt Kinser.
Die Erfolge der dauerhaften Bejagung von Gämsen und anderen Wildtieren sind mehr als zweifelhaft: Seit Beginn der Schutzwaldoffensive in den 1980er-Jahren sind nur sehr wenige Flächen aus der Sanierungsphase entlassen worden – die Wiederbewaldung war trotz immer größerer Investitionen in die Jagd nicht erfolgreich. Stattdessen stehen die Gämsen mittlerweile in der Kategorie „Vorwarnliste“ auf der Roten Liste der Säugetiere Deutschlands. Analysen der Deutschen Wildtier Stiftung zeigen, dass das Durchschnittsalter der erlegten Gämsen im Landkreis Traunstein gerade einmal 2,5 Jahre beträgt – wildbiologisch notwendig wäre etwa das Dreifache. „Die starke Nutzung junger und jüngster Altersklassen zeigt, dass die Gämsenpopulationen regional bereits stark übernutzt und destabilisiert sind“, kritisiert Andreas Kinser.
Die oberbayerische Schonzeitaufhebungsverordnung läuft im Februar 2024 aus. Die Deutsche Wildtier Stiftung fordert, sie nicht weiter zu verlängern. „Im Rahmen der gesetzlichen Jagdzeiten können die Schutzziele im bayerischen Bergwald erreicht werden“, so Kinser. Auch ein Blick in die Nachbarländer lohnt: In Frankreich, Italien oder der Schweiz existieren Wildruhezonen, in denen Gämsen nicht gejagt werden dürfen und die möglichst frei von menschlichen Störungen gehalten werden. Solche Wildruhe- oder Jagdschongebiete wären auch in den Bayerischen Alpen ein wichtiges Instrument, um den Tieren gerade jetzt, wo der Schnee bereits Anfang Dezember meterhoch liegt, die dringend nötige Ruhe zu gewähren. Nicht zuletzt fordert die Stiftung ein repräsentatives Monitoring, das Aussagen über die wichtige Alters- und Sozialstruktur der Gämsen zulässt.