Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

04.07.2023, Veterinärmedizinische Universität Wien
Klimawandel und Winterschlaf: Gartenschläfer reagieren flexibel
Wie wirkt sich der Klimawandel auf Tiere aus, die Winterschlaf halten? In einer experimentellen Versuchsanordnung ging ein Forschungsteam der Veterinärmedizinischen Universität Wien dieser Frage nach. Dabei zeigte sich, dass die untersuchten Gartenschläfer (Eliomys quercinus) – enge Verwandte der Siebenschläfer – durchaus in der Lage sind, sich auf wärmere Klimabedingungen einzustellen. Allerdings nur, sofern genug Futter vorhanden ist.
Der Winterschlaf ist eine Strategie zum Energiesparen, die viele Tiere in der kalten Jahreszeit nützen. Durch den Klimawandel ist diese Zeit eines reduzierten Stoffwechsels und einer verminderten Körpertemperatur beeinträchtigt. Dadurch nimmt die Häufigkeit der periodischen Wiedererwärmung zu, die mit einem hohen Maß an oxidativem Stress verbunden ist, was sich an der Verkürzung der Telomere zeigt – jener Schutzkappen an den Enden der Chromosomen, die bei jeder Zellteilung kürzer werden und wesentlich für das Altern verantwortlich sind.
Untersuchungsziel: Fressverhalten und Telomerdynamik während des Winterschlafs
Vor diesem Hintergrund untersuchten die Forscher:innen in ihrer Studie den Einfluss der Umgebungstemperatur auf das Fressverhalten und die Telomerdynamik bei Gartenschläfern. Dieser nachtaktive Kleinsäuger bereitet sich auf den Winterschlaf vor, indem er Fettreserven ansammelt, er kann aber auch während des Winterschlafs fressen. Gemessen wurden Nahrungsaufnahme, Erstarrungsmuster, Veränderungen der Telomerlänge und Körpermasseveränderung von Tieren, die über einen Zeitraum von sechs Monaten bei experimentell kontrollierten Temperaturen von entweder 14 °C – ein milder Winter – oder 3 °C – ein kalter Winter – gehalten wurden.
Höhere Temperaturen beeinträchtigen Winterschlaf, Ausgleich durch erhöhte Nahrungsaufnahme
Während des Winterschlafs bei 14 °C erwachten Gartenschläfer 1,7-mal häufiger und 2,4-mal länger aus dem Winterschlaf als ihre Artgenossen, die bei 3 °C überwinterten. „Eine höhere Nahrungsaufnahme ermöglichte es den bei wärmeren Temperaturen überwinternden Individuen jedoch, den erhöhten Energiebedarf auszugleichen, den Verlust an Körpermasse abzufedern und so die Überlebensrate im Winter zu erhöhen“, erklärt Studien-Co-Erstautorin Marie-Therese Ragger vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie (FIWI) der Vetmeduni.
Telomere werden unabhängig von der Temperatur deutlich länger
Interessanterweise beobachteten die Forscher:innen unabhängig von der Temperatur eine signifikante Zunahme der Telomerlänge über die gesamte Winterschlafperiode. Das Forschungsteam kommt deshalb laut Studien-Co-Erstautor Sylvain Giroud (FIWI) der Vetmeduni zum Schluss, „dass auch höhere Temperaturen im Winter, wenn sie mit einem ausreichenden Nahrungsangebot einhergehen, einen positiven Einfluss auf die Energiebilanz und die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen haben können. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Nahrungsverfügbarkeit im Winter ein entscheidender Faktor für das Überleben des Gartenschläfers sein könnte. Aufgrund des Klimawandels und der ständig steigenden Temperaturen könnte diese Anpassungsstrategie in Zukunft immer wichtiger werden.“
Originalpublikation:
Der Artikel „Food availability positively affects the survival and somatic maintenance of hibernating garden dormice (Eliomys quercinus)“ von Sylvain Giroud, Marie Therese Ragger, Amélie Baille, Franz Hölzl, Steve Smith, Julia Nowack und Thomas Ruf wurde in „Frontiers in Zoology“ veröffentlicht. https://frontiersinzoology.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12983-023-00498-9

04.07.2023, Deutsche Wildtier Stiftung
Erfolgreiches Blühwiesenprojekt von hvv und Deutscher Wildtier Stiftung: Experten entdecken an U- und S-Bahnhöfen zahlreiche seltene Wildbienen und eine noch nie in Hamburg nachgewiesene Grabwespenart
Hamburg tut etwas für Wildbienen. Gemeinsam mit dem Hamburger Verkehrsverbund (hvv) gestaltet die Deutsche Wildtier Stiftung brachliegende Flächen an U- und S-Bahnhöfen in Blühwiesen um. Vor gut zwei Jahren wurden die Flächen der Bezirke im Umfeld der Bahnhöfe Sternschanze, Ohlsdorf, Burgstraße und Billstedt unter fachlicher Anleitung der Deutschen Wildtier Stiftung wildbienenfreundlich bepflanzt. Im vergangenen Jahr untersuchten Experten die Flächen, jetzt liegen die Ergebnisse dieses Monitorings vor. Die erfreuliche Bilanz: Auf den Wiesenstücken fanden die Biologen zahlreiche seltene Wildbienenarten – und eine in Hamburg noch nie nachgewiesene Grabwespenart.
Insgesamt zählten die Experten 1863 Tiere, die sie 115 Wildbienen- und Wespenarten zuordnen konnten. „Vor allem die Fläche am Bahnhof Billstedt hat uns mit insgesamt 73 gefundenen Arten überrascht“, sagt Julia-Marie Battermann, Leiterin des Wildbienenprojekts bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Unter allen erfassten Arten befindet sich auch ein Neunachweis für Hamburg – die Grabwespenart Stahlblauer Grillenjäger (Isodontia mexicana), die an den Haltestellen Sternschanze und Burgstraße gefunden wurde. Darüber hinaus konnten noch weitere seltene Arten nachgewiesen werden. Dazu gehören eine Sandbiene (Andrena tibialis) am Bahnhof Ohlsdorf und eine Schmalbiene (Lasioglossum nitidulum) an den Bahnhöfen Burgstraße und Billstedt. In Ohlsdorf fanden die Wissenschaftler die Grabwespe Pemphredon montana. Sie wurde seit dem Jahr 2000 bislang nur an zwei Orten in Hamburg gefunden, genauso wie die Wespenbiene Nomada zonata, die am Bahnhof Billstedt nachgewiesen werden konnte. Und der Fund einer Mauerbiene (Osmia leaiana) an der U-Bahn-Haltestelle Billstedt war erst der dritte in der Hansestadt seit dem Jahr 2000.
„Die Funde zeigen, dass es nicht darauf ankommt, dass Flächen für Wildbienen besonders groß sind, sondern vor allem, dass es viele Flächen für sie gibt“, betont Battermann. Erst vor Kurzem konnte auf Gründächern, die von der Wall Decaux GmbH und der Deutschen Wildtier Stiftung auf Bushaltestellenhäuschen in der Hamburger Innenstadt angelegt worden waren, ebenfalls eine Reihe seltener Wildbienen- und Wespenarten nachgewiesen werden. „Jedes unversiegelte Fleckchen Natur, das wir Wildbienen in der Stadt anbieten können, nutzen sie zum Nisten und Pollen sammeln. So entstehen in der Hansestadt viele kleine Refugien für sie“, erklärt Artenschützerin Battermann. Dirk Carstensen, Haltestellenumfeld-Koordinator beim hvv ergänzt: „Mit einer Aufwertung der Haltestellenumfelder durch Blühflächen tun wir nicht nur den Insekten etwas Gutes. Wir laden gleichzeitig Fahrgäste und Passanten dazu ein, sich an den bunten, lebendigen Flächen zu erfreuen und sich über die Bedürfnisse von Wildbienen zu informieren.“ Um den bedrohten Bestäubern auch weiterhin zu helfen und Wildbienen sowie viele andere Insekten zu unterstützen, planen der hvv und die Deutsche Wildtier Stiftung weitere wildbienenfreundliche Umgestaltungen von Grünflächen an U- und S-Bahnhöfen in Hamburg.
Das Gutachten „Blühende Haltestellen / Die Wildbienen- und Wespenfauna“ finden Sie hier: https://bit.ly/wildbienen-bluehflaechen-hh.

05.07.2023, Deutsche Wildtier Stiftung
„Winnis wilde Nachbarn“ – Hörabenteuer in der Natur
Deutsche Wildtier Stiftung startet Kinderpodcast zu heimischen Wildtieren

Welche Geräusche machen Kaninchen? Warum heißt Fuchskacke Losung? Können Wildbienen stechen? Diese und weitere Fragen beantwortet die Deutsche Wildtier Stiftung ab heute in ihrem Kinderpodcast „Winnis wilde Nachbarn“. Jede Woche erscheint eine neue Folge, in der die kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer jeweils ein anderes heimisches Wildtier kennenlernen. In der ersten Staffel geht es um Tiere in der Stadt – neben Fuchs, Fledermäusen und Kaninchen auch um Wildbienen, Spatz und Gartenschläfer.
Namensgeberin des Podcasts ist Eichhörnchen Winni, gesprochen von der Schauspielerin Annette Frier. In seinem Baumhaus in der Schiefen Eiche steht die „Boogle“-Maschine, die das Wissen sämtlicher Tierbücher enthält. Mit im Baumhaus ist in jeder Folge ein Kind, das über seine eigenen Begegnungen mit den verschiedenen Wildtieren berichtet. Und hier trifft sich Winni auch mit Reporter Hendrik Schröder, der jede Woche mit einer Expertin oder einem Experten der Deutschen Wildtier Stiftung auf die Suche nach wilden Tieren geht. Er begleitet sie in den Park, in den Schrebergarten oder auf den Friedhof und entlockt ihnen spannende Informationen über die Tiere und ihre Lebensweise.
Inga Olfen, Leiterin der Kommunikation bei der Deutschen Wildtier Stiftung, erklärt die Idee hinter dem Podcast: „Podcasts sind ein tolles Format, um Kindern Natur und Wildtiere nahezubringen. Und Hendrik bei seinen Expeditionen zuzuhören, ist ein echtes Abenteuer. So möchten wir Kinder motivieren, selbst in die Natur zu gehen und Wildtiere vor der eigenen Haustür zu entdecken. In den Shownotes finden Kinder und ihre Eltern noch viele weitere Informationen zum Verstehen und Entdecken der heimischen Tierwelt.“ Jede Episode ist etwa 25 Minuten lang und durch die Szenenwechsel zwischen Baumhaus und Naturexpeditionen sehr abwechslungsreich. Das macht es Kindern leicht, bis zum Ende dabeizubleiben. Die Zielgruppe sind Kinder von sechs bis zehn Jahren. Und auch für ihre Eltern ist sicher noch das eine oder andere Neue dabei – und für alle jede Menge Spaß.

06.07.2023, Veterinärmedizinische Universität Wien
Lebensstilbedingte Erkrankungen: Deutliche Parallelen bei Mensch und Bär
Ehemals in Gallefarmen gehaltene Bären zeigen ähnliche lebensstil-bedingte Pathologien, die auch für das beschleunigte und frühzeitige Altern beim Menschen verantwortlich gemacht werden. Das ist die zentrale Erkenntnis einer internationalen Studie unter Leitung der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Demnach gibt es bei Gallefarm-Bären deutliche Parallelen zu einer Reihe von Krankheiten beim Menschen – die hier wie dort durch die schädlichen Auswirkungen der Lebensbedingungen bedingt sind.
Für ihre Studie untersuchten die Forscher:innen die langfristigen Auswirkungen chronischer Entzündungen bei 42 asiatischen Schwarzbären (Ursus thibetanus), die aus vietnamesischen Gallefarmen gerettet wurden. Im Rahmen notwendiger medizinischer Eingriffe wurden die Bären mindestens zweimal unter Narkose untersucht und behandelt. Bei allen Bären wurde eine chronische, geringgradige, sterile oder bakterielle hepatobiliäre Entzündung zusammen mit anderen Erkrankungen diagnostiziert.
Erkenntnisse aus Untersuchungen geretteter Gallefarm-Bären als Modellbeispiel für lebensstilbedingte Erkrankungen des Menschen
„Chronische Entzündungen in Verbindung mit schlechter Haltung und chronischem Stress scheinen das Risiko für die Entwicklung degenerativer Krankheiten wie fettleibiger Sarkopenie (verminderte Muskelmaße und -kraft), chronischer Nierenerkrankung und beeinträchtigter Herz-Kreislauf-Funktion zu erhöhen. Diese Störungen sind ein Anzeichen beschleunigter Alterung. Der Phänotyp (Erscheinungsbild) von Gallefarm-Bären steht hier im deutlichen Gegensatz zum gesunden Phänotyp wilder Bären, die Winterschlaf halten“, so Studien-Erstautorin Szilvia K. Kalogeropoulu vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie (FIWI) der Vetmeduni.
Diese Erkenntnisse weisen weit über die untersuchten Tiere hinaus, wie Studien-Letztautorin (Supervisorin) Johanna Painer-Gigler vom FIWI erklärt: „Die pathologischen Parallelen zu entzündlichen und durch Immunseneszenz – also die Verschlechterung des Immunsystems – bedingten Zuständen beim Menschen lassen darauf schließen, dass die Erkenntnisse durch in Gallefarmen gehaltene Bären als Modellbeispiel zur Untersuchung der Pathophysiologie und der schädlichen Auswirkungen lebensstilbedingter Krankheiten dienen könnten. Dadurch kann man diese Pathologien aus einem weiteren Winkel betrachten und hoffentlich dadurch besser verstehen lernen.“
Biomimetik – inspiriert durch die Natur, nützlich für Tier und Mensch
Diesen Zusammenhang identifizierten die Forscher:innen mit einem biomimetischen Ansatz, also die Inspiration durch die Natur. Im medizinischen Kontext sind biomimetische Studien an Wildtieren nützlich, um Mechanismen zu identifizieren, die vor der altersbedingten Belastung durch Zivilisationskrankheiten schützen oder wie in dieser Studie gezeigt, die Anfälligkeit dafür erhöhen. Der bioinspirierte Ansatz kann neue Möglichkeiten für die Entwicklung von medizinischen Behandlungen und Arzneien für Mensch und Tier bieten. Man lernt aus der Natur, vergleicht verschiedene Erkenntnisse zwischen Tieren und Menschen und kreiert dabei Wissen, welches zudem nicht auf Tierversuchen, sondern der vergleichenden Medizin gestützt wird. So auch in der vorliegenden Studie: Überwinternde freilaufende Bären (gesunde Kontrollgruppe) dienten als Bioinspiration aufgrund ihrer Mechanismen, die sie vor der Belastung durch Lebensstilkrankheiten schützen, die sich beim Menschen mit zunehmendem Alter häufen. Dazu zählen neben Muskelschwund u. a. auch Osteoporose, Gefäßerkrankungen und chronische Nierenerkrankungen.
Der Winterschlaf als evolutionäre Anpassung hat Bären im Allgemeinen widerstandsfähiger gegen Organschäden und Stoffwechselstörungen gemacht. Nicht so jedoch ihre in Gallefarmen gehaltenen Artgenossen, die unter stark suboptimalen Haltungs- und unnatürlichen Lebensbedingungen, Erkrankungsbilder zeigen, wie sie auch vom Menschen, bei ungesundem Lebensstil, bekannt sind.
Originalpublikation:
Der Artikel „Formerly bile-farmed bears as a model of accelerated ageing“ von Szilvia K. Kalogeropoulu, Hanna Rauch-Schmücking, Emily J. Lloyd, Peter Stenvinkel, Paul G. Shiels, Richard J. Johnson, Ole Fröbert, Irene Redtenbacher, Iwan A. Burgener und Johanna Painer-Gigler wurde in „Scientific reports“ veröffentlicht. https://www.nature.com/articles/s41598-023-36447-z

06.07.2023, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
Senckenberg-Meeresforscherin wird Namenspatin für Tiefsee-Art
Senckenberg-Forschende haben mit Kolleg*innen aus den USA und Deutschland eine neue Tiefsee-Assel im Fachjournal „Zootaxa“ beschrieben. Das Tier wurde 2015 im Rahmen der Jungfernfahrt des Forschungsschiffes SONNE gesammelt und stammt aus dem Puerto-Rico-Tiefseegraben im nordwestlichen Atlantik. Anders als erwartet besiedelt die neu entdeckte Asselart einen enormen Tiefenbereich zwischen 4.552 und 8.338 Metern – die größte je nachgewiesene Tiefenverbreitung einer Assel. Benannt wurde die neue Art – Austroniscus brandtae – nach der Senckenberg-Meeresforscherin Prof. Dr. Angelika Brandt in Anerkennung ihrer außergewöhnlichen Forschungsleistungen und ihres Engagements zum Schutz der Tiefsee.
Entlang der Plattengrenzen, wo sich ozeanische unter Kontinentalplatten schieben, bildet sich die tiefste Umgebung der Erde: die Hadalzone mit Tiefen von über sechs bis fast elf Kilometern. „Die Gemeinschaften in diesen Zonen der Meere sind – aufgrund der großen logistischen und technischen Beschränkungen bei der Probenahme – die wohl am wenigsten bekannte Fauna der Erde“, erklärt Dr. Stefanie Kaiser vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Wir konnten nun eine neue Meeresassel-Art aus den hadalen und abyssalen Tiefen des Puerto-Rico-Grabens im Atlantik beschreiben: Austroniscus brandtae.“
Das 2,7 Zentimeter große Krebstier wurde von dem Forschungsteam zu Ehren von Senckenbergerin Prof. Dr. Angelika Brandt benannt. Brandt leitet seit 2017 die Abteilung Marine Zoologie am Senckenberg-Standort Frankfurt und lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihr Forschungsinteresse gilt den Verbreitungsmustern und treibenden Faktoren für die Evolution von mariner Makrofauna. Dabei forscht sie mit ihrer Arbeitsgruppe hauptsächlich an Krebsen – insbesondere an Meeresasseln (Isopoden). Brandt und ihr Team analysieren die stammesgeschichtliche Herkunft und Besiedlungsgeschichte von Isopoden in der Tiefsee und versuchen zu verstehen welche treibenden Faktoren es in der Tiefsee für hohe Diversität gibt. „Unsere Artbenennung soll Angelika Brandts Engagement und ihre Leistungen in der Tiefsee-Isopodenforschung ehren. Es gibt zudem auch einen ganz persönlichen Grund für die Namenswahl: Angelika Brandt war Doktormutter dreier Autor*innen der Studie und damit entscheidend für unseren Weg in die Tiefseeforschung“, fügt Kaiser hinzu.
Aufgrund der großen Tiefenunterschiede zwischen den Probenahmeorten im Puerto-Rico-Graben – zwischen 4.552 und 8.338 Metern – erwartete das Forschungsteam, dass sie unterschiedliche Arten innerhalb der Gattung finden würden, welche die abyssalen und hadalen Standorte bewohnen. „Mittels morphologischer Untersuchung mit traditioneller Mikroskopie und einer anschließenden molekularen Analyse konnten wir aber zeigen, dass tatsächlich nur die von uns neu beschriebenen Art, Austroniscus brandtae, den Meeresboden des Puerto-Rico-Grabens besiedelt“, erläutert Kaiser. Die neu entdeckte Meeresassel ist die erste Art der Gattung Austroniscus aus dem Atlantik und der weltweit tiefste Nachweis der Gattung.
„Austroniscus brandtae scheint sich in den Tiefen des Puerto-Rico-Grabens sehr gut zu behaupten – dies deutet darauf hin, dass die Vielfalt in den Tiefseegräben abnimmt und nur wenige Arten den dortigen extremen Bedingungen gewachsen sind“, schließt Kaiser.
Originalpublikation:
Stefanie Kaiser, Bente Stransky, Robert M. Jennings, Terue Cristina Kihara & Saskia Brix (2023): Combining morphological and mitochondrial DNA data to describe a new species of Austroniscus Vanhöffen, 1914 (Isopoda, Janiroidea, Nannoniscidae) linking abyssal and hadal depths of the Puerto Rico Trench. Zootaxa 5293 (3): 401–434.
https://doi.org/10.11646/zootaxa.5293.3.1

07.07.2023, Universität Wien
Spinnmilbenmännchen helfen Weibchen aus letzter Hülle
Männliche Tiere entkleiden reifende Weibchen, um die erste Paarung für sich zu gewinnen
Männliche Spinnmilben bewachen Weibchen vor ihrer letzten Häutung und helfen bei der Häutung, um sich die erste Paarung zu sichern. Ein Team um Peter Schausberger von der Universität Wien publizierte in iScience seine Beobachtungen, dass die Paarung dadurch auch früher erfolgen kann.
Bei den Männchen vieler Arten lohnt es sich, kurz vor der Geschlechtsreife stehende Weibchen zu bewachen und zu verteidigen, um bei der Paarung als Erste an der Reihe zu sein. Verhaltensbiologe Peter Schausberger erklärt: „Bei Spinnmilben ist der Wettbewerb um die erste Paarung besonders intensiv. Das liegt daran, dass der erste Kopulationspartner eines Weibchens auch derjenige ist, der alle Nachkommen zeugt.“
Aufgrund dieses intensiven Wettbewerbs um die Nummer eins bewachen Spinnmilbenmännchen kurz vor der Reifung stehende Weibchen mehrere Stunden lang, bevor sich die Weibchen häuten und damit in das Erwachsenenstadium kommen. „Kurz vor der Häutung ändern die bewachenden Männchen ihr Verhalten – manchmal trommeln sie mit ihren Vorderbeinen auf die Weibchen, möglicherweise um sie zu stimulieren, den Häutungsprozess einzuleiten und die Exuvie aufzusprengen“, so Schausberger: „Sobald die Exuvie reißt, werden die Männchen hochaktiv und entkleiden die Weibchen, indem sie den hinteren Teil der Exuvie vom Weibchen streifen um die Geschlechtsöffnung freizulegen. Dann kommt es rasch zur Paarung.“ Unbewachte Weibchen streifen zuerst den Vorderteil der Exuvie ab und brauchen länger für den Häutungsvorgang. „Das Entkleidungsverhalten maximiert die Chancen des Bewachers, der erste Paarungspartner zu werden und das Weibchen nicht im letzten Moment an einen Rivalen zu verlieren“, erklärt Schausberger.
Schausberger und seine Kolleg*innen an der Universität Wien interessieren sich generell für die sexuelle Selektion bei Milben und insbesondere für alternative Fortpflanzungstaktiken der Spinnmilbenmännchen, einschließlich Kämpfen und Erschleichen. Beim Sichten von Videoaufzeichnungen der Interaktionen zwischen Männchen und Weibchen fiel ihnen das Entkleidungsverhalten auf, das sie nun im Detail beschrieben und in der Fachzeitschrift iScience veröffentlicht haben.
„Die Ergebnisse sind ein exzeptionelles Beispiel für die faszinierenden Verhaltensweisen, die durch die sexuelle Selektion hervorgebracht werden“, so Schausberger. Es käme nicht auf die Größe an um hochkomplexe Verhaltensweisen zu entwickeln. In Zukunft wollen die Forscher*innen genauer untersuchen, ob kämpfende Männchen sich in diesem Verhalten von Schleichern unterscheiden. Außerdem wollen sie herausfinden was passiert, wenn Männchen während des Entkleidens eines Weibchens mit Rivalen konkurrieren müssen und ob das Entkleidungsverhalten als Signal für die Weibchen für die Qualität eines Männchens dient.
Originalpublikation:
Peter Schausberger, Thi Hanh Nguyen, Mustafa Altintas. Spider mite males undress females to secure the first mating. iScience 26, 107112 (2023)
DOI: 10.1016/j.isci.2023.107112
https://doi.org/10.1016/j.isci.2023.107112

07.07.2023, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Mit Kopf und Bein zum schönen Schnitt
Wie bemessen Blattschneiderameisen die Größe der Blattstücke, die sie abtrennen? Eine Studie der Uni Würzburg liefert jetzt Antworten.
Bis zu drei Millionen Exemplare, in menschliche Maßstäbe übersetzt etwa doppelt so viele Einwohner wie München – so groß kann eine einzige Kolonie von Blattschneiderameisen werden. Um so viele Lebewesen gleichzeitig zu ernähren, haben die Tiere ein ausgeklügeltes System entwickelt: In ihren unterirdischen Nestern züchten sie Pilze, die sie als Futter in die Kolonie verteilen. Als Nährboden für das Pilzwachstum dient ein Gemisch aus kleingeschnittenen Blattstücken, die die Tiere von umliegenden Bäumen und Sträuchern gewinnen.
Eine Studie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat nun untersucht, wie Blattschneiderameisen die korrekte Größe dieser Blattstücke bemessen. „Bislang ging man davon aus, dass allein die Länge eines Tieres darüber bestimmt – dass also kleinere Ameisen einfach kleinere Stücke schneiden und größere große“, erklärt Dr. Daniela Römer, Biologin am Lehrstuhl Zoologie II der Uni Würzburg. „Wir aber konnten jetzt zeigen, dass die Tiere nicht nur ihre Körperlänge als Werkzeug nutzen, sondern auch ihre Hinterbeine und Köpfe.
Zwei körpereigene Messsysteme ausschlaggebend für die Blattgröße
Im Rahmen der Forschung ließen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Ameisen Kunstblätter aus Parafilm schneiden, einer weißlich durchscheinenden Folie. Dabei verhinderten sie zunächst den Kontakt der Hinterbeine zum Blattrand. „Beim Schneidevorgang halten sich die Ameisen fast immer fest“, so Römer. „Wir gingen daher davon aus, dass die Position der Hinterbeine eine große Rolle für den Blattzuschnitt spielt.“ Zwar trennten die Ameisen in der Folge ihre Blattstücke tatsächlich unregelmäßiger ab, allerdings nur in geringem Umfang.
Erfolgreicher war der Fokus auf ein weiteres Körperteil. „Ameisen winkeln beim Abtrennen von Blättern immer wieder ihre Köpfe ab – dort sitzen feine mechanosensorische Härchen“, sagt Römer. Das Team stellte fest: Wenn den Tieren zusätzlich zur fehlenden Hinterbein-Haltung diese Haare abrasiert werden, verlieren sie die Kontrolle über den Schnittverlauf und die Fragmentgröße komplett. „Unsere Forschung zeigt: Blattschneiderameisen besitzen ein deutlich plastischeres Schneideverhalten als bislang angenommen“, so Römer. „Die Bemessung der Größe von Blattfragmenten geht weit über die reine Körperlänge hinaus.“
Forschende möchten weitere Schnittmechanismen entschlüsseln
In weiteren Forschungen wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Ameisen nun nicht mehr nur einheitliches Blattmaterial anbieten, sondern unterschiedliche Größen, Dicken und Blattader-Strukturen, um die natürliche Vielfalt besser widerzuspiegeln. „Mithilfe automatisierter Bewegungsanalyse werden wir dann ermitteln, wie plastisch Ameisen auf unterschiedliche mechanische Eigenschaften der Blätter während des Schneideprozess reagieren“, erklärt Römer. Dabei wird das Team zusammenarbeiten mit Dr. Jan Ache, dem Emmy-Noether-Gruppenleiter am Würzburger Lehrstuhl für Neurobiologie und Genetik und Dr. Till Bockemühl von der Uni Köln. Finanziell unterstützt wurde das Projekt vom Lehrstuhl für Verhaltenspsychologie und Soziobiologie.
Originalpublikation:
Two feedback mechanisms involved in the control of leaf fragment size in leaf-cutting ants, Daniela Römer, Falvio Roces, Rebecca Exl. Journal of Experimental Biology, DOI: 10.1232/jeb.244246

10.07.2023, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
LIB-Studie belegt: Artenvielfalt der Vogelspinnen Ecuadors größer als erwartet
Gleich mehrere Zweige sind im Baum des Lebens mit der aktuellen LIB-Studie hinzugekommen. Mit der im Fachmagazin Arthropoda veröffentlichten Beschreibung von 38 neuen Vogelspinnenarten der Gattung Linothele wird klar: Die Artenvielfalt in der stark bedrohten Andenregion Ecuadors ist deutlich größer als erwartet und umfangreicher als in der Küstenregion oder dem Amazonasgebiet. Bislang war nur die Hälfte der Arten der Linothele bekannt. 21 Arten der neu beschriebenen Arten sind in Ecuador endemisch und kommen nirgendwo sonst auf der Welt vor.
Ecuador zählt auf unserem Planeten zu den 17 Ländern mit einer sehr großen Artenvielfalt. Ein erheblicher Teil der Flora und Fauna ist endemisch, auch unter den Gliederfüßern. Jedoch ist über diese – wie auch über die Spinnen – wenig bekannt. Und das in einer Gegend Ecuadors, deren Natur stark bedroht ist. Einige Regionen wie die Anden haben 70 Prozent ihrer ursprünglichen natürlichen Vegetation verloren. Kürzlich wurde, so die Studie, die Spinnenfauna Südamerikas auf 8302 Arten geschätzt, wobei 99 Prozent der Vogelspinnen-Arten nirgendwo sonst auf der Erde vorkommen. In Südamerika ist die Familie der Vogelspinnen (Theraphosidae) mit 395 registrierten Arten bei weitem die vielfältigste Familie.
In den vergangen 20 Jahren hat die Forschungsgruppe um die Erstautorin der Studie, Nadine Dupérré, Sammlungsmanagerin im Museum der Natur Hamburg des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB), und Dr. Danilo Harms, LIB-Sektionsleiter Spinnentiere und Tausendfüßer, verschiedene Expeditionen in Ecuador durchgeführt. Mit ihrem Team aus internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern untersucht Nadine Dupérré die unterschiedlichen Lebensräume: die Küstenregion, die Anden und das Amazonasgebiet: „Es geht darum, die unbekannte Artenvielfalt der Spinnen Ecuadors zu entdecken und zu beschreiben, bevor sie verloren geht. Mit unserer Forschung schließen wir Lücken in der Evolutionsgeschichte des Lebens und erweitern unser Wissen über die biologische Vielfalt. Damit schaffen wir eine Grundlage für künftige Schutzbemühungen.
Seit 2015 liegt der Fokus des Forschungsteams auf einer Gruppe von Vogelspinnen aus der Familie Dipluridae, Gattung Linothele. Diese recht großen Spinnentiere, einige die über drei Zentimetern messen, bauen auffällige Netze, um ihre Beute zu fangen. Ihre Färbung ist auffällig und teilweise golden bis kupferfarben.
Um die Arten zu erkennen und zu unterscheiden, hat die Forschungsgruppe für die Studie eine detaillierte vergleichende Morphologie der weiblichen und männlichen Genitalien mit Bildern und Illustrationen sowie einem Rasterelektronenmikroskop vorgenommen. Neben Fotos der lebenden Tiere nutzte das Team außerdem naturkundliche Beobachtungen der Lebensraumpräferenzen und Verbreitungsmuster.
Im nächsten Schritt wollen die Forschenden weitere Wissenslücken schließen, indem sie Spinnenexemplare in abgelegenen Regionen sammeln, zu denen sie bisher keinen Zugang hatten. Auf diese Weise können sie feststellen, ob die Artengruppe noch vielfältiger ist, als bisher angenommen. Ein weiteres Ziel ist, das Verbreitungsmuster der verschiedenen Arten genau zu bestimmen. Außerdem wollen sie anhand von DNA-Sequenzen die Evolution der Gruppe im Detail untersuchen und die evolutionären Beziehungen zwischen den verschiedenen Arten der Gruppe darstellen.
Originalpublikation:
Review of the Spider Genus Linothele (Mygalomorphae, Dipluridae) from Ecuador—An Exceptional Case of Speciation in the Andes
https://doi.org/10.3390/arthropoda1030010

10.07.2023, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Wie die Gruppenjagd im offenen Ozean funktioniert
Verhaltensökolog*innen des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und der Humboldt-Universität zu Berlin (HU Berlin) haben das Jagdverhalten von Tieren in Gruppen untersucht und dabei festgestellt, dass Tiere im Wasser anders jagen als Tiere an Land. Dies liegt wahrscheinlich auch an dem unterschiedlichen Größenverhältnis zwischen Räuber und Beute. Am Beispiel der Gestreiften Marline, die zur Familie der Speerfische gehören, konnten die Forschenden zeigen, dass bei diesen Tieren die Motivation beim Aufteilen der Beute eine größere Rolle spielt als die Rangordnung. Zudem tolerieren die großen Fische gemischte Jagden mit Seelöwen.
Die gemeinsame Jagd ist eine interessante Ausprägung des Gruppenverhaltens bei Wirbeltieren. Die Vor- und Nachteile liegen auf der Hand: Viele Augen sehen mehr – können also Beute schneller entdecken, und auch die Jagd selbst ist mit vielen Tieren erfolgreicher als allein. Nachteil: Die Beute muss aufgeteilt werden. Die Vielfalt und Komplexität von Strategien der Gruppenjagd sind groß, und man geht gemeinhin davon aus, dass sie hohe kognitive Fähigkeiten von den Raubtieren erfordern. Dank der Fortschritte in der Tracking-Technologie ist es nun jedoch möglich, zu untersuchen, ob die Koordination zwischen Raubtieren nicht vielmehr auf einfachen Faustregeln beruht, die keine hohen kognitiven Fähigkeiten voraussetzen.
Während das Jagdverhalten von Spitzenprädatoren wie Löwen, Wölfen oder Orcas bereits gut erforscht ist, richtete das Forschungsteam sein Augenmerk auf Gruppen von größeren Fischen, die gemeinsam kleinere Fische jagen. Dafür untersuchten sie das kollektive Jagdverhalten von Gestreiften Marlinen (Kajikia audax), die zur Familie der Speerfische gehören. Der Gestreifte Marlin wird fast vier Meter lang und bis zum 200 Kilogramm schwer. Charakteristisch ist sein speerförmiger Oberkieferknochen, der im Gegensatz zum Schwert des Schwertfischs nicht flach und scharfkantig, sondern im Querschnitt nahezu rund ist.
Motivation und Hunger statt Rangordnung und Dominanz:
Mit hochauflösenden Videoaufnahmen analysierten die Forschenden die Tiere in freier Wildbahn in Baja California Sur im Pazifischen Ozean Mexikos und konnten anhand von Körpermerkmalen einzelne Tiere identifizieren und so ihr Jagdverhalten und ihre Rolle in der Gruppe genau untersuchen.
Bei der Jagd schwammen die Marline in Gruppen um die Beute herum, wobei die einzelnen Tiere abwechselnd angriffen. Die Forschenden fanden heraus, dass der Wettbewerb um die Beute zu einer ungleichen Verteilung unter den Räubern führte: 50 Prozent der am häufigsten angreifenden Marline erbeuteten 70 bis 80 Prozent der Fische. Eine solch ungleiche Verteilung der Beute ist auch von Landtieren bekannt.
Bei den Marlinen lässt sie sich jedoch nicht durch aggressives Verhalten, Körpergröße oder Unterschiede in der Jagdeffizienz erklären. „Wir haben festgestellt, dass Marline, die sich der Gruppe neu anschlossen, im Durchschnitt mehr Zugang zur Beute hatten. Möglicherweise waren diese Tiere besonders hungrig und motiviert zu fressen und konnten sich so gegenüber ihren Artgenossen durchsetzen“, erklärt Matthew James Hansen, Erstautor der Studie, der am IGB und an der HU Berlin forscht.
Im Gegensatz zu vielen Gruppenjägern an Land existiert bei Marlinen keine strenge Hierarchie. Dominanz, Verwandtschaft und soziale Bindungen bestimmen nicht, wer wann und wie lange Zugang zur Beute erhält. Es gibt im Meer in der Regel keinen großen Kadaver, an dem mehrere Tiere nach der Tötung fressen können. „Da es bei vielen kleinen Beutetieren – wie etwa in einem Fischschwarm – kaum möglich ist, einzelne Beutetiere bis zur Sättigung zu monopolisieren, hat sich die soziale Hierarchie als treibende Kraft für die Beuteaufteilung wahrscheinlich einfach nicht durchgesetzt“, erklärt Professor Jens Krause, der die Arbeitsgruppe am IGB und an der HU Berlin leitet.
Räuber-Beute-Größenverhältnis könnte das Jagdverhalten bestimmen:
Die Forscherinnen und Forscher vermuten, dass das Größenverhältnis zwischen Räuber und Beute ein wichtiger Einflussfaktor für das unterschiedliche Jagdverhalten bei Wirbeltieren ist.
„Bei großen Beutetieren gehen wir davon aus, dass insbesondere die effiziente Auswahl eines Beutetieres aus einer Gruppe und die Eindämmung eines möglichen Stärkevorteils, den das Beutetier aufgrund seiner relativen Größe haben könnte, eine wichtige Rolle spielen“, sagt Jens Krause.
Wenn die Beutetiere jedoch deutlich kleiner sind als die Räuber, wie es bei Fischschwärmen der Fall ist, werden die einzelnen Tiere bereits vor dem Töten unter den Räubern aufgeteilt. In diesem Fall ist die Gruppenjagd vor allem vorteilhaft, um die kollektive Verteidigung der Beute zu überwinden und die Manövrierfähigkeit zu erhöhen.
Seelöwen profitieren als Beuteparasiten von der Jagd der Marline:
Doch nicht nur Gruppen von gestreiften Marlinen machen Jagd auf Fischschwärme im offenen Ozean, manchmal schließen sich ihnen Seelöwen an. Diese profitieren von der Fähigkeit der Marline, die Beute aufzuspüren und an die Wasseroberfläche zu treiben. Bei dieser gemischten Jagd isolieren die Marline zuerst einen kleinen Schwarm und treiben ihn an die Wasseroberfläche. Dann können auch die Seelöwen angreifen. Dabei sind die Seelöwen erfolgreicher als die Marline. Doch obwohl die Seelöwen den Zugang zum Beute-Schwarm dominieren und den Marlinen den Zugang erschweren, reagieren die Marline nicht aggressiv auf die mitjagenden Seelöwen. „Obwohl es viele Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie die Gruppenjagd im offenen Ozean funktioniert, scheint Beuteparasitismus ein wichtiger Faktor zu sein, genau wie an Land“, sagt Matthew James Hansen.
Originalpublikation:
Hansen, M.J., Domenici, P., Bartashevich, P., Burns, A. and Krause, J. (2023), Mechanisms of group-hunting in vertebrates. Biol Rev. https://doi.org/10.1111/brv.12973
Hansen, M.J., Krause, S., Dhellemmes, F. et al. Mechanisms of prey division in striped marlin, a marine group hunting predator. Commun Biol 5, 1161 (2022). https://doi.org/10.1038/s42003-022-03951-3

10.07.2023, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Picknick in der Tiefe – Beobachtungen aus der Tiefsee belegen bisher unbekanntes Verhalten von Kraken
Mit Hilfe von Videos, die auf Schiffsexpeditionen in der Arktis von Unterwasserrobotern aufgenommen wurden, haben Forschende aus Deutschland und Norwegen ein neuartiges Verhalten bei Tiefseekraken erkannt. Sie beobachteten „Dumbo“-Oktopusse der Art Cirrotheutis muelleri, die passiv durch die Wassersäule trieben und zum Fressen zum Meeresboden tauchten. Die Abwärtswanderung zur Nahrungssuche auf dem Meeresboden war bei Kopffüßern bisher unbekannt. Die Ergebnisse werfen auch neues Licht auf das Verhalten von Tiefsee-Cephalopoden und die enge Verbindung zwischen den Lebensräumen im Ozean.
Die tägliche Vertikalwanderung ist ein gängiges Muster für das Fressen und Gefressenwerden im Ozean: Tagsüber verstecken sich Zooplankton, Fische und andere Lebewesen, die sich von diesen Organismen ernähren, in den dunkleren Tiefen. Nachts, wenn weniger Licht vorhanden ist, steigen sie auf an die Oberfläche, um nach Beute zu jagen. Forschende des GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, des Senckenberg am Meer – Deutsches Zentrum für Marine Biodiversitätsforschung (DZMB), des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und von REV Ocean, Norwegen beobachteten Kraken in der Arktis auf einer Wanderung in entgegengesetzter Richtung: Videos, die mit ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen und geschleppten In-situ-Beobachtungssystemen in der Arktis aufgenommen wurden, legen nahe, dass der „Dumbo“-Oktopus Cirrotheutis muelleri von der Wassersäule zum Meeresboden taucht, um dort Krebstiere und Ringelwürmer zu fangen.
„Es ist das erste Mal, dass Bildmaterial von Tintenfischen der Art Cirrotheutis muelleri so detailliert analysiert wurden“, betont Dr. Alexey Golikov. Der Tiefseebiologe am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel ist Erstautor der aktuellen Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society B, die das neu erkannte Verhalten der Tiefseekraken beschreibt. „Einerseits sehen wir diese Tiere frei in verschiedenen Tiefen der Wassersäule treiben, wobei sie ihre Arme und das dazwischenliegende Netz wie einen großen Schirm ausbreiten – eine sehr energieeffiziente und unauffällige Art, sich in ihrer Umgebung zu bewegen. Aber dann ist da noch dieses sehr ausgeprägte Fressverhalten: Mit ihren flügelähnlichen Flossen schwimmen sie langsam über den Meeresboden, landen plötzlich, umschließen ihre Nahrung und heben heftig flatternd mit ihrer Mahlzeit wieder ab.“ Darüber hinaus fanden die Forschenden viele Abdrücke im Sediment, die als Spuren dieser Landung und des Einhüllens der Beute interpretiert wurden.
Das Verhalten wurde während mehrerer Expeditionen mit den Forschungsschiffen POLARSTERN, MARIA S. MERIAN, SONNE und KRONPRINS HAAKON zwischen 2019 und 2022 im Arktischen Ozean aufgenommen. Verwendet wurden hierfür die ferngesteuerten Unterwassergeräte (Remotely Operated Vehicle, ROV) ROV PHOCA, ROV KIEL 6000 und AURORA BOREALIS sowie das Pelagischen In-Situ Beobachtungssystem (Pelagic In-Situ Observation System, PELAGIOS) und das Ozeanboden-Beobachtungs-System (Ocean Floor Observation System, OFOBS). Um zu bestätigen, dass es sich bei dem Verhalten um eine Nahrungsaufnahme handelt, verglichen die Forschenden ihre Einblicke mit Daten zum Mageninhalt von Individuen, die mit Bodennetzen gefangen worden waren.
„Durch die Analyse der einzigartigen Bilder, die uns von verschiedenen Expeditionen zur Verfügung standen, konnten wir ein weiteres Geheimnis der Tiefsee lüften und wieder einmal beweisen, dass es dort noch viel zu entdecken gibt,“ sagt Dr. Henk-Jan Hoving, Leiter der Forschungsgruppe Tiefseebiologie am GEOMAR. „Cirrotheutis muelleri ist eine sehr häufige Tintenfischart in der Arktis. Unseres Wissens ist ihre Abwärtswanderung, die entgegengesetzt zur üblichen Vertikalwanderung verläuft, einzigartig unter den Kopffüßern. Bislang war sie nur von bestimmten Fischen und Seegurken bekannt.“
Die Autor:innen vermuten außerdem, dass die gegenläufige Wanderung als weitere Verbindung zwischen den oberen Wasserschichten und dem Meeresboden fungieren könnte. Sie führt Kohlenstoff aus dem benthischen Nahrungsnetz in das pelagische Nahrungsnetz ein und könnte zum Energietransfer bis hin zu größeren Räubern wie Haien und tief tauchenden Zahnwalen beitragen, die sich auch von dieser Krakenart ernähren. Darüber hinaus sollte die passive Fortbewegung mit der Strömung, die sich über mehrere Kilometer erstrecken kann, in marinen Schutzstrategien berücksichtigt werden.
Originalpublikation:
Golikov A.V., Stauffer J.B., Schindler S.V., Taylor J., Boehringer L., Purser A., Sabirov R.M., Hoving H-J. (2023): Miles down for lunch: deep-sea in-situ observations of Arctic finned octopods Cirroteuthis muelleri suggest pelagic–benthic feeding migration. Proceedings of the Royal Society B, doi: https://doi.org/10.1098/rspb.2023.0640

10.07.2023, Universität Leipzig
Speisekarte erweitern: Eingewanderte Orang-Utans lernen von einheimischen Artgenossen viel über Nahrungsmittel
Neu in eine Region eingewanderte, männliche Orang-Utans auf Borneo und Sumatra beobachten einheimische Artgenossen und lernen von ihnen, welche ihnen unbekannten Nahrungsmittel sie konsumieren können. Das hat ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der Universität Leipzig und des Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig in einer Langzeitstudie mit 152 männlichen Tieren über einen Zeitraum von 30 Jahren herausgefunden.
Dieses Beobachten war am häufigsten zu beobachten, wenn Einheimische seltene oder schwer zu verarbeitende Nahrungsmittel zu sich nahmen. Ihre neuen Erkenntnisse haben die Forschenden gerade im Fachjournal „Frontiers in Ecology and Evolution“ veröffentlicht.
Orang-Utans sind länger als jedes andere nichtmenschliche Tier von ihren Müttern abhängig. Sie werden mindestens bis zum sechsten Lebensjahr gesäugt und leben noch bis zu drei Jahre länger mit ihnen zusammen, um zu lernen, wie sie die äußerst vielfältige Palette an Nahrungsmitteln finden, auswählen und verarbeiten können, die sie verzehren. Aber wie entscheiden sich Orang-Utans, die ihre Mütter verlassen haben und nun weit von ihren Gebieten entfernt leben, in denen die verfügbaren Nahrungsmittel möglicherweise sehr unterschiedlich sind, was sie essen sollen und wie sie es essen sollen? Ein internationales Team von Autoren hat nun gezeigt, dass migrierende Orang-Utan-Männchen in solchen Fällen der Regel folgen: „beobachten und tun, was die Einheimischen tun“.
„Hier zeigen wir Hinweise dafür, dass wandernde Orang-Utan-Männchen soziales Lernen durch Beobachtung verwenden, um nach der Einwanderung in ein neues Gebiet neues ökologisches Wissen von einheimischen Artgenossen zu lernen“, sagt Julia Mörchen, eine Doktorandin am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und an der Universität Leipzig, und Hauptautorin der Studie. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass wandernde Männchen nicht nur von Einheimischen lernen, welche Nahrung essbar ist und wo sie diese Nahrung finden, sondern auch weiterhin lernen, wie sie diese neuen Nahrungsmittel verarbeiten können.“
Mörchen und ihre Kolleg:innen zeigten, dass wandernde Männchen diese Informationen durch ein Verhalten namens „Peering“ erlernen: Sie beobachten mindestens fünf Sekunden lang und aus einer Entfernung von zwei Metern ein Vorbild intensiv. Typischerweise richteten beobachtende Orang-Utans ihr Gesicht dem Vorbild zu und zeigten durch Kopfbewegungen Anzeichen von aufmerksamem Interesse, um dessen Handlungen genau zu sehen.
Männliche Orang-Utans wandern in ein anderes Gebiet, nachdem sie geschlechtsreif geworden sind, während Weibchen dazu neigen, sich in der Nähe ihres Geburtsgebiets niederzulassen. „Was wir noch nicht wissen, ist, wie weit und wohin männliche Orang-Utans wandern. Aber wir können fundierte Vermutungen anstellen: Genetische Daten und Beobachtungen von Orang-Utans, die physische Barrieren wie Flüsse und Berge überqueren, deuten auf eine Wanderung über weite Strecken hin, wahrscheinlich über Dutzende von Kilometern“, erklärt Mörchen. „Dies bedeutet, dass Männchen während der Migration wahrscheinlich auf verschiedene Lebensräume treffen und somit eine Vielzahl von faunistischen Zusammensetzungen erleben, insbesondere beim Durchqueren von Lebensräumen mit unterschiedlichen Höhenlagen“, so die Forscherin weiter. Im Laufe der Evolution habe die Fähigkeit, sich schnell an neue Umgebungen anzupassen, indem man auf entscheidende Informationen von Einheimischen achtet, den Individuen wahrscheinlich einen Überlebensvorteil verschafft. Diese Fähigkeit sei daher wahrscheinlich in unserer Hominiden Abstammungslinie ein ursprüngliches Merkmal und reiche mindestens 12 bis 14 Millionen Jahre zurück, bis zum letzten gemeinsamen Vorfahren, den wir mit Orang-Utans teilen.
Das „Peering“ der Männchen wurde insgesamt 534-mal beobachtet und trat somit in 207 (5,2 Prozent) dieser Begegnungen auf. In Suaq Balimbing (Sumatra) beobachteten die Männchen am häufigsten die lokalen Weibchen und dann lokale Jungtiere, am seltensten aber erwachsene Männchen. In der weniger sozialen Population von Tuanan war es genau umgekehrt: Die Männchen beobachteten am häufigsten andere erwachsene Männchen, gefolgt von jungen Orang-Utans und am seltensten erwachsene Weibchen. Die Männchen in Tuanan (Borneo) haben möglicherweise keine Gelegenheit, lokale Weibchen zu beobachten, da bekannt ist, dass diese Weibchen in dieser Population längere Begegnungen mit ihnen vermeiden und weniger tolerant sind. Die wandernden Männchen interagierten anschließend nach dem „Peering“ häufiger mit den beobachteten Nahrungsmitteln und üben somit, was sie durch das Beobachten gelernt hatten.
„Unsere detaillierten Analysen zeigten auch, dass die wandernden Orang-Utan-Männchen in unserer Studie am häufigsten Nahrungsmittel beobachteten, die schwer zu verarbeiten sind oder die von den Einheimischen nur selten gegessen werden: einschließlich Nahrungsmittel, die während der gesamten Studiendauer nur für ein paar Minuten aufgezeichnet wurden“, sagte Dr. Anja Widdig, Professorin an der Universität Leipzig und Co-Hauptautorin der Studie.
„Interessanterweise nahmen die Beobachtungsraten der wandernden Männchen nach einigen Monaten im neuen Gebiet ab, was darauf hindeutet, dass sie ungefähr so lange brauchen, um neue Nahrungsmittel im neuen Gebiet zu erlernen“, fügte Dr. Caroline Schuppli, Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz und Co-Hauptautorin, hinzu.
Die Autor:innen warnten jedoch, dass immer noch unbekannt ist, wie oft erwachsene Orang-Utans ein bestimmtes Verhalten beobachten müssen, um es zu beherrschen. Beobachtungen deuteten darauf hin, dass Erwachsene je nach Komplexität oder Neuheit der erlernten Fähigkeit möglicherweise immer noch explorative Verhaltensweisen bei bestimmten Nahrungsmitteln verwenden, die sie zuerst durch das „Peering“ kennengelernt haben – möglicherweise um weitere Details herauszufinden, die neuen Informationen zu festigen oder diese mit früherem Wissen zu vergleichen.
Originaltitel der Veröffentlichung in „Frontiers in Ecology and Evolution“:
„Migrant orangutan males use social learning to adapt to new habitat after dispersal“, Doi: 10.3389/fevo.2023.1158887

11.07.2023, Universität Hamburg
Termiten als Ursache der Feenkreise in der Namib-Wüste bestätigt
In der Diskussion um die Ursache der mysteriösen kahlen Kreise in Grasflächen am Ostrand der Namib-Wüste wurde nun bestätigt, dass Termiten die Ursache sind. Das ist das Resultat einer Veröffentlichung von Forschenden des Fachbereichs Biologie der Universität Hamburg, die in der Fachzeitschrift „Perspectives in Plant Ecology, Evolution and Systematics“ (PPEES) erschienen ist.
Seit über zehn Jahren diskutieren Forschende, wie die zahlreichen kreisförmigen kahlen Stellen inmitten der afrikanischen Graslandschaft – die sogenannten Feenkreise – entstehen können. In ihrer aktuellen Studie „Sand termite herbivory causes Namibia´s fairy circles – A response to Getzin“ bestätigen der Biologe Prof. Dr. Norbert Jürgens und der Bodenkundler Dr. Alexander Gröngröft von der Universität Hamburg, dass Termiten die Ursache für die Feenkreise sind. Gleichzeitig widerlegen sie zentrale Argumente der von Ökosystem-Modellierern vertretenen Erklärung, die Kreise würden durch Selbstregulierung der Gräser verursacht.
Bereits im Jahr 2013 publizierte der Hamburger Botaniker Norbert Jürgens im Fachjournal „Science“, dass rein unterirdisch lebende Sandtermiten der Gattung Psammotermes die Kahlstellen verursachen und durch die Beseitigung der Pflanzen in den sandigen Böden eine lange andauernde Speicherung von Wasser nach seltenen Regenfällen ermöglichen. Diese Erklärung wurde in den Jahren danach von Entomologinnen und Entomologen aus dem südlichen Afrika (Prof. Mike Picker, Dr. Joh Henschel, Dr. Kelly Vlieghe) bestätigt.
Auch andere Forschende untersuchten das mysteriöse Phänomen, unter anderem an der Universität Göttingen durch Modellansätze. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler veröffentlichten (Getzin et al. 2015, 2022), dass die Kahlstellen durch Selbstorganisation der Graspflanzen entstehen, die mit ihren Wurzeln und durch weitreichende Diffusion in den Sandböden Wasser ungleichmäßig an sich ziehen und so das Absterben von Gräsern in den Kahlstellen verursachen. Den Verlauf der von ihnen gemessenen Bodenfeuchte in 20 Zentimetern Tiefe interpretierten sie so, dass die Austrocknung durch Absaugen des Bodenwassers der um die Feenkreise wachsenden Gräser verursacht wurde.
Norbert Jürgens und Alexander Gröngröft widerlegen nun in dem von PPEES veröffentlichten Artikel die zentralen Argumente der Göttinger Modellierer: In ihrer Studie haben Jürgens und Gröngröft an mehr als 1.700 Feenkreisen in Namibia, Angola und Südafrika die Präsenz der Sandtermiten in Feenkreisen nachgewiesen. Die von Getzin et. al (2022) als Beweis für die Selbstorganisationshypothese angeführten Messungen der Bodenfeuchte decken sich mit den Bodenfeuchtemessungen von Jürgens im Jahr 2013. Allerdings weichen die Interpretationen voneinander ab. Während die Modellierer nur im Oberboden bei 20 Zentimetern Tiefe messen und dessen Austrocknung als Entzug von Wasser durch die umgebenden Gräser interpretieren, zeigte Jürgens bereits 2013 durch gleichzeitige Messung in mehreren Tiefen bis zu 90 Zentimetern, dass die Feenkreise im Unterboden das Wasser langzeitig speichern.
„Von noch größerer Tragweite ist, dass die Analyse meines Kollegen Gröngröft und die im Labor durchgeführten Messungen der hydrologischen Eigenschaften des Wüstensandes die entscheidenden Grundlagen der Annahme einer Selbstregulation entkräften“, sagt Jürgens. „Die Wasserleitfähigkeit des grobkörnigen Sandes der Feenkreise, in dem die Termiten leben, ist zwar sehr hoch, wenn bei einem Starkregenereignis sehr viel Wasser vorliegt, das in den großen Poren dann rasch versickern kann. Ganz anders verhält es sich aber, wenn der Sand das leicht bewegliche Wasser in die Tiefe abgegeben hat und auf nur noch weniger als ca. acht Prozent des Bodenvolumens ausgetrocknet ist. Dann ist Wasser nur noch an den Berührungspunkten der Sandkörner gespeichert, es fehlt ein kontinuierlicher Wasserfilm und die Fähigkeit des Bodens, Wasser zu leiten, sinkt auf sehr geringe Werte ab. Dies bedeutet, dass bei den unterhalb von Feenkreisen gefundenen Feuchtemengen (≤5 Prozent des Volumens) nur noch sehr geringe flüssige Wassertransporte über kurze Distanzen stattfinden können.“ Die Bildung trockener Sandschichten an der Bodenoberfläche direkt über feuchtem Untergrund zeigt dieses physikalische Phänomen.
„Die von den Vertreterinnen und Vertretern der Selbstregulation angenommenen horizontalen Wassertransporte über Meter in wenigen Tagen sind nach aktuellem Kenntnisstand physikalisch unmöglich. Die Debatte über gegensätzliche Interpretationen eines biologischen Phänomens wird damit überraschenderweise durch die Physik, in diesem Fall die Bodenphysik, entschieden“, sagt Jürgens. „Die Bodenfeuchtemessungen an den Feenkreisen und die im Labor gefundenen bodenhydraulischen Eigenschaften des Sandes schließen damit die Selbstregulationshypothese als Erklärung für die Feenkreise aus. Die Ursache für die Bildung der Feenkreise ist damit eindeutig – es sind die Sandtermiten, die sich durch die Bodenfeuchtespeicherung einen erheblichen Überlebensvorteil sichern.“
Originalpublikation:
Juergens N, Groengroeft A 2023 Sand termite herbivory causes Namibia´s fairy circles – A response to Getzin et al. (2022). PPEES 60: 125745 https://doi.org/10.1016/j.ppees.2023.125745
Juergens N, Groengroeft A, Gunter F 2023 Evolution at the arid extreme: the influence of climate on sand termite colonies and fairy circles of the Namib Desert. Philosophical Transactions of the Royal Society of London B 378: 20220149. https://doi.org/10.1098/rstb.2022.0149
Gröngröft A, Jürgens N 2022 Soil moisture and hydrology of fairy circles. Biodiversity & Ecology 7, 186-198. doi:10.7809/b-e.00368

13.07.2023, Deutsche Wildtier Stiftung
Deutsche Wildtier Stiftung findet Gartenschläfer im Harz
Der erste Nachweis im Tier-des-Jahres-Projekt ist eine kleine Sensation für den Artenschutz
In einer Sommernacht, kurz nach zwölf Uhr, tappte ein Gartenschläfer in einem unbelebten Waldstück nahe Wernigerode im Harz in eine Fotofalle. Die Kamera, die mithilfe eines Bewegungsmelders Aufnahmen von Wildtieren macht, hatte die Deutsche Wildtier Stiftung im Rahmen ihres Forschungsvorhabens „Gartenschläfer – die Suche in Sachsen-Anhalt“ aufgehängt. Mit dem Projekt wollen die Artenschützer der Stiftung herausfinden, ob es außerhalb des Nationalparks Harz in den Wäldern nahe der Städte Oberharz am Brocken und Wernigerode sowie in den umliegenden Dörfern noch Gartenschläfer gibt. Als Tier des Jahres 2023 steht der Gartenschläfer, der zur Familie der Bilche gehört, für die Deutsche Wildtier Stiftung in diesem Jahr besonders im Fokus.
Projektmitarbeiterin Saskia Jerosch unterstreicht die Bedeutung des Funds: „Dass wir in dieser ausgeräumten Gegend einen Gartenschläfer nachweisen konnten, ist eine kleine Sensation. Bislang war es fraglich, ob die Tierart überhaupt noch hier vorkommt.“ Denn das Waldgebiet, in dem die Wildkamera hängt, ist als Lebensraum unattraktiv für den kleinen Bilch geworden – wie so viele Ecken im Harz. Eine Ursache ist der Klimawandel: Durch die heißen und trockenen letzten Jahre haben die Fichten ihre Widerstandskraft gegen den Borkenkäfer verloren. Viele Bäume sind bereits abgestorben. Im Wald bei Wernigerode – und nicht nur dort – gibt es große Flächen ohne Bäume mit nur niedrigem Strauchbewuchs. Hinzu kommt: Schwere Maschinen beräumen einen Teil der baumlosen Bereiche und zerstören damit die letzten Reste Waldstruktur. Für den Gartenschläfer, der ursprünglich dichte Nadel- und Mischwälder mit felsigem Untergrund in Bergregionen bewohnt, bedeutet das eigentlich das Aus. Jerosch erklärt: „Der Gartenschläfer hat im Wald massiv an Versteckmöglichkeiten und Nahrung verloren. Manchmal bieten ihm auch Gärten einen guten Lebensraum – daher auch sein Name. Dort findet er im besten Fall beerentragende Sträucher, Insekten und versteckte Ecken.“
Für ihr Gartenschläfer-Projekt setzt die Deutsche Wildtier Stiftung auch auf die Unterstützung der Menschen vor Ort. Naturschützerin Jerosch verteilt zurzeit mit ihrem Team in vielen Dörfern im Harz Flyer zur Gartenschläfer-Suche und bietet auf Anfrage Ortsbegehungen an. Sie hofft auf viele Hinweise, bis die scheuen Tiere im Oktober in den Winterschlaf gehen. „Wir bitten alle Bürger – sei es im Garten, auf dem Balkon oder beim späten Abendspaziergang – die Augen offen zu halten und auch genau hinzuhören. Die nachtaktiven Gartenschläfer geben häufig einen ganz typischen Ruf von sich, der ähnlich wie ein Zwitschern klingt“, sagt Jerosch.
Die Chancen, in einer lauen Sommernacht einen Gartenschläfer zu hören, stehen gar nicht schlecht. Denn im Juli sind die im Mai geborenen Jungtiere unterwegs und erkunden neugierig ihre Umgebung. Die Allesfresser sind auf der Suche nach Nahrung: Wo gibt es die saftigsten Beeren und die fettesten Spinnen? Die Bilche beginnen schon jetzt, sich eine Speckschicht für den Winterschlaf anzufuttern. „Das machen sie auch gerne in unseren Gärten“, weiß Jerosch.
Die Deutsche Wildtier Stiftung bittet Bürger, die einen Gartenschläfer in der Projektregion der Stiftung entdeckt haben, sich per E-Mail an TierdesJahres@DeutscheWildtierStiftung.de zu wenden – wenn möglich mit den genauen Koordinaten des Fundorts, Datum, Uhrzeit und einem Foto. Der Ruf des Gartenschläfers ist im Artensteckbrief auf der
Website der Deutschen Wildtier Stiftung zu hören: https://www.deutschewildtierstiftung.de/wildtiere/gartenschlaefer.

13.07.2023, Eberhard Karls Universität Tübingen
Der China-Alligator hatte noch vor rund 200.000 Jahren asiatische Verwandte
Forscher der Universität Tübingen ordnen einen fossilen Schädel aus dem heutigen Thailand einer bisher unbekannten Art zu
Ein fast vollständig versteinerter Schädel eines Alligators, der 2005 im thailändischen Ban Si Liam gefunden wurde und höchstens 230.000 Jahre alt ist, gehört zu einer bisher unbekannten Art. Das stellten die Paläontologen Dr. Márton Rabi und Gustavo Darlim von der Universität Tübingen in einer Kooperation mit der Chulalongkorn University of Thailand und dem dortigen Department of Mineral Resources fest. Sie benannten die neu entdeckte Art als Alligator munensis nach dem Fluss Mun, der nahe des Fundorts fließt. Das Forschungsteam geht davon aus, dass sich die Art in der Evolution einst vom heute noch lebenden China-Alligator abgespalten hat. Ihre Studie wurde in der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht.
Der China-Alligator (Alligator sinensis) ist der einzige lebende Vertreter der Familie der Kaimane und Alligatoren, der außerhalb des amerikanischen Kontinents vorkommt. „Mit diesem haben wir den Schädel verglichen wie auch mit dem amerikanischen Mississippi-Alligator und Überresten von vier ausgestorbenen Alligatorenarten“, berichtet Rabi. „Der Schädel des A. munensis aus Thailand erinnert an den einer Bulldogge. Er besitzt einige besondere Merkmale, die bei allen anderen Arten fehlen.“ Der Schädel ist groß, der Alligator besaß eine kurze, sehr breite und tiefansetzende Schnauze, eine reduzierte Zahl von Zahnhöhlen, und die Nasenlöcher lagen weit von der Spitze der Schnauze entfernt. Die Körperlänge insgesamt schätzt das Forschungsteam auf anderthalb bis zwei Meter – ähnlich wie beim China-Alligator.
Hypothese zur Evolution
„Die meisten Ähnlichkeiten teilt die neue Art mit dem China-Alligator“, sagt der Doktorand Gustavo Darlim. Die Forscher halten die beiden Arten für eng verwandt und haben eine Hypothese entwickelt, der zufolge sie einen gemeinsamen Vorfahren gehabt haben könnten, der im Tiefland der Flusssysteme des Yangtze-Xi und des Mekong-Chao Phraya lebte. Sie spekulieren, dass es an einem unbestimmten Punkt innerhalb des Zeitraums der Hebung des südöstlichen Hochlands von Tibet vor 23 bis fünf Millionen Jahren zur Trennung verschiedener Populationen und schließlich zur Evolution zweier getrennter Arten kam. Während der China-Alligator bis heute überlebte, starb der Alligator munensis aus.
„Die großen Zahnhöhlen im Schädel von A. munensis deuten darauf hin, dass er große Zähne im hinteren Mundraum besaß, mit denen auch Schalen, wie zum Beispiel Schneckenhäuser, zerkleinert werden konnten“, sagt Rabi. In der evolutionären Vergangenheit seien kugelförmig abgeflachte große Zähne mit ähnlicher Funktion bei Krokodilen, zu denen auch die Alligatoren gehören, verbreitet gewesen und hätten sich mehrfach unabhängig voneinander entwickelt. Allerdings sei ein solcher Gebisstyp bei den heute lebenden Arten nicht mehr zu finden.
Teile eines Puzzles
Der China-Alligator ist – anders als sein amerikanischer Verwandter aus dem Südosten der USA, der Mississippi-Alligator, – vom Aussterben bedroht. Er kommt nur noch am unteren Yangtze-Fluss vor. „Wie und wann die Alligatoren sich von Nordamerika nach Asien ausbreiteten, ist nicht bekannt. Daher sind Fossilien aus Asien wichtig, um das Puzzle weiter zusammenzusetzen“, sagt Darlim. Die Entdeckung der neuen Art lasse vermuten, dass Alligatoren noch bis vor rund 200.000 Jahren bis in den Süden Thailands verbreitet waren. Möglicherweise ließen sich daher auch Gebiete außerhalb Chinas in ein Schutzprogramm für den China-Alligator einbeziehen.
Originalpublikation:
Gustavo Darlim, Kantapon Suraprasit, Yaowalak Chaimanee, Pannipa Tian, Chotima Yamee, Mana Rugbumrung, Adulwit Kaweera & Márton Rabi: An extinct deep‑snouted Alligator species from the Quaternary of Thailand and comments on the evolution of crushing dentition in alligatorids. Scientific Reports, https://doi.org/10.1038/s41598-023-36559-6

12.07.2023, Deutsches Primatenzentrum GmbH – Leibniz-Institut für Primatenforschung
Wer schlauer ist, lebt länger
Schlau sein zahlt sich aus, da bessere kognitive Fähigkeiten zu ausgewogeneren Entscheidungen führen können. Es ist jedoch noch weitgehend unerforscht, wie diese Fähigkeiten im Verlauf der Evolution entstanden sind. Nur wenn schlauere Individuen eine höhere Überlebens- und Fortpflanzungsrate haben, können sich verbesserte kognitive Fähigkeiten durchsetzen. Wissenschaftler*innen vom Deutschen Primatenzentrum – Leibniz-Institut für Primatenforschung haben nun den Zusammenhang zwischen geistigen Fähigkeiten und Überlebensrate bei Grauen Mausmakis untersucht. Es stellte sich heraus, dass die Tiere, die in den Kognitionstests am besten abgeschnitten haben, eine längere Lebensdauer aufwiesen.
Kognitive Fähigkeiten variieren nicht nur zwischen verschiedenen Arten, sondern auch zwischen Individuen einer Art. Es ist zu erwarten, dass schlauere Individuen länger leben, da sie vermutlich bessere Entscheidungen bei Nahrungswahl, Feindvermeidung oder Jungenaufzucht treffen können. Forscher*innen vom Deutschen Primatenzentrum haben in einer Langzeitstudie auf Madagaskar untersucht, welche Faktoren die Lebenserwartung von wildlebenden Grauen Mausmakis beeinflussen. Dabei haben sie mit 198 Tieren vier verschiedene Kognitionstests und zwei Persönlichkeitstests durchgeführt, sie gewogen und ihre Überlebensrate über mehrere Jahre verfolgt. Die Kognitionstests umfassten Problemlösung (die Tiere sollten Futter erreichen, indem sie einen Schieber betätigen), räumliches Erinnern (die Tiere sollten sich merken, wo das Futter versteckt war), Impulskontrolle (die Tiere mussten einen Umweg nehmen, um an das Futter zu gelangen) und das Verständnis von Zusammenhängen (das Tier konnte das Futter nur erreichen, wenn es an einem Faden zog). Im ersten Persönlichkeitstest ging es um Erkundungsverhalten und im zweiten um Neugier, indem die Reaktion auf unbekannte Objekte beobachtet wurde.
Entweder besonders schlau oder besonders erkundungsfreudig zu sein, sind vermutlich unterschiedliche Strategien, die zu einer längeren Lebensdauer führen können
Die Studie ergab, dass Individuen, die in den Kognitionstests am besten abgeschnitten haben, weniger Erkundungsverhalten zeigten als ihre weniger schlauen Artgenossen. Stattdessen wiesen erkundungsfreudigere Tiere ein höheres Gewicht auf, da sie vermutlich leichter Nahrung finden konnten. Eine hohe Lebenserwartung wurde sowohl bei Tieren mit besseren kognitiven Leistungen, als auch bei Tieren mit höherem Gewicht und stärkerem Erkundungsverhalten beobachtet. „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass schlau zu sein oder eine gute körperliche Kondition und erkundungsfreudiges Verhalten vermutlich unterschiedliche Strategien darstellen, die zu einer längeren Lebensdauer führen können“, sagt Claudia Fichtel, Erstautorin der Studie und Wissenschaftlerin am Deutschen Primatenzentrum. „In zukünftigen Studien wollen wir untersuchen, wie sich kognitive Fähigkeiten in Verhaltensstrategien bei der Nahrungs- oder Partnersuche umsetzen.“
Originalpublikation:
Fichtel C, Henke-von der Malsburg J, Kappeler PM (2023) Cognitive performance is linked to fitness in a wild primate. Science Advances, DOI 10.1126/sciadv.adf9365

14.07.2023, Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz
Melodischer Vogelgesang, präzise gestimmt
Nachtigallen sind weithin für ihre außergewöhnlichen Gesangskünste bekannt. Forscher*innen des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz konnten nun zeigen, dass die Männchen während der Paarungszeit nicht nur um die Wette singen um Weibchen anzulocken, sondern den eigenen Gesang flexibel an den ihrer Rivalen anpassen können. Dieses Verhalten konnte in den Brutrevieren in Deutschland und auch im Überwinterungsquartier in Gambia beobachtet werden, wo die Vögel üblicherweise kaum singen. Die Ergebnisse deuten auf die Existenz eines neuronalen Schaltkreises hin, der es den Nachtigallen ermöglicht, bestimmte Komponenten ihres Gesangs in Echtzeit anzupassen.
„Es war die Nachtigall und nicht die Lerche“, ruft Julia in einer Schlüsselszene des Shakespeare-Dramas, als sie zum letzten Mal mit Romeo spricht. Der melodische Gesang der Nachtigall inspiriert Menschen bereits seit Jahrhunderten und fand so auch in vielen literarischen Werken und Kompositionen Erwähnung.
Das große Stimmrepertoire der Nachtigallen inspiriert jedoch nicht nur Künstler*innen, sondern ist auch für Forscher*innen, die sich für die Grundlagen der stimmlichen Kommunikation interessieren, ausgesprochen interessant. Nachtigallenmännchen liefern sich während der Paarungszeit regelrechte Gesangsduelle, um potentielle Partnerinnen anzulocken und ihr Revier zu verteidigen. Dabei passen die Männchen die eigenen Gesänge an die ihrer Rivalen an, um ihre eigenen Chancen zu erhöhen.
„Während des Gesangsduells muss das Nachtigallenmännchen seinen Gesang in Echtzeit an das anpassen, was es gerade hört“, erklärt Daniela Vallentin, Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz. „Das ist ganz ähnlich wie bei Menschen, die ja auch viele Merkmale ihrer Stimme wie Lautstärke oder Tonhöhe im Laufe eines Gesprächs an die Gesprächspartner anpassen. Dieses Verhalten hilft uns dabei, sinnvolle Unterhaltungen zu führen. Daher wollten wir herausfinden, ob Nachtigallen zu etwas Ähnlichem fähig sind, also ob sie ihr Gesangsverhalten flexibel an die Gesänge ihrer Konkurrenten anpassen können.“
Nachtigallen singen unter anderem Gesangsstrophen, die aus Pfeiflauten unterschiedlicher Tonhöhe bestehen und ein breites Frequenzspektrum abdecken. Die Wissenschaftler*innen zeichneten die Gesangsduelle mehrerer Nachtigallen während der Paarungszeit in deren Brutgebieten in Deutschland auf und analysierten sie. So konnten sie zeigen, dass die Vögel ihre Gesangsstrophen gezielt als Reaktion auf den Gesang rivalisierender Nachbarn singen. Dabei passen sie die Tonhöhe über ein breites Frequenzspektrum hinweg flexibel an. Selbst auf von den Wissenschaftler*innen abgespielte künstlich erzeugte Gesangselemente, die außerhalb des natürlichen Spektrums der Nachtigallen lagen, reagierten diese.
Am genauesten imitierten die Nachtigallen die Gesangsfrequenz ihrer Konkurrenten, wenn sie unmittelbar auf deren Gesänge antworteten. Erfolgte die Antwort mit etwas Verzögerung, waren sie weniger präzise. „Das deutet darauf hin, dass die Frequenzanpassung mit Hilfe eines speziellen neuronalen Schaltkreises erfolgt. Vermutlich besteht eine direkte Verschaltung zwischen dem sensorischen Gehirnbereich, in dem der gehörte Gesang verarbeitet wird, und dem motorischen Bereich, der für die Gesangsproduktion zuständig ist“, sagt Giacomo Costalunga, der die Experimente im Rahmen seiner Doktorarbeit durchgeführt hat.
Um dieser Vermutung weiter nachzugehen, untersuchte das Team das Gesangsverhalten der Nachtigallen in ihrem Winterquartier in Gambia in Westafrika. Wie bei vielen anderen Vögeln auch, gibt es bei Nachtigallen saisonale Veränderungen des Verhaltens und der Physiologie. Diese Veränderungen wirken sich unter anderem auf den Gesang aus, der im Winter nur rudimentär ausgeprägt ist. Dennoch reagierten die Nachtigallen im Winterquartier auf abgespielte Pfeifgesänge ganz ähnlich wie zur Paarungszeit in Deutschland – mit einer auf die Tonhöhe abgestimmten Antwort.
„Diese Beobachtung hat uns sehr überrascht“, erinnert sich Giacomo Costalunga. „Der neuronale Schaltkreis, der dieser Fähigkeit zu Grunde liegt, scheint von den jahreszeitlichen Veränderungen nicht auf gleiche Weise betroffen zu sein wie jene Schaltkreise, die andere Aspekte des Gesangs steuern.“ Dies könnte darauf hindeuten, dass die Fähigkeit den Gesang flexibel anpassen zu können nicht nur während der Balz nützlich ist. Möglicherweise spielt sie das ganze Jahr über eine wichtige Rolle, zum Beispiel bei der Revierverteidigung.
Als nächsten Schritt möchte das Team nun die neuronalen Mechanismen identifizieren, die der gesanglichen Flexibilität zugrunde liegen. „Wir interessieren uns dafür, wie akustische Informationen an die motorischen Bereiche weitergegeben werden, die den Gesang steuern“, sagt Daniela Vallentin. „Wie werden unterschiedliche Tonhöhen kodiert? Sind die neuronalen Mechanismen während und außerhalb der Brutzeit dieselben?“
Der Gesang der Nachtigall hat die Menschen schon immer fasziniert und inspiriert. Neue Antworten darauf, was ihn so besonders macht – auch aus wissenschaftlicher Sicht – werden diese Faszination sicherlich noch verstärken. Das Forschungsziel von Daniela Vallentin und ihrer Gruppe, die neuronalen Grundlagen des Nachtigallengesangs zu entschlüsseln, wird dabei helfen, die Kommunikationsstrategien dieser faszinierenden Tiere und vielleicht sogar die Prinzipien vokaler Kommunikation generell besser zu verstehen.
Originalpublikation:
Wild nightingales flexibly match whistle pitch in real time
Giacomo Costalunga, Carolina Sánchez Carpena, Susanne Seltmann, Jonathan I. Benichov, Daniela Vallentin
Current Biology, online 14. Juli 2023
DOI: 10.1016/j.cub.2023.06.044

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