Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

16.10.2023, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Brasilianischer Regenwald 2050: Frösche oder Immobilien?
Senckenberg-Forschende haben gemeinsam mit einem brasilianisch-deutschen Team die Auswirkungen des Klimawandels auf die taxonomische und funktionale Diversität von Amphibien in der „Mata Atlântica“ untersucht. Der Regenwald an der Ostküste Südamerikas zählt zu den am stärksten bedrohten tropischen Waldgebieten und beherbergt über 50 Prozent der in Brasilien vorkommenden Amphibienarten. Die Wissenschaftler*innen zeigen in ihrer Studie, dass selbst eine moderate Entwicklung des Klimawandels enorme Auswirkungen auf die zukünftige Amphibienvielfalt hat – zusätzlich geraten Frosch und Co. durch wirtschaftliche Interessen in Bedrängnis.
Die Auswirkungen des Klimawandels machen sich weltweit bemerkbar: Waldbrände, trockenfallende Gewässer oder Extremwetterereignisse sind an der Tagesordnung. „In unserer neuesten Studie haben wir untersucht wie sich der Klimawandel zukünftig auf die Amphibienwelt der ‚Mata Atlântica‘, eines der am stärksten bedrohten tropischen Waldgebiete, auswirkt“, erklärt PD Dr. Raffael Ernst von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden und fährt fort: „Amphibien sind in hohem Maß abhängig von bestimmten mikroklimatischen Parametern und besetzen sehr unterschiedliche ökologische Nischen. Sie sind daher ideale Modellorganismen, um die Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels auf die biologische Vielfalt zu untersuchen.“
Der Atlantische Regenwald an der Ostküste Brasiliens steht unter massivem Druck, welcher in den letzten Jahrzehnten zu einer beispiellosen Entwaldung und Degradierung geführt hat. Ursprünglich bedeckte die „Mata Atlântica“ eine Fläche von etwa 150 Millionen Hektar und erstreckte sich vom Süden bis zum Nordosten Brasiliens. Neben dichten Wäldern finden sich in dem Gebiet auch offene Bereiche wie Lichtungen, Felder, Sümpfe und Teiche. „Gegenwärtig sind nur noch 12 bis 16 Prozent des ursprünglichen Ökosystems vorhanden, das zudem stark fragmentiert ist. Dennoch beherbergt dieser Lebensraum fast 20 Prozent aller bekannten südamerikanischen und über 50 Prozent der in Brasilien vorkommenden Amphibienarten“, erläutert Dr. Paula Ribeiro Anunciação, Erstautorin der Studie an der brasilianischen Universität Federal de Lavras. Ribeiro Anunciação hat im Rahmen eines zweijährigen, von der Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten „Research Fellowships“ gemeinsam mit Ernst und weiteren Forschenden die Zukunft von Amphibien, Vögeln und Dungkäfern – ökologisch bedeutsame Indikatorgruppen – im Untersuchungsgebiet in den Blick genommen. Für Amphibien untersuchte das Team je zwei Szenarien für deren Entwicklung bis zu den Jahren 2050 und 2070: Das Szenario RCP 4.5 des Weltklimarats (IPCC) rechnet mit einem gemäßigten Klimawandel, RCP 8.5 geht dagegen von einer weitgehend ungebremsten Erwärmung aus.
„Für beide Szenarien und Zeiträume sehen wir zukünftig einen signifikanten Rückgang sowohl der taxonomischen als auch der funktionalen Amphibienvielfalt – das heißt wir werden nicht nur einzelne Arten unwiederbringlich verlieren, sondern auch das gesamte Ökosystem wird sich verändern“, so Ernst. Laut den Modellergebnissen sind hiervon sowohl Arten betroffen, die sich in geschlossenen Wäldern wohlfühlen, als auch Tiere, die Offenland bevorzugen.
Einzig in der östlichen Küstenregion und in hochgelegenen Lebensräumen sei davon auszugehen, dass die ursprüngliche Vielfalt bei Frosch und Co. – trotz Klimawandel – in großen Teilen erhalten bleibt. „Genau diese Gebiete stehen aber – aufgrund ihrer Nähe zu den am besten entwickelten städtischen und industriellen Standorten Brasiliens – im Zentrum aktueller Immobilienspekulationen“, warnt der Dresdner Herpetologe und fährt fort: „Es reicht daher nicht, solche Biodiversitätsrefugien zu identifizieren und dann zu hoffen, dass diese zur langfristigen Erhaltung von biologischer Vielfalt in Zeiten des globalen Klimawandels beitragen. Vielmehr ist es wichtig, die Ursachen – also den Klimawandel als solchen – nachhaltig und wirksam zu bekämpfen. Nur so können wir auch das einzigartige Ökosystem und die Amphibienvielfalt der ‚Mata Atlântica‘ bewahren!“
Originalpublikation:
Paula Ribeiro Anunciação, Raffael Ernst, Felipe Martello, Maurício Humberto Vancine, Luis Marcelo Tavares de Carvalho, Milton Cezar Ribeiro (2023): Climate-driven loss of taxonomic and functional richness in Brazilian Atlantic Forest anurans,Perspectives in Ecology and Conservation, https://doi.org/10.1016/j.pecon.2023.09.001

17.1ß.2023, Dachverband Deutscher Avifaunisten
Erstes Stejnegerschwarzkehlchen für Deutschland?
Auf Helgoland hält sich derzeit ein Schwarzkehlchen auf, bei dem es sich vermutlich um ein aus Ostasien stammendes Stejnegerschwarzkehlchen (Saxicola stejnegeri) handelt. Früher wurde diese Form als Unterart des Schwarzkehlchens behandelt, später als Unterart des vom Schwarzkehlchen gesplitteten Pallasschwarzkehlchen (Saxicola maurus). Genetische Studien Anfang der 2000er Jahre zeigten allerdings deutliche Unterschiede zwischen stejnegeri und maurus, sodass diesem Taxon u.a. vom Internationalen Ornithologischen Komitee (IOC) inzwischen Artstatus eingeräumt wird. Zum ersten Mal wurde ein mutmaßliches Stejnegerschwarzkehlchen nun in Deutschland festgestellt.
Entdeckt wurde der Vogel am 9. Oktober auf Helgoland und vorerst als Pallasschwarzkehlchen bestimmt. Schnell kam unter den angesichts der bevorstehenden Helgoländer Vogeltage zahlreichen anwesenden BeobachterInnen der Verdacht auf ein mögliches Stejnegerschwarzkehlchen auf. Der Vogel unterscheidet sich zwar u.a. aufgrund eines auffällig hell orangenen, ungezeichneten Bürzelbereichs klar von europäischen Schwarzkehlchen und anhand der Schwanzfärbung bereits von mehreren Unterarten des Pallasschwarzkehlchens, rein optisch lässt sich der Vogel aber nach derzeitigem Kenntnisstand nicht sicher einer Form zuordnen. Er wurde daher von Mitarbeitern der Vogelwarte Helgoland gefangen, vermessen und beringt. Auch eine Federprobe des offenbar diesjährigen Weibchens konnte dabei gesichert werden, die mithilfe einer DNA-Analyse hoffentlich Gewissheit bringen wird, ob es sich tatsächlich um ein Stejnegerschwarzkehlchen handelt, dessen Brutgebiete östlich des Baikalsees mindestens 6000 km entfernt liegen.
Erstmals wurde ein Stejnegerschwarzkehlchen 2012 sicher in Europa nachgewiesen. Damals hielt sich solch ein Vogel über mehr als zwei Wochen auf der niederländischen Insel Texel auf, bevor das anhand von Gefiederdetails sicher selbe Individuum anschließend auf der britischen Isle of Portland wiederentdeckt und dort gefangen und beringt wurde. Eine Federprobe bestätigte anschließend die Bestimmung als Stejnegerschwarzkehlchen. Inzwischen existieren aus den Niederlanden zwei weitere per DNA bestätigte Nachweise, zusätzliche u.a. aus Schweden und Finnland. Für die bestimmungstechnische Anerkennung des Nachweises ist die Deutsche Avifaunistische Kommission (DAK) zuständig, die Einordnung in die Artenliste der Vögel Deutschlands erfolgt anschließend durch die Kommission „Artenliste der Vögel Deutschlands“ der Deutschen Ornithologen-Gesellschaft.
Es bleibt spannend, ob auch 2023 in Deutschland damit wieder eine neue Vogelart nachgewiesen wurde. Derzeit hält sich das mutmaßliche Stejnegerschwarzkehlchen weiterhin auf der Insel Helgoland auf und ist neben optischen Merkmalen auch an einem grünen Ring am rechten Bein leicht zu erkennen.

17.10.2023, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Was war zuerst da – Schwimmblase oder Lunge?
Haben Haie eine Schwimmblase, die ihnen wie den meisten anderen Fischen dabei hilft, im Wasser zu schweben? Diese Frage sorgte vor rund 150 Jahren noch für hitzige Diskussionen. Wie bereichernd diese auch heute noch sein können, das zeigen jetzt Forschende aus Jena und Tübingen. Sie haben einen Briefwechsel zwischen Charles Darwin und Ernst Haeckel aus dem Jahr 1868 entdeckt, in dem diese ausführlich über ein mögliches Schwimmblasen-Rudiment bei Haien diskutieren. Durch den schriftlichen Austausch der beiden Vordenker lässt sich die damalige Evolutionsforschung hautnah miterleben. Die Hauptrolle in diesem Austausch spielt aber ein weniger prominenter, jüngerer Kollege.
Ausschlaggebend für ihre Diskussion ist die Forschung von Haeckels damaligem Assistenten Nikolai Nikolajewitsch Miklucho-Maclay. Der russisch-stämmige Wissenschaftler, der später vor allem als Ethnologe Berühmtheit erlangte, begleitete seinen Lehrer im Herbst 1866 auf eine Forschungsreise auf die Kanarischen Inseln. Dort untersuchte er unter anderem die Gehirne von Haien und entdeckte dabei eher zufällig hinter den Kiemenöffnungen, oben im Übergang zum Darmbereich der Tiere, eine Ausstülpung. „Dieses Gebilde interpretierte Miklucho-Maclay als Rudiment einer Schwimmblase, die bei den Vorfahren aller Wirbeltiere vorhanden gewesen sein musste“, sagt Dr. Ingmar Werneburg vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment (SHEP) an der Eberhard Karls Universität Tübingen. „Haeckel war begeistert von dieser Entdeckung, da sie seine These unterstützte. Denn er ging davon aus, dass Haie ursprüngliche Wirbeltiere seien, aus denen die Knochenfische, die Lungenfische und später die Landwirbeltiere hervorgegangen wären. Somit wäre die Schwimmblase evolutionär vor der Lunge entstanden.“
Die Entdeckung teilte er in einem Brief seinem von ihm verehrten Kollegen Charles Darwin mit, der am 6. Februar 1868 allerdings eher skeptisch antwortete: „Ich verstehe nicht ganz, was Sie mir über seine Entdeckung der Schwimmblase erzählen […].“ Da der Brite in väterlichem Ton „Mikluska“ statt „Miklucho“ schrieb, blieb der Wissenschaftsgeschichte die Verbindung zu Haeckels Assistenten lange verborgen. Darwin hatte ein anderes Bild der Wirbeltier-Verwandtschaft im Kopf, was zur Verwirrung beitrug: „Er ging davon aus, dass die Lungenfische ursprünglich seien und sich alle Wirbeltiere – auch die Knorpelfische, zu denen die Haie gehören – daraus entwickelt hätten“, sagt Werneburg. „Entsprechend war für Darwin die Lunge das ursprüngliche Gas-Organ.“ Haeckel sollte aber mit seinem Stammbaumentwurf weitestgehend recht behalten, obwohl die Haie seit dem Ursprung aller Wirbeltiere natürlich auch eigenen Veränderungen ausgesetzt waren und heute nicht völlig den ursprünglichen Zustand repräsentieren.
Aber es gab noch einen anderen Streitpunkt: „Die von Miklucho-Maclay entdeckte Ausstülpung hielt Darwin nicht für eine rudimentäre Schwimmblase, sondern für eine undifferenzierte Struktur, aus der sich evolutionär einmal eine solche ausbilden könnte“, erklärt Werneburg. Heute sind sich die Forschenden weitgehend einig, dass Darwin mit dieser Einschätzung recht hatte.
„Es kommt selten vor, dass zwei Geistesgrößen einer Wissenschaft sich in ihrer Korrespondenz den Forschungsergebnissen eines bettelarmen und unbekannten Studenten widmen“, sagt Prof. Dr. Uwe Hoßfeld von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der seit einigen Jahren gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Georgy Levit das Wirken Miklucho-Maclays erforscht. Die gefundene Textstelle ist für ihn einmal mehr ein Beleg dafür, welch wissenschaftliches Vermächtnis der junge Russe hinterlassen hat und welchen Einfluss er in wenigen Forschungsjahren – er starb im Alter von 41 Jahren – auf die Geschichte der Zoologie ausgeübt hat, nicht nur an der Universität Jena.
Lunge oder Schwimmblase – das ist hier die Frage
Doch was genau hatte Haeckels Assistent da entdeckt? Um das darzustellen, hat der Tübinger Evolutionsbiologe Werneburg, der an der Universität Jena studiert hat, Querschnittabbildungen von Hai-Embryonen analysiert und die Erkenntnisse aus 100 Jahren Forschung, die nach dem Briefwechsel einsetzte, bestätigen können: „Haie und andere Fische atmen durch Kiemen, die im Inneren mit Kiemensäcken verbunden sind. Fünf Kiemenöffnungen auf jeder Seite sind heute bei Haien üblich, ihre Vorfahren hatten möglicherweise mehr, weshalb die heutigen Hai-Embryonen noch einige undifferenzierte Kiemensäcke als Anlagen aufweisen. Sie sind nur als kleine Fortsätze zu sehen, die sich nicht zu Kiemen umbilden, sondern nur nach verschiedenen Seiten hin aussacken“, sagt der Zoologe. „Ein solches Gebilde hat Miklucho-Maclay auch noch in ausgewachsenen Haien gefunden.“
In der Evolution haben sich aus den embryonalen Fortsätzen Lungen oder Schwimmblasen entwickelt, fassen die Forscher zusammen. Und die Beschäftigung mit dem über 150 Jahre alten Briefwechsel brachte sie auch zu neuen Überlegungen, warum sich nur eines der beiden Organe jeweils ausbildete und es nicht etwa Tiere gibt, die sowohl Schwimmblase als auch Lungen haben. Eventuell hatte das mit dem verfügbaren Platz in der Körperhöhle zu tun, der wiederum mit den Lebensbedingungen der Tiere verbunden ist. „Fische beispielsweise, die in offenen Gewässern schwimmen, sind im Querschnitt eher vertikal ausgerichtet, was im oberen Bereich ihres Rumpfes mehr Platz lässt, in dem sich eine unpaare Schwimmblase, die vorrangig eine hydrostatische Funktion übernimmt, ausdehnen kann“, sagt Ingmar Werneburg. „Fische dagegen, die häufiger am steinigen oder bewachsenen Grund von flachen Gewässern leben, bilden eher eine zweiflüglige Lunge aus. Die Flossen sind mehr in die Breite angelegt und schaffen so im Inneren Platz für die Ausbildung der seitlichen Atmungsorgane aus zwei der unteren embryonalen Aussackungen.“
Das vorliegende Ergebnis zeigt einmal mehr, wie wichtig moderne Museums- und Archivarbeit ist, auch bei der Untersuchung aktueller Fragen – beispielsweise im Rahmen der Biodiversitätsforschung. Ein neues Senckenberg-Institut, das derzeit rund um das Herbarium Haussknecht der Universität Jena entsteht, unterstreicht diesen Anspruch.
Originalpublikation:
I. Werneburg, U. Hoßfeld, G. S. Levit: Darwin, Haeckel, and the “Mikluskan gas organ theory“, Developmental Dynamics, 2023, DOI: 10.1002/dvdy.661

18.10.2023, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart
Die Untersuchung heutiger Salamander Hinweise auf das Fressverhalten früher Landwirbeltiere
In einer Untersuchung anlysierte ein internationales Team um Dr. Daniel Schwarz und Prof. Dr. Rainer Schoch vom Naturkundemuseum Stuttgart das Fressverhalten von heute lebenden Salamandern und nutzte die Ergebnisse anschließend, um Rückschlüsse auf das Verhalten früher Tetrapoden zu ziehen.
Seit Charles Darwin ist aus evolutionsbiologischer Sicht relativ klar woher wir kommen: Aus wasserbewohnenden Vorfahren gingen die Landwirbeltiere hervor, innerhalb derer schließlich auch der Mensch entstand. Noch nicht abschließend geklärt ist, wie genau der „Landgang der Wirbeltiere“ stattfand. Dieser nahm seinen Beginn im Devon vor ca. 360 Millionen Jahren. Die Ernährung war dabei einer der wichtigsten Vorgänge, die frühe Landwirbeltiere, sogenannte Tetrapoden, erfolgreich an den Wechsel von einem Leben im Wasser zu einem Leben an Land anpassen mussten.
In einer Untersuchung anlysierte ein internationales Team um Dr. Daniel Schwarz und Prof. Dr. Rainer Schoch vom Naturkundemuseum Stuttgart das Fressverhalten von heute lebenden Salamandern und nutzte die Ergebnisse anschließend, um Rückschlüsse auf das Verhalten früher Tetrapoden zu ziehen. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit deuten darauf hin, dass frühe Landwirbeltiere trotz fehlender beweglicher Zungen, wie sie typisch für viele heutige Amnioten (Nabeltiere) sind, schon während ihrer ersten Versuche, das Land zu erobern, an Land gefressen haben könnten. Außerdem könnten die Tiere während frühen Entwicklungsstufen, in denen sie noch aquatisch lebten, trotz oft relativ einfach geformter Zähne (gebogen-konisch und einspitzig), komplexe Kauverhalten, ähnlich dem der Säugetiere, ausgeführt haben. Die Forschungsarbeit wurde in der Fachzeitschrift “Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences“ publiziert.
Ein experimentalbiologischer Ansatz bildet die Grundlage für die Analysen:
Um die Ernährungsweise von frühen Tetrapoden zu klären, wählten die Forscher einen experimentalbiologischen Ansatz. Sie untersuchten und beobachteten heute lebende Salamander, da diese eine ähnliche Anatomie aufweisen und im Wasser sowie an Land fressen können. Die Wissenschaftler analysierten das Fressverhalten von vierzig Arten aus neun der zehn Salamander-Familien während drei Entwicklungsstadien, was die aktuell umfassendste Salamander-Fressstudie darstellt.
„Wir haben die Tiere als Larve, als Jungtier vor der Metamorphose und als erwachsenes Tier nach der Metamorphose, beobachtet. Wobei die Salamander nach der Metamorphose, wenn möglich, sowohl unter Wasser als auch an Land beim Fressen studiert wurden. Unsere Studie hebt sich nicht nur durch die Artenzahl und den entwicklungsbiologischen Ansatz von früheren Untersuchungen ab, sondern auch dadurch, dass das Fressen von der anfänglichen Nahrungsaufnahme ins Maul bis hin zum Beginn des Schluckens untersucht wurde“, so Dr. Daniel Schwarz.
Mögliche Veränderungen im Fressverhalten der Urzeittiere wurden mit modernen Technologien studiert:
Die Wasser-Land-Übergänge während der Entwicklung der Salamander wurden herangezogen, um mögliche Veränderungen im Fressverhalten von frühen Tetrapoden zu modellieren. Detaillierte Analysen waren unter anderem durch den Einsatz von modernen Technologien, wie Hochgeschwindigkeitsröntgenvideoaufnahmen aus zwei Perspektiven möglich. Daraus wurden dreidimensionale Animationen erstellt (XROMM). Durch diese Methode konnten sehr schnelle Bewegungen der Knochenstrukturen, die zum Fressen genutzt werden, sowie die Bewegungen der Beute im Maul der Salamander untersucht werden. Durch die Röntgenvideographie konnte den Tieren sozusagen ins Maul geschaut werden, auch wenn dieses geschlossen war.
Zwei mögliche Szenarien für die frühe terrestrische Ernährung:
Die Daten der Forschenden deuten auf zwei Szenarien für die Ernährung der frühen Tetrapoden an Land hin: Entweder wurde die Beute mit dem Kiefer gegriffen, ins Wasser zurückgeschleppt, wo sie mit Hilfe von induzierten Wasserströmungen transportiert und mit Kaubissen verarbeitet wurde. Oder die Beute wurde noch an Land durch eine Kombination aus Schütteln und Beißen verarbeitet und schließlich mit Hilfe von Trägheitstransport (d. h. schnelle Vorwärtsbewegungen oder Kopfdrehungen bei gleichzeitigem vorübergehenden Loslassen der Beute) geschluckt.
Daher war eine terrestrische Ernährung wie es scheint, bereits vor dem Landgang der Wirbeltiere und bevor sich flexible Zungen entwickelten, möglich. Weiter deuten die Beobachtungen auf das Vorhandensein komplexer Kaugewohnheiten – einschließlich Kieferbewegungen in mehr als einer Dimension – während früher Entwicklungsstadien hin.
„Die vorliegende Arbeit kann als wichtige Grundlagenforschung verstanden werden, aus der sich weitere Fragestellungen ergeben. Wir möchten in weiteren Untersuchungen die Schädel, Kiefer und Zungenstrukturen früher Landwirbeltiere anhand von Fossilien erforschen, um damit weitere Details hinsichtlich der Evolution des Fressverhaltens von frühen Tetrapoden und dem Landgang der Wirbeltiere zu klären“, so die Wissenschaftler Dr. Daniel Schwarz und Prof. Dr. Rainer Schoch.
Originalpublikation:
Schwarz D, Heiss E, Pierson TW, Konow N, Schoch RR. 2023. Using salamanders as model taxa to understand vertebrate feeding constraints during the late Devonian water-to-land transition. Phil. Trans. R. Soc. B 20220541.
https://doi.org/10.1098/rstb.2022.0541

19.10.2023, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
Mensch oder ChatGPT? Unterschiede zwischen tiermedizinischen Fachartikeln schwer feststellbar.
Je fachfremder sie sind, desto schwerer ist es für Gutachterinnen und Gutachter zu unterscheiden, ob eine wissenschaftliche Veröffentlichung von ChatGPT oder von einem Menschen verfasst wurde.
Ein Team aus Tiermedizinerinnen und Tiermedizinern aus der Klinik für Kleintiere der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) testete gemeinsam mit Forschenden verschiedener europäischer Institutionen, wie gut Gutachterinnen und Gutachter erkennen können, ob die Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Artikels mit ChatGPT oder von einem Menschen verfasst wurde. Sie konzentrierten sich dabei auf das Fach Neurologie.
Unter dem Titel „ChatGPT and Scientific Papers in Veterinary Neurology; Is the Genie Out of the Bottle?“ veröffentlichte das Team seine Ergebnisse in dem Fachmagazin Frontiers in Veterinary Science. Das Team bewertete dafür die Fähigkeit von ChatGPT, wissenschaftliche Arbeiten für das Fach veterinärmedizinische Neurologie zu generieren. Sie ließen Abstracts und Einleitungen mit Referenzen erstellen und analysierten sie anschließend. Für die Arbeit wählten sie die drei Forschungsbereiche Entzündungen des Gehirns, Epilepsie und kanine Geruchserkennung aus. Des Weiteren überprüften sie die Texte mit gängigen KI- und Plagiatserkennungssoftwares.
Dr. Samira Abani, Klinik für Kleintiere und Erstautorin der Arbeit, sagte: „Unsere Studie beleuchtet die Vorzüge und die Einschränkungen von ChatGPT beim wissenschaftlichen Schreiben im Bereich Tiermedizin. Ein negatives Beispiel ist, wenn ChatGPT zum alleinigen Schreiben der wissenschaftlichen Dokumente benutzt wird, da es zu ‚Halluzinationen‘ neigt und Sachen erfindet. Es gibt aber auch positive Beispiele: So kann die Anwendung Dokumente für die englische Sprache für nicht Muttersprachler überarbeiten und die Nachteile nicht englischsprachiger Forschender überwinden.“
Dr. Jasmin Nessler, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Klinik für Kleintiere, fügt hinzu: „Die Ergebnisse waren sehr aufschlussreich für uns. Erfahrene Neurologinnen und Neurologen, die mit den Feinheiten des wissenschaftlichen Schreibens vertraut sind, hatten zunehmend Schwierigkeiten, zwischen von ChatGPT generierten und von Menschenhand verfassten Abstracts zu unterscheiden, insbesondere bei abnehmender Fachkenntnis. Diese Erkenntnis unterstreicht die Fähigkeit von ChatGPT, menschliche Schreibstile nachzuahmen und kohärent klingende, plausible Texte zu erzeugen.“
Professor Holger Volk, PhD, Leiter der Klinik für Kleintiere, sagt: „Die Studie zeigt, dass selbst erfahrene Gutachterinnen und Gutachter getäuscht werden können, da Sprachmodelle wie ChatGPT darauf trainiert sind, menschliche Schreibstile nahtlos zu imitieren. Die Auswirkungen für die wissenschaftliche Gemeinschaft sind tiefgreifend und erfordern eine Neubewertung herkömmlicher Bewertungskriterien.“
Die Originalpublikation
Samira Abani, Holger Andreas Volk, Steven De Decker, Joe Fenn, Clare Rusbridge, Marios Charalambous, Rita Goncalves, Rodrigo Gutierrez-Quintana, Shenja Loderstedt, Thomas Flegel, Carlos Ros, Thilo von Klopmann, Henning C. Schenk, Marion Kornberg, Nina Meyerhoff, Andrea Tipold, Jasmin Nicole Nessler
ChatGPT and Scientific Papers in Veterinary Neurology; Is the Genie Out of the Bottle?
Frontiers in Veterinary Science
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fvets.2023.1272755/full

23.10.2023, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Genetische Stabilität: Zweischneidiges Schwert für Haie
Haie existieren seit Millionen von Jahren, erkranken selten an Krebs und reagieren empfindlich auf ökologische Veränderungen. Eine internationale Studie unter Würzburger Leitung zeigt: Eine Erklärung liegt in den Genen der Fische.
Haie bevölkern seit etwa 400 bis 500 Millionen Jahre die Weltmeere. Während sich unser Planet und viele seiner Bewohner in dieser Zeit mehrfach massiv verändert haben, bilden diese ursprüngliche Gruppe der Wirbeltiere eine gewisse Konstante. Ihr grundsätzliches Erscheinungsbild hat sich seitdem nämlich kaum gewandelt.
Woran das liegt, hat nun ein internationales Forschungsteam aus Deutschland, Australien, Schweden und den USA herausgefunden. Es zeigte sich, dass Haie die niedrigste Mutationsrate zwischen den Generationen aufweisen, die bislang bei Wirbeltieren nachgewiesen wurde.
Geleitet und koordiniert hat die Studie die Arbeitsgruppe von Seniorprofessor Manfred Schartl am Lehrstuhl für Entwicklungsbiochemie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU).
Veröffentlicht wurde sie nun in der Fachzeitschrift Nature Communications.
Untersuchungen an Epaulettenhaien
Für die Studie wurden Epaulettenhaie vor der Nordostküste Australiens gefangen und anschließend eine Zuchtstation am Australian Regenerative Medicine Institute (ARMI) der Monash University eingerichtet. Dadurch war es erstmals möglich, die Mutationsrate innerhalb eines Haistammbaums genetisch zu bewerten.
Zuerst konnte das Forschungsteam ein hochwertiges Referenzgenom erstellen und die gesamten Genome der Eltern und anschließend der neun Nachkommen sequenzieren, um neue Mutationen zu entdecken, die in den Nachkommen auftreten.
Das Ergebnis: Mit einer geschätzten Mutationsrate von 7×10−10 pro Basenpaar pro Generation weisen sie die niedrigste Mutationsrate auf, die bislang bei Wirbeltieren verzeichnet wurde. Sie ist damit zehn- bis zwanzigmal niedriger als bei Säugetieren.
Niedrige Mutationsrate als zweischneidiges Schwert
Haien wird schon lange eine außergewöhnliche niedrige Krebsrate nachgesagt. „Daran könnte die niedrige Mutationsrate entscheidenden Anteil haben“, erklärt Manfred Schartl. Was zunächst nach guten Neuigkeiten für die Tiere klingt, bringt aber auch einige Probleme mit sich.
Mutationen sind nämlich von entscheidender Bedeutung, da sie die genetische Variabilität innerhalb von Populationen erhöhen und so die Anpassung an neue Bedingungen und den evolutionären Wandel ermöglichen. Da sich Haie nur sehr langsam weiterentwickeln, besteht für sie die Gefahr, dass sie ökologischen Belastungen wie Überfischung und Lebensraumverlust nicht standhalten können.
Besonders schützenswert
Haipopulationen erleben weltweit teils dramatische Einbrüche. Von rund 530 bekannten Haiarten gelten bereits mehrere als akut vom Aussterben bedroht. Besonders bedroht sind sie durch Veränderungen ihres Lebensraums, beispielsweise durch die Erwärmung der Meere oder den Beifang in der Fischerei. Allerdings wird auf Haie auch aktiv Jagd gemacht, etwa zur Herstellung von Nahrungsergänzungsmitteln gegen Krebs – natürlich ohne wissenschaftliche Basis.
Weil Haie eine entscheidende Rolle für viele marine Ökosysteme spielen, ist es von entscheidender Bedeutung, die Bemühungen zum Schutz aller Haiarten und zum Erhalt ihrer genetischen Vielfalt zu unterstützen und zu intensivieren.
Originalpublikation:
Low mutation rate in epaulette sharks is consistent with a slow rate of evolution in sharks. Ashley T. Sendell-Price, Frank J. Tulenko, Mats Pettersson, Du Kang, Margo Montandon, Sylke Winkler, Kathleen Kulb, Gavin Naylor, Adam Phillippy, Olivier Federico, Jacquelyn Mountcastle, Jennifer R. Balacco, Amalia Dutra, Rebecca Dale, Bettina Haase, Erich Jarvis, Gene Myers, Shawn M. Burgess, Peter D. Currie, Leif Andersson & Manfred Schartl. Published: October 20th, 2023. DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-023-42238-x

23.10.2023, Universität Wien
Singvögel lernen schon im Ei den Ruf ihrer Mütter
Das Schlaflied der Vogelmutter spielt eine größere Rolle als bisher angenommen
Eine neue Studie unter der Leitung der Biologin Sonia Kleindorfer von der Universität Wien untersucht die vorgeburtliche Klangerfahrung und Klanglehre junger Singvögel. Das Schlaflied, das Singvögel-Mütter ihren Eiern schon während des Brütens vorsingen, spielt dabei eine größere Rolle als bisher gedacht. Die Studie ist aktuell im Fachmagazin American Naturalist erschienen.
Ein internationales Team unter Leitung von Sonia Kleindorfer von der Konrad Lorenz Forschungsstelle der Universität Wien hat die Rufe von Staffelschwänzen und Grasschlüpfern untersucht. Die acht untersuchten Singvögelarten gehören zur Gruppe der Maluridae, ein Tierstamm aus Australasien, bei dem sich die Fähigkeit zu Singen und vokalem Lernen schon vor 5 Millionen Jahren entwickelt hat. Die Studie wurde an 13 Studienorten in Südaustralien, Westaustralien, Queensland und dem Australian Capital Territory durchgeführt. Die Wissenschafter*innen verglichen dabei Aufnahmen von brütenden Müttern im Nest mit denen der Küken.
Die Wissenschafter*innen fanden so heraus, dass bereits die ungeschlüpften Küken von den Rufen der brütenden Mütter lernen. Die Rufe der Prachtstaffelschwanz-Mütter enthalten ein charakteristisches Element, das sich auch in den Bettelrufen der frisch geschlüpften Küken wiederfand. Außerdem konnte das Team zeigen, dass langsameres Vorsingen zu besseren Lernergebnissen führt. Denn die Küken von langsamer rufenden Müttern erzeugten schließlich Bettelrufe, die jenen ihrer Mütter ähnlicher waren. Bei wiederholtem Vorsingen hingegen zeigten sich keine signifikanten Unterschiede im Lernerfolg der Küken.
„Mit unserer Studie konnten wir zeigen, dass das Erlernen von Lautelementen schon viel früher als bisher gedacht beginnt und vom Verhalten der Vögelmütter beeinflusst wird“, hält Hauptautorin Sonia Kleindorfer fest. „Das Verstehen der Rolle der Vogelmutter beim Erlernen von Rufen und des Gesangs füllt eine wichtige Lücke in unserem Verständnis des Lernprozesses der Klang- sowie Gesangsproduktion. Bis vor kurzem wurde deren Rufe und Gesang und somit auch deren Funktion als potenzielle Klang- und Gesangslehrerin übersehen.“
Eine weitere Beobachtung aus der Studie: Hörten die Küken den charakteristischen Ruf ihrer Mütter, verlangsamte sich ihre Herzfrequenz. Inhalt weiterer Forschung wird etwa sein, welche Funktion die individuellen, charakteristischen Elemente im Gesang der unterschiedlichen Mütter genau erfüllen.
Originalpublikation:
Kleindorfer S, Brouwer L, Hauber ME, Evans CE, Teunissen N, Peters A, Louter M, Webster M, Katsis AC, Sulloway FJ, Common LK, Austin VA, Colombelli-Négrel D (in press). Nestling begging calls resemble maternal vocal signatures when mothers call slowly to embryos. American Naturalist.
DOI: 10.1086/728105
https://www.journals.uchicago.edu/doi/10.1086/728105

26.10.2023, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Warum sich die New York Times für Bonner Hühner interessiert
Scharren, gackern, Eier legen – das war’s? Wer sich mit Hühnerhaltung befasst weiß, dass die Tiere deutlich mehr können. Forschende der Universitäten Bonn und Bochum haben zusammen mit der MSH Medical School Hamburg Hinweise gefunden, dass sich Hähne in einem Spiegel erkennen könnten. Ob dies gelingt, hängt jedoch von den Versuchsbedingungen ab – ein Ergebnis, das über das Experiment mit Hähnen hinausweist und auch für andere Tierarten von Bedeutung sein könnte. Die Studie ist nun im Journal PLOS ONE veröffentlicht.
“Ob sich Tiere selbst erkennen können und damit ein Selbstbewusstsein haben, ist eine der zentralen Fragen in der Verhaltensforschung”, sagt die Doktorandin Sonja Hillemacher, die zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Inga Tiemann seit Jahren am Institut für Landtechnik der Universität Bonn die Haltung von Hühnern wissenschaftlich untersucht. Auf die Idee, mit Hühnern vor einem Spiegel zu experimentieren, kamen die Wissenschaftlerinnen zusammen mit Prof. Dr. Dr. h.c. Onur Güntürkün von der Biopsychologie der Ruhr-Universität Bochum.
Ein gängiger Test zur Selbsterkennung vor einem Spiegel ist der sogenannte “Mark Test” (deutsch: Markierungstest). Dabei wird zum Beispiel am Kopf des Tiers eine farbige Markierung angebracht, die das Individuum nur vor einem Spiegel erkennen kann. Fängt das Tier an, die markierte Stelle an seinem Körper vor dem Spiegel zu erkunden, gilt das als Beweis dafür, dass es sein Spiegelbild als sich selbst erkannt hat. Allerdings funktioniert dieser Test nicht immer. Manche Tiere, denen Selbsterkenntnis zugetraut wird, nehmen von dem Spiegel keine Notiz. Vielleicht weil sie sich in der “künstlichen” Experimentalumgebung unwohl fühlen?
Anpassung des Experiments an ökologisch relevantes Verhalten
“Unser Ziel war es, den Spiegel-Test in einer Umgebung durchzuführen, die dem ökologisch relevanten Verhalten der Hühner besser angepasst ist”, sagt Dr. Inga Tiemann. Von Prof. Onur Güntürkün stammt die Idee, sich für das Experiment ein natürliches Verhalten des Federviehs zunutze zu machen: “Manche Hühner, aber insbesondere Hähne, warnen ihre Artgenossen durch spezielle Rufe, wenn ein Beutegreifer – etwa ein Greifvogel oder Fuchs – auftaucht.” Sind die Hähne dagegen alleine mit dem Raubtier konfrontiert, bleiben sie meist stumm, um nicht selbst die Aufmerksamkeit des Beutegreifers auf sich zu ziehen und Opfer zu werden. “Der Alarmruf ist das perfekte Verhalten, um es in einen ökologisch besser angepassten Test zur Selbsterkenntnis zu integrieren”, sagt der Biopsychologe der Universität Bochum.
Das Forschungsteam wollte zunächst überprüfen, ob der Alarmruf der Hähne in Anwesenheit eines Artgenossen wirklich ertönt und ausbleibt, wenn die Hähne alleine sind. Hierfür hatten die Forscherinnen der Universität Bonn auf dem Campus Frankenforst eine Testarena aufgebaut. Ein Gitter trennte zwei Abteile, durch die sich die Hähne sehen konnten. Dann wurde ein Greifvogel an die Decke eines Abteils projiziert.
58 Hähne waren bei den Experimenten beteiligt
Die Forscherinnen testeten 58 Hähne. Um die Ergebnisse statistisch abzusichern, wurde das Experiment mit jedem Hahn drei Mal wiederholt. Insgesamt stießen die Hähne in Anwesenheit eines Artgenossen 77 Alarmrufe aus – aber nur 17, wenn sie alleine waren. “Manche der Tiere sind mutiger, andere ängstlicher”, sagt Sonja Hillemacher. “Das Ergebnis zeigt aber, dass die meisten Hähne tatsächlich in Anwesenheit eines Artgenossen warnen, wenn ein Fressfeind unterwegs ist.”
Im nächsten Schritt wurde statt des Gitters ein Spiegel zwischen den beiden Abteilen platziert. Wie reagierten die Hähne in Anwesenheit ihres Spiegelbilds und eines Greifvogels? Wieder wurde der Test mit jedem Tier drei Mal durchgeführt. Insgesamt ertönten bei 174 Versuchen nur 25 Warnrufe. “Das beweist, dass die Hähne in ihrem Spiegelbild keinen Artgenossen identifizierten”, sagt Sonja Hillemacher. Das Ergebnis sei ein Indiz dafür, dass die Hähne sich möglicherweise selbst in ihrem Spiegelbild erkannten. Es bestehe aber zumindest theoretisch die Möglichkeit, dass die Hähne in ihrem Abbild ein merkwürdiges Tier sahen, das ihr eigenes Verhalten nachahmt, und deshalb der Warnruf unterblieb. “Her sind noch weitere Untersuchungen erforderlich”, ergänzt Inga Tiemann. Zum Vergleich führte das Team auch noch den klassischen Mark-Test durch: Hierbei zeigten die Hähne kein Verhalten, dass darauf hindeutet, sich selbst im Spiegel zu erkennen.
Das Forschungsteam sieht in den Resultaten eindeutige Hinweise darauf, dass der klassische Spiegel-Markierungs-Test (“Mark Test”) zuverlässigere Ergebnisse bringt, wenn das Verhalten der jeweiligen Tierart starker berücksichtigt wird. “In der klassischen Situation zeigt ein Hahn vielleicht keine Selbsterkenntnis”, sagt Onur Güntürkün. “Aber wenn ein Raubtier ihn bedroht, wird deutlich, dass sein Spiegelbild kein anderer Hahn ist, sondern er selbst.” Dieser Ansatz könnte auch für andere Tierarten von Bedeutung sein. Weitere Forschung zum Ich-Bewusstsein und zur Selbsterkenntnis von Tieren sei zudem eine wichtige Grundlage für die Diskussion um Tierschutz und Tierwohl, so die Forschenden.
Beteiligte Institutionen und Förderung:
An der Studie waren außer dem Institut für Landtechnik der Universität Bonn das Institut für Kognitive Neurowissenschaft der Fakultät für Psychologie sowie das Research Center One Health Ruhr der Ruhr-Universität Bochum und das Institut für Kognitive und Affektive Neurowissenschaften der MSH Medical School Hamburg beteiligt. Die Studie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und vom European Research Council (ERC) finanziert.
Originalpublikation:
Sonja Hillemacher, Sebastian Ocklenburg, Onur Güntürkün, Inga Tiemann: Roosters do not warn the bird in the mirror: The cognitive ecology of mirror self-recognition. Evidence for mirror self-recognition in the chicken, PLOS ONE, DOI: 10.1371/journal.pone.0291416, https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0291416

26.10.2023, Deutsche Wildtier Stiftung
Zeitumstellung/Winterzeit
Wie schlafen Wildtiere?
Am Wochenende ist es soweit: Die Winterzeit beginnt. In der Nacht zum 29. Oktober können wir eine Stunde länger schlafen. Den Wildtieren ist das Zurückdrehen der Uhren um eine Stunde zwar egal, aber auch sie schlafen in der kalten Jahreszeit anders. Ein paar Beispiele:
Der Gartenschläfer hält mit einer Dauer von rund sechs Monaten nicht nur besonders lange Winterschlaf, er kann dabei seine Körperkerntemperatur an kalten Tagen auch auf den rekordverdächtigen Wert von minus 1 Grad senken. Er liegt jetzt bereits zusammengerollt in seinem Nest und hat sich mit seinem Schwanz zugedeckt. Auch Siebenschläfer und Haselmaus haben sich im Oktober zurückgezogen, genau wie der Feldhamster in seinen Bau unter dem Acker. Allerdings: Mit einem normalen Schlaf hat der tierische Winterschlaf nicht viel gemein: „Er ist eine Strategie der Natur, um den Tieren das Überleben in der nahrungsarmen Zeit zu ermöglichen. Die Wildtiere reduzieren ihren Stoffwechsel, ihre Herzschlagrate, die Atmung und auch die Körperkerntemperatur drastisch und können so ausharren, bis es im Frühjahr wieder Nahrung für sie gibt“, sagt Professor Dr. Klaus Hackländer, Wildtierbiologe und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Wildtier Stiftung.
Nicht im Winterschlaf, aber absolut ruhebedürftig sind Gams, Rot- und Rehwild zur Winterzeit. Für sie als reine Pflanzenfresser wird die Nahrung in der Natur knapp. Und so werden sie notgedrungen zu Energiesparern. Rothirsche drehen ihre Körperheizung auf Sparflamme. Um möglichst wenig Kalorien zu verbrennen, stehen sie an kalten Tagen stundenlang still in der Landschaft. Der bis zu 200 Kilogramm schwere Hirsch reduziert dabei seinen Herzschlag von etwa 70 auf rund 40 Schläge in der Minute, auch Atmung und Puls werden deutlich langsamer. Seine inneren Organe – Leber, Niere, Verdauungstrakt und sogar sein Herz – schrumpfen in dieser Zeit messbar. Die ohnehin kurze Schlafenszeit der großen Huftiere halbiert sich von vier bis fünf Stunden im Sommer auf rund zwei bis zweieinhalb Stunden im Winter. Im Rudel schlafen nie alle Hirsche gleichzeitig, um bei Gefahr eine Chance zur Flucht zu haben. Auch Rehe sparen Energie, indem sie sich so wenig wie möglich bewegen. Sie ruhen viel; tief und fest schlafen tun sie allerdings oft nur wenige Minuten lang. Dafür suchen sie sich im Unterholz sichere Stellen, an denen sie sich niederlassen. Denn im Tiefschlaf sind sie ungeschützt und können Gefahr nicht wahrnehmen.
Wildschweine verdösen viele Stunden lang nicht nur bei Sauwetter die Tage in ihren mit Moos, Farn und Tannengrün ausgepolsterten Schlafkesseln tief im Wald. Eng beieinander liegen die Schweine und wärmen sich gegenseitig. Feldhasen graben sich auf dem Acker Mulden, sogenannte Sassen, und verbringen hier dicht an den Boden gedrückt den Tag. „Dabei schlafen sie immer wieder für wenige Minuten fest ein“, sagt Professor Hackländer.
Andere Wildtiere sind aktiver, der Fuchs zum Beispiel. Seinen Bau mit Wohnkammer und Wurfkessel nutzt er zur Tagesruhe. Nachts und frühmorgens geht er auf Mäusejagd. „Sein besonders dichter Winterpelz wärmt ihn. Und als Allesfresser kann er sich auch an kalten Tagen mit ausreichend Nahrung versorgen“, sagt Hackländer. Füchse sind sogar im Winter besonders aktiv: Sie haben von Dezember bis Februar Paarungszeit.

27.10.2023, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Wie Soziale Medien zum Artenschutz beitragen können
Fotos von Tier- und Pflanzenarten, die in den Sozialen Medien geteilt werden, können einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Biodiversität leisten – vor allem in tropischen Gebieten. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsteam unter Leitung des Deutschen Zentrums für Biodiversitätsforschung (iDiv), des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ), der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Universität von Queensland (UQ). In drei Studien, die in BioScience, One Earth und Conservation Biology veröffentlicht wurden, zeigen sie am Beispiel Bangladeschs, dass Facebook-Daten einen wichtigen Beitrag zum Biodiversitätsmonitoring und zur Bewertung potenzieller Schutzgebiete leisten können.
Die Tropen sind Hotspots der Biodiversität – doch unser Wissen über die Bestände von Tier- und Pflanzenarten in diesen Regionen ist lückenhaft. Während Monitoringprogramme und Citizen-Science-Initiativen in den Industrieländern gut etabliert sind, sind sie in den Entwicklungsländern noch kaum verbreitet. Doch nur mit einer möglichst genauen Dokumentation der Biodiversität kann festgestellt werden, welche Arten eines besonderen Schutzes bedürfen. Mit der zunehmenden Nutzung Sozialer Medien und der Verbreitung qualitativ hochwertige Digitalkameras könnten sich neue Möglichkeiten ergeben. Naturphotographen weltweit teilen ihre Aufnahmen zur Biodiversität in den Sozialen Medien – ein riesiges Potenzial. Ein Forschungsteam hat am Beispiel des südasiatischen Landes Bangladesch untersucht, welchen Beitrag Daten von Facebook zum Monitoring und in der Konsequenz auch zur Einschätzung potenzieller Schutzgebiete leisten können.
Für ihre Studie griffen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Facebook-Gruppen von Naturphotographen in Bangladesch zurück. Die Informationen, die sie aus den Art- und Ortsangaben der Fotos ableiten konnten, flossen in einen gemeinsamen Datenpool mit den Daten aus der Global Biodiversity Information Facility (GBIF). Die GBIF wird unter anderem aus etablierten Citizen-Science-Plattformen wie eBird und iNaturalist gespeist. Im Globalen Norden funktioniert das schon – für Tier- und Pflanzenarten in den Entwicklungs- und Schwellenländern gibt es hingegen noch deutlich weniger Daten. Durch die Integration der Facebook-Daten konnte das Forschungsteam über 44.000 Datensätze für fast 1000 Tierarten zusammentragen, wovon 288 laut Weltnaturschutzorganisation IUCN als gefährdet gelten. Mehr als ein Viertel der Daten stammte aus Facebook-Gruppen, für Schmetterlinge und Vögel war es sogar mehr als die Hälfte. „Hätten wir nur auf die Daten aus der GBIF zurückgegriffen, wären uns Daten zur Verbreitung von Hunderten bedrohter Tierarten durch die Lappen gegangen“, meint Dr. Shawan Chowdhury, der die Studien in Bangladesch leitete. Derzeit forscht er am iDiv, dem UFZ und der Friedrich-Schiller-Universität Jena; seine Doktorarbeit schrieb er an der Universität von Queensland in Australien.
Facebook-Daten zeigen potenzielle Schutzgebiete
Das Forschungsteam konnte auf dieser neuen Datenbasis eine Karte besonders geeigneter Lebensräume für die verschiedenen Tierarten erstellen und mit bestehenden Schutzgebieten abgleichen. Derzeit sind lediglich 4,6 % der Landfläche Bangladeschs als Schutzgebiete ausgewiesen, wovon sich ein Großteil im Südwesten des Landes befindet. Insbesondere bereits bedrohte Arten werden von den derzeitigen Schutzgebieten nicht ausreichend abgedeckt – ein typisches Phänomen in Tropenregionen. Um sicherzustellen, dass für alle bedrohten Arten in Bangladesch ausreichend Schutzgebiete vorhanden sind, müsste der Anteil der unter Schutz stehenden Fläche auf 39 Prozent erhöht und diese besser im Land verteilt werden. Die Daten zeigten zudem, dass zum Beispiel 45 % der Schmetterlingsarten in Bangladesch auf den Grünflächen der Hauptstadt Dhaka vorkamen, fast die Hälfte davon gilt als gefährdet. Bei der Planung neuer Schutzgebiete könnte sich daher auch ein Blick auf eher unkonventionelle Gebiete lohnen, etwa in und um urbane Gebiete.
Nutzung von Daten aus sozialen Medien birgt Herausforderungen
Doch die Nutzung von Social-Media-Daten birgt derzeit noch einige Herausforderungen. Wie bei vielen Citizen-Science-Initiativen sind die Daten, die von den Nutzern gesammelt werden, nur selten gleichmäßig verteilt. Stattdessen konzentrieren sie sich oft auf gut erreichbare Regionen, etwa in der Nähe von Städten. Social-Media-Daten für die Forschung nutzbar zu machen, ist außerdem derzeit noch sehr aufwendig. Für ihre Studie durchsuchten die Forschenden die Facebook-Gruppen händisch nach den Arten auf der Roten Liste und verifizierten jedes einzelne Foto inklusive Art- und Ortsangabe. Neue Möglichkeiten wie Künstliche Intelligenz und Deep Learning könnten diesen Prozess zukünftig einfacher machen.
„Die Integration von Biodiversitätsdaten aus Citizen Science, die in den Sozialen Medien veröffentlich werden, birgt insbesondere für tropische Regionen ein großes Potential, wo es an verlässlichen und aktuellen strukturierten Monitoringdaten mangelt“, sagt Prof. Aletta Bonn, Leiterin der Forschungsgruppe Ökosystemleistungen am UFZ, an der Universität Jena und bei iDiv. In diesen Regionen könnten Sichtungen, die bei Facebook oder auch auf anderen sozialen Plattformen veröffentlich werden, zu einer besseren und systematischen Einschätzung potenzieller Schutzgebiete beitragen – ein wichtiger Schritt, um die Ziele von Kunming-Montreal zu erreichen und 30 Prozent der Land- und Meeresfläche bis 2030 unter Schutz zu stellen.
Originalpublikation:
Shawan Chowdhury, Richard A. Fuller, Sultan Ahmed, Shofiul Alam, Corey T. Callaghan, Priyanka Das, Ricardo A. Correia, Moreno Di Marco, Enrico Di Minin, Ivan Jarić, Mahzabin Muzahid Labi, Richard J. Ladle, Md. Rokonuzzaman, Uri Roll, Valerio Sbragaglia, Asma Siddika, Aletta Bonn (2023). Using social media records to inform conservation planning. Conservation Biology, DOI: 10.1111/cobi.14161

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