Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

10.01.2023, Deutsche Wildtier Stiftung
Feuchtwarme Winter, trockene Sommer – was bedeutet der Klimawandel für Wildtiere?
Früher malte der Winter Eisblumen an die Fenster und überzog zumindest die Berge mit einer geschlossenen Schneedecke. Viele Wildtiere, etwa Igel und Haselmaus, fielen verlässlich in den Winterschlaf, andere, wie Singschwan oder Schneehuhn, ließen sich zum Schutz vor Eiseskälte einschneien. Aber während noch in der Wintersaison 2015/16 auf der Zugspitze insgesamt 1025 Zentimeter Schnee fielen, waren es im Jahr 2022 bis heute gerade einmal 87 Zentimeter. Und auch die Temperaturen änderten sich: Der Winter 2021/ 22 war zu mild und das bereits im elften Jahr in Folge. Die Durchschnittstemperatur lag um 3,1 Grad Celsius über dem Normalwert der Zeit 1961 bis 1990.
Das hat auch Auswirkungen auf die Tierwelt. Was machen die Wildtiere, die anderes Wetter gewohnt sind, in Zeiten eines sich wandelnden Klimas? „Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagt Professor Dr. Klaus Hackländer, Wildtierbiologe und Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung. „Entweder erlernen Tiere aufgrund von Erfahrungen neues Verhalten – oder die genetischen Informationen ganzer Populationen werden verändert.“ Letzteres ist ein langsamer Prozess, bei dem sich Gene, die an die neuen Umweltbedingungen besser angepasst sind, von Generation zu Generation immer mehr durchsetzen. Wenn Populationen von Wildtieren allerdings sehr klein sind und es wenige Nachkommen gibt, ist diese Art der Anpassung eventuell nicht schnell genug möglich.
Von Alpenschneehase bis Wildschwein: Gewinner und Verlierer des Klimawandels.
Alpenschneehase: Als echtes Eiszeitrelikt ist er in Gefahr. Denn sein Fell wird im Winter weiß. Bleiben die Alpen aber im Winter braun, verliert der Schneehase seine Tarnung und wird leichte Beute für Fuchs, Habicht oder andere Beutegreifer. An die veränderten Bedingungen kann er sich nur mithilfe einer Genmutation anpassen, die eine Änderung der Fellfarbe von weiß auf etwa braun bewirkt. „Das braucht Zeit. Und ob es klappt, hängt auch von der Anzahl der Nachkommen ab, die eine solche Mutation weitergeben“, sagt Professor Hackländer.
Schneehuhn: Kältespezialist seit Jahrhunderten. Das Schneehuhn ist ein typischer Vogel der Hochgebirgslagen. Bei ihm wird wie beim Alpenschneehase die Tarnung zum Problem: Im Sommer trägt es ein braunes Federkleid, im Winter ein schneeweißes. Füchse und andere Fressfeinde entdecken es so auf den braunen Offenflächen ohne Probleme. „Ob sich diese Hühnerart jemals an den Klimawandel anpassen kann, bleibt abzuwarten, denn die Populationsdichte und die Anzahl an Nachkommen sind gering“, so Hackländer.
Gams: Früher schneeverliebt, heute Schattensucherin. Um dem Hitzestress im Frühjahr und Sommer zu entkommen, ziehen viele Tiere aus den Berghöhen in tiefere Lagen, wo ihnen Wälder Schatten bieten. Hier finden sie auch mehr Futter. Denn im Hochgebirge verlagert sich das Wachstum von Gräsern und Kräutern durch den Klimawandel immer weiter in die Frühjahrsmonate; werden dann im Juni die Kitze geboren, finden die Mütter statt energiereicher Nahrung oft nur noch Vertrocknetes.
Feldhase: Meister Lampe lebt ganzjährig oberirdisch und ist daher den Umweltbedingungen schonungslos ausgesetzt. Insbesondere nasskalte Frühjahrsmonate setzen den jungen Hasen zu. Ab Januar liegen die frisch geborenen Hasenjungen in ihren Erdmulden auf den Feldern. Regnet es nun ohne Unterlass oder bringen die Wolken zu nassen Schnee mit sich, der weder schützt noch isoliert, wird der Hasenbalg dauerhaft durchnässt und die kleinen Hasen unterkühlen. Die Sterblichkeit steigt. Auf der anderen Seite profitiert der Hase, der ursprünglich ein Steppentier ist, von den eher trockenen Sommern.
Kohlmeise: Ist bereits früh in Balzlaune. Die milden Temperaturen animieren sie zu einem verfrühten Brutgeschäft, so kann sie ihre Fortpflanzungschancen verbessern. „Das ist für Kohlmeisen ein Vorteil, aber für Zugvögel wie den Halsbandschnäpper ein Problem. Denn wenn er aus dem Winterquartier zurückkehrt, sind viele Nistplätze bereits besetzt“, sagt Hackländer.
Wildschwein: Ein Meister aller Lebenslagen. Die ohnehin anpassungsfähigen Schweine finden in milden Wintern ausreichend Futter. Sogenannte Mastjahre liefern große Menge fett- und proteinreiche Samen, die in den Wäldern bis ins Frühjahr hinein genießbar sind. Ein solches gab es im vergangenen Jahr bei Eichen und Buchen. So konnten sich die Wildschweine im Herbst ordentlich satt futtern – was entscheidend für die Fortpflanzung ist. Denn der Eintritt der Geschlechtsreife der weiblichen Tiere ist eher abhängig vom Gewicht und weniger vom Alter. Wildschweine gehören also zu den Gewinnern des Klimawandels.
Waldrapp: Vom Aussterben bedroht. In einem groß angelegten internationalen Projekt versuchen Artenschützer, den Ibisvogel zu retten. So wurden mehrere Brutkolonien nördlich der Alpen angesiedelt. Die Jungtiere lernen die Route in ihr Winterquartier in der Toskana durch Nachahmung. Leichtflugzeuge wiesen den ersten Generationen den Weg, inzwischen machen die Kolonien sich selbstständig auf die Reise gen Süden. Aber der Beginn der Herbstmigration verschiebt sich aufgrund der warmen Temperaturen von Jahr zu Jahr weiter nach hinten. 2022 starteten die Waldrappe erst Ende Oktober. Ein plötzlicher Kälteeinbruch in den Alpen führte dazu, dass die Tiere die Berge nicht überfliegen konnten. Artenschützer mussten sie dieses Stück des Weges in Autos transportieren, damit sie ihr Winterquartier erreichten. Die jüngsten Waldrappe konnten diesen Teil der Route also nicht erlernen. Die steigenden Temperaturen sind eine große Herausforderung bei den Bemühungen, diese bedrohte Art dauerhaft zu schützen.

11.01.2023, Universitätsklinikum Ulm
Europäischer Fuchsbandwurm auf dem Vormarsch | Studie weist auf Verbreitung in den USA hin
Die Alveoläre Echinokokkose (AE) ist eine schwere Parasiten-Erkrankung, die durch den Fuchsbandwurm ausgelöst wird und unbehandelt tödlich verläuft. Der Fuchsbandwurm ist in der nördlichen Hemisphäre verbreitet, in verschiedenen Regionen konnten jedoch unterschiedlich ausgeprägte Typen identifiziert werden. In einer aktuellen Studie hat ein internationales Forscherteam unter Beteiligung von Prof. Dr. Thomas F.E. Barth, Oberarzt am Institut für Pathologie der Uniklinik Ulm, nun gezeigt, dass der Europäische Typ des Fuchsbandwurms in den USA vorkommt und sich dort möglicherweise schleichend ausbreitet. Die Studie wurde kürzlich im renommierten New England Journal of Medicine veröffentlicht.
Der Lebenszyklus des Fuchsbandwurms ist überwiegend auf den Fuchs als Hauptwirt und auf die Feldmaus als Zwischenwirt beschränkt. In einigen der besonders betroffenen Regionen, wie auf der Schwäbischen Alb und im Allgäu, sind mehr als 50 Prozent der Füchse befallen. Der Mensch kann sich zufällig mit dem Fuchsbandwurm infizieren, indem er die Eier des Parasiten beispielsweise durch Kontakt mit infizierten Wildtieren aufnimmt. Die daraus resultierende, überwiegend in der Leber lokalisierte, Alveoläre Echinokokkose verläuft – wenn unbehandelt – tödlich und tritt im Süden Deutschlands endemisch auf, das heißt, die Erkrankung ist vor allem auf diesen Bereich begrenzt.
Der Weg der interkontinentalen Ausbreitung des Europäischen Typen des Fuchsbandwurms in die USA ist unklar. Mit Hilfe von detaillierten histologischen und vergleichenden genomischen Untersuchungen zweier US-amerikanischer Patienten mit AE konnten die an der Studie beteiligten Ex-pert*innen nun jedoch zeigen, dass der Parasit nahezu identisch mit einem Europäischen Typen des Fuchsbandwurms war. Aus den Ergebnissen der Untersuchungen konnten die Forscher*innen schließen, dass der Europäische Typ in den USA vorkommt und sich dort möglicherweise schleichend ausbreitet. Auch scheint diese Variante virulenter zu sein als die in den USA vorherrschende Nordamerikanische Variante des Fuchsbandwurms. Die Daten weisen darauf hin, dass die Europäische Form des Fuchsbandwurms den Nordamerikanischen Typen verdrängen könnte und folglich mehr Menschen an AE vom Europäischen Typ in den USA erkranken könnten.
„Aufgrund des endemischen Charakters in unserer Region forschen wir an der Universitätsmedizin Ulm gemeinsam mit den Fachrichtungen Innere Medizin I, Innere Medizin III und Allgemein- und Viszeralchirurgie seit vielen Jahren an der Diagnostik und der Behandlung der Alveolären Echinokokkose“, erklärt Prof. Dr. Thomas F.E. Barth. „Die Entstehung der virulenteren Variante in den USA er-fordert nun ein wachsendes diagnostisches Bewusstsein der dortigen Ärztinnen und Ärzte, vor allem, wenn es um die Behandlung von Menschen mit für die AE typischen tumorartigen Wucherungen geht, die sich nicht im Ausland aufgehalten haben.“
Originalpublikation:
N Engl J Med 2022; 387:1902-1904 DOI: 10.1056/NEJMc2210000

11.01.2023, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Rätsel um wiederentdeckten Tiefseesaibling im Bodensee gelöst
Heutige Tiefseesaiblinge (Salvelinus profundus) aus dem Bodensee sind sowohl genetisch als auch in ihrer Gestalt mit historischen Exemplaren nahezu identisch. Zugleich unterscheidet sich der Normalsaibling (Salvelinus cf. umbla) deutlich von früher im See vorkommenden Individuen. Dies zeigt eine neue Studie von Forschern der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM), der Fischereiforschungsstelle Langenargen und der Universität Bergen (Norwegen). Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler nun in der Fachzeitschrift Ecological Applications.
Ein unglaublicher Fischfang im Bodensee gab Expert:innen seit 2014 eine ganze Fülle von Rätseln auf. Wissenschaftler:innen der Fischereiforschungsstelle Langenargen (FFS/LAZBW) sowie des Wasserforschungsinstituts der Schweiz (EAWAG) entdeckten damals einige Exemplare des Tiefseesaiblings in ihren Netzen – nachdem dieser über 40 Jahre lang verschollen war. Hatte man den bis zu 25 cm langen Tiefseesaibling in einem der bestuntersuchten Gewässer der Welt einfach 40 Jahre übersehen? Oder sind die wiederentdeckten Tiefseesaiblinge Abkömmlinge der normalen, nie ausgestorbenen Saiblinge, die sich im immer nährstoffärmeren Bodensee wieder an das Leben in der Tiefe anpassen konnten?
Um dem rätselhaften Wiederscheinen des Tiefseesaiblings auf den Grund zu gehen, befischte die Fischereiforschungsstelle über mehrere Jahre hinweg die großen Tiefen des Bodensees – und fing dabei neben dem bis zu 40 cm großen Normalsaibling (Salvelinus cf. umbla) auch immer wieder Exemplare des deutlich kleineren Tiefseesaiblings (Salvelinus profundus).
Genetische Untersuchungen ergaben nun, dass die DNA der heutigen Tiefseesaiblinge nahezu identisch ist mit der DNA der früheren, vor über 40 Jahren im Bodensee lebenden Tiefenformen. Einer Forschergruppe um Jan Baer (FFS/LAZBW) und Ulrich Schliewen (SNSB-Zoologische Staatssammlung München) gelang es, für ihre Studie aus historischen Sammlungen brauchbare DNA-Fragmente zu gewinnen. Überrascht hat die Wissenschaftler auch, dass sich die DNA des nie verschollenen Normalsaiblings deutlich von der DNA früher im See vorkommender Individuen unterscheidet. Die Arbeit liefert außerdem klare Belege dafür, dass Normal- und Tiefseesaiblinge nach wie vor völlig unterschiedliche Laichgebiete und Laichzeiten besitzen. Hypothesen zur Vermischung beider Formen oder rapide evolutionäre Anpassungsstrategien – wie sie von Teilen der Fachwelt kurz nach der Wiederentdeckung des Tiefseesaiblings angestellt wurden – haben sich daher nicht bestätigt. Die Ergebnisse des Vergleichs von historischen mit den heutigen Saiblingsformen des Bodensees wurden nun in der renommierten Fachzeitschrift Ecological Applications veröffentlicht.
„Offenbar haben Hilferufe der Berufsfischer in den 1950er Jahren Wirkung gezeigt: Schon früh ergriffene Maßnahmen gegen Überdüngung haben offenbar die Erhaltung des Lebensraums des Tiefseesaiblings bewirkt. Die heutigen Tiefseesaiblinge stammen direkt von ursprünglichen Exemplaren ab. Es muss also einigen Tieren gelungen sein, in der Tiefe des Sees unentdeckt zu überleben“, so Dr. Jan Baer von der Fischereiforschungsstelle Langenargen.
„Unsere Daten zeigen aber gleichzeitig auch, was Besatzmaßnahmen im Bodensee mit Saiblingen aus aller Welt bis in die 1990er Jahre bewirkt haben: Die ursprüngliche Normalform des Saiblings aus dem Bodensee wurde fast vollständig verdrängt und größtenteils durch einen Mix aus Zuchtfischen ersetzt“, sagt Dr. Ulrich Schliewen Fischexperte der Zoologischen Staatssammlung München.
Da Bodensee-Anrainer inzwischen seit Jahren keine fremden Saiblinge mehr in den Bodensee einbringen, hoffen die Projektverantwortlichen, dass sich die letzten Nachkommen der ursprünglichen Normalsaiblinge im Lauf der Zeit wieder durchsetzen werden.
Originalpublikation:
Baer, Jan, Schliewen, Ulrich K., Schedel, Frederic D. B., Straube, Nicolas, Roch, Samuel, and Brinker, Alexander. 2022. “Cryptic Persistence and Loss of Local Endemism in Lake Constance Charr Subject to Anthropogenic Disturbance.” Ecological Applications e2773. https://doi.org/10.1002/eap.2773

11.01.2023, NABU
NABU: Wintervögel machen sich rar
Bei der 13. „Stunde der Wintervögel“ gab es insgesamt weniger zu zählen
Mehr Zaunkönige gesichtet
Kein Schnee und Frost, dafür graues Regenwetter über fast ganz Deutschland: Die 13. „Stunde der Wintervögel“ hätte auch „Stunde der Regenvögel“ heißen können, so wenig winterlich und dafür umso nasser war das Wetter bei der traditionellen Mitmachaktion von NABU und seinem bayerischen Partner, dem LBV (Landesbund für Vogel- und Naturschutz). „Das wenig zu Vogelbeobachtungen einladende nasskühle Wetter hat sich auch auf die Teilnehmendenzahlen ausgewirkt“, zieht NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller eine Zwischenbilanz der Zählung. „Bisher haben mehr als 77.000 Menschen knapp 1,9 Millionen Vögel bei uns gemeldet. Da hoffen wir noch auf viele Nachmeldungen, die bis kommenden Montag gemacht werden können. Unsere Ornithologen werten im Anschluss die Ergebnisse detailliert aus.“
Auch die Sichtungen fielen bisher etwas magerer aus als in den Jahren davor. So wurden mit im Durchschnitt 33,9 Vögel pro Garten weniger gemeldet als 2022. Damals waren es 35,5 Vögel. „Wie wir bereits vermutet hatten, haben sich typische Wintergäste aus Nord- und Osteuropa, wie der Bergfink, weniger häufig am Futterhaus gezeigt als letztes Jahr. Vermutlich sind sie aufgrund des milden Winters in ihren Brutgebieten geblieben“, so Miller. „Typische Waldvogelarten wie Buchfink, Eichelhäher, Buntspecht, Kernbeißer wurden ebenfalls weniger häufig gezählt. Der Grund könnte, wie prognostiziert, das Mastjahr sein. Es gibt besonders viele Baumfrüchte im Wald und die Vögel haben dort so viel Nahrung, dass sie weniger in unsere Siedlungen kommen.“
Sehr viel häufiger als 2022 wurde die Türkentaube gemeldet: Ein Plus von 27 Prozent. Sie zeigt insgesamt eine ansteigende Tendenz in letzten Jahren. „Als Profiteur steigender Temperaturen brütet die Art wahrscheinlich immer erfolgreicher in den warmen Sommern“, vermutet Miller. Auch der Zaunkönig wurde mit einem Plus von 38 Prozent deutlich häufiger gezählt. Miller: „Besonders viele Sichtungen kamen aus Schleswig-Holstein, der kleine Vogel fühlte sich auch schon in den vergangenen Jahren in frostarmen, küstennahen Regionen besonders wohl.“
Auf den ersten drei Plätzen liegen wie im vergangenen Jahr Haussperling, Kohlmeise und Blaumeise. Die „Stunde der Wintervögel“ fand bereits zum 13. Mal statt. Beobachtungen können noch bis 16. Januar gemeldet werden: per App unter www.NABU.de/vogelwelt oder unter www.NABU.de/onlinemeldung.
Die nächste Vogelzählung findet vom 12. bis 14. Mai mit der „Stunde der Gartenvögel“ statt.

12.01.2023, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Molekulare Archäologie: 1200 Jahre alte DNA-Sequenzen aus Madagaskar führen zu Entdeckung ausgerotteter Landschildkröte
Einem internationalen Forschungsteam unter Leitung des Senckenbergers Uwe Fritz ist es gelungen, das Erbgut von bis zu 1200 Jahre alten Schildkrötenfunden aus dem westlichen Indischen Ozean zu sequenzieren. Dabei wurde eine im Mittelalter ausgerottete Landschildkrötenart aus Madagaskar entdeckt, die eine Panzerlänge von einem halben Meter erreichte. Acht Riesenschildkrötenarten lebten auf Madagaskar und benachbarten Inseln, die bis auf eine Art auf Aldabra ausgerottet wurden, heißt es in der jetzt im renommierten Fachjournal „Science Advances“ publizierten Studie
Das Sequenzieren von DNA aus historischen Bodenfunden in den Tropen ist eine Herausforderung, die weltweit nur wenige Labore meistern können. Die meisten DNA-Spuren, die sich in solchen Proben finden, sind Verunreinigungen durch Pilze und Bakterien oder stammen von den Menschen, die das Material ausgegraben haben. Das originale Erbgut ist dagegen nur noch selten vorhanden und dann in verschwindend geringer Konzentration und in kleinste Fragmente zerbrochen. Nur durch aufwändige Verfahren, die mit Reinraumlaboren und „DNA-Ködern“ arbeiten, lässt sich in manchen Fällen die originale DNA finden und sequenzieren. Dem Team von Professor Uwe Fritz von den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden ist es nun gelungen, aus Knochenfunden und Museumsexemplaren DNA von Riesenschildkröten zu sequenzieren, die aus Madagaskar und von benachbarten Inseln stammen. So konnten die Evolution und Ausrottung dieser Tiere rekonstruiert werden.
Dabei zeigte sich, dass auf Madagaskar, Aldabra und den Seychellen drei nahe verwandte Riesenschildkrötenarten vorkamen, von denen zwei im Mittelalter, wenige Jahrhunderte nach der Besiedlung Madagaskars, ausgerottet wurden. Diese Arten sind nicht verwandt mit fünf weiteren Spezies, die auf Mauritius, Réunion und Rodrigues lebten – den östlichen Nachbarinseln Madagaskars, die durch den flugunfähigen Dodo eine gewisse Berühmtheit erlangt haben. Wie auf Madagaskar verschwanden die Riesenschildkröten auch hier nach der Ankunft der ersten Menschen, in diesem Fall allerdings erst vor etwa 200 Jahren.
„Unsere Studie gehört zu einem neuen Forschungsschwerpunkt von Senckenberg, der sich mit dem Einfluss des Menschen auf die Artenvielfalt beschäftigt. Wir denken häufig, dass der Mensch erst in jüngerer Zeit Arten ausgerottet hat. Tatsächlich ist es aber so, dass Menschen schon früh lokale Nahrungsressourcen ausgebeutet und ihre Umwelt verändert haben“, erläutert Professor Uwe Fritz und fährt fort: „Dadurch verschwanden weltweit viele große Tierarten, wie etwa die meisten Riesenschildkrötenarten im westlichen Indischen Ozean. Dies führte zu massiven Störungen des natürlichen Gleichgewichts, denn die ursprünglich häufigen und bis zu 200 kg schweren Riesenschildkröten vertraten auf den Inseln die großen Huftiere des Festlands. Beispielsweise sind manche Baumarten auf diesen Inseln heute vom Aussterben bedroht, weil die Riesenschildkröten verschwunden sind. Die Baumsamen wurden früher nämlich erst keimfähig, wenn ihre harte Schale von den Schildkröten nach dem Fressen teilweise verdaut worden war. Seit die Schildkröten verschwunden sind, können keine Jungpflanzen mehr keimen. Das zeigt, dass der Verlust einer Art einen fatalen Dominoeffekt im Ökosystem auslösen kann.“
Eine große Überraschung erlebte das Forschungsteam außerdem mit dem Knochenmaterial aus Madagaskar. Dr. Christian Kehlmaier, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Molekulargenetischen Labor der Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden und Erstautor der Studie, berichtet: „Wir verwendeten für unsere Arbeit oft kleine, für die Wissenschaft vermeintlich wertlose Knochenstücke. Aus einem solchen Fragment konnten wir Erbgut isolieren, das beweist, dass es auf Madagaskar eine weitere ausgerottete Landschildkrötenart gab, die eine Panzerlänge von etwa einem halben Meter erreichte. Eine Radiokarbondatierung des Knochens zeigte, dass diese Art noch im Mittelalter auf Madagaskar lebte und genau wie die Riesenschildkröten nach der Ankunft des Menschen verschwunden sein muss. Ähnliche Entdeckungen sind bestimmt noch bei weiteren Tiergruppen zu erwarten.“
Originalpublikation:
Kehlmaier, C., Graciá, E., Ali, J.R., Campbell, P.D., Chapman, S.D., Deepak, V., Ihlow, F., Jalil, N.-E., Pierre-Huyet, L., Samonds, K.E., Vences, M., Fritz, U. (2023). Ancient DNA elucidates the lost world of western Indian Ocean giant tortoises and reveals a new species from Madagascar. Science Advances 9, eabq2574. https://doi.org/10.1126/sciadv.abq2574

13.01.2023, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Retroviren in Madagaskar-Mausmakis sind vielfältig und überraschend ähnlich zu denen in Eisbären oder Hausschafen
Madagaskar beherbergt eine einzigartige Artenvielfalt mit einer großen Anzahl nur dort vorkommender (endemischer) Arten, darunter zahlreiche Lemurenarten wie Mausmakis. Diese Vielfalt ist besonders beeindruckend bei ihren Retroviren, berichtet ein Wissenschaftsteam unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und der University of Stirling in der Zeitschrift „Virus Evolution“. Sie analysierten die Genome mehrerer Mausmaki-Spezies und identifizierten Viren zweier Klassen, die alte Infektionen der Keimbahn der Mausmakis darstellen. Die Viren verhalten sich nun ähnlich wie Lemurengene und werden daher endogene Retroviren (ERV) genannt.
Überraschend war, dass einige der identifizierten Retroviren eng mit Viren verwandt sind, die in ganz anderen Säugetieren wie Eisbären oder Hausschafen vorkommen. Dies deutet auf ein sehr viel komplexeres Muster des Wirtswechsels von Retroviren hin.
Für ihre Analyse sammelte das Team Blutproben von vier Arten der auf Madagaskar heimischen Mausmakis und untersuchte sie mithilfe von Hochdurchsatz-Sequenzierungsverfahren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler identifizierten zwei Gamma- und drei Betaretrovirus-Sequenzen im Genom der Makis, die auf sehr alte Infektionen in der Keimbahn der Mausmakis zurückgehen. Die Keimbahn ist die Abfolge von Zellen, die bei der befruchteten Eizelle eines Lebewesens beginnt und im Laufe der Individualentwicklung zur Bildung eigener Keimzellen (Eizellen und Spermien) führt. Die Virus-DNA wurde in das Wirtsgenom der Mausmakis eingebaut, die Viren sind jedoch nicht mehr aktiv oder infektiös. „Wir waren überrascht, dass eine der beiden identifizierten Arten von Gammaretroviren mit einem ERV verwandt ist, welches bei Eisbären beschrieben wurde“, erklärt Dr. Sharon Kessler, eine vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderte Wissenschaftlerin und Assistant Professor an der Universität von Stirling (Schottland). Das Eisbärenvirus ist aus evolutionärer Sicht jung, während das Lemurenvirus sehr alt ist. „Wie diese verwandten Viren zeitlich und räumlich so weit voneinander getrennte Arten infizieren konnten, ist unklar“, sagt Kessler.
Weitere Überraschungen gab es bei den Betaretroviren. Das Jaagsiekte-Schaf-Retrovirus (JSRV) ist ein virulentes Retrovirus, das Hausschafe infiziert und dort endogene Retroviren bildet. Bislang galt, dass dieses Virus auf Hausschafe, -ziegen und deren Verwandte beschränkt ist – das erste geklonte Schaf „Dolly“ musste nach einer JSRV-Infektion und der darauf folgenden Erkrankung eingeschläfert werden. Die Mausmakis hatten jedoch ein eng verwandtes JSRV-ähnliches Virus in ihrem Genom. „Dies deutet darauf hin, dass JSRV-ähnliche Viren unter Säugetieren weiter verbreitet und wesentlich älter sind als bisher angenommen. Warum sie bei so unterschiedlichen Arten punktuell auftauchen, ist sehr interessant und merkwürdig“, sagt Prof. Alex Greenwood, Leiter der Leibniz-IZW-Abteilung für Wildtierkrankheiten, in der die Probenuntersuchungen durchgeführt wurde. In ähnlicher Weise identifizierte das Team in den Mausmakis ein Virus, das mit Retroviren verwandt ist, die bei Totenkopfaffen, Vampirfledermäusen und Beuteltieren vorkommen. „Diese Gruppe von Viren wird mit der Zeit immer interessanter, da immer mehr Beispiele ähnlicher Viren an vielen Orten gefunden werden, darunter auch sehr junge Viren, die möglicherweise noch infektiöse exogene Gegenstücke in der Natur haben“, sagt Greenwood.
Ein großer Teil der beobachteten Vielfalt der Retroviren in Mausmakis geht offenkundig auf Viren zurück, die nicht von Primaten stammen, was auf ein komplexes Muster viraler Wirtswechsel zu der Zeit hindeutet, als die Vorfahren der Mausmakis in Madagaskar entstanden. Weitere Untersuchungen zur viralen Vielfalt werden dazu beitragen, die offensichtlich komplexe Historie der retroviralen Übertragung unter Säugetieren zu klären.
Dr. Kessler und Prof. Greenwood arbeiteten bei dieser wissenschaftlichen Untersuchung mit Prof. Solofonirina Rasoloharijaona von der Universität Mahajanga (Madagaskar), Prof. Ute Radespiel von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (Deutschland) und Dr. Kyriakos Tsangaras von der Universität von Nikosia (Zypern) zusammen. Die Arbeit wurde finanziell unterstützt von der American Association of Physical Anthropologists.
Retroviren sind Viren, die sich vermehren, indem sie ihr genetisches Material in das Genom einer Wirtszelle einbauen. Handelt es sich bei der infizierten Zelle um eine Keimzelle, kann das Retrovirus anschließend als „endogenes“ Retrovirus an die Nachkommen weitergegeben werden und sich als Teil des Wirtsgenoms in einer Population verbreiten. Wiederholte Infektionen führten dazu, dass endogene Retroviren in den Genomen von Säugetieren allgegenwärtig sind und mitunter erhebliche Teile des Wirts-Erbguts ausmachen. Jedoch sind die meisten Retrovirus-Integrationen sehr alt und bereits abgebaut und daher inaktiv – ihre anfänglichen Auswirkungen auf die Gesundheit des Wirts sind durch Millionen von Jahren der Evolution nivelliert.
Originalpublikation:
Kessler S, Tsangaras K, Rasoloharijaona S, Radespiel U, Greenwood AD (2022): Long-term host-pathogen evolution of endogenous beta- and gammaretroviruses in mouse lemurs with little evidence of recent retroviral introgression. Virus Evolution, veac117. DOI: doi.org/10.1093/ve/veac117

12.01.2023, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Außergewöhnliche Flugkünstler. Kolibris beherrschen ihren Schwebeflug vermutlich aufgrund eines fehlenden Gens
Sie zählen zu den kleinsten, aber auch wendigsten Vogelarten der Welt: die auf den beiden amerikanischen Kontinenten beheimateten Kolibris. Häufig kaum größer als ein Daumen, können sie als einzige Vogelart nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts und seitlich fliegen. Möglich macht dies ihr charakteristischer Schwebeflug, der jedoch extrem energieaufwändig ist. Ein internationales Team von Wissenschaftler*innen unter der Leitung von Prof. Michael Hiller vom hessischen LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) untersuchte nun in einer im Fachjournal „Science“ veröffentlichten genomischen Studie, welche evolutionären Anpassungen des Stoffwechsels die besonderen Flugkünste der Kolibris ermöglicht haben könnten.
Während ihres Schwebeflugs, für den Kolibris so bekannt sind, schlagen ihre Flügel in einer Sekunde bis zu achtzig Mal. Keine Fortbewegungsart im Tierreich verbraucht mehr Energie – entsprechend läuft ihr Stoffwechsel auf Hochtouren und ist aktiver als bei jedem anderen Wirbeltier. Ihren hohen Energiebedarf decken Kolibris mit dem Zucker aus Blütennektar. Diesen nehmen sie besonders schnell auf, sie besitzen hochaktive Enzyme und können Fruktose ebenso effizient verstoffwechseln wie Glukose – anders als zum Beispiel Menschen.
Dem Zusammenhang, wie dies den Zellen der Flugmuskulatur zugutekommt, die den Schwebeflug der Kolibris ermöglichen, sind nun Forscher*innen unter anderem aus Frankfurt und Dresden auf die Spur gekommen. Für ihre Studie sequenzierten sie das Genom des Langschwanz-Schattenkolibris (Phaethornis superciliosus) und verglichen dieses sowie die Genome weiterer Kolibriarten mit dem Erbgut von 45 anderen Vogelarten, darunter Hühner, Tauben und Adler. Dabei entdeckten sie, dass das Gen für das Muskelenzym Fructose-Bisphosphatase 2 – kurz: FBP2 – in allen untersuchten Kolibris fehlte. Interessanterweise zeigten weitergehende Untersuchungen, dass es bereits im gemeinsamen Vorfahren aller Kolibris verlorenging, und zwar während eines Zeitraums, in dem sich der typische Schwebeflug entwickelte und die vorrangige Ernährung von Blütennektar begann – vor rund 48 bis 30 Millionen Jahren.
„Wir konnten mit Hilfe von Experimenten in Muskelzellen zeigen, dass das gezielte Ausschalten des FBP2-Gens den Zuckerstoffwechsel steigert. Weiterhin ergaben unsere Analysen, dass parallel dazu auch die Anzahl und die Aktivität der für die Energieproduktion wichtigen Mitochondrien steigen. All dies wurde bereits in Flugmuskeln von Kolibris beobachtet“, erläutert die Erstautorin der Studie, Dr. Ekaterina Osipova, derzeit Postdoktorandin an der amerikanischen Harvard University und zuvor Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden sowie am LOEWE-Zentrum TBG in Frankfurt. „Da das Gen für FBP2 ausschließlich in Muskelzellen vorkommt, deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass der Verlust dieses Gens in den Vorfahren der Kolibris vermutlich einen wichtigen Schritt für Anpassungen des Muskelstoffwechsels darstellt, der für den Schwebeflug erforderlich ist“, ergänzt Studienleiter Michael Hiller, Professor für Vergleichende Genomik am LOEWE-Zentrum TBG und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt.
Neben dem Verlust des FBP2-Gens erfolgten vermutlich weitere genomische Veränderungen in Kolibris. So haben Selektionsprozesse bei mehreren anderen Genen, die im Zuckerstoffwechsel eine wichtige Rolle spielen, zu Veränderungen von Aminosäuren bei Kolibris geführt. „Die Bedeutung dieser Genänderungen für die evolutionären Anpassungen im Stoffwechsel der Kolibris können sicherlich weitere Studien und Experimente klären“, so Hiller.
Originalpublikation:
Ekaterina Osipova, Rico Barsacchi, Tom Brown, Keren Sadanandan, Andrea H. Gaede, Amanda Monte, Julia Jarrells, Claudia Moebius, Martin Pippel, Douglas L. Altshuler, Sylke Winkler, Marc Bickle, Maude W. Baldwin, Michael Hiller
„Loss of a gluconeogenic muscle enzyme contributed to adaptive metabolic traits in hummingbirds“
https://doi.org/10.1126/science.abn7050

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