Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

24.07.2023, Dachverband Deutscher Avifaunisten
Wie beeinflusst der Faktor Klima europäische Brutvögel in ihrer Verbreitung?
Dieser Frage hat sich ein Forscherteam von europäischen Experten unter der Leitung der Universität Durham gewidmet. Das Ergebnis: Lokale Ansiedlungen und das Aussterben europäischer Vögel lassen sich nur schlecht durch Klimafaktoren erklären. Die Erkenntnisse unterstreichen hingegen, wie wichtig es ist, Netzwerke lokaler Populationen zu erhalten, um Populationen in Zeiten des Klimawandels robust aufzustellen. Die Studie wurde letzte Woche in „Nature Communications“ veröffentlicht.
Mithilfe des riesigen Datasets des Europäischen Brutvogelatlas EBBA2, für den die Monitoring-Programme des DDA den deutschen Beitrag leisteten, ermittelten die Expert*innen, dass die lokale Besiedlung und das Aussterben von Arten in dem Erhebungszeitraum in den verschiedenen Verbreitungsgebieten nur in geringem Maße von Klimaveränderungen beeinflusst wurden.
Stattdessen wurden die Verschiebungen stärker von den klimatischen Bedingungen zum Zeitpunkt der ersten Erhebung und anderen Lebensraumfaktoren geprägt. Besonders die Nähe anderer Populationen stellte sich als eine wichtige Determinante dafür heraus, ob ein neues Gebiet besiedelt wurde oder ob eine Population ausstarb. Daneben war Verfolgung und Bejagung bestimmend für die Entwicklung der Vogelpopulationen. Hauptautorin Dr. Christine Howard fasst zusammen: „Die Schlüsselrolle nicht-klimatischer Faktoren bei der Veränderung des Verbreitungsgebiets macht deutlich, dass das Klima nur ein Faktor ist, der die Populationen europäischer Brutvögel beeinflusst.“
Monitoringdaten für die Forschung
An der Erhebung der Daten, die in dieser Studie verwendet wurden, waren sehr viele aktive Ehrenamtliche im Vogelschutz beteiligt. Allein für den zweiten Brutatlas wurden Daten von 120.000 Feldforschern gesammelt, die eine systematische Erfassung von 11 Millionen Quadratkilometern in 48 Ländern ermöglichten. Mitautor Dr. Sergi Herrando, der federführend an der Zusammenstellung der Daten für den jüngsten Verbreitungsatlas beteiligt war, fügte hinzu: „Die hier vorgestellte Arbeit zeigt, wie koordinierte Erhebungsdaten, die in vielen Ländern gesammelt wurden, genutzt werden können, um die Ursachen für den Verlust und den Zuwachs von Arten besser zu verstehen.“
Weitere Informationen
Artikel in Nature Communications: Howard, C., Marjakangas, EL., Morán-Ordóñez, A. et al. Local colonisations and extinctions of European birds are poorly explained by changes in climate suitability. Nat Commun 14, 4304 (2023). https://doi.org/10.1038/s41467-023-39093-1

24.07.2023, Georg-August-Universität Göttingen
Muster der Biodiversität entschlüsselt
Der Mensch ist eine große Bedrohung für die biologische Vielfalt. Um sie zu schützen, ist es wichtig, ihre Ursprünge zu verstehen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Arten, die evolutionär einzigartig sind, das heißt wenige oder keine nah verwandten Arten haben, und nur in einem begrenzten Gebiet vorkommen, also endemisch sind. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der Universität Göttingen hat nun globale Muster der Verbreitung endemischer Samenpflanzen aufgedeckt und Umweltfaktoren ermittelt, die ihren Endemismus beeinflussten. Damit liefern die Forschenden wertvolle Erkenntnisse für den weltweiten Schutz von Biodiversität.
Die Forschenden analysierten einen umfangreichen Datensatz zum regionalen Vorkommen von Samenpflanzen. Er umfasste etwa 320.000 Arten aus weltweit 912 Regionen. Dabei deckten sie die geografische Verteilung endemischer Arten auf. Indem sie zwischen „kürzlich“ entstandenen Arten und älteren evolutionären Linien unterschieden, machten sie Zentren von Neo- und Paläoendemismus aus. Neoendemismus ist die lokal begrenzte Verbreitung von Arten, deren Artbildung noch nicht lange zurückliegt und die sich noch nicht weiter ausgebreitet haben. Dagegen beschreibt Paläoendemismus die begrenzte Verbreitung meist älterer Arten, die heute nur noch auf Restflächen ihres einst größeren Verbreitungsgebiets vorkommen. Als globale Hotspots endemischer Samenpflanzen identifizierte das Forschungsteam isolierte tropische und subtropische Inseln sowie tropische Bergregionen. Die meisten tropischen Regenwaldgebiete sind Zentren des Paläoendemismus. Dagegen weisen viele Gebiete mit mediterranem Klima und abgelegene Inseln vor allem Neoendemismus oder beide Formen auf.
Das Forschungsteam untersuchte auch das Zusammenspiel zwischen Umweltfaktoren und Endemismus. Dabei wurde deutlich, dass eine Kombination aus vergangenen und gegenwärtigen Umweltbedingungen die globalen Unterschiede im Vorkommen endemischer Samenpflanzen beeinflusst. Die Studie zeigt auch, dass sowohl die klimatische als auch die geologische Geschichte Einfluss auf den Endemismus hat: Die langfristige klimatische Stabilität unterstützt das Fortbestehen von Paläoendemismus, während die isolierte Natur ozeanischer Inseln und ihre einzigartige geologische Geschichte Neoendemismus fördern.
Prof. Dr. Holger Kreft von der Abteilung Biodiversität, Makroökologie und Biogeographie der Universität Göttingen betont: „Die aufgedeckten Beziehungen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Umweltbedingungen und Endemismus bieten beispiellose Einblicke in die evolutionären Grundlagen biogeografischer Muster bei Samenpflanzen.“ Dr. Patrick Weigelt aus derselben Abteilung fügt hinzu: „Unsere Ergebnisse verbessern nicht nur unser Verständnis der evolutionären Ursprünge der Pflanzenvielfalt, sie unterstreichen auch die dringende Notwendigkeit, Gebiete zu schützen, in denen Arten mit einzigartiger Evolution und begrenzter Verbreitung vorkommen.“
Originalpublikation:
Cai, L. et al. Climatic stability and geological history shape global centers of neo- and paleoendemism in seed plants. Proceedings of the National Academy of Sciences (2023). DOI: 10.1073/pnas.2300981120

25.07.2023, Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte e. V.
Wir haben Tausende neue Arten entdeckt
Fast wäre die Tiefsee-Expedition „AleutBio“ kurz vor dem Start gescheitert. Doch aus dem Beinahe-Drama wurde ein großer Erfolg. Wie das gelang, berichtet die Meeresbiologin und Fahrtleiterin Angelika Brandt.
„Es war die schwierigste Fahrt meines Lebens“, sagt die Meeresbiologin Angelika Brandt über ihre Expedition in die nordostpazifische Tiefsee. Die Frankfurter Professorin leitete das Wissen-schaftsprogramm von „AleutBio“, einer internationalen Mission zur Erforschung der Artenvielfalt im Beringmeer und Aleutengraben. Kurz vor Fahrtbeginn drohte der ursprünglich als deutsch-russische Expedition geplanten Fahrt wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine das Aus. Eine Verlagerung in amerikanische Gewässer rettete sie in praktisch letzter Minute. Vor rund einem Jahr konnte dann ein 38-köpfiges Team um Angelika Brandt mit dem Forschungsschiff Sonne von Dutch Harbor auf der US-Insel Unalaska starten.
Während der 44-tägigen Expedition legten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gut 3600 Seemeilen zurück. Mit moderner Meerestechnik untersuchten sie, wie es in Tiefen von mehr als 7000 Metern aussieht und welche Organismen dort vorherrschen. „Wir haben Arten gefunden, die vom Kurilen-Kamtschatka-Graben bis zum Aleutengraben vorkommen, die also über dreitausend Kilometer hinweg die gleiche Art darstellen“, berichtet Angelika Brandt im Interview für die Website der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ). Die Expedition habe Tausende neue Arten zutage gefördert, die nun in Forschungslaboren weltweit genau untersucht werden.
Die im Frühjahr 2022 von Bundesforschungsministerium eingefrorene Wissenschaftskooperation mit Russland liegt weiterhin auf Eis. „Die Arbeitsbeziehungen ruhen und Freundschaften, die über Jahrzehnte entstanden sind, stecken in einer tiefen Krise“, sagt Angelika Brandt. Es sei viel Vertrauen verloren gegangen: „Einige Kollegen haben sich im Ukrainekrieg auf die Seite Putins geschlagen, was ich nicht akzeptieren kann.“ Der Kreml-Chef habe dem Austausch russischer Forscher mit Kollegen im Ausland auf lange Sicht geschadet.
Das vollständige Interview gibt es hier.

25.07.2023, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Bienenwolf-Symbiose: Schutzschirm für Verbündete
Forschende des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in Jena und der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz berichten in einer aktuellen Studie in der Zeitschrift PNAS, dass die Symbiose von Bienenwölfen mit ihren bakteriellen Helfern auch den Schutz der Symbionten vor giftigem Stickstoffmonooxid, das Bienenwolf-Eier zur Desinfektion der Bruthöhle abgeben, umfasst. Die weißliche Absonderung aus den Antennen der Bienenwolf-Weibchen, die auch die Symbionten beinhaltet, stellt eine wirksame Diffusionsbarriere dar.
Bienenwölfe, eine Gattung von solitären Grabwespen, beherbergen in ihren Antennen symbiotische Bakterien, die einen Antibiotika-Cocktail aus bis zu 49 verschiedenen Substanzen produzieren, der ihre Larven vor Schimmelpilzen schützt. Die Weibchen fangen Honigbienen, lähmen sie mit einem Stich und schleppen sie in unterirdische Bruthöhlen, die sie zuvor gegraben haben. Dort legen sie dann auch ihre Eier ab, wobei die Bienen den schlüpfenden Larven als Nahrung dienen. Mit der Eiablage deponieren Bienenwolf-Weibchen die symbiotischen Bakterien in einer weißen Masse an der Decke der Brutzelle.
Bienenwolf-Eier geben giftige Stickstoffmonoxid ab, um die Bruthöhle schimmelfrei zu halten
In der feuchten Erde kann es schnell zu Schimmelbildung kommen, die die Haltbarkeit der Bienen und somit der potenziellen Nahrung stark einschränken kann. Aus früheren Studien wussten die Forschenden, dass die Eier der Bienenwölfe das giftige Gas Stickstoffmonoxid freisetzen. „Wir Menschen kennen Stickstoffmonoxid vor allem aus Autoabgasen, in denen es reichlich vorhanden ist. Das freie Radikal kann die Atemwege schädigen und den Sauerstofftransport im Körper beeinträchtigen, weshalb Auspuffgase so gefährlich für unsere Gesundheit sind. Das Bienenwolf-Ei macht sich die toxischen Eigenschaften von Stickstoffmonoxid zunutze, um die unterirdische Brutzelle, in der es sich entwickelt, zu desinfizieren und so die Ausbreitung von krankheitserregenden Keimen zu verhindern. In der Brutzelle befinden sich jedoch auch die Antibiotika produzierenden Symbiose-Partner des Bienenwolfs. Mit unseren Untersuchungen wollten wir herausfinden, wie die bakteriellen Helfer die Freisetzung des giftigen Gases aus dem Ei überleben“, erläutert Tobias Engl vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, einer der Hauptautoren, die Zielsetzung der Studie.
Zunächst vermuteten die Forschenden, dass die Bakterien sich selbst davor schützen können, vergiftet zu werden. Dafür sprach, dass in den symbiotischen Bakterien unter in-vitro-Bedingungen, das heißt außerhalb der natürlichen Umgebung in einem Anzuchtgefäß, Gene, die am Schutz gegen das Gas beteiligt sind, hochreguliert werden, wenn die Bakterien mit dem Gas konfrontiert sind. „Weitere Experimente in der Bruthöhle selbst zeigten aber, dass die Aktivierung der Schutz-Gene bei Weitem nicht ausreicht, um die hohen Stickstoffmonoxid-Konzentrationen zu überleben. Unter Umweltbedingungen war eine Hochregulierung dieser Gene bei den Symbionten in der Bruthöhle dann auch gar nicht mehr nachweisbar“, sagt die zweite Hauptautorin Chantal Ingham von der Johannes Gutenberg-Universität.
Kohlenwasserstoffe in den Absonderungen aus der Bienenwolfantenne sorgen für den Schutz gegen giftiges Stickstoffmonoxid
Den Schlüssel zur Lösung ihrer Frage fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, als sie die weiße Substanz, die von den Antennendrüsen der Bienenwolf-Weibchen abgesondert wird, genauer unter die Lupe nahmen. Insbesondere untersuchte das Forschungsteam die Wirkung des Sekrets und der darin enthaltenen Kohlenwasserstoffe gegen das giftige Stickstoffmonoxid. Experimente zeigten, dass die Kohlenwasserstoffe, die die Symbiose-Bakterien im Antennendrüsensekret des Bienenwolfs umgeben, das Stickstoffmonoxid von den Symbionten fernhalten und verhindern, dass die Bakterien durch das giftige Gas zu Schaden kommen.
„Dies ist eines der wenigen Beispiele, die deutlich machen, wie ein Insekt seine eigenen Symbionten während der gefährdeten Phase der Übertragung von einer Generation zur nächsten schützen kann. Es beschreibt außerdem eine weitere spannende Funktion von Kohlenwasserstoffen, die bei Insekten in erster Linie dem Schutz vor Austrocknung und natürlichen Feinden sowie der chemischen Kommunikation dienen“, meint Tobias Engl.
Symbiotische Bakterien werden in vielen Insektenarten von einer Wirtsgeneration auf die nächste übertragen. Diese Übertragung kann einerseits über die Keimbahn erfolgen. Oftmals befinden sich die Symbionten aber auch über einen Zeitraum außerhalb des Wirts. „Bei den meisten dieser Symbiosen ist unklar, wie es den Symbionten gelingt, außerhalb des Wirts zu überleben, von dem sie meistens vollkommen abhängig sind. Die Bienenwolf-Symbiose ist ein faszinierender Fall von gegenseitigem Schutz: Die Symbionten schützen den Wirt vor Krankheitserregern, indem sie Antibiotika produzieren. Der Wirt wiederum schützt seine Symbionten durch eine Schicht von Kohlenwasserstoffen vor der eigenen Abwehr gegen Krankheitserreger. Der hier vorgestellte Mechanismus zeigt, wie sich Bienenwölfe gegen Pathogene verteidigen können, während sie gleichzeitig die Symbiose mit ihren bakteriellen Helfern aufrechterhalten“, fasst Studienleiter Martin Kaltenpoth, der am Jenaer Max-Planck-Institut die Abteilung Insektensymbiose leitet, die Bedeutung der Studienergebnisse zusammen.
Weitere Experimente sollen jetzt zeigen, ob das spezielle Kohlenwasserstoffgemisch des Bienenwolfs besonders gut geeignet ist, die Symbionten schützen oder ob im Grunde jeder Kohlenwasserstoff diese Aufgabe erfüllen könnte.
Originalpublikation:
Ingham, C. S., Engl, T., Matarrita-Carranza, B. A., Vogler, P., Huettel, B., Wielsch, N., Svatoš, A., Kaltenpoth, M. (2023). Host hydrocarbons protect symbiont transmission from a radical host defense Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, doi: 10.1073/pnas.2302721120
https://doi.org/10.1073/pnas.2302721120

27.07.2023, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Konkurrenz um Nahrung? Kieferanalysen zeigen was Höhlenbären und Braunbären fraßen
Die Unterschiede liegen im Detail: Spezielle 3D-Formanalysen der Kiefer und Gebisse von Höhlenbären und zeitgleich lebenden Braunbären aus der Fossilfundstelle in den Höhlen von Goyet in Belgien zeigen deren deutlich unterschiedliches Nahrungsspektrum. Der Speiseplan der vor rund 30.000 Jahren lebenden Braunbären unterscheidet sich dagegen nur leicht von dem ihrer heute noch lebenden Artgenossen aus Nordamerika. SNSB-Zoologin Anneke van Heteren veröffentlichte ihre Vergleichsstudie nun gemeinsam mit einer Kollegin des Royal Belgian Institute of Natural Sciences (RBINS) in der Fachzeitschrift Boreas
Der heute lebende Braunbär Ursus arctos ist der nächste lebende Verwandte des vor rund rund 25.000 Jahren ausgestorbenen Höhlenbären Ursus spelaeus. Vor 1,3 Millionen bis 25.000 Jahren lebten Braunbären und Höhlenbären nebeneinander in denselben Gebieten und konkurrierten wahrscheinlich um pflanzliche Nahrung, so auch im belgischen Namur-Gebiet. In den Höhlen von Goyet und Trou des Nutons finden sich die rund 30.000 Jahre alten Überreste beider Bärenarten.
Anneke van Heteren, Säugetier-Kuratorin an der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM) und ihre Kollegin Mietje Germonpré vom Royal Belgian Institute of Natural Sciences (RBINS) zeigten in einer neuen Studie, dass sich die beiden Zeitgenossen unterschiedlich ernährten. So war der Höhlenbär ein reiner Veganer, wohingegen der Braunbär schon damals ein Allesfresser war – und es bis heute ist. Form und Biomechanik der Kiefer der beiden Bärenarten unterscheiden sich deutlich voneinander. Aber die Forscher:innen konnten auch kleine Unter-schiede der Kiefer der fossilen Braunbären im Vergleich zu ihren heute noch lebenden Artgenossen feststellen. „Vermutlich haben die fossilen Braunbären aus Belgien etwas mehr pflanzliche Nahrung zu sich genommen, als die heutigen Braunbären aus Nordamerika,“ interpretiert Anneke van Heteren, Erstautorin der Veröffentlichung, die Ergebnisse.
Anneke van Heteren und ihre flämische Kollegin analysierten im Rahmen ihrer Arbeit auch Jungtiere der Höhlenbären aus Belgien. Deren Kiefer waren wahrscheinlich weniger gut geeignet, um feste Nahrung zu kauen, als die ihrer erwachsenen Artgenossen. „Vermutlich wurden die jungen Bären noch zusätzlich von der Mutter mit Milch versorgt. Ihre Kiefer mussten sich erst an die spätere Entwicklung ihres bleibenden Gebisses anpassen“, so Anneke van Heteren weiter.
Die biomechanischen Unterschiede in den Kiefern zeigen sich insbesondere in deren Öffnungswinkeln beim Kauen ihrer Nahrung. Die Forscherinnen aus München und Belgien nutzten für ihre Studien die sogenannte geometrische Morphometrie. Das ist die Vermessung von Skeletteilen mit Hilfe digitaler Messpunkte, sogenannter Landmarks. Die Methode erlaubte es den Forscherinnen, die Kieferknochen der Bären dreidimensional zu visualisieren und über statistische Verfahren zu vergleichen.
Originalpublikation:
van Heteren, A.H. and Germonpré, M. (2023), Geometric morphometric assessment of the fossil bears of Namur, Belgium: Allometry and ecomorphology. Boreas. https://doi.org/10.1111/bor.12629

28.07.2023, Universität Wien
Das genetische Erbe unserer ausgestorbenen Ahnen
Genfluss einer extinkten Gorilla-Population zu rezenten Berggorillas entdeckt
Eine aktuell in der Fachzeitschrift Nature Ecology and Evolution erschienene, internationale Forschungsarbeit unter Leitung der Universitäten Wien (Österreich) und dem Institute of Evolutionary Biology (IBE) in Barcelona (Spanien) liefert einen verbesserten Einblick in die Evolutionsgeschichte der Gorillas. Martin Kuhlwilm, Wissenschafter am Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien, Harvinder Pawar, PhD Studentin, und Tomas Marques-Bonet, ICREA-Forschungsprofessor am IBE, einem Forschungszentrum des spanischen Nationalen Forschungsrats (CSIC) und der Universität Pompeu Fabra (UPF) analysierten das Genom von Gorillas mit Hilfe moderner statistischer Methoden unter Einbeziehung neuronaler Netzwerke. So wurde entdeckt, dass es auch bei dieser mit dem Menschen eng verwandten Affenart einen Genfluss von bereits ausgestorbenen Linien in die heute lebenden Gorillas gegeben hat – ähnlich wie der moderne Mensch und Bonobos von ausgestorbenen Gruppen Gene erhalten hat, die noch heute in unserem Erbgut zu finden sind.
Menschen und Gorillas teilen eine spannende Gemeinsamkeit: Bei beiden Arten kam es im Lauf der Evolution durch Verpaarung mit Individuen heute bereits ausgestorbener Gruppen der jeweiligen Art zur Vermischung der DNA – und damit zur Introgression („Einwanderung“) von Genen von einer Gruppe in die andere. So hat der moderne Mensch im Laufe der Evolutionsgeschichte Gene mit den Neandertalern und auch mit den Denisova-Menschen ausgetauscht, die sich noch heute im Erbgut vieler Menschen nachweisen lassen. Entsprechende Untersuchungen an Menschenaffen, besonders an Gorillas, sind bisher allerdings eher dünn gesät, weil es von unseren nächsten lebenden Verwandten – im Gegensatz zum Homo sapiens – nur wenige fossile Überreste gibt, aus denen „alte“ DNA zur Analyse gewonnen werden könnte. Daher sind die Genome heute lebender Individuen die einzige Möglichkeit, ihre Entwicklungsgeschichte zu rekonstruieren, was im Anbetracht der Tatsache, dass Gorillas in freier Wildbahn vom Aussterben bedroht sind, von ganz besonderer Bedeutung ist.
Genfluss von „Geisterpopulation“ liefert neue Erkenntnisse zur Evolutionsgeschichte
Gorillas setzen sich aus 2 Arten (Westliche und Östliche Gorillas) zusammen, die ihrerseits aus je 2 Unterarten bestehen: Zu den Westlichen Gorillas zählen die Westlichen Flachlandgorillas und die Cross-River-Gorillas, zu den Östlichen Gorillas gehören die Östlichen Flachlandgorillas und die nahe verwandten Berggorillas. In der aktuellen Forschungsarbeit des Teams um Martin Kuhlwilm und Tomas Marques-Bonet, in Zusammenarbeit mit Chris Tyler-Smith und Yali Xue vom Sanger Institut, wurde das Genom von Individuen aller 4 Unterarten analysiert, darunter auch neu sequenzierte Berggorilla-Genome aus dem Bwindi-Nationalpark in Uganda, einem der beiden einzigen Orte, an dem die wenigen noch lebenden Berggorillas zu finden sind. Smarte und innovative statistische Methoden inklusive der Einbindung neuronaler Netze förderten ein überraschendes Resultat zutage: Vor 40.000 Jahren fand ein Genaustausch zwischen einer bereits ausgestorbenen Gorilla – „Geisterpopulation“ und dem gemeinsamen Vorfahren der Östlichen Flachlandgorillas und der Berggorillas statt. Wissenschafter Martin Kuhlwilm erklärt: „Bis zu 3% des Genoms der heutigen Östlichen Gorillas tragen Überreste von Genen dieser „Geisterpopulation“, die sich vor mehr als 3 Millionen Jahren von den gemeinsamen Vorfahren aller Gorillas getrennt haben.“ Und führt weiter aus: „Im Gegensatz dazu konnten wir bei den Westlichen Gorillas keine dieser DNA-Abschnitte identifizieren.“
Genfluss von „Geisterpopulation“ kann Auswirkungen auf Genfunktionen haben
Dass der genetische Eintrag von bereits ausgestorbenen Ahnen nicht nur von evolutionsgeschichtlichem Interesse ist, sondern auch funktionelle Auswirkungen auf die rezenten Arten haben kann, konnte das internationale Team anhand eines Beispiels eindrucksvoll zeigen: So stellten die Forschenden fest, dass ein Gen, das für einen Bittergeschmacksstoffrezeptor kodiert, von der „Geisterpopulation“ in die heutigen Östlichen Flachlandgorillas und in die Berggorillas eingebracht wurde – und nachher einer positiven Selektion unterlegen haben könnte. Insofern „praktisch“ für die heutigen Tiere, weil diese Art von Geschmacksrezeptoren vermutlich dabei helfen, giftige (und bitter schmeckende) Nahrung zu vermeiden. Ein weiteres interessantes Ergebnis aus den Analysedaten ist, dass die Östlichen Gorillas in ihrem X-Chromosom eine sehr geringe Menge an DNA aus der Geisterpopulation tragen. Somit scheint dieses einer negativen Selektion zu unterliegen – was so auch beim Menschen und anderen Arten zu beobachten ist. Ein möglicher Grund dafür ist, dass dieses Chromosom in männlichen Individuen nur in einer Kopie vorhanden ist, im Gegensatz zu den anderen Chromosomen, und daher schädliche Mutationen einen stärkeren Effekt haben.
Dazu Martin Kuhlwilm: „Die Geschichte der Vermischung mit nun ausgestorbenen Gruppen in verschiedenen Arten wie Menschen, Bonobos und nun auch Gorillas ist ein wichtiger Aspekt der Evolution, zu dem wir neue Erkenntnisse gewonnen haben.“ „Evolutionäre Genetik ist wichtig“, ergänzt Harvinder Pawar, Erstautorin der Studie, „damit wir mehr darüber lernen, was uns Menschen von anderen Menschenaffen unterscheidet.“
Originalpublikation:
Ghost admixture in eastern gorillas. Harvinder Pawar, Aigerim Rymbekova, Sebastian Cuadros, Xin Huang, Marc de Manuel, Tom van der Valk, Irene Lobon, Marina Alvarez-Estape, Marc Haber, Olga Dolgova, Sojung Han, Paula Esteller-Cucala, David Juan, Qasim Ayub, Ruben Bautista, Joanna L. Kelley, Omar E. Cornejo, Oscar Lao, Aida M. Andrés, Katerina Guschanski, Benard Ssebide, Mike Cranfield, Chris Tyler-Smith, Yali Xue, Javier Prado-Martinez, Tomas Marques-Bonet, Martin Kuhlwilm. Nature Ecology and Evolution;
DOI: 10.1038/s41559-023-02145-2
https://doi.org/10.1038/s41559-023-02145-2

Und noch ein Hinweis in eigener Sache …
Mein Facebook-Konto wurde vor einiger Zeit gehackt und lässt sich nicht wiederherstellen. Ursprünglich dachte ich, dass ich darauf verzichten könnte, aber FACEBOOK hat durchaus seine Vorteile. Deswegen ist der Beutelwolf-Blog auch dort wieder vertreten:
FACEBOOK.

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