Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

29.11.2023, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Das Gift war vor dem Stachel da: Erbgutanalyse beleuchtet Herkunft des Bienengifts
Bienen, Wespen und Ameisen gehören zur Gruppe der Hautflügler und injizieren bei einem Stich einen ganzen Cocktail an Giftkomponenten. Trotz ihrer immensen ökologischen und ökonomischen Bedeutung war bislang wenig über die Herkunft ihres Gifts bekannt. Ein Wissenschaftsteam um Dr. Björn von Reumont von der Goethe-Universität Frankfurt hat jetzt mittels umfangreicher Gen-Analysen herausgefunden, dass typische Gift-Bestandteile bereits bei den frühesten Vorfahren der Hautflügler vorhanden waren und sich somit vor der Entstehung des Stachels von Biene & Co. entwickelt haben müssen. Anders als bisher vermutet findet sich zudem das Gen für den Giftstoff Melittin ausschließlich bei Bienen.
Gifte haben sich in vielen Tiergruppen unabhängig voneinander entwickelt. Eine Tiergruppe, in der viele Gift produzierende Tiere vorkommen, sind die Hautflügler. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Insekten, zu denen auch die Stechimmen – also Bienen, Wespen und Ameisen – gehören. Die Hautflügler sind sehr artenreich; alleine die Bienen zählen mehr als 6000 Arten. Trotz der großen ökologischen und ökonomischen Bedeutung der Hautflügler ist über die evolutive Entstehung ihrer Gifte aber noch sehr wenig bekannt.
Forscher:innen um Dr. Björn von Reumont, der als Gastwissenschaftler im Arbeitskreis für Bioinformatik am Institut für Zellbiologie und Neurowissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt arbeitet, haben nun erstmals anhand von systematischen Erbgutvergleichen untersucht, wie sich die wichtigsten Bestandteile des Gifts der Bienen und anderer Hautflügler in der Evolution entwickelt haben. Die Gifte sind komplexe Gemische, die sich aus kleinen Eiweißen (Peptiden) und wenigen großen Proteinen und Enzymen zusammensetzen. Stechimmen injizieren diesen Giftcocktail mit Hilfe eines spezialisierten Stechapparats aktiv in die Beute oder den Angreifer.
Im ersten Schritt bestimmten die Forscher:innen, welche der Peptide und Proteine im Gift unter den Hautflüglern am weitesten verbreitet waren. Dafür griffen sie auf die – allerdings bislang spärlich vorhandenen – Informationen aus Proteindatenbanken zurück. Zusätzlich analysierten sie selbst die Proteine in den Giften zweier Wildbienenarten – der Violetten Holzbiene (Xylocopa violacea) und der Gelbbändigen Furchenbiene (Halictus scabiosae) – sowie der Honigbiene (Apis mellifera). In allen untersuchten Hautflügler-Giften fanden sie die gleichen 12 „Familien“ von Peptiden und Proteinen. Diese stellen also eine „gemeinsame Zutat“ dieser Giftcocktails dar.
Anschließend fahndete das Wissenschaftsteam in Kooperation mit Kolleg:innen vom Leibniz Institut für Biodiversitätswandel (LIB), der Technischen Universität München (TUM) und dem Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE TBG) im Erbgut von insgesamt 32 Hautflügler-Arten – darunter Schweißbienen, stachellose Bienen, aber auch Wespen und Ameisen wie die berüchtigte Rote Feuerameise (Solenopsis invicta) – nach den Genen für diese 12 Peptid- und Proteinfamilien. Die Unterschiede in diesen Genen, teilweise nur der Austausch einzelner Buchstaben des genetischen Codes, halfen den Wissenschaftler:innen dabei, den Verwandtschaftsgrad zwischen den Genen verschiedener Arten zu bestimmen und letztlich einen Stammbaum der Giftgene zu erstellen. Dazu griffen sie auch auf künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen zurück.
Das überraschende Ergebnis: Viele der untersuchten Giftgene sind in allen Hautflüglern vorhanden, sodass offenbar bereits der gemeinsame Vorfahr aller Hautflügler diese Gene besessen hat. „Das bedeutet, dass die Hautflügler mit großer Wahrscheinlich als gesamte Gruppe giftig sind“, schlussfolgert von Reumont. „Für andere Gruppen wie die Toxicofera, zu denen Schlangen, Schleichen und Leguanartige gehören, wird bislang noch diskutiert, ob die Gifte auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen oder mehrfach entstanden sind.“
Zwar besitzen innerhalb der Hautflügler nur die Stechimmen – also die Bienen, Wespen und Ameisen – einen echten Stachel zur Applikation des Gifts. Doch auch die entwicklungsgeschichtlich alten parasitären Pflanzenwespen injizieren mit ihrem Eiablageapparat neben den Eiern Substanzen, mit denen sie die Physiologie der Wirtspflanzen verändern: Die Blaue Fichtenholzwespe (Sirex noctilio) zum Beispiel bringt nicht nur einen Pilz mit in die Pflanze ein, der die Besiedelung des Holzes durch die Larve erleichtert, sondern auch einen Giftcocktail mit den in der Studie untersuchten Giftproteinen. Diese sollen in der Pflanze geeignete Rahmenbedingungen für die Larve schaffen. „Damit kann man auch die Blaue Fichtenholzwespe als giftig einstufen“, so von Reumont.
Als Giftkomponente neu bei den Bienen sind das Gen für das Peptid Melittin sowie Gene für Vertreter der neu beschriebenen Proteinfamilie Anthophilin-1. Dass Melittin nur von einem einzigen Gen kodiert wird, war überraschend für die Giftforscher:innen, wie von Reumont erklärt: „Von Melittin gibt es nicht nur viele verschiedene Varianten, das Peptid macht im Bienengift auch bis zu 60 Prozent des Trockengewichts aus. Deshalb war man davon ausgegangen, dass viele Genkopien vorliegen müssen. Das konnten wir klar widerlegen.“ Da sie das Melittin-Gen nur bei Bienen fanden, entkräfteten die Forscher auch die Hypothese, dass es zu einer für die Stechimmen postulierten Gruppe von Giftgenen gehört, den Aculeatoxinen. „Das zeigt uns einmal mehr, dass man nur mit Genomdaten aussagekräftige Schlüsse über die Evolution von Giftgenen ziehen kann“, ist der Forscher überzeugt.
Die Frankfurter Studie zeigt zum ersten Mal für eine ganze Insekten-Gruppe mit rund einer Million Arten, wo Giftgene herkommen und wie sie sich entwickelt haben. Sie bietet nun einen Ausgangspunkt, um die Entstehung der Giftgene bei den Vorfahren der Hautflügler sowie Spezialisierungen innerhalb der Gruppe zu verfolgen. Um groß angelegte Genomvergleiche durchführen zu können, müssen nun allerdings zuerst Analysemethoden für die zum Teil sehr großen Proteinfamilien automatisiert werden.
Originalpublikation:
Ivan Koludarov, Mariana Velasque, Tobias Senoner, Thomas Timm, Carola Greve, Alexander Ben Hamadou, Deepak Kumar Gupta, Günter Lochnit, Michael Heinzinger, Andreas Vilcinskas, Rosalyn Gloag, Brock A. Harpur, Lars Podsiadlowski, Burkhard Rost, Timothy N. W. Jackson, Sebastien Dutertre, Eckart Stolle, Björn M. von Reumont: Prevalent bee venom genes evolved before the aculeate stinger and eusociality. BMC Biology, (2023) https://doi.org/10.1186/s12915-023-01656-5

29.11.2023, Universität Zürich
Stark bedrohte Haie und Rochen sind unzureichend geschützt
Haie und Rochen sind die am stärksten bedrohte Gruppe der marinen Wirbeltiere. Ihre Funktionen im Ökosystem haben Forschende unter der Leitung von UZH-Professorin Catalina Pimiento nun in einer internationalen Studie zu einem entscheidenden Kriterium für den Artenschutz gemacht. Die Autor:innen sehen dringenden Handlungsbedarf nicht nur bei den zu schützenden Arten, sondern auch für neue marine Schutzgebiete.
Biodiversität umfasst mehrere Dimensionen: Die Vielfalt der Arten (Taxonomie) und ihre Entwicklungsgeschichte (Phylogenetik) gehören ebenso dazu wie die Rolle der Arten in den jeweiligen Ökosystemen (Funktionalität). Um Biodiversität zu erhalten, müssen alle diese Aspekte berücksichtigt werden.
Ein internationales Forscherteam unter der Leitung von UZH-Professorin Catalina Pimiento hat nun die Dimensionen der Biodiversität bei den Plattenkiemern (Elasmobranchii) entschlüsselt, der am stärksten bedrohten Gruppe mariner Wirbeltiere, zu der auch Haie und Rochen gehören. Die Forschenden stellten dafür funktionale Aspekte den bereits untersuchten taxonomischen und phylogenetischen Aspekten der Biodiversität gegenüber und konnten so eine neue Prioritäten-Hierarchie für Artenschutz und Schutzgebiete erarbeiten.
Bestimmte Arten sind für funktionale Vielfalt entscheidend
Um die globale funktionale Diversität der Plattenkiemer zu quantifizieren, nutzten die Forschenden einen neu zusammengestellten Datensatz von Merkmalen. Dabei entdeckten sie ein komplexes Geflecht unterschiedlicher ökologischer Rollen, welche die bedrohten Arten spielen. «Wir konnten die am stärksten gefährdeten Arten identifizieren, die entscheidend für den Erhalt der funktionalen Diversität bei den Plattenkiemern sind, darunter der Langflossen-Makohai, der Ganges-Hai, der Dolchstichhai, der Kurzflossen-Makohai und der Bogenstirn-Hammerhai», erklärt Catalina Pimiento.
Räumliche Analysen zeigten zudem, dass sich der funktionale Reichtum der Plattenkiemer entlang der Kontinentalschelfe und um die Tiefseeinseln herum konzentriert. Die Forschenden entdeckten 18 einzigartige Zentren funktionaler Diversität. Diese überschneiden sich jedoch nur geringfügig mit bisherigen Schutzgebieten, die anhand anderer Biodiversitätsfacetten identifiziert wurden. «Viele der für die Biodiversität der Plattenkiemer entscheidenden Hotspots fallen mit überfischten Gebieten entlang der chinesischen Küste zusammen, andere liegen um ozeanische Inseln und auf hoher See», sagt Dr. John Griffin von der Universität Swansea, Mitautor der Studie.
Bisherige Artenschutzprogramme nutzten nur zwei Aspekte der Biodiversität für ihre Einschätzungen: die taxonomische und phylogenetische. So bewertet die Rote Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN) die Dringlichkeit, mit der eine Art vom Aussterben bedroht ist, während das Programm EDGE of Existence diesen Ansatz um die phylogenetische Vielfalt erweitert und berücksichtigt, ob einzelne Arten eine lange und einzigartige Evolutionsgeschichte haben.
Dringender Handlungsbedarf im Artenschutz und bei marinen Schutzgebieten
In den bestehenden Meeresschutzgebieten, die ohne Einbezug der funktionalen Dimension bestimmt wurden, sind die Plattenkiemer laut den Autor:innen jedoch unzureichend geschützt und verschiedenen Bedrohungen ausgesetzt. «Mehrere Regionen der Welt, darunter die Küsten Chinas und Europas, wo sich Hotspots der Plattenkiemer-Biodiversität befinden, sind durch die industrielle Fischerei extrem bedroht», sagt Fabien Leprieur von der Universität Montpellier, Mitautor der Studie, und unterstreicht damit die Dringlichkeit weiterer Schutzmassnahmen.
Die Studie betont die Notwendigkeit, die funktionale Biodiversität in die Schutzstrategien für Plattenkiemer und andere stark bedrohte Arten zu integrieren. Da Haie und Rochen seit Millionen von Jahren ein wichtiger Bestandteil der marinen Ökosysteme sind, ist die Erhaltung ihrer Artenvielfalt entscheidend für die Gesundheit der Ozeane.
Originalpublikation:
Literatur:
Pimiento, C., Albouy, C., Silvestro, D. et al. Functional diversity of sharks and rays is highly vulnerable and supported by unique species and locations worldwide. Nature Communications, 24 November 2023, 7691 (2023). Doi.org/10.1038/s41467-023-43212-3

29.11.2023, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Menschen vor 400.000 Jahren jagten systematisch Biber
Menschen, die vor rund 400.000 Jahren lebten, machten offenbar systematisch Jagd auf Biber, um sich von ihnen zu ernähren und möglicherweise auch, um ihre Pelze zu erbeuten. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsteam der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, des Leibniz-Zentrums für Archäologie, ebenfalls in Mainz, und der Universität Leiden in den Niederlanden. Wie die Forschenden in der Zeitschrift Scientific Reports berichten, haben sie damit als Erste gezeigt, dass sich Menschen in der Zeit des Mittleren Pleistozäns systematisch von kleineren Tieren und damit vielfältiger ernährten als bisher bekannt.
Funde in Ostdeutschland zeigen, dass sich frühe Menschen vielfältiger ernährten als bisher bekannt
Menschen, die vor rund 400.000 Jahren lebten, machten offenbar systematisch Jagd auf Biber, um sich von ihnen zu ernähren und möglicherweise auch, um ihre Pelze zu erbeuten. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsteam der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), des Leibniz-Zentrums für Archäologie (LEIZA), ebenfalls in Mainz, und der Universität Leiden in den Niederlanden. Wie die Forschenden in der Zeitschrift Scientific Reports berichten, haben sie damit als Erste gezeigt, dass sich Menschen in der Zeit des Mittleren Pleistozäns systematisch von kleineren Tieren und damit vielfältiger ernährten als bisher bekannt. Frühere Forschungsergebnisse hätten lediglich bewiesen, dass sich Menschen damals von Großsäugern, etwa Wildrindern und Nashörnern, ernährten, und zwar, wie sich jetzt zeigt, aus einem einfachen Grund: „Die Überreste von großen Tieren aus dieser Zeit sind im Allgemeinen viel besser erhalten als die von kleinen Tieren, von pflanzlichen Überresten ganz zu schweigen“, sagt Prof. Dr. Sabine Gaudzinski-Windheuser, Professorin im Arbeitsbereich für Vor- und Frühgeschichte der JGU und Leiterin des Archäologischen Forschungszentrums und Museums für menschliche Verhaltensevolution, MONREPOS, in Neuwied, das zum LEIZA gehört. Sie hat mit zwei Kollegen, einem ebenfalls von der JGU und dem MONREPOS und einem von der Universität Leiden, die neue Studie verfasst. „Bisher wurden Schnittspuren an altsteinzeitlichen Biberknochen nur sehr selten und an Einzelfunden nachgewiesen. Die großflächigen und langjährigen Grabungen von Dietrich Mania in Bilzingsleben haben unter anderem sehr viele Überreste von Bibern geliefert. Durch deren Studium konnten wir nun zum ersten Mal eine längerfristige Strategie nachweisen, die hinter der Bejagung dieser Tiere steckte“, erläutert sie.
Gezielt junge ausgewachsene und damit unerfahrene, aber fettreiche Tiere bejagt
Die Forschenden hatten die etwa 400.000 Jahre alten Knochen von mindestens 94 Bibern, die bereits vor einigen Jahrzehnten von Dietrich Mania in Bilzingsleben, Thüringen, ausgegraben worden waren, mithilfe von Lupen und Digitalmikroskopen untersucht. Dadurch konnten sie Schnittspuren von Steinwerkzeugen identifizieren, die auf eine intensive Nutzung der Kadaver schließen lassen. „Interessant ist auch, dass es sich bei den Überresten in Bilzingsleben vor allem um Knochen junger erwachsener Biber handelt“, sagt Gaudzinski-Windheuser. Das weise darauf hin, dass die Menschen damals gezielt Jagd auf unerfahrene, aber ausgewachsene und fettreiche Tiere gemacht hätten. Fett sei eine sehr wichtige Nahrungsresource im Pleistozän gewesen. „Bisher ist die Lehrmeinung, dass die Menschen in Europa sich bis vor zirka 50.000 Jahren vor allem von Großwild ernährten, und dass dies ein wichtiger Unterschied zu den flexiblen Nahrungsstrategien des modernen Menschen sei. Wir konnten nun eindeutig zeigen, dass das Nahrungsspektrum schon viel früher wesentlich breiter war“, sagt Gaudzinski-Windheuser.
Originalpublikation:
S: Gaudzinski-Windheuser et al., Beaver exploitation, 400,000 years ago, testifies to prey choice diversity of Middle Pleistocene hominins, Scientific Reports 13, 19766, 13. November 2023,
https://doi.org/10.1038/s41598-023-46956-6

29.11.2023, Schweizerischer Nationalfonds SNF
Er beobachtet Affen, um den Menschen zu verstehen
Der Biologe Thibaud Gruber studiert das Verhalten von Affen in ihrer natürlichen Umgebung in Uganda. Es interessiert ihn dabei besonders, wie unsere nächsten Verwandten Werkzeuge einsetzen.
Woher kommt der Mensch und was macht ihn einzigartig? Diese Fragen versucht Thibaud Gruber zu beantworten. Der Professor an der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften der Universität Genf fokussiert dafür aber nicht auf Menschen, sondern auf Schimpansen. «Wenn wir mehr über sie lernen, erfahren wir auch sehr viel mehr über uns», erklärt der Forscher. «Glaubt man nicht an eine göttliche Schöpfung, stellt sich die Frage, wie sich die Menschheit so rasend schnell entwickeln konnte im Gegensatz zu den Schimpansen und Bonobos mit denselben Vorfahren.»
Ursprünglich träumte Gruber davon, Tierarzt zu werden. Sein grosses Interesse am Verhalten von Tieren brachte ihn jedoch an die Ecole normale supérieure in Frankreich, wo er Biologie und kognitive Wissenschaften studierte. Anschliessend promovierte er in Psychologie an der schottischen University of St Andrews. In dieser Zeit begann er sich mit wild lebenden Affen zu befassen, wobei er sich speziell für die Art und Weise interessierte, wie sie Werkzeuge benutzen.
Der cleverste Weg zum Honig
So führte der Forscher mit verschiedenen Gruppen von Schimpansen das Experiment mit der Honigfalle durch. Dazu gehören ein Baumstamm mit Hohlräumen, die mit Honig gefüllt sind, und ein Stock. Dabei zeigte sich, dass Affen, die bereits in anderen Situationen Stöcke benutzt hatten, den Stock auch im Experiment verwendeten. Andere Gruppen hingegen, die den Stock als Werkzeug nicht kannten, machten auch im Experiment keinen Gebrauch davon. Sie benutzen ein Werkzeug, das sie normalerweise zum Wassersammeln verwenden: eine Handvoll Blätter, die sie wie einen Schwamm benutzen.
Während seiner Experimente hatten Gruber und seine Kolleginnen und Kollegen das seltene Glück, die Entstehung einer neuen Verhaltensweise in einer wilden Population zu beobachten – ein Highlight im Leben eines Biologen! «Schimpansen nutzten normalerweise Blätter als Schwämme, um Mineralstoffe aus Wasserquellen zu holen. Als die Tiere keine Blätter mehr fanden, haben sie angefangen, Moos von den Baumstämmen als Schwämme zu benutzen», erzählt er. Der Wissenschaftler und sein Team entdeckten dabei, dass diese Technik in der Gruppe durch Beobachtung weitergegeben wurde. «Das war der fehlende Beweis, um diesen Tieren eine Kultur zusprechen zu können. Denn eines der Merkmale von Kultur ist soziales Lernen», erklärt er.
Von Lauten zu Emotionen
Danach erweiterte Thibaud Gruber seinen Forschungsbereich. Er interessierte sich zum Beispiel für die leisen Laute, die Affen von sich geben. Er verglich sie mit den Geräuschen, die wir Menschen machen, wenn wir uns nach einem langen Arbeitstag aufs Sofa fallen lassen. Die Laute der Affen wurden bisher als rein emotional angesehen – im Unterschied zu den menschlichen intentionalen Lauten. Gruber konnte aufzeigen, dass auch Affen Laute für ein bestimmtes Publikum und in einem bestimmten Kontext von sich geben.
Derzeit beschäftigt er sich im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Projekts mit der Rolle von Emotionen bei der Verwendung von Werkzeugen – bei Affen wie auch bei Menschen. Er möchte zum Beispiel herausfinden, ob Kinder einfacher von einer Person lernen, wenn sie eine emotionale Bindung zu ihr aufgebaut haben.
Und was ist mit den Emotionen von Tieren? Bei diesem Thema wird Gruber selbst emotional. Das Thema liegt ihm so sehr am Herzen, dass er es an der Universität Genf unterrichtet. «Es ist wichtig, den Studierenden mehr Wissen über dieses Thema zu vermitteln und vermehrt darüber zu sprechen, um die Diskussionen zum Thema Tierschutz anzuregen.» Der Forscher hofft ausserdem, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft den möglichen Emotionen von Tieren auf den Grund geht. Denn klar ist die Sache nicht: Manche sehen Emotionen nur im Zusammenhang mit Sprache und deshalb als eine Besonderheit von uns Menschen.
Ein Labor unter freiem Himmel
Es liegt Gruber auch sehr am Herzen, seine Experimente mit Schimpansen so oft wie möglich draussen im Feld durchzuführen, um möglichst natürliche Verhaltensweisen beobachten zu können. «Ein Leben in Gefangenschaft ist für sie ähnlich wie für manche von uns der Aufenthalt im Altersheim: Es fehlt an Anregungen, und Langeweile ist verbreitet. Die Tiere steigen deshalb bereitwillig auf unsere Experimente ein, was den Vergleich mit den Verhaltensweisen von wild lebenden Tieren schwierig macht.»
Seit etwa 15 Jahren reist der Forscher deshalb zweimal jährlich nach Uganda in die von ihm geleitete wissenschaftliche Station im Herzen des Bugoma Waldreservats. Dort begleitet er eine Gruppe von Schimpansen, um sie schrittweise an die Anwesenheit von Menschen zu gewöhnen und so besser studieren zu können. Diese Annäherung braucht viel Zeit, aber sie beginnt, Früchte zu tragen. «Während meines letzten Aufenthalts haben zwei Affen fünf Meter von meinem Team und mir entfernt ihren Schlafplatz auf dem Boden gebaut und anschliessend die Nacht dort verbracht. Ein Beweis dafür, dass sie sich nicht von uns gestört fühlten», erzählt er begeistert. Dabei freut er sich nicht nur über das Erlebnis, sondern vor allem über die Tatsache, dass er bei seinen Studien nun schneller vorankommen kann. Denn die Zeit drängt. Die wilden Affenpopulationen, die er beobachtet, sterben nach und nach aus. «Mit ihnen geht der Schlüssel zum Verständnis dessen verloren, wer wir eigentlich sind», warnt er.

30.11.2023, BUND
Schmetterling des Jahres 2024: Mosel-Apollofalter
Majestätischer Falter durch Pestizideinsatz vom Aussterben bedroht
Mosel-Apollofalter weltweit einzigartig
Vorkommen nur im unteren Moseltal
Mehr Artenschutz durch weniger Pestizide im konventionellen Weinanbau
Schmetterling des Jahres 2024 ist der Mosel-Apollofalter (Parnassius apollo ssp. vinningensis). Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die BUND NRW Naturschutzstiftung und die Arbeitsgemeinschaft Rheinisch-Westfälischer Lepidopterologen e.V. haben die stark bedrohte Unterart des Apollofalters gemeinsam gekürt.
Der Mosel-Apollofalter kommt ausschließlich im unteren Moseltal in Rheinland-Pfalz vor. Dort besiedelt der Schmetterling Felsen inmitten von zumeist konventionell bewirtschafteten Weinbergen. Der Mosel-Apollofalter hat sich durch geografische Isolation zu der einzigartigen Unterart entwickelt. Seit 2012 geht die Zahl der Falter massiv zurück. Der Apollofalter ist eine streng geschützte Schmetterlingsart.
Jochen Behrmann von der BUND NRW Naturschutzstiftung: „Der Mosel-Apollofalter ist weltweit einzigartig. Wir sehen, dass die Art schwindet und dürfen nicht zulassen, dass der große und majestätische Falter als Nebeneffekt des Pestizideinsatzes im konventionellen Weinanbau ausgerottet wird.“
Alternativen zum Pestizideinsatz müssen eingesetzt werden
In den Steillagen in unmittelbarer Nähe zu den Lebensräumen des Schmetterlings werden in der Zeit von Mitte Mai bis Ende Juli etwa alle zehn Tage Cocktails von 20 verschiedenen Pestiziden per Hubschrauber ausgebracht. Der Pestizideinsatz aus der Luft ist grundsätzlich verboten, da sich die Giftstoffe weit über die Zielfläche hinaus verteilen und so maximale Schäden auch an anderen Tieren und Pflanzen anrichten. Das Spritzen vom Hubschrauber wird über eine Ausnahmegenehmigung gestattet.
Behrmann: „Der übermäßige Pestizideinsatz beim Weinanbau an der Mosel und insbesondere das Versprühen mit Hubschraubern in Steillagen müssen beendet werden. Nur so lässt sich an der Mosel der Verlust an Artenvielfalt in diesen wertvollen Lebensräumen stoppen.“
Der Apollofalter zählt mit einer Flügelspannweite von 65 bis 75 Millimetern zu den größten Tagfaltern in Deutschland. Seine Flügel sind weiß beschuppt. Die Hinterflügel tragen zwei rote Augenflecken mit schwarzer Umrandung und weißem Kern. Die Raupen ernähren sich von der Weißen Fetthenne. Die Falter saugen Nektar an blauvioletten Blüten wie Flockenblumen und Kartäusernelken.
Hintergrund:
Seit 20 Jahren machen die Naturschützer mit der Kür des Schmetterlings des Jahres auf die Bedeutung und Bedrohung der Schmetterlinge aufmerksam. Nur ein Drittel der Tagfalterarten in Deutschland sind noch ungefährdet.

30.11.2023, Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz
Pinguine schlafen 12 Stunden – in Zehntausenden einzelner Mikroschlafphasen
Beim Brüten in einer gefährlichen Umgebung nicken Zügelpinguine meist nicht mehr als vier Sekunden am Stück weg. Sie bekommen jedoch durch über 600 solcher Mikroschlafphasen pro Stunde – und über 10.000 pro Tag – insgesamt trotzdem bis zu 12 Stunden Schlaf. Die Tiere schlafen dabei sowohl abwechselnd mit beiden Gehirnhälften als auch mit dem ganzen Gehirn. Trotz und wohl auch aufgrund des extrem fragmentierten Schlafs sind die Tiere in der Lage, sich unter schwierigen ökologischen Bedingungen erfolgreich fortzupflanzen. Dies zeigt eine neue Studie eines internationalen Forscherteams aus Lyon und Korea mit Beteiligung von Niels Rattenborg vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz.
Alle Tiere schlafen. Vieles deutet darauf hin, dass der Schlaf eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der adaptiven kognitiven Leistung im Wachzustand spielt. In der Tat wirkt sich Schlafmangel, der in unserer lärm- und lichtverschmutzten Gesellschaft ein zunehmendes Problem darstellt, nachteilig auf unsere Fähigkeit aus, mit der Umwelt zu interagieren. So kann unzureichender Schlaf zum Einnicken führen, wobei der Wachzustand durch das Schließen der Augen und schlafbezogene Hirnaktivitäten sekundenlang unterbrochen wird. Solch ein Sekundenschlaf kann ein erhebliches Risiko bergen, wenn er zum Beispiel am Steuer passiert. Aber kann so ein Mikroschlaf überhaupt die Vorteile des Schlafs bieten? Oder ist er einfach zu kurz, als dass der Schlaf seine Funktionen erfüllen kann?
Ergebnisse einer neuen Studie von Wissenschaftlern des Neuroscience Research Centre of Lyon, des Korean Polar Research Institute und des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz zeigen den wohl am stärksten fragmentierten Schlaf, der je bei einem Tier festgestellt wurde. Während des Brütens sammeln Zügelpinguine (Pygoscelis antarcticus) große Mengen an Schlaf durch Tausende von wenigen Sekunden langen Mikroschlafphasen. Trotz dieses ungewöhnlichen Schlafverhaltens sind die Pinguine in der Lage, ihren Nachwuchs erfolgreich aufzuziehen. Das deutet darauf hin, dass die erholsamen Funktionen des Schlafs auch durch Mikroschlaf erreicht werden können. Dieses besondere Schlafmuster ist wahrscheinlich eine Anpassung an die ständige Anwesenheit von Braunen Skuas (einem Eierräuber) und eine Reaktion auf Lärm und Aggression durch andere Pinguine in der Kolonie.
Die Forscher zeichneten das Verhalten und die Gehirnaktivität von wild lebenden Zügelpinguinen auf, die auf King George Island in der Antarktis brüten. Dazu benutzten sie speziell angefertigte Datenlogger, die die Gehirnaktivität registrierten. Diese Aktivitäten wurden elf Tage lang an Land und auf See aufgezeichnet, wo die Pinguine bis zu einer Tiefe von 200 Metern tauchten. Die Forscher untersuchten dann, wie sich das Nisten am Rande der Kolonie, wo die Pinguine braunen Skuas ausgesetzt sind, im Vergleich zum geschäftigen Treiben im Zentrum der Kolonie auf den Pinguinschlaf auswirkt.
Der ‘slow wave sleep’, die vorherrschende Art des Schlafs bei Vögeln, trat in beiden Hemisphären gleichzeitig (bihemisphärischer slow wave sleep) oder in jeweils einer Hemisphäre (unihemisphärischer slow wave sleep) auf. Die Episoden dieses Slow-Wave-Schlafs dauerten in der Regel weniger als vier Sekunden, egal ob eine oder beide Gehirnhälften beteiligt waren. Im Verhalten äußerte sich diese Schlaffragmentierung durch häufiges Schließen und Öffnen eines oder beider Augen (siehe Video). Trotz der kurzen Schlafepisoden erreichte jede Gehirnhälfte insgesamt 11,5–12 Stunden Slow-Wave-Schlaf pro Tag, gleichmäßig über den 24-Stunden-Tag verteilt, mit über 600 Episoden pro Stunde.
Frühere Arbeiten von Niels Rattenborg, Forschungsgruppenleiter am MPI für biologische Intelligenz an Enten hatten gezeigt, dass Tiere am Rand einer Gruppe weniger schlafen und dabei mehr unihemisphärischen Schlaf haben. Das erwarteten die Autoren auch von Pinguinen, die am Rande der Kolonie Raubtieren ausgesetzt sind. Stattdessen fanden sie heraus, dass die Vögel am Rand der Kolonie zehn Prozent mehr und 40 Prozent länger schliefen (das entspricht eine Sekunde) und nicht mehr unihemisphärischen Schlaf hatten als die Vögel in der Mitte der Kolonie. Dieses unerwartete Ergebnis deutet darauf hin, dass Störungen und Aggressionen durch andere Pinguine innerhalb der Kolonie einen größeren Einfluss auf den Schlaf haben als die Exposition gegenüber Raubtieren.
Die Forscher wiesen in der Studie außerdem nach, dass Pinguine auch auf dem Meer schwimmend schlafen können. Sie schliefen auf See insgesamt deutlich kürzer als an Land und fast ausschließlich bihemisphärisch. Nach der Rückkehr an Land wurde der auf See ‘verlorene’ Schlaf teilweise wieder aufgeholt, wenn auch wieder nur in Phasen von durchschnittlich vier Sekunden Dauer.
Insgesamt zeigt diese Studie, dass Zügelpinguine in der Lage sind, sich unter erschwerten ökologischen Bedingungen erfolgreich fortzupflanzen, obwohl sie ihren Schlaf nur durch sekundenlange Mikroschlafphasen erreichen. Die anhaltende Schlaffragmentierung, die Pinguine unter allen Bedingungen an Land zeigen, ist wahrscheinlich eine Anpassung an die visuelle Überwachung der Umgebung auf Raubtiere und Artgenossen. Zumindest bei Zügelpinguinen lässt sich somit darauf schließen, dass Schlaffunktionen auch durch Tausende von Mikroschlafphasen pro Tag erfüllt werden können.
Originalpublikation:
P.-A. Libourel*, W. Y. Lee*, I. Achin, H. Chung, J. Kim, B. Massot, N. C. Rattenborg
* These authors contributed equally to this work
Nesting chinstrap penguins accrue large quantities of sleep through seconds-long microsleeps
Science, online 30. November 2023
DOI: 10.1126/science.adh0771

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