Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

05.06.2023, Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz
Wenn Tauben träumen
Träumen galt lange Zeit als etwas, das den Schlaf des Menschen auszeichnet. Neue Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass Tauben im Schlaf möglicherweise Flugszenen erleben. Wissenschaftler*innen der Ruhr-Universität Bochum und des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz untersuchten mithilfe der funktionellen Kernspintomographie die Aktivierungsmuster im Gehirn schlafender Tauben. Die Studie zeigte, dass das Taubengehirn während des REM-Schlafs größtenteils sehr aktiv ist. Dieser wachähnliche Zustand könnte jedoch zur Folge haben, dass das Gehirn nur unzureichend von schädlichen Substanzen gereinigt wird. Die Studie erschien in der Zeitschrift Nature Communications am 5.6.2023.
Während wir schlafen, durchläuft unser Gehirn eine Reihe komplexer Prozesse, die dafür sorgen, dass wir erholt aufwachen. Beim Menschen gehen die unterschiedlichen Schlafphasen, der REM-Schlaf (Rapid Eye Movement) und der Non-REM-Schlaf, mit Veränderungen in der Physiologie, der Gehirnaktivität und des Bewusstseins einher. Während des REM-Schlafs ist unser Gehirn besonders aktiv und wir erleben lebhafte, bizarre oder emotionale Träume. In der Non-REM-Schlafphase ist das Gehirn metabolisch weniger aktiv und entsorgt Abfallprodukte. Dazu spült es die Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit durch die miteinander verbundenen Hirnkammern, welche die Gehirnstrukturen umgeben, und anschließend in das Gehirn. Dieser Prozess unterstützt den Körper vermutlich dabei, schädliche Proteinablagerungen, die unter anderem an der Entstehung der Alzheimer-Erkrankung beteiligt sind, aus dem Gehirn zu spülen.
Was geht im Gehirn einer schlafenden Taube vor?
Ob ähnliche Vorgänge auch bei Vögeln ablaufen, blieb bisher ungeklärt. „Der letzte gemeinsame evolutionäre Vorfahre von Vögeln und Säugetieren lebte vor etwa 315 Millionen Jahren und stammt somit aus der Frühzeit der Landwirbeltiere“, sagt Prof. Dr. Onur Güntürkün, Leiter der Biopsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. „Dennoch ähneln die Schlafmuster von Vögeln denen der Säugetiere auf erstaunliche Weise, und zwar sowohl in den REM- als auch in den Non-REM-Phasen.“
Um herauszufinden, was genau vor sich geht wenn Vögel schlafen, haben die Forschenden die Schlaf- und Wachzustände von 15 Tauben mit Infrarot-Videokameras und funktioneller Kernspintomographie (fMRT) beobachtet und aufgezeichnet. Die Vögel waren speziell darauf trainiert, unter diesen experimentellen Bedingungen zu schlafen.
Die Videoaufzeichnungen gaben Aufschluss über die jeweilige Schlafphase der Vögel. „Wir konnten beobachten, ob nur ein oder beide Augen im Schlaf geöffnet oder geschlossen waren. Durch die transparenten Augenlider der Budapest-Tauben konnten wir auch bei geschlossenem Lid die Augenbewegungen und Veränderungen der Pupillengröße messen“, erklärt Mehdi Behroozi aus dem Bochumer Team. Gleichzeitig lieferten die fMRT-Aufzeichnungen Informationen über die Hirnaktivierung und die Bewegung der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit durch die Hirnkammern.
Der Traum vom Fliegen
„Während der REM-Phasen waren vor allem Gehirnbereiche aktiv, die für die Verarbeitung visueller Reize zuständig sind, darunter auch Areale, die analysieren, wie sich die Umgebung einer Taube während des Flugs bewegt“, sagt Mehdi Behroozi. Das Team maß auch Gehirnaktivität in Bereichen, die Nervensignale aus dem Körper und von den Flügeln verarbeiten. „Aufgrund dieser Beobachtungen vermuten wir, dass Vögel wie wir Menschen in REM-Phasen träumen, vielleicht sogar Flugsequenzen durchleben“, fügt Mehdi Behroozi hinzu.
Außerdem stellten die Wissenschaftler*innen fest, dass während der REM-Phasen die Amygdala aktiviert wurde, eine Gehirnstruktur, die bei emotionalen Prozessen eine wichtige Rolle spielt. „Das deutet darauf hin, dass auch Vögel in ihren Träumen Gefühle empfinden, sofern sie etwas erleben, das unseren menschlichen Träumen ähnelt“, sagt Gianina Ungurean aus der Forschungsgruppe Vogelschlaf am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz. Diese Hypothese wird unterstützt durch die Beobachtung, dass sich im REM-Schlaf die Pupillen der Vögel schnell zusammenziehen, so wie es im Wachzustand zum Beispiel bei der Balz oder bei Aggression der Fall ist, wie Gianina Ungurean und ihre Kolleg*innen kürzlich in einer anderen Studie nachgewiesen haben.
Aufräumen am Ende des Tages
Wie beim Menschen steigt auch bei Tauben der Durchfluss der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit durch die Hirnkammern während des Non-REM-Schlafs an. Wie die Forschenden nun erstmals beobachten konnten, nimmt die Bewegung der Flüssigkeit während des REM-Schlafs jedoch drastisch ab.
„Die gesteigerte Hirnaktivität im REM-Schlaf ist mit einem erhöhten Blutfluss zum Gehirn verknüpft. Wir vermuten, dass dieser den Fluss der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit aus den Hirnkammern ins Gehirn behindern könnte“, erklärt Niels Rattenborg, Leiter der Forschungsgruppe Vogelschlaf. „Das deutet darauf hin, dass der REM-Schlaf und die damit verbundenen Prozesse auf Kosten des Abtransports von Abfallprodukten aus dem Gehirn gehen könnten.“
Der REM-Schlaf könnte jedoch auf unerwartete Weise wiederum auch zur Abfallbeseitigung beitragen: „Zu Beginn des REM-Schlafs vergrößert sich der Durchmesser der Blutgefäße durch den steigenden Blutzufluss. Dadurch könnte Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit, die während des Non-REM-Schlafs in die Hirnkammern geflossen ist, ins Hirngewebe strömen und dafür sorgen, dass die mit Abfallstoffen belasteten Flüssigkeiten abfließen“, erläutert Gianina Ungurean.
Die Wissenschaftler*innen vermuten, dass die Reinigung des Gehirns im Schlaf für Vögel von besonders großer Bedeutung sein könnte. Da Vogelgehirne dichter mit Nervenzellen gepackt sind als die Gehirne von Säugetieren, sind möglicherweise effizientere – oder häufigere – Spülzyklen erforderlich, um schädliche Rückstände abzutransportieren. Vögel erleben während des Schlafs häufigere und kürzere REM-Phasen und der damit verbundene häufige Anstieg des Blutstroms könnte dabei helfen, ihre dichten Gehirne von schädlichen Abfallprodukten freizuhalten.
Erzählt uns von euren Träumen!
Für die Zukunft plant das Team, die mögliche Funktion des REM-Schlafs für die Abfallbeseitigung näher zu untersuchen. Außerdem überlegen die Forschenden, wie sie etwas über den Inhalt der Träume einer Taube erfahren könnten. „Wir hoffen, die Vögel so trainieren zu können, dass sie uns vermitteln können, ob und was sie gerade gesehen haben, wenn sie aus dem REM-Schlaf erwachen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um herauszufinden, ob sie träumen“, sagt Gianina Ungurean.
Aber auch ohne eine detaillierte Traumanalyse helfen uns die neuen Erkenntnisse, die Rolle des Schlafs besser zu verstehen – bei Vögeln ebenso wie beim Menschen. Sie verdeutlichen, wie wichtig der Schlaf für ein gesundes Gehirn und die Vorbeugung von kognitivem Verfall ist. Und sie legen nahe, dass das Träumen eine sehr lange Geschichte hat.
Originalpublikation:
Gianina Ungurean*, Mehdi Behroozi*, Leonard Böger, Xavier Helluy, Paul-Antoine Libourel, Onur Güntürkün, Niels C. Rattenborg
Wide-spread brain activation and reduced CSF flow during avian REM sleep
Nature Communications, online 5. Juni 2023, DOI: 10.1038/s41467-023-38669-1, URL: https://www.nature.com/articles/s41467-023-38669-1
* These authors contributed equally to this work

05.06.2023, Universität Bayreuth
Neue Studie der Universität Bayreuth untersucht Möglichkeiten zur Ausweitung des Naturschutzes in der EU
Gefährdete und typische Lebensräume in Europa mit ihrer Artenvielfalt zu erhalten, ist das Ziel von Natura 2000, eines von der EU eingerichteten Netzwerks von Naturschutzgebieten. Bis 2030 wollen die EU-Mitgliedstaaten dieses Netzwerk erheblich erweitern. Eine neue, im „Journal for Nature Conservation“ erschienene biogeografische Studie der Universität Bayreuth zeigt: Natura 2000-Gebiete in finanzschwächeren EU-Mitgliedstaaten auf unmittelbar benachbarte Regionen auszuweiten, kann eine effektive Strategie zur Steigerung des Arten- und Landschaftsschutzes sein. Natürliche Lebensräume in diesen Regionen werden nur selten durch Siedlungen und wirtschaftliche Infrastrukturen geschmälert.
Prof. Dr. Carl Beierkuhnlein, Inhaber des Lehrstuhls für Biogeografie an der Universität Bayreuth, und seine Mitarbeiterin Dr. Alexandra Lawrence haben neun benachbarte Regionen von Natura 2000-Gebieten in 27 europäischen Ländern daraufhin untersucht, wie stark sie durch Einflüsse des Menschen fragmentiert sind. Den Begriff „Fragmentierung“ definieren sie als einen Prozess, der einen zusammenhängenden Lebensraum von Tieren und Pflanzen in eine wachsende Zahl kleiner Einzelflächen auftrennt und ihn dabei insgesamt verringert. Der innereuropäische Vergleich ergibt, dass Gebirgsregionen und andere wenig besiedelte Regionen, die sich in der direkten Umgebung von Natura 2000-Gebieten befinden, bisher kaum fragmentiert sind. Folglich gibt es hier eine vergleichsweise große Zahl intakter Ökosysteme mit einer signifikanten Artenvielfalt und zusammenhängenden Lebensräumen.
Hauptsächlich sind es Länder im Norden und Osten Europas, die Nature 2000-Gebiete mit weiträumigen und geringfügig fragmentierten Umgebungen beherbergen. Viele dieser Länder schützen – wie die Bayreuther Berechnungen zeigen – mit jedem Euro, den sie für den Naturschutz ausgeben, eine vergleichsweise große Fläche. Rumänien, Bulgarien, Griechenland und die baltischen Staaten stehen hinsichtlich dieses günstigen Verhältnisses von Ausgaben und geschützten nationalen Flächen an der Spitze in der EU. Gleichzeitig sind die Umgebungen ihrer Natura 2000-Gebiete im EU-Vergleich am wenigsten zerstückelt. Daher liegt es nahe, Gebiete auf diese infrastrukturarmen, weitgehend nicht bewirtschafteten Regionen in der Nachbarschaft auszuweiten.
Genau hier aber entsteht ein Dilemma: Die hohe Effizienz von Ausgaben für den Naturschutz, vor allem in einigen Ländern im Osten Europas, ist wesentlich durch die geringe Bevölkerungsdichte sowie durch niedrige Arbeits- und Bodenkosten bedingt – also durch eine Kombination von Faktoren, die für ein vergleichsweise niedriges Bruttosozialprodukt typisch sind. Es wäre ethisch und politisch fragwürdig, diese Konstellation „einzufrieren“, um sie zum Nachteil wirtschaftlich ärmerer EU-Mitgliedstaaten für einen gesteigerten Naturschutz nutzen zu können. „Künftige Schutzgebietserweitungen in Niedrigkostenländern sollten seitens der EU mit einer nachhaltigen finanziellen Unterstützung und einer politischen Förderung von Aktivitäten im Umwelt- und Naturschutz verknüpft werden. Innerhalb der EU sollte verstärkt darüber nachgedacht werden, wie diese Länder gezielt unterstützt werden können, damit sie bereit sind, auf eine intensivere wirtschaftlichen Nutzung ökologisch wertvoller Flächen zu verzichten und mehr in den Naturschutz zu investieren,“ sagt die Erstautorin der Studie, Dr. Alexandra Lawrence vom Lehrstuhl für Biogeografie der Universität Bayreuth. In diesem Zusammenhang betont sie, dass geringe staatliche Ausgaben pro geschützter Fläche nicht notwendigerweise ein Ausdruck besonders effizienter Naturschutz-Maßnahmen sein müssen. Sie können ebenso ein Indiz für eine mangelnde Durchsetzung des Naturschutzes und damit auch für einen unzureichenden Artenschutz sein.
„Die Ergebnisse unserer Berechnungen machen deutlich, dass einige der am schwächsten finanzierten Natura 2000-Gebiete sich besonders gut für eine den Arten- und Landschaftsschutz fördernde Ausweitung auf angrenzende Regionen eignen. Unsere Studie bietet daher eine Basis für effiziente Naturschutzentscheidungen auf europäischer Ebene. Angesichts des Klimawandels ist es umso dringlicher, eine hohe ökologische Qualität der Regionen zu gewährleisten, die künftig in der EU unter Naturschutz gestellt werden sollen,“ sagt Prof. Dr. Carl Beierkuhnlein, Inhaber des Lehrstuhls für Biogeografie an der Universität Bayreuth.
Originalpublikation:
Alexandra Lawrence, Carl Beierkuhnlein: Detecting low fragmented sites surrounding European protected areas – Implications for expansion of the Natura 2000 network. Journal for Nature Conservation 73 (2023), DOI: https://doi.org/10.1016/j.jnc.2023.126398

06.06.2023, Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg
Lokales Artensterben womöglich oft unterschätzt
Eine neue Studie zur Biodiversität zeigt, dass die Artenzahl kein verlässliches Maß ist, um Ökosysteme zu überwachen. Demnach können scheinbar gesunde Ökosysteme mit konstanter oder sogar steigender Artenzahl bereits auf dem Weg in einen schlechteren Zustand mit weniger Arten sein. Solche Übergangsphasen zeigen sich aufgrund systematischer Verzerrungen selbst in langjährigen Datenreihen erst mit Verzögerung, so ein Ergebnis der Untersuchung unter Leitung der Universität Oldenburg, die jetzt in der Zeitschrift Nature Ecology & Evolution erschienen ist.
Scheinbar gesunde Ökosysteme mit konstanter oder sogar steigender Artenzahl können bereits auf dem Weg in einen schlechteren Zustand mit weniger Arten sein. Selbst in langjährigen Datenreihen können sich solche Umbrüche erst mit Verzögerung zeigen. Grund dafür sind systematische Verzerrungen der zeitlichen Trends in der Artenzahl, wie eine aktuelle Studie zeigt, die jetzt in der Zeitschrift Nature Ecology & Evolution veröffentlicht wurde. „Unsere Resultate sind wichtig, um zu verstehen, dass die Artenzahl allein kein verlässliches Maß dafür ist, wie stabil das biologische Gleichgewicht in einem bestimmten Ökosystem auf lokaler Ebene ist“, sagt Dr. Lucie Kuczynski, Ökologin am Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) der Universität Oldenburg und Hauptautorin der Untersuchung, in der sie und ihre Kollegen Beobachtungsdaten von Süßwasserfischen und Vögeln mit Simulationsrechnungen kombinierten.
Das Forschungsteam, zu dem neben Kuczynski auch Prof. Dr. Helmut Hillebrand vom ICBM und Dr. Vicente Ontiveros von der Universität von Girona in Spanien gehörten, war von den Ergebnissen überrascht: „Uns erfüllt mit Sorge, dass eine gleichbleibende oder sogar zunehmende Artenvielfalt nicht unbedingt bedeutet, dass in einem Ökosystem alles in Ordnung ist und die Artenzahl langfristig konstant bleibt“, erläutert Hillebrand. „Offenbar haben wir etwa bei Süßwasserfischen negative Trends bislang unterschätzt. Arten verschwinden auf lokaler Ebene schneller als wir dachten“, so Kuczynski.
Bislang war die Biodiversitätsforschung davon ausgegangen, dass die Artenzahl in einem Ökosystem langfristig gleich bleibt, wenn sich die Umweltbedingungen nicht verschlechtern oder verbessern. „Es handelt sich dabei um ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Neuansiedlungen und lokalen Auslöschungen“, so Hauptautorin Kuczynski. Zunehmende oder abnehmende Artenzahlen werden als Reaktion auf verbesserte oder verschlechterte Umweltbedingungen interpretiert. Um herauszufinden, ob sich aus einer konstanten Artenzahl tatsächlich auf ein stabiles biologisches Gleichgewicht schließen lässt, analysierten Kuczynski und ihre Kollegen zunächst mehrere tausend Datensätze, in denen die Artenzahl von Süßwasserfischen in Europa und Brutvögeln in Nordamerika in verschiedenen Gegenden über viele Jahre – bei den Fischen im Durchschnitt 24, bei den Vögeln 37 Jahre – dokumentiert worden war. Die Forschenden wollten so ermitteln, welche Trends sich bei den einzelnen Lebensgemeinschaften zeigten. Anschließend verglichen sie die Beobachtungsdaten mit verschiedenen Simulationsmodellen, in denen sie unterschiedliche Annahmen für die Einwanderung und das Verschwinden von Arten trafen.
Das Team fand zunächst heraus, dass die Artenzahl sowohl bei den Fischen als auch bei den Vögeln in den Beobachtungszeiträumen generell anstieg. Ein Vergleich mit den Simulationen zeigte aber, dass dieser Anstieg geringer ausfiel als es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Diese Diskrepanz führten die Forschenden auf ein Ungleichgewicht zwischen Neubesiedlung und lokalem Aussterben zurück: „Tiere wie Süßwasserfische, die sich nur begrenzt ausbreiten können, besiedeln unserer Simulation zufolge ein Ökosystem schneller als in klassischen Modellen, während das Aussterben später eintritt als erwartet“, so Kuczynski. Dies führe dazu, dass nach einer Umweltveränderung in einem Ökosystem noch eine Zeitlang Arten zu finden sind, die eigentlich schon zum Aussterben verdammt sind, während gleichzeitig neue Spezies einwandern. Dieser Effekt verschleiere den drohenden Verlust an Biodiversität: „In Ökosystemen treten Übergangsphasen auf, in denen die Artenzahl höher ist als erwartet“, so die Umweltforscherin. Das Artensterben tritt erst nach diesen Übergangsphasen auf – und dann in der Regel schneller als erwartet.
Das Team geht davon aus, dass man nun neu darüber nachdenken muss, mit welchen Methoden sich Ökosysteme am besten überwachen lassen. Auch Naturschutzziele – die oft vor allem darin bestehen, die bestehende Artenvielfalt zu erhalten – müssten womöglich neu definiert werden. Das von Kuczynski und Kollegen entwickelte Modell könnte dabei als Werkzeug dienen, um verschiedene Mechanismen auseinanderzuhalten, die die Artenzahl beeinflussen. Es liefert zudem Informationen darüber, wie stark die Beobachtungsdaten von den zu erwartenden Veränderungen abweichen.
Originalpublikation:
Lucie Kuczynski, Vicente J. Ontiveros, Helmut Hillebrand: „Biodiversity time series are biased towards increasing species richness in changing environments”, Nature Ecology & Evolution, doi.org/10.1038/s41559-023-02078-w

07.06.2023, MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften an der Universität Bremen
Forschende entdecken Überreste einer ausgestorbenen Welt unserer frühen Vorfahren in Milliarde-Jahre alten Gesteinen
Neu entdeckte Überreste von Biomarkern, so genannte Protosteroide, deuten auf eine ganze Reihe bisher unbekannter Organismen hin, die vor etwa einer Milliarde Jahren das damalige komplexe Leben auf der Erde beherrschten. Sie unterschieden sich von den uns vertrauten eukaryontischen Lebewesen durch ihren Zellaufbau und wahrscheinlich auch durch ihren Stoffwechsel. Dieser war an eine Welt angepasst, die weit weniger Sauerstoff in der Atmosphäre aufwies als heute. Ein Team von Wissenschaftler:innen, dem auch der Geochemiker Benjamin Nettersheim vom MARUM, Universität Bremen angehört, berichtet in der Fachzeitschrift Nature über den Durchbruch für die evolutionäre Geobiologie.
Neu entdeckte Überreste von Biomarkern, so genannte Protosteroide, deuten auf eine ganze Reihe bisher unbekannter Organismen hin, die vor etwa einer Milliarde Jahren das damalige komplexe Leben auf der Erde beherrschten. Sie unterschieden sich von den uns vertrauten eukaryontischen Lebewesen, also von Menschen, Tieren, Pflanzen und Algen, durch ihren Zellaufbau und wahrscheinlich auch durch ihren Stoffwechsel. Dieser war an eine Welt angepasst, die weit weniger Sauerstoff in der Atmosphäre aufwies als heute. Ein internationales Team von Wissenschaftler:innen, dem auch der Geochemiker Benjamin Nettersheim vom MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen und Fachbereich Geowissenschaften der Universität Bremen angehört, berichtet jetzt in der Fachzeitschrift Nature über diesen Durchbruch für die evolutionäre Geobiologie.
Die neu entdeckten „Protosteroide“ waren im Erdmittelalter überraschend häufig. Produziert wurden diese Ur-Fette in einem früheren Stadium in der Entwicklung des komplexen Lebens. Die Funde verlängern damit das Alter der fossilen Belege von Steroiden auf über 800 Millionen Jahre vor heute hinaus bis zu 1.600 Millionen Jahre in die Vergangenheit. Eukaryonten ist die Bezeichnung für ein „Reich“, zu dem alle Tiere, Pflanzen und Algen gehören und das sich von den Bakterien (einem anderen „Reich“ des Lebens) durch eine komplexe Zellstruktur mit einem Zellkern und einem komplexeren molekularen Apparat unterscheidet. „Das Besondere an dieser Entdeckung ist nicht nur der viel früher zu datierende molekulare Nachweis von Eukaryonten“, sagt Christian Hallmann vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ, der an der Studie mitgewirkt hat. „Da der letzte gemeinsame Vorfahre aller modernen Eukaryonten, einschließlich des Menschen, wahrscheinlich in der Lage war, ’normale‘ moderne Sterine zu produzieren, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Eukaryonten, die für diese seltenen Signaturen verantwortlich sind, zum „Stamm“ des evolutionären Baumes gehörten.“
Beispielloser Einblick in verlorene Welt
Dieser „Stamm“ stellt die gemeinsame Linie jener Organismen dar, die Vorfahren aller heute lebender Zweige der Eukaryonten waren. Ihre Vertreter sind längst ausgestorben, doch Einzelheiten über ihre Natur könnten Aufschluss über die Bedingungen für das Entstehen von komplexem Leben geben. Die Wissenschaftler:innen sehen zwar noch weiteren Forschungsbedarf, um etwa zu ermitteln, wie hoch der Anteil der Protosteroide ist, der möglicherweise aus einer seltenen bakteriellen Quelle stammt. Aber die Entdeckung dieser neuen Moleküle bringt nicht nur die geologischen Spuren der herkömmlichen Fossilien mit denen der fossilen Lipidmoleküle in Einklang, sondern gewährt auch einen beispiellosen Einblick in eine verlorene Welt des frühen Lebens. Die Verdrängung der Stammgruppe durch die modernen Eukaryonten vor etwa 800 Millionen Jahren ist durch das erste Auftreten weiterentwickelter Sterine wie fossiles Cholesterin gekennzeichnet. Dieser Übergang könnte eines der einschneidendsten Ereignisse in der Evolution des zunehmend komplexen Lebens darstellen.
„Fast alle Eukaryonten erzeugen Steroide, wie zum Beispiel Cholesterin, das von Menschen und den meisten anderen Tieren produziert wird“, fügt Benjamin Nettersheim, einer der Haupt-Autoren der Studie, hinzu. „Aufgrund der potenziell gesundheitsschädlichen Auswirkungen eines erhöhten Cholesterinspiegels beim Menschen hat Cholesterin aus medizinischer Sicht nicht den besten Ruf. Diese Lipidmoleküle sind jedoch integraler Bestandteil der eukaryontischen Zellmembranen, wo sie eine Vielzahl physiologischer Funktionen erfüllen. Durch die Suche nach fossilen Steroiden in alten Ablagerungen können wir die Entwicklung von immer komplexerem Leben nachvollziehen.“
Was der Nobelpreisträger nicht für möglich hielt
Der Nobelpreisträger Konrad Bloch hatte bereits vor fast 30 Jahren in einem Aufsatz über einen solchen Biomarker spekuliert. Bloch postulierte, dass kurzlebige Zwischenprodukte in der modernen Biosynthese von Steroiden möglicherweise nicht immer nur Zwischenprodukte waren. Er nahm vielmehr an, dass sich die Lipidbiosynthese im Laufe der Erdgeschichte parallel zu den sich ändernden Umweltbedingungen entwickelt hat. Im Gegensatz zu Bloch, der nicht glaubte, dass diese alten Zwischenprodukte jemals gefunden werden könnten, machte sich Nettersheim auf die Suche nach Protosteroiden in Gesteinen, die zu einer Zeit abgelagert wurden, als diese Zwischenprodukte tatsächlich das Endprodukt gewesen sein könnten.
Aber wie findet man solche Moleküle in alten Gesteinen? „Wir haben eine Kombination von Techniken angewandt, um verschiedene moderne Steroide zunächst in ihr fossiles Äquivalent umzuwandeln; andernfalls hätten wir gar nicht gewusst, wonach wir suchen sollten“, sagt Jochen Brocks, Professor an der Australian National University, der sich die Erstautorenschaft der neuen Studie mit Nettersheim teilt. Forschende hatten diese Moleküle jahrzehntelang übersehen, weil sie nicht in das typische Raster der Molekülsuche passen. „Sobald wir unser Ziel kannten, entdeckten wir, dass Dutzende anderer Gesteine, die aus Milliarden Jahre alten Gewässern auf der ganzen Welt stammten, mit ähnlichen fossilen Molekülen übersät waren“, sagt Brocks.
Umweltveränderungen und der Niedergang des urtümlichen Lebens
Die ältesten Proben mit dem Biomarker kommen aus der Barney-Creek-Formation in Australien und sind 1,64 Milliarden Jahre alt. In den Gesteinsschichten der nächsten 800 Millionen Jahre finden sich nur fossile Moleküle von Ur-Eukaryonten, bevor molekulare Signaturen moderner Eukaryonten erstmals in der so genannten Tonium-Periode auftreten. Laut Nettersheim „erweist sich die Tonium-Transformation als einer der tiefgreifendsten ökologischen Wendepunkte in der Geschichte unseres Planeten“. Hallmann fügt hinzu, dass „sowohl primordiale Stammgruppen als auch moderne eukaryotische Vertreter wie Rotalgen viele hundert Millionen Jahre lang nebeneinander gelebt haben dürften“.
In dieser Zeit wurde die Erdatmosphäre jedoch zunehmend mit Sauerstoff angereichert – einem Stoffwechselprodukt der Cyanobakterien und der ersten eukaryontischen Algen, das für viele andere Organismen giftig war. Später kam es zu globalen Vereisungen („Schneeball-Erde“) und die Protosterol-Gemeinschaften starben weitgehend aus. Der letzte gemeinsame Vorfahre aller lebenden Eukaryonten könnte vor 1,2 bis 1,8 Milliarden Jahren gelebt haben. Seine Nachkommen waren wahrscheinlich besser in der Lage, Hitze und Kälte sowie UV-Strahlung zu überleben und verdrängten ihre ursprünglichen Verwandten.
Da alle Stammgruppen-Eukaryonten längst ausgestorben sind und nur die jüngeren Äste überlebt haben, werden wir nie mit Sicherheit wissen, wie die meisten unserer frühen Verwandten aussahen. Aber die Ur-Steroide werfen möglicherweise mehr Licht auf ihre Biochemie und Lebensweise. „Die Erde war während eines Großteils ihrer Geschichte eine mikrobielle Welt, deren Bewohner nur wenige Spuren hinterlassen haben“, fasst Nettersheim zusammen. Die Forschung am MARUM, der Australischen National Universität und dem Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ ist weiterhin auf der Suche nach den Wurzeln unseres Lebens – die Entdeckung der Protosterole bringt uns nach Ansicht der Forschenden einen Schritt näher an das Verständnis, wie unsere frühesten Vorfahren lebten und sich entwickelten.
Ein näherer Blick in die Kinderstube des komplexen Lebens
Im weltweit einzigartigem Geobiomolecular Imaging Labor im MARUM an der Universität Bremen, schießt Dr. Nettersheim nun mit einem Laserstrahl auf die Milliarde-Jahre alten Gesteine. Die aus den Sedimentgesteinen freigesetzten Moleküle werden direkt in ein ultra-hochauflösenden Massenspektrometer geleitet. So wollen Nettersheim und das internationale Team von Forschenden in bisher unerreichter Auflösung die Kinderstube des komplexen Lebens beleuchten. Die Arbeit der Wissenschaftler:innen soll auch in Zukunft zu einem tieferen Verständnis unserer frühen eukaryontischen Vorfahren und der Co-Evolution unseres Planeten und des Lebens beitragen.
Originalpublikation:
Jochen J. Brocks, Benjamin J. Nettersheim, Pierre Adam, Philippe Schaeffer, Amber J. M. Jarrett, Nur Güneli, Tharika Liyanage, Lennart M. van Maldegem, Christian Hallmann, Janet M. Hope: Lost world of complex life and the late rise of the eukaryotic crown. Nature 619 (2023). DOI: 10.1038/s41586-023-06170-w

07.06.2023, Justus-Liebig-Universität Gießen
Vom Verschwinden der Sturmschwalben
Langzeitstudie unter Federführung der Universität Gießen zum kleinsten antarktischen Seevogel zeigt über 90 Prozent Rückgang der Population
Um die Auswirkungen von Umweltveränderungen auf Seevogelpopulationen zu verstehen, sind Langzeitstudien unerlässlich, aber selten. Biologinnen und Biologen aus Deutschland, Polen und Argentinien haben über vier Jahrzehnte Daten zur Populationsdynamik und zum Bruterfolg von Buntfuß-Sturmschwalben in der Antarktis zusammengetragen und nun unter der Leitung von Prof. Petra Quillfeldt, Institut für Tierökologie und Spezielle Zoologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), analysiert. Das Ergebnis: ein dramatischer Rückgang der Art. Die Studienergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Polar Biology“ veröffentlicht worden.
Von 1978 bis 2020 hatten Forscherinnen und Forscher die Population von Buntfuß-Sturmschwalben (Oceanites oceanicus) von der King-George-Insel (Südshetlandinseln, Antarktis) untersucht. Diese Region ist sehr stark vom Klimawandel betroffen, insbesondere sind die Wintertemperaturen dort schon um mehr als sechs Grad angestiegen und die Bedeckung mit Meereis ist stark rückläufig. In der Folge ist mehr Luftfeuchtigkeit zu verzeichnen und dies führt zu vermehrtem Schneefall, der die Eingänge der Nester blockiert. In manchen Jahren konnten die Sturmschwalben erst sehr spät brüten, in anderen wurden brütende Altvögel oder Küken vom Schnee in ihren Nestern eingeschlossen.
Oft fanden die Sturmschwalben auch zu wenig Nahrung, weil ihre Hauptnahrungsquelle, der Antarktische Krill, unter dem Rückgang des Meereises leidet. Diese Umweltfaktoren hatten deutliche Auswirkungen auf die Sturmschwalben-Bestände: Die Studie ergab einen Rückgang der Population um 90 Prozent in zwei Kolonien und beträchtliche Schwankungen im Bruterfolg und den Wachstumsraten der Küken.
„Mit dem erwarteten weiteren Anstieg der Luft- und Meerestemperaturen ist eine weitere Zunahme der Niederschläge über der antarktischen Halbinsel und erhöhte Häufigkeit von Schneestürmen zu erwarten“, so Prof. Quillfeldt. „Darüber hinaus werden die steigenden Temperaturen wahrscheinlich die Verfügbarkeit von Krill weiter verringern. Die aktuellen Umweltveränderungen können daher zu einem weiteren Rückgang der Sturmschwalben-Population führen und wir erwarten, dass sich dieser Trend in Zukunft fortsetzt oder sogar beschleunigt.“
Originalpublikation:
Ausems, A.N.M.A., Kuepper, N.D., Archuby, D. et al. Where have all the petrels gone? Forty years (1978–2020) of Wilson’s Storm Petrel (Oceanites oceanicus) population dynamics at King George Island (Isla 25 de Mayo, Antarctica) in a changing climate. Polar Biol (2023). https://doi.org/10.1007/s00300-023-03154-4

07.06.2023, Institute of Science and Technology Austria
„Triage“ in der Ameisen-Krankenpflege
Soziale Ameisen sind Meister der kollektiven Krankheitsabwehr. Sie kümmern sich um ihre Nestgenossinen und verhindern, dass sich eine Infektion innerhalb einer Kolonie ausbreitet. Aber woher weiß eine einzelne Ameise, wen sie pflegen soll? Ein multidisziplinäres Forschungsteam vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und der Comenius-Universität in Bratislava hat nun die Antwort gefunden. Durch experimentelle und theoretische Ansätze erhielten die Wissenschafter:innen detaillierte Einblicke in die sanitäre Entscheidungsfindung einzelner Ameisen.
Ameisen sind ein perfektes Modell, um die Zusammenarbeit im Tierreich zu erforschen. Durch sie kann man Schlüsse darüber ziehen, wie eine Gruppe die Ausbreitung von Krankheiten verhindert. Vergleichbar mit einem Krankenhaus kümmern sich einzelne Mitglieder einer Ameisenkolonie um ihre erkrankten Nestbewohnerinnen. Doch während ein Krankenhaus feste Regeln für Triage hat, waren die individuellen Entscheidungen, wer in der Ameisenkolonie wen und wann pflegt, bis jetzt ungeklärt.
Um die Pflegeentscheidungen einer einzelnen Ameise zu entschlüsseln, haben sich die experimentelle Biologin Sylvia Cremer und ihr Forschungsteam am ISTA mit ihrem Kollegen und theoretischen Physiker Gašper Tkačik und der Mathematikerin Katarína Boďová von der Comenius-Universität in Bratislava zusammengetan. In ihrer multidisziplinären Studie, welche im Fachmagazin Nature Communications veröffentlicht wurde, untersuchten die Wissenschafter:innen Gartenameisen und Pilzsporen und fanden heraus, welche Informationen die Ameisen bei ihren individuellen Pflegeentscheidungen berücksichtigen.
Das Verhalten der Ameisen und die Sporenlast – die Menge an Pilzporen – einzelner Koloniemitglieder wurde über einen bestimmten Zeitraum analysiert. Dies ergab, dass Ameisen bevorzugt die infektiösesten Koloniemitglieder für die Pflege auswählten. Allerdings hört eine Ameise auf, andere zu pflegen, nachdem sie gerade selbst von ihren Mitbewohnerinnen gepflegt wurde. Die Ameisen bewerten also nicht nur die Ansteckungsgefahr anderer, sondern reagieren auch auf das soziale Feedback über das eigene Risiko andere anzustecken, das sie von der Kolonie erhalten. Diese einzigartige Kombination einfacher Regeln führt dazu, dass die infektiösesten Koloniemitglieder von den am wenigsten infektiösen gepflegt werden und führt letztendlich zu einer äußerst effizienten Krankheitsbekämpfung auf Kolonieebene.
Gemeinsam zum Erfolg
Soziale Ameisen sind Meister der kooperativen Krankheitsabwehr. Diese ermöglicht ihnen einen Schutz auf Kolonieebene, der als „soziale Immunität“ bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um die kollektiven Maßnahmen zur Verringerung des Risikos von Krankheiten und deren Übertragung innerhalb der Kolonie. Frühere Studien zeigten, wie Koloniemitglieder füreinander sorgen. Unter anderem knabbern sie infektiöse Sporen von infizierten Nestgefährtinnen ab und desinfizieren sie mit Chemikalien. Aber woher wissen sie, wen sie entkeimen sollen?
Ameisen pflegen ansteckendste Mitglieder der Kolonie
Um diese Fragen zu beantworten, untersuchten die Wissenschafter:innen das Verhalten gesunder Ameisen in Bezug zu zwei Nestgenossinen, die beide infektiöse Pilzsporen in unterschiedlicher Menge auf sich trugen. Die pflegenden Ameisen konnten im Experiment entscheiden, wie sie ihre Gesundheitspflege unter den beiden Koloniemitgliedern aufteilen. Nach sorgfältigen Verhaltensbeobachtungen entdeckte Barbara Casillas, eine ehemalige PhD Studentin in der Cremer Gruppe, ein faszinierendes Phänomen beim Pflegeverhalten der Ameisen.
Die Ameisen nehmen nämlich Individuen mit der höchsten Sporenmenge bevorzugt ins Visier – also jene Ameise, die zurzeit das größte Risiko für die Gruppe darstellt. „In der Regel wählen Ameisen diejenige mit der aktuell höchsten Sporenbelastung aus, obwohl sich die Sporenbelastung durch das Entkeimen selbst ständig ändert“, erklärt Cremer. „So können die Ameisen dynamisch auf Veränderungen der Krankheitsbedrohung reagieren.“
Ameisenverhalten durch Mathematik verstehen
Experimentelle Ansätze haben jedoch ihre Grenzen. Zwar konnten die Forscher:innen beobachten, wie die Ameisen handeln, aber daraus ließ sich nicht ermitteln, aus welchen Gründen sie sich so verhalten. Die individuelle Entscheidungsfindung, die das Gruppenverhalten bestimmt, blieb nach wie vor eine „Blackbox“. Die Mathematikerin Katarína Boďová, Assistenzprofessorin an der Comenius-Universität, und Gašper Tkačik, theoretischer Physiker am ISTA, nahmen die Herausforderung gemeinsam an.
Gemeinsam entschlüsselte das Team, welche Informationen die Ameisen nutzen, um Entscheidungen darüber zu treffen, wann sie mit dem Pflegeverhalten beginnen und bei wem. Boďová erläutert: „Die Ameisen folgen einer einfachen Faustregel: Wenn sie auf eine Ameise mit einer hohen Sporenbelastung treffen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie diese Ameise entkeimen.“ Das Gute dabei ist auch, dass die Ameisen sich nicht die Sporenbelastung aller Koloniemitglieder merken müssen, sondern sie können sich dabei gänzlich auf die Informationen verlassen, die sie aus dem Kontakt mit den Ameisen in ihrer Umgebung gewinnen.
Das System ist jedoch nicht perfekt. Die Ameisen pflegen auch manchmal das weniger infektiöse Tier. Doch die vielen kleinen Tendenzen für Pflege höher belasteter Individuen bei jeder Entscheidung einzelner Ameisen, summieren sich zu einer klaren Entscheidung und einer effizienten Beseitigung von Krankheitserregern auf Kolonieebene. Die Ameisen können auf minimale Unterschiede in der Sporenbelastung reagieren, treffen aber genauere Entscheidungen, wenn die Diskrepanz höher ist.
„Wir wissen noch nicht, wie die Ameisen den Unterschied in der Sporenmenge wahrnehmen. Vielleicht haben die höher belasteten Ameisen einen stärkeren Pilzgeruch“, so Cremers Hypothese. Die jüngste Arbeit der Gruppe deutet darauf hin, dass Ergosterol – ein essenzieller Membranbestandteil aller Pilze – ein mögliches Erkennungsmerkmal für die Ameisen sein könnte.
Ansteckende Ameisen beteiligen sich nicht an der Krankenpflege
Die mathematischen Modellierungen offenbarten einen weiteren Faktor, der für die Pflegetätigkeit einer Ameise relevant ist, nämlich die Sensitivität der Ameisen gegenüber sozialen Signalen ihrer Nestgenossinnen. Cremer beschreibt es als eine soziale Rückkopplungsschleife, die verhindert, dass hochinfektiöse Individuen sich um andere kümmern. Dadurch wird das Verbreitungsrisiko während der Pflege verringert.
Mehr als nur eine interessante Beobachtung von Ameisenverhalten, zielt diese Publikation darauf ab, die individuellen Entscheidungsfindungen innerhalb einer Kolonie zu verstehen. Cremer resümiert: „Die Zusammenarbeit mit unseren Kolleg:innen aus der theoretischen Wissenschaft ermöglichte uns neue Einblicke in die individuelle Entscheidungsfindung von Ameisen, die ihrer sozialen Immunität und kooperativen Krankheitsabwehr zugrunde liegen.“
Originalpublikation:
B. Casillas-Pérez, K. Boďová, A. V. Grasse, G. Tkačik & S. Cremer. 2023. Dynamic pathogen detection and social feedback shape collective hygiene in ants. Nature Communications. DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-023-38947-y

08.06.2023, Deutsche Wildtier Stiftung
Wappentier Baden-Württembergs steht am Beginn eines Aussterbeprozesses
Deutsche Wildtier Stiftung: Landespolitik muss endlich handeln
In Baden-Württemberg darf der Rothirsch nur auf 4 Prozent der Landesfläche existieren – auf 96 Prozent muss die Art per Gesetz ausgerottet werden. Kein anderes Bundesland gibt dem Rothirsch so wenig Platz zum Leben, obwohl viel mehr geeigneter Lebensraum vorhanden wäre. Bei der aktuellen Präsentation der Ergebnisse des Projekts „Rotwild in Baden- Württemberg“ vom Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz am 6. Juni 2023 in Karlsruhe wurde nun deutlich, dass die Isolation der Tierart bereits stark negative Auswirkungen auf ihre genetische Vielfalt hat: Innerhalb der wenigen Populationen gehen durch Inzucht immer mehr genetische Anlagen verloren und zwischen den Populationen gibt es nur einen sehr geringen Austausch. Die Lage ist so dramatisch, dass Populationsgenetiker von dem Beginn eines Aussterbeprozesses sprechen. Umso verwunderlicher sind die ersten Reaktionen des zuständigen Forstministers Peter Hauk auf die eindeutigen Ergebnisse seiner hauseigenen Forschungsanstalt: In einer Pressemeldung schlug er als einzige konkrete Maßnahme das künstliche Verbringen von Rotwild zwischen den Gebieten vor.
„Die Reaktion des Ministers ist erschreckend. Sie zeigt, wie wenig Sachkenntnis bei denen vorhanden ist, in deren Händen die Zukunft des Rotwilds in Baden-Württemberg liegt“, kritisiert Dr. Andreas Kinser, Leiter Natur- und Artenschutz der Deutschen Wildtier Stiftung. Das Umsiedeln einzelner Individuen in genetisch verarmte Populationen wird von Wildbiologen abgelehnt, weil niemand weiß, welche Gene man so verbreitet und weil es das Problem nachhaltig nicht löst. Sie plädieren stattdessen für eine Stärkung des Lebensraumverbundes und die Auflösung der sogenannten Rotwildbezirke, wie sie in Baden-Württemberg seit 1958 existieren.
Das Festhalten an den Rotwildbezirken begründet der Minister indes mit der Ernährungssicherung – also dem Verhindern von Rotwildschaden in Getreidefeldern – und dem Aufbau klimafitter Mischwälder. Dabei ignoriert er freilich, dass auch in den Bundesländern, in denen sich das Rotwild wie jede andere Tierart auch seinen Lebensraum selbst suchen darf, die Menschen zum Glück ebenso wenig hungern müssen wie in Baden-Württemberg; und auch dort erfolgreich Waldumbau betrieben wird.
Die Deutsche Wildtier Stiftung hat sich in den Jahren 2019 und 2020 mit einer Kampagne für mehr Lebensraum für den Rothirsch in Baden-Württemberg eingesetzt und bei einer Online-Petition über 40.000 Unterschriften gesammelt. Vor dem Hintergrund der nun vorgestellten Ergebnisse fordert die Stiftung erneut, kurzfristig außerhalb der bestehenden Rotwildgebiete grundsätzlich alle männlichen, mindestens 1-jährigen Rothirsche zu schonen, damit ein Genfluss zwischen den Populationen wieder ermöglicht wird. „Mittelfristig muss es in Baden-Württemberg endlich eine klare politische Agenda für mehr Rotwild-Lebensraum geben“, so Andreas Kinser.

08.06.2023, BUND
Pestizide vergiften Gartenschläfer
Das Tier des Jahres 2023 ist auch durch Gifte stark gefährdet #BesserOhneGift
Pestizide in fast allen untersuchten Gartenschläfer-Totfunden nachgewiesen
Überwiegend sogar mehrere Chemikalien – darunter DDT und Rattengift
Pestizide führen auch zu Verhungern infolge des Insektensterbens
Der Einsatz von Pestiziden gehört mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den wesentlichen Ursachen für das dramatische Verschwinden des Gartenschläfers, dem Wildtier des Jahres 2023. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die Justus-Liebig-Universität Gießen und die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung haben in ihrem Projekt „Spurensuche Gartenschläfer“ nachgewiesen, dass die Tiere erheblich durch verschiedene Insektizide und Rattengifte belastet sind.
Sven Büchner, Gartenschläfer-Experte der Justus-Liebig-Universität Gießen: „Wir haben inzwischen mehr als 100 tote Gartenschläfer untersucht und kaum einer davon war frei von Gift. Zwischen vier und 21 Substanzen wurden gleichzeitig in den Tieren nachgewiesen. Und das in zum Teil erheblichen Konzentrationen.“
Der Gartenschläfer ist ein kleiner Verwandter des Siebenschläfers und war ursprünglich weit in Deutschland und Europa verbreitet. Doch allein in den letzten 30 Jahren ging die Verbreitung des Gartenschläfers europaweit um rund 50 Prozent zurück. Ein Verdacht: Pestizide könnten dabei eine Rolle spielen.
Büchner: „Im Labor kam die Bestätigung: In den Lebern der toten Gartenschläfer fanden sich zahlreiche Pestizide, die aktuell im Einsatz sind, darunter Insektizide und Fungizide.“ Gleichzeitig wiesen die Forscher*innen auch hohe Konzentrationen des Insektengifts DDT bzw. dessen Abbauprodukten in den Tieren nach. „Das hat uns doch erschrocken, da DDT in Deutschland bereits seit den 1970er Jahren verboten ist. Diese super-persistenten Chemikalien verbleiben in der Umwelt und gefährden über Jahrzehnte Wildtiere, Umwelt und auch die Gesundheit des Menschen.“ Darüber hinaus war jeder zweite Totfund zusätzlich mit Rattengift belastet, das auch für Greifvögel, Füchse, Wiesel und andere Wildtiere hochtoxisch ist.
Corinna Hölzel, Pestizidexpertin des BUND: „Wir haben damit eine dreifache Pestizid-Gefahr für Säugetiere wie den Gartenschläfer: Durch das Insektensterben ist für sie weniger Nahrung verfügbar. Mit dieser Nahrung aus Insekten nehmen sie Gift auf, das sich in ihrem Fettgewebe anlagert. Und zusätzlich droht ihnen Rattengift. Für den Schutz der Artenvielfalt brauchen wir deshalb dringend einen Kurswechsel beim Pestizideinsatz.“
Der BUND fordert die Bundesregierung auf, sich jetzt mindestens für eine Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2030 sowie ein Verbot der besonders gefährlichen Pestizide stark zu machen. Das Landwirtschaftsministerium muss sich dafür national und auf EU-Ebene einsetzen, um die europäische Pestizid-Rahmenverordnung zu stärken und zu verabschieden. Gleichzeitig können Verbraucher*innen auch selbst sofort aktiv werden: Mit einem Verzicht auf Rattengift, Schneckenkorn und andere Pestizide sowie naturnahen Gärten helfen sie direkt, den Gartenschläfer zu schützen.
Das Projekt „Spurensuche Gartenschläfer“ wird im Bundesprogramm Biologische Vielfalt durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz gefördert.

09.06.2023, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Säugetiere: Mehr Bewegung während der Corona-Lockdowns
Die Beschränkungen in den ersten Monaten der COVID-19-Pandemie führten weltweit zu Verhaltensänderungen bei Landsäugetieren. Dies geht aus einer heute im renommierten Fachjournal „Science“ veröffentlichten Studie eines großen internationalen Forschungsteams unter der Leitung von Dr. Marlee Tucker von der Radboud-Universität und Senckenberg-Wissenschaftler Prof. Dr. Thomas Müller hervor. Wildlebende Säugetiere legten im Vergleich zum Vorjahr während der strengen Lockdowns bis zu 73 Prozent längere Strecken zurück und hielten sich 36 Prozent näher an Straßen auf.
Goldschakale in Tel Aviv, durch Santiago streifende Pumas und Bären auf Talgang in Südtirol – zahlreiche Medien berichteten, während der aufgrund der Covid-19-Pandemie verhängten, Lockdowns von zunehmendem tierischem Leben in sonst menschlich dominierten Lebensräumen. „Uns hat interessiert: Gibt es für diese erstmal subjektive Wahrnehmung auch wissenschaftliche Belege? Oder waren die Menschen beispielsweise einfach aufmerksamer, als sie zu Hause waren?“, erklärt Dr. Marlee Tucker, Erstautorin der Studie und Ökologin an der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen.
Um diese Frage zu beantworten analysierten Tucker und 174 weitere Forschende, darunter auch Mitglieder der COVID-19 Bio-Logging-Initiative, globale Bewegungsdaten von 43 in ländlichen Gebieten lebenden Säugetierarten. Grundlage hierfür bildeten GPS-Daten von mehr als 2300 Tieren: von Elefanten und Giraffen bis hin zu Bären und Hirschen. Die Forscher*innen verglichen die Bewegungen der Säugetiere während des Zeitraums des ersten Lockdowns, von Januar bis Mitte Mai 2020, mit den Bewegungen in den gleichen Monaten des Vorjahres.
„Unser Daten zeigen, dass die besenderten Tiere während der strengen Lockdowns in einem Zeitraum von zehn Tagen bis zu 73 Prozent längere Strecken zurücklegten als im Jahr zuvor, als es noch keine Beschränkungen gab. Wir konnten zudem feststellen, dass sie sich im Durchschnitt 36 Prozent näher an Straßen aufhielten als im Vorjahr. Das ist sicherlich damit zu erklären, dass es in diesem Zeitraum sehr viel weniger Straßenverkehr gab“, so Tucker.
Eine Reihe von artspezifischen Fallstudien deckt sich mit den Ergebnissen des internationalen Forschungsteams: So gibt es Belege dafür, dass sich Pumas (Puma concolor) während des Lockdowns über Stadtgrenzen bewegten, die Häufigkeit von Stachelschweinen (Hystrix cristata) in städtischen Gebieten zunahm, die Tagesaktivität des invasiven Florida-Waldkaninchen (Sylvilagus floridanus) stieg und Braunbären (Ursus arctos) neue Verbindungskorridore nutzten.
„Während der strengen Lockdowns hielten sich sehr viel weniger Menschen im Freien auf, was den Tieren die Möglichkeit gab, neue Gebiete zu erkunden“, erläutert Prof. Dr. Thomas Müller vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum und der Goethe-Universität Frankfurt, der die Studie zusammen mit Tucker entwickelte. Er fährt fort: „In Gebieten mit weniger strengen Auflagen konnten wir im Gegensatz dazu beobachten, dass Säugetiere kürzere Strecken als im Vorjahr zurücklegten. Dies könnte damit zusammenhängen, dass während dieser Zeiträume die Menschen ermutigt wurden, in die Natur zu gehen. Infolgedessen waren einige Naturgebiete stärker frequentiert als vor der Corona-Pandemie – mit Auswirkungen auf die Säugetierfauna.“
Die „Anthropause“ bot den Forschenden eine einzigartige – und unerwartete – Gelegenheit, die Auswirkungen einer abrupten Veränderung der menschlichen Präsenz auf die Tierwelt zu untersuchen. „Wir zeigen mit unseren Ergebnissen, dass die Mobilität des Menschen eine wichtige Triebkraft für das Verhalten einiger Landsäugetiere ist, und zwar in einem Ausmaß, das möglicherweise mit dem von Landschaftsveränderungen vergleichbar ist. Unsere Forschung belegt zudem, dass Tiere direkt auf Veränderungen im menschlichen Verhalten reagieren können. Das lässt für die Zukunft hoffen – denn im Prinzip bedeutet dies, dass sich eine Anpassung unseres eigenen Verhaltens auch positiv auf die Tierwelt und die von ihr bereitgestellten Ökosystemfunktionen auswirken kann“, fasst Tucker zusammen.
Originalpublikation:
Publikation
Marlee A. Tucker et al., Behavioral responses of terrestrial mammals to COVID-19l lockdowns. Science380, 1059-1064(2023). DOI:10.1126/science.abo6499
https://www.science.org/doi/10.1126/science.abo6499

08.06.2023, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Verlorene Giganten: Neue Studie enthüllt den Rückgang der Häufigkeit afrikanischer Megafauna
Eine neue Studie, die Faysal Bibi (Museum für Naturkunde Berlin) und Juan L. Cantalapiedra (Universität Alcalá, Madrid) in Science veröffentlichten, untersucht die Größe und Häufigkeit heutiger sowie fossiler afrikanischer Großsäuger und beleuchtet die ökologischen Dynamiken dahinter. Die Ergebnisse stellen die bisherige Annahmen über die Ursachen des Aussterbens der Megafauna in Afrika in Frage und liefern neue Erkenntnisse über die Umstrukturierung von Ökosystemen über Millionen von Jahren.
Faysal Bibi (Museum für Naturkunde Berlin) und Juan L. Cantalapiedra (Universität Alcalá, Madrid) verwendeten Messungen tausender fossiler Zähne, um die Größe und Häufigkeit afrikanischer Großsäuger (>15 kg) der letzten 10 Millionen Jahre zu rekonstruieren. Trotz vieler Unsicherheiten, die die Erhaltung im fossilen Datensatz beeinflussen, ergab die Studie eine hohe Ähnlichkeit zwischen der Größe eines Tieres und seiner Häufigkeit in fossilen und rezenten Gemeinschaften. Dies deutet darauf hin, dass grundlegende ökologische Prozesse, die die Struktur lebender Gemeinschaften beeinflussen, auch im fossilen Datensatz erhalten bleiben.
Bei Tieren über 45 kg fanden die Forscher Hinweise auf einen Rückgang der Häufigkeit mit zunehmender Größe, was mit der ökologischen Regel des metabolischen Skalierens“übereinstimmt. Danach haben größere Arten im Vergleich zu kleineren niedrigere Populationsdichten. Eine Abweichung von dem vorhergesagten ökologischen Muster bestand darin, dass Säugetiere zwischen 15 und 45 kg sowohl in lebenden als auch in fossilen Gemeinschaften weit weniger zahlreich waren als erwartet. Dies wurde als ein Merkmal der Savannenhabitate interpretiert, in denen Affen und kleinere antilopenartige Waldbewohner selten vorkommen.
Die große Überraschung kam, als die Forscher untersuchten, wie sich die Verteilung von Größe und Häufigkeit im Laufe der Zeit veränderte. Sie entdeckten, dass frühere Gemeinschaften (älter als 4 Millionen Jahre), eine deutlich höhere Anzahl großer Individuen sowie einen größeren Anteil der Gesamtbiomasse in höheren Größenkategorien hatten als jüngere Gemeinschaften. Die hohe Häufigkeit großer Individuen in diesen fossilen afrikanischen Gemeinschaften ist in heutigen Ökosystemen beispiellos. Seit damalshat es einen allmählichen Verlust großer Individuen im fossilen Datensatz gegeben, der den langfristigen Rückgang der Vielfalt großer Säugetiere im späten Pliozän und Pleistozän widerspiegelt und zu den verarmten und „verkleinerten“ Gemeinschaften geführte, die uns heute bekannt sind.
Die Studie bestätigt aktuelle Arbeiten, die die Vorstellung in Frage stellen, dass der Rückgang der afrikanischen Megafauna hauptsächlich von menschlichen Aktivitäten verursacht wurde. Während sich die Ausbreitung des Menschen während des späten Pleistozäns und Holozäns (den letzten 100.000 Jahren) mit dem massivenAussterben vieler großer Säugetiere deckte, unterstützt die Forschung die Idee, dass der Verlust von Megafauna in Afrika viel früher begann: vor etwa 4 Millionen Jahren und lange bevor Menschen effizientes Jagen erlernten. Die Studie hebt Umweltfaktoren wie den langfristigen Rückgang der globalen Temperaturen und die Ausbreitung tropischer Grasländer als potenzielle Treiber des Megafauna-Aussterbens hervor.
Die Studie ergab auch, dass der Verlust großer Individuen und die Umstrukturierung der Biomasseverteilung in den Gemeinschaften afrikanischer Großsäuger mit einer Abnahme der primären Produktivität verbunden sein könnten. Indem sie dieFormen von Säugetierzähnen (morphologische Merkmale) mit der Pflanzenproduktivität (Nettoprimärproduktivität) von heute in Verbindung brachten, berechneten die Forscher die Produktivität für afrikanische Gemeinschaften in der Vergangenheit. Sie stellten einen Rückgang der Produktivität um etwa zwei Drittel seit dem späten Miozän (>5 Millionen Jahre) fest. Dies istein weltweit beobachtetes Muster, das die Tragfähigkeit von Gemeinschaften großer Säugetiere erheblich verringert haben könnte, was zu einer verringerten Vielfalt und dem beschleunigten Aussterben großer Arten führte.
Die Forschung eröffnet somit neue Möglichkeiten, die Dynamik von Ökosystemen und die komplexen Wechselwirkungen zwischen Individuen, Arten und ihrer Umwelt zu verstehen.
Die Veröffentlichung der Studie ist ein Meilenstein in unserem Verständnis des Aussterbens afrikanischer Megafauna und der Umstrukturierung von Ökosystemen über geologische Zeitskalen. Die Ergebnisse von Bibi und Cantalapiedra haben das Potenzial, auf Naturschutzmaßnahmen zu Einfluss zu nehmen und die Folgen des Verlusts der Artenvielfalt angesichts von Umweltveränderungen vorherzusagen und zu bewältigen.
Über die Studie:
Die Studie mit dem Titel „Plio-Pleistocene African megaherbivore losses associated with community biomass restructuring“ wurde in Science veröffentlicht. Die Forschung wurde von Paläontologen des Museums für Naturkunde (Berlin, Deutschland) und der Universität Alcalá (Madrid, Spanien) durchgeführt. Das Papier präsentiert die Ergebnisse einer eingehenden Analyse von fossilen Zahnmessungen und Massen-Häufigkeitsverteilungen in afrikanischen Gemeinschaften großer Säugetiere und liefert Erkenntnisse über die ökologischen Dynamiken, die dem Rückgang von Megaherbivoren über Millionen von Jahren zugrunde liegen.
Link zur Studie: http://www.science.org/doi/10.1126/science.add8366

09.06.2023, Deutscher Naturschutzring (DNR) e.V.
Gemeinsamer Offener Brief an die MdEP
Gesetz zur Wiederherstellung der Natur auf EU-Ebene muss kommen
Der WWF fordert gemeinsam mit Deutscher Naturschutzring (DNR), Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Deutsche Umwelthilfe (DUH), NABU Deutschland und dem Bundesverband Beruflicher Naturschutz e.V. (BBN) die deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments dazu auf, das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur („Nature Restoration Law“) zu unterstützen. In einem Offenen Brief warnen die unterzeichnenden Organisationen vor einer Blockade des Gesetzesvorhabens durch die Europäische Volkspartei (EVP) und verweisen auf den Biodiversitätsverlust und massive Schäden an Ökosystemen, die Europa jetzt schon verzeichnet.
In dem Brief heißt es: „Angesichts der Doppelkrise von Biodiversitätsverlust und Erderwärmung nicht oder verspätet zu handeln, verursacht […] gigantische Schäden und entsprechende Kosten.“
Um dem entgegentreten zu können und Verantwortung für den Fortbestand der Artenvielfalt in Europa zu übernehmen, bedarf es eines gesetzlichen Rahmens, der die Wiederherstellung der Natur gewährleistet. Das „Nature Restoration Law“ schafft diesen Rahmen auf europäischer Ebene und ist der zentrale Hebel zur Umsetzung des Weltnaturabkommens, das die internationale Staatengemeinschaft vergangenen Dezember in Montreal beschlossen hat. Eine Blockade des Gesetzes, wie sie derzeit von Vertreter:innen der EVP vollzogen wird, ist laut Verbändebündnis nicht hinnehmbar.
Heike Vesper, Geschäftsleiterin des WWF Deutschland, macht hierzu klar: „Die EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur ist der zentrale Baustein für die Umsetzung des Weltnaturabkommens in Europa. Die Gesetzesinitiative würde den Rahmen schaffen, um Europas Biodiversitätsverlust zu stoppen. Sie bei den anstehenden Abstimmungen im Europäischen Parlament zu blockieren, wie es einige Abgeordnete unlängst angekündigt haben, wäre nicht zu verantworten. Unser aller Leben hängt vom Zusammenspiel der Arten ab.“
Florian Schöne, Geschäftsführer des Umweltdachverbands Deutscher Naturschutzring (DNR): „Wir appellieren mit Nachdruck an alle deutschen Mitglieder des Europäischen Parlaments, die EU-Wiederherstellungsverordnung im Umweltausschuss zu unterstützen und sich für ein umweltverträgliches Wirtschaften in Europa einzusetzen. Es wäre unverantwortlich und hätte unabsehbare volkswirtschaftliche Schäden zur Folge, wenn wir die Biodiversitäts- und Klimakrise weiter ignorieren würden. Die Wiederherstellung der Ökosysteme ist kein „nice to have“, sondern eine Notwendigkeit und wertvolle Investition in eine bessere Ernährungssicherheit und gegen klimawandelbedingte Dürren und Überschwemmungen.“
Olaf Bandt, BUND-Vorsitzender: „Auf einem toten Planeten gibt es keine Ernährungssicherheit. Die CDU/CSU muss ihre verantwortungslose Blockadehaltung und Desinformations-kampagne beenden und das EU-Renaturierungsgesetz unterstützen. Ansonsten versündigt sie sich an den zukünftigen Generationen und schadet den Landwirt*innen, die schließlich von gesunden Ökosystemen abhängen.“
Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, betont: „Die EU-Wiederherstellungsverordnung ist aus gutem Grund zentraler Baustein des Green Deal von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das muss sie auch bleiben, denn mit ihr können die Klimakrise und das Artensterben gleichzeitig gestoppt werden. Die Abgeordneten des EU-Parlaments dürfen dem Druck der Agrarlobby, anders als die konservative Europäische Volkspartei, jetzt nicht nachgeben. Wir fordern Sie auf, für ein starkes Gesetz zur Wiederherstellung der Natur zu stimmen.“
NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger: „Während der Verlust von Arten und Ökosystemen unsere Wirtschafts- und Lebensgrundlage heute schon akut bedroht, versuchen einige Abgeordnete der EVP die Wiederherstellung zerstörter Natur mit Falschaussagen in weite Ferne zu rücken. Doch die Zeit zu handeln ist jetzt! Liebe Abgeordneten, stellen Sie sich hinter das Gesetz und führen sie Europa in eine lebenswerte Zukunft!“
Unterzeichnet haben den offenen Brief folgende Verbände und Organisationen: World Wide Fund For Nature Deutschland (WWF), Deutscher Naturschutzring (DNR), Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Bundesverband Beruflicher Naturschutz e.V. (BBN), Deutsche Umwelthilfe (DUH), Naturschutzbund Deutschland (NABU)
Den gemeinsamen Offenen Brief finden Sie hier.

09.06.2023, WWF World Wide Fund For Nature
WWF zum Tag des Luchses: Pinselohren brauchen Sprunghilfe
Zum sechsten internationalen Luchstag: WWF feiert über 150 Luchse in Deutschland
Trotz steigender Bestandszahlen sind Luchse in Deutschland weiterhin von Aussterben bedroht
WWF fordert mehr Wildtierkorridore, Grünbrücken und Maßnahmen gegen Wilderei
Einst waren sie in Deutschland ausgestorben, nun pirschen wieder über 150 Luchse durch die Wälder. „Eine Erfolgsgeschichte für den modernen Naturschutz“, nennt der WWF Deutschland die Rückkehr der Pinselohren. Anlässlich des internationalen Tag des Luchses am Sonntag den 11. Juni fordert die Naturschutzorganisation aber auch mehr Schutz für die Pinselohren. Denn Luchse sind in Deutschland weiterhin stark gefährdet, oft fallen sie Wilderei oder Verkehrsunfällen zum Opfer.
„Wir Menschen haben die Luchse in Deutschland ausgerottet, jetzt ist es unsere Verantwortung, Ihnen Sprunghilfe zu geben“, sagt Moritz Klose Programmleiter Wildtiere beim WWF Deutschland. Dazu gehören für den Wildtierexperten neben Maßnahmen gegen Wilderei mehr Wildtierkorridore oder Grünbrücken, Wiederansiedlungen und Bestandsstützungen um die Lebensräume der Luchse zu vernetzen. Klose sagt: „Die Erfolgsgeschichte Luchs hat eine Einschränkung: Der Luchsbestand hierzulande wächst nur langsam.“ Eine Hauptursache dafür ist die Zerschneidung der Lebensräume durch Siedlungen, Industriegebiete und Straßen und in manchen Regionen auch die illegale Tötung der Tiere. Im Monitoringjahr 2018/2019 sind insgesamt acht von 13 verstorbenen Luchsen im Straßenverkehr ums Leben gekommen, drei Luchse starben natürlichen Ursachen und bei zwei weiteren ist die Todesursache unklar.“

09.06.2023, BUND
BUND-Zierpflanzentest: Giftfalle im Blumentopf
Einige „bienenfreundliche“ Pflanzen sind Sondermüll #BesserOhneGift
Test: 64 Prozent der „bienenfreundlichen“ Pflanzen für Bienen hoch gefährlichen
Zwei von drei Proben enthalten Mittel, die gefährlich für Menschen sind
Illegal: fünf Proben mit Wirkstoffen ohne Zulassung
Im Kasten nichts Neues: Bei sogenannten bienenfreundlichen Zierpflanzen herrscht weiter Giftalarm. Ein neuer Test durch den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschlands (BUND) hat die Ergebnisse der vergangenen drei Jahre bestätigt: Es bleibt bei einer viel zu hohen Pestizidbelastung. Bis auf eine Ausnahme enthalten alle Proben der beliebten Sommerblüher giftige Rückstände.
Vor Beginn der Sommergartensaison hat der BUND 22 Stauden mit dem Etikett „bienenfreundlich“ aus Gartencentern und Baumärkten testen lassen, darunter Lavendel, Goldmarie, Blaukissen, Akelei und Phlox. Das alarmierende Ergebnis: 64 Prozent der Pflanzen enthielten Pestizide, die hoch gefährlich für Bienen sind. Auf 16 Proben (73 Prozent) wurden für den Menschen besonders gefährliche Pestizide gefunden.
Corinna Hölzel, BUND-Pestizidexpertin: „Der Zierpflanzenbau hat katastrophale Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit. Ein Lavendel war mit 22 verschiedenen Pestiziden belastet, von denen acht der menschlichen Gesundheit schaden, zwei bienengiftig sind und zwei nicht einmal zugelassen waren. Ein solches Produkt kann nur als illegaler Sondermüll bezeichnet werden. Seit drei Jahren testet der BUND sogenannte bienenfreundliche Pflanzen und führt Gespräche mit der Branche. Die Situation hat sich bislang nicht verbessert. Appelle und freiwillige Vereinbarungen allein greifen nicht. Eine rechtlich verbindliche Pestizidreduktion auf nationaler und EU-Ebene muss endlich kommen. Ein Verbot von Pestiziden, die besonders gefährlich für Mensch und Umwelt sind, ist überfällig.“
Insgesamt wurden in den getesteten Pflanzen 38 Pestizide gefunden. Fünf von ihnen sind hoch bienengefährlich und 20 hoch gefährlich für die menschliche Gesundheit. Sieben Wirkstoffe haben keine Zulassung für Zierpflanzen in Deutschland. Fünf der 22 Pflanzen hätten gar nicht verkauft werden dürfen.
Großteil der Jungpflanzen aus dem globalen Süden
Hölzel: „Der Großteil der Jungpflanzen stammt aus dem globalen Süden, zum Beispiel aus Ländern Afrikas und Lateinamerikas. Dort sind Arbeitskräfte billig, die Gesetzgebung ist oft schwach und hoch gefährliche Pestizide sind im Dauereinsatz. Besonders die Arbeiter*innen auf den Plantagen sind dieser Gefahr ausgesetzt. Leider haben Käuferinnen und Käufer von Zierpflanzen in Deutschland keine Chance, diese skandalösen Produktionsbedingungen zu erkennen. Denn es gibt weder Kennzeichnungspflichten noch Grenzwerte. Im guten Glauben kaufen Verbraucher*innen oft Blühpflanzen, die vom Handel als ‚bienenfreundlich‘ beworben werden. Wenn diese jedoch Rückstände bienengefährlicher Pestizide enthalten, können Bestäuber diese Gifte über Nektar und Pollen aufnehmen. Die gewünschte Bienenrettung wird zur Giftfalle. Diese Verkaufspraktiken müssen ein Ende finden.“
Der BUND fordert von der Bundesregierung mindestens eine Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2030. Besonders gefährliche Pestizide gehören verboten und dürfen auch nicht in Länder des globalen Südens exportiert werden. Hersteller und Händler von Zierpflanzen müssen verpflichtet werden, ihre Verantwortung wahrzunehmen und hoch gefährliche Wirkstoffe in der Produktionskette ausschließen. Für Verbraucher*innen ist die beste Empfehlung, Bio-Pflanzen zu kaufen oder Zierpflanzen aus regionalen Gärtnereien, die vollständig dort gezogen werden.
Mehr Informationen:
Zierpflanzentest
Petition für einen besseren Schutz von Mensch und Umwelt vor Pestiziden: Die Petition finden Sie hier unter: www.bund.net/besser-ohne-gift

12.06.2023, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Wissenschaftliche Daten zeigen: Mähroboter sind eine große und wachsende Gefahr für Igel
Am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) werden Fälle von Schnittverletzungen an Igeln wissenschaftlich dokumentiert, die von automatisierten Rasenmähern verursacht wurden. Die Daten zeigen ein ernstes Problem für diese besonders geschützte Tierart auf, denn die Zahl der Schnittverletzungen mit gravierenden bis tödlichen Folgen ist hoch und steigt zudem seit Beginn des Frühjahrs erheblich an. Technische Lösungen für Mähroboter, die Kleintiere wie Igel zuverlässig erkennen, sind noch nicht marktreif. Igel-Auffangstationen sind mit der Zahl und Schwere der Verletzungen überfordert, sodass politisches Handeln dringend erforderlich sei, so die Forschenden.
Das Leibniz-IZW sammelt und dokumentiert über eine geschlossene Facebook-Seite seit September 2022 Funde von Igeln mit Schnittverletzungen, die eindeutig auf Mähroboter zurückzuführen sind. Seit Beginn der Datensammlung durch Freiwillige von Igelauffangstationen sind auf der Plattform mehrere Hundert dieser Fälle belegt. „Wir gehen zudem von einer sehr hohen Dunkelziffer aus, da viele Tiere erst gar nicht gefunden bzw. gemeldet werden“, sagt Dr. Anne Berger vom Leibniz-IZW, die die Sammlung der Fälle wissenschaftlich begleitet. „Zudem berichten die Igelstationen, dass seit diesem Frühjahr ein Anstieg der Fälle um 30 bis 50 Prozent zu verzeichnen ist. Dies steht mutmaßlich mit den jährlich um 12 Prozent steigenden Absatzzahlen von Mährobotern in Zusammenhang.“
Wissenschaftliche Untersuchungen wie von Rasmussen et al. 2021 (https://www.mdpi.com/2076-2615/11/5/1191) zeigen, dass entgegen der Angaben vieler Hersteller Mähroboter kleine Tiere wie Igel nicht erkennen können und meist gravierende Verletzungen verursachen. Die Geräte werden nicht selten nachts und unbeaufsichtigt eingesetzt. „Für Igel ist diese Konstellation fatal, denn sie suchen nachts nach Nahrung, flüchten nicht, sondern rollen sich zusammen und warten so Gefahren ab“, erklärt Berger. „Werden Sie von den Robotern überrollt und verletzt, suchen sie – so sie es noch können – lautlos Schutz in Hecken und Büschen, um nicht anderen Raubtieren aufzufallen, für die sie dann leichte Beute wären. Aber auch leichte Schnittverletzungen an Körperstellen, an denen das Tier sich nicht lecken kann, etwa im oberen Kopf- oder Rückenbereich, können später zu schweren Entzündungen oder zur Ablage von Fliegeneiern in den Wunden und somit – wenn unbehandelt – auch zum Tod führen.“ Die Bestände des Igels sind rückläufig, erst im Jahr 2020 wurde der Igel auf die Vorwarnliste der Bundesdeutschen Roten Liste gesetzt. Mähroboter verbreitern das Gefahrenspektrum für diesen Kleinsäuger um ein weiteres Risiko.
An technischen Lösungen für ungefährlichere Mähroboter werde gearbeitet, man sei davon aber noch ein gutes Stück weit entfernt, so Berger. Die Last trügen derzeit die vielen ehrenamtlich arbeitenden Igelstationen, die verletzt aufgefundene Igel versorgen und pflegen. „Die Verletzungen haben in den letzten Monaten ein Ausmaß angenommen, das viele Stationen physisch, psychisch und finanziell überfordert. Nicht wenige stehen kurz vor der Aufgabe, wenn nicht von politischer Seite Unterstützung kommt.“ Diese Unterstützung könne beispielsweise eine staatliche Übernahme der Tierarztkosten sein, oder ein Verbot des Betriebs von Mährobotern während der Nachtstunden in der Bundesartenschutzverordnung. Zudem müsse die Problematik nachhaltig in Politik und Gesellschaft kommuniziert und Aufklärungsarbeit geleistet werden. Zu diesem Zweck hat sich im Mai 2023 die „Igel-Initiative BRD“, ein Zusammenschluss aus Igel-Expert*innen aus Praxis und Forschung gegründet, in der auch das Leibniz-IZW vertreten ist.

15.06.2023, Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT)
Zweifelhafter Genuss: Wie junge Fische Plastik zu sich nehmen
In einer neuen Studie weist die Meeresbiologin Carolin Müller vom Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) die Aufnahme von Mikroplastikteilchen bei jungen Meerbrassen nach. Gleichzeitig untersucht sie, welche Umweltfaktoren darüber entscheiden, ob die Jungstadien der Fische das Plastik zu sich nehmen.
Küstennahe Ökosysteme, wie Lagunen und Flussästuare, sind wichtige Kinderstuben für eine Vielzahl kommerziell bedeutender Fischarten. In den Seegraswiesen der Lagunen finden die Fische Schutz und Futter und damit ideale Bedingungen zum Aufwachsen. Gleichzeitig gelangt aber auch ein Großteil der Kunststoffverschmutzung über die Flüsse und Küsten ins Meer – dabei können Seegraswiesen oder Algenwälder wie Netze wirken, in denen die Plastikteile hängen bleiben.
Die Meeresbiologin Carolin Müller vom ZMT untersuchte gemeinsam mit Kolleg:innen des Centro de Ciências do Mar in Portugal in einer Studie über Meerbrassen, welche Umweltfaktoren darüber entscheiden, ob die Jungstadien der Fische das Plastik zu sich nehmen: „Insbesondere die Larven und jungen Fische, die den Engpass bei der Entwicklung von Fischpopulationen darstellen, sind sehr empfindlich gegenüber Umweltstress. Die jungen Meerbrassen sind außerdem Allesfresser und könnten deshalb besonders anfällig für die Aufnahme von Plastik sein,“ erklärt sie. Man wisse immer noch zu wenig darüber, wie sich Kunststoff auf Fische und ihre sensiblen Jungen auswirke.
Carolin Müller und ihr Team nahmen sich für ihre Studie Geißbrassen vor. Das ist eine von mehreren Meerbrassen-Arten, die in der Ria Formosa, einer Lagune an der Algarve im Süden Portugals, ihre Kinderstube hat. Meerbrassen kommen sowohl in tropischen als auch gemäßigten Gewässern des Atlantischen, Indischen und Pazifischen Ozeans vor. Auch im Mittelmeer sind die beliebten Speisefische weit verbreitet.
Über mehrere Monate nahmen die Forschenden Proben an fünf Standorten, die dem Einfluss des Menschen unterschiedlich stark ausgesetzt waren. Dort fingen sie junge Meerbrassen und untersuchten anschließend Größe, Gewicht und Mageninhalt der Fische, um Aufschluss über ihre Nahrungsvorlieben zu gewinnen. Zudem sammelten sie eine Vielzahl an Daten, unter anderem zu den Beuteorganismen der Brassen sowie zur Verschmutzung mit Mikroplastik im Wasser und am Meeresboden.
Wie sich zeigte, nutzten die jungen Fische ein breites Nahrungsspektrum. So fraßen manche hauptsächlich kleine Krebstiere wie Ruderfußkrebse, andere vor allem Insekten von der Wasseroberfläche. Wieder andere fraßen mit Vorliebe Würmer und weitere Wirbellose vom Meeresboden oder ernährten sich vegetarisch von Algen und Seegras.
Doch auch Plastikpartikel fanden sich in den Mägen der Fische, insbesondere bei solchen, die hauptsächlich pflanzliche Nahrung aufgenommen hatten. „Prinzipiell sind junge Meerbrassen durchaus in der Lage, Fressbares von nicht Fressbarem zu unterscheiden. Sie können mit ihren Zähnen Muscheln knacken und die Schalenbruchstücke ausspucken. Diese besondere Fähigkeit ermöglicht es ihnen auch, größere, härtere Plastikfragmente von natürlicher Beute zu unterscheiden und wieder auszuspucken“, erklärt Carolin Müller. „Die Kunststofffasern in den Mägen mancher Fische waren häufig in Knäueln mit Seegras und anderen pflanzlichen Materialen verwoben. Wir gehen davon aus, dass dieses Plastik unbemerkt mitgefressen wurde.“ Fische, die näher an urbanen Räumen wie Städten oder Strandsiedlungen lebten, hatten auch mehr Plastik aufgenommen, da die Belastung mit Kunststoffen dort höher war.
Fressen Fische größere Mengen an Plastik und wird dadurch die Nahrungsaufnahme beeinträchtigt, kann dies gesundheitliche Schäden bis hin zum Tod nach sich ziehen. Wichtige Einblicke in ihre Ernährungsbiologie sind daher notwendig, um zu verstehen, welche Faktoren bei der Aufnahme eine Rolle spielen, und welche Lebensstadien und Populationen besonders anfällig für Kunststoffverschmutzung sind. Letztendlich kann die Beeinträchtigung der Jungfische durch ein Zusammenspiel von Umweltverschmutzung, Klimawandel und Zerstörung von Habitaten erhebliche Auswirkungen auf die Küstenfischbestände haben und damit die Lebensgrundlage von Millionen von Menschen gefährden.
Carolin Müller plant weitere Studien zu dem Thema: „Wir konzentrieren uns auf kommerziell bedeutende Arten wie Sardellen und Sardinen, die sich in ihrer Ernährungsweise als Filtrierer deutlich von den Meerbrassen unterscheiden. Die wenig wählerische Art ihrer Futteraufnahme macht diese Fische eventuell anfälliger für Kunststoffverschmutzung. Gleichzeitig untersuchen wir auch die Aufnahme von Mikroplastik durch Fischarten, die zwischen Oberflächenwasser und Tiefsee wandern und möglicherweise ein Transportvehikel für Kunststoffteilchen sind.“
Originalpublikation:
Müller, C., Erzini, K., Dudeck, T. et al. Variability of prey preferences and uptake of anthropogenic particles by juvenile white seabream in a coastal lagoon nursery ground. Environ Biol Fish (2023). https://doi.org/10.1007/s10641-023-01423-z

15.06.2023, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Invasive Arten in Europa: Kostensteigerung um über 500 Prozent.
Biologische Invasionen stellen eine große Bedrohung für die Ökosysteme, die biologische Vielfalt und das menschliche Wohlergehen dar und verursachen weltweit enorme wirtschaftliche Kosten. Eine neue Studie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift „Environmental Sciences Europe“, beleuchtet die wirtschaftlichen Auswirkungen, die durch biologische Invasionen in der Europäischen Union entstehen. Die Forschenden – unter ihnen Senckenberg- Wissenschaftler Dr. Phillip Haubrock – zeigen, dass aktuell nur für zwei Prozent der etablierten invasiven Arten Kosten ermittelt wurden und sich die Ausgaben in der Europäischen Union auf eine potenzielle Gesamtsumme von über 26,64 Milliarden Euro belaufen.
Europa ist seit jeher ein Zentrum des Handels, der Migration und des Tourismus. „Dies macht sowohl Kontinentaleuropa als auch die Europäische Union mit ihren derzeit 27 Mitgliedstaaten auch besonders anfällig für biologische Invasionen“, erklärt Dr. Phillip Haubrock vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und fährt fort: „Wir wissen, dass es in der EU tausende gebietsfremde Arten gibt – Spezies, die in der Regel vom Menschen außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebiets eingeführt wurden. Für viele dieser Tiere und Pflanzen gibt es jedoch keinerlei Dokumentation für die wirtschaftlichen Kosten, welche diese bereits verursachen. In Frankreich beispielsweise gibt es 2.621 nachgewiesene invasive Arten, aber nur für 98 Arten wurden die entstehenden Kosten ausgewiesen – das führt zu einer enormen Unterschätzung der tatsächlichen finanziellen Verluste!“
Um diese Lücke zu schließen, hat ein Forschungsteam rund um die Erstautorin der Studie Dr. Morgane Henry von der McGill Universität im kanadischen Montreal die wirtschaftlichen Kosten biologischer Invasionen in der Europäischen Union mit Hilfe von Prognosemodellen quantifiziert. „Unsere Ergebnisse sind alarmierend: Von den rund 13.000 bekannten invasiven Arten in der Europäischen Union wurden nur für 259 – rund 2 Prozent – die verursachten Kosten gemeldet. Das zeigt die erheblichen Wissenslücken bei der Kostenbewertung“, ergänzt Haubrock.
Die Modelle der Forscher*innen ergaben, dass – basierend auf den Daten von 49 Arten – die nicht gemeldeten Schäden potenziell 501 Prozent höher sind als die derzeit erfassten Kosten und sich in der Europäischen Union auf 26,64 Milliarden Euro belaufen. Die höchsten finanziellen Verluste entstehen dabei in Litauen, Malta und der Tschechischen Republik. Haubrock fügt hinzu: „Die Projektionen unserer Studie zeigen zudem einen erheblichen Anstieg der besonders kostspieligen Arten – bis 2040 könnten die Gesamtschäden demzufolge auf eine schwindelerregende Summe von über 142,73 Milliarden Euro ansteigen.“
In ihrer Studie fordern die Forschenden daher koordinierte internationale Maßnahmen zur Verhinderung und Verringerung der Invasions-Folgen in der EU. Die Länder müssten zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass neue schädliche invasive Arten eingeschleppt werden und um die bereits vorhandenen Invasoren zu kontrollieren, so das Forschungsteam. Morgane Henry fasst zusammen: „Unsere Studie zeigt, dass die wirtschaftlichen Kosten biologischer Invasionen in der Europäischen Union schockierend unterschätzt werden. Diese Ausgaben stellen nicht nur eine enorme Belastung für die Wirtschaft Europas dar, sondern gefährden auch das ökologische Gleichgewicht und unser Wohlergehen. Es ist zwingend erforderlich, dass wir unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um die Kostenberichterstattung zu verbessern, die wichtigsten wirtschaftlichen Auswirkungen zu ermitteln und auf globaler Ebene zusammenzuarbeiten, um der Bedrohung durch invasive gebietsfremde Arten zu begegnen. Politik, Wissenschaft und alle anderen Interessengruppen müssen hier an einem Strang ziehen!“
Originalpublikation:
Henry, M., Leung, B., Cuthbert, R.N. et al. Unveiling the hidden economic toll of biological invasions in the European Union. Environ Sci Eur 35, 43 (2023). https://doi.org/10.1186/s12302-023-00750-3

16.06.2023, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Mini-Schnecke im steinernen Sandwich: Erster fossiler Zwerghornschnecken-Nachweis im Süden der USA
Forschende aus den USA und der Schweiz, unter ihnen Senckenbergerin und Erstautorin Dr. Adrienne Jochum, haben die ersten fossilen Carychium-Landschnecken aus Florida beschrieben. Die Gesteinsschicht mit den nur wenige Millimeter großen Schneckenfossilien wurde zufällig bei Bauarbeiten freigelegt und stammt aus der Zeit des Pleistozäns vor 2,58 Millionen bis 11.700 Jahren. In ihrer in der frei zugänglichen Zeitschrift „ZooKeys“ veröffentlichten Studie beschreiben die Wissenschaftler*innen zudem eine bislang noch unbekannte fossile Schneckenart.
Die winzigen, maximal 2,5 Millimeter hohen und 1,5 Millimeter breiten Schnecken der Gattung Carychium sind auf den amerikanischen Kontinenten von Kanada bis Panama in geschützten, feuchten Habitaten verbreitet. „Anders als die rezenten Arten, sind Fossilien der Zwerghornschnecken aber östlich des Mississippis selten. Wir haben in unserer jüngsten Forschungsarbeit nun den ersten fossilen Beleg der Gattung im Südosten der USA sowie den ersten fossilen Nachweis überhaupt für die Art Carychium floridanum erbracht“, erläutert Dr. Adrienne Jochum vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und dem Naturhistorischen Museum in Bern.
Dabei hatten die Forschenden das Glück auf ihrer Seite: Bei Bauarbeiten für ein Gleisbett der Brightline-Eisenbahn, die Port Canaveral mit dem internationalen Flughafen von Orlando verbinden soll, stießen die Bauingenieur*innen zufällig auf eine ein Meter mächtige Schicht versteinerter nicht-mariner Schnecken zwischen zwei marinen Muschelbänken. „Dieses ‚Gesteinssandwich‘ ist während des Pleistozäns entstanden. Dieses Erdzeitalter ist durch wiederholte Vergletscherungen, Klimaveränderungen und Schwankungen des Wasserspiegels gekennzeichnet und hat die Region um das heutige Florida stark beeinflusst und geformt. Die Muschelschicht liegt zwischen Gesteinsschichten aus dem Unterpleistozän vor 2,58 bis 0,77 Millionen Jahren und dem Oberpleistozän vor 140.000 bis 120.000 Jahren und enthält 14 Süßwasser- und 28 Landschneckenarten.“
Darunter befindet sich auch die Schneckenart Carychium floridanum, deren heutiger Vertreter noch in feuchten, waldigen und ungestörten Lebensräumen in Zentral- und Nordflorida lebt. Neu beschrieben haben die Forschenden die weniger als 1,6 Millimeter große Art Carychium nashuaense, die der Wissenschaft bislang unbekannt war.
„Um die fossilen Miniatur-Schnecken aus den Gesteinsschichten zu lösen, haben wir sie durch eine abgestufte Reihe von Sieben gewaschen. Im Anschluss wurden 32 Carychium-Schalen unter dem Mikroskop aus einer Mischung von anderen Mollusken und Gesteinsresten herausgefiltert. Ein hochauflösender Röntgentomograph half uns, die Struktur in den fragilen fossilen Schalen zu untersuchen und sie mit 3D-Rekonstruktionen der inneren Schale noch lebender Dornschneckenarten aus den südöstlichen USA, Mexiko, Mittelamerika und Jamaika zu vergleichen“, erklärt Jochum die Methodik.
Während sich die Ausprägung der inneren Schalenstruktur von Carychium floridanum seit dem Pleistozän bis heute kaum verändert hat, deutet der Schalenaufbau von Carychium nashuaense auf eine Verwandtschaft mit mittelamerikanischen Landschnecken hin. „Wir vermuten, dass die Ausbreitung der Schnecken über Vögel, Säugetiere und Reptilien erfolgte. Die kleinen Schnecken reisten im Darm, im Fell oder im Gefieder zu den Feuchtgebieten, aus denen die angeschwemmten Sedimente der von uns untersuchten Gesteinsschicht stammen. Die anschließende Vermischung mit Artgenossen führte zur Entstehung von neuen Spezies“, schließt Jochum.
Originalpublikation:
Jochum A, Bochud E, Haberthür D, Lee HG, Hlushchuk R, Portell RW (2023) Fossil Carychiidae (Eupulmonata, Ellobioidea) from the Lower Pleistocene Nashua Formation of Florida, with the description of a new species. ZooKeys 1167: 89-107.
https://doi.org/10.3897/zookeys.1167.102840

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