Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

19.12.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Tüpfelhyänen-Zwillingsbrüder zieht es bei Abwanderung aus ihrem Geburtsclan häufig in dieselbe neue Gruppe
Bei Säugetieren wandern die meisten Männchen nach Erreichen der Geschlechtsreife in eine neue Gruppe ab. Diese Abwanderung ist oft mit Gefahren verbunden. Neue Ergebnisse von Tüpfelhyänen zeigen, dass Männchen aus der gleichen Geburtsgruppe – und insbesondere Zwillingsbrüder – sich sehr oft gemeinsam auf Wanderschaft begeben und die gleiche Gruppe für ihr künftiges Leben wählen. Das liegt zum einen daran, dass Männchen mit ähnlichem sozialen und genetischen Hintergrund ähnliche Vorlieben haben. Es gibt aber auch starke Hinweise darauf, dass sich miteinander verwandte Männchen aktiv dazu entscheiden, gemeinsam abzuwandern, um sich in der neuen Umgebung gegenseitig zu unterstützen.
Was das soziale Leben und die Evolution von Tüpfelhyänen antreibt, ist seit einem viertel Jahrhundert Forschungsgegenstand des Hyänenprojektes des Leibniz-Institutes für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) im Ngorongorokrater in Tansania. Die neuen Ergebnisse sind in der Zeitschrift „Biology Letters“ erschienen.
Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta) sind hochsoziale Säugetiere, die in großen, von Weibchen dominierten Gruppen (Clans) mit komplexer Sozialstruktur leben. Während die Weibchen in ihrer Geburtsgruppe bleiben, müssen sich die Männchen irgendwann entscheiden, ob sie in ihrem Clan weiterleben oder in eine andere Gruppe abwandern. Diese Entscheidung ist wichtig für ihren Fortpflanzungserfolg und die meisten Männchen entscheiden sich dafür, ihre Geburtsgruppe zu verlassen. Abwanderung und die Eingliederung in die neue Gruppe sind jedoch mit Hindernissen verbunden: Neuankömmlinge fallen in der sozialen Hierarchie des neuen Clans ganz nach unten und müssen bei den bereits etablierten Männchen als Sündenböcke herhalten. Wie entscheiden die Männchen, wann, wo und mit wem sie abwandern? Ziehen sie allein oder gemeinsam mit Freunden und Brüdern los? Handelt es sich bei der koordinierten Abwanderung um eine bewusste Entscheidung oder um einen passiven Prozess, der durch Ähnlichkeiten zwischen den Männchen in Bezug auf ihren Genotyp und ihre soziale Herkunft bedingt ist?
Diese Fragen sind für Verhaltensbiologen und den Naturschutz von großem Interesse, aber untersuchen lassen sie sich nur schwer, da sie detaillierte Daten über das Verhalten und den Erfolg vieler Individuen im Laufe ihres Lebens erfordern. Nur wenige Forschungsteams haben Zugang zu solchen Daten über große Säugetiere. Das seit einem Vierteljahrhundert laufende Hyänenprojekt im Ngorongoro-Krater in Tansania ist eines dieser Projekte.
Im Ngorongoro-Krater leben ca. 400 Tüpfelhyänen, die sich in acht Clans aufteilen Alle Hyänen dieser Population sind durch ihr Fleckenmuster individuell bekannt und werden nahezu täglich überwacht. In den letzten 26 Jahren hat das Team des Leibniz-IZW detaillierte Daten von 2800 Hyänen mit nahezu vollständigen individuellen Lebensläufen gesammelt. Dieser Datensatz bietet weltweit einzigartige Möglichkeiten für die Verhaltens- und Evolutionsforschung.
„Wir zeigen zum ersten Mal, dass bei Tüpfelhyänen Zwillingsbrüder und Kumpel aus demselben Geburtsclan häufig in denselben Clan einwandern, um sich fortzupflanzen“, erklärt Oliver Höner, Leiter des Ngorongoro-Krater-Hyänenprojektes. Zwillingsbrüder wandern in 70 % der Fälle gemeinsam ab, und männliche Verwandte gleichen Alters und gleichen Geburtsclans tun dies in 36 % der Fälle. Im Gegensatz dazu lassen sich nicht verwandte Männchen aus verschiedenen Clans nur in 7 % der Fälle im selben Clan nieder. „Das ist neu und aufregend, denn bisher ging man davon aus, dass Tüpfelhyänen alleine abwandern. Es bedeutet auch, dass Einwanderer oft genetisch miteinander verwandt sind. Dies verbessert unser Verständnis der sozialen Dynamik und des Genflusses in Wildtierpopulationen“, sagt Eve Davidian, Erstautorin des Artikels.
Dass sich Zwillingsbrüder und Kumpels vom selben Geburtsclan oft gleich entscheiden, kann theoretisch zwei Ursachen haben, eine aktive und eine passive. Der passive Prozess entsteht, wenn Männchen mit ähnlichem genetischen und sozialen Hintergrund ähnlich denken und handeln und zufällig die gleiche Gruppe wählen. Alternativ könnte es eine bewusste und adaptive Entscheidung sein, die von den Vor- und Nachteilen einer gemeinsamen Abwanderung abhängt. „Ob die Vorteile die Kosten überwiegen, hängt von der Größe des Clans ab“, erklärt Eve Davidian. „Wenn die Clans groß sind und viele Männchen enthalten, kann es sehr vorteilhaft sein, gemeinsam mit einem Verbündeten abzuwandern, um den Widerstand der etablierten Männchen besser zu bewältigen.“ Mögliche Nachteile entstehen dadurch, dass Männchen, die in die gleiche Gruppe abwandern, um die gleichen Weibchen konkurrieren. „Dies ist besonders kostspielig bei kleinen Clans mit nur wenigen Weibchen und für nahe Verwandte wie Zwillinge, weil der Fortpflanzungserfolg des Bruders auch den eigenen beeinträchtigt. Das ist wie eine doppelte Strafe“, fügt Eve Davidian hinzu.
Die Wissenschaftler:innen fanden heraus, dass Zwillingsbrüder und Verwandte am ehesten gemeinsam auswanderten, wenn die Clans groß waren. Dies zeigt, dass die Männchen eine aktive Wahl treffen. Dass aber nicht nur Zwillingsbrüder, sondern auch Kumpels desselben Geburtsclans häufig gemeinsam abwandern, zeigt, dass auch das soziale und ökologische Umfeld während des Aufwachsens sowie der genetische Hintergrund die Entscheidung beeinflussen.
Die gleichen Prozesse dürften sich auch in anderen Hyänenpopulationen wiederfinden, da auch andere Verhaltensmuster bei Hyänen in verschiedenen Untersuchungsgebieten ähnlich sind. Wann und wie Tiere kollektive Entscheidungen treffen, ist ein wachsendes und spannendes Forschungsgebiet. Die Tatsache, dass die gemeinsame Abwanderung durch eine Kombination aus komplexen und flexiblen adaptiven Entscheidungen und passiven Prozessen, die durch einen gemeinsamen sozio-ökologischen und genetischen Hintergrund geprägt sind, angetrieben werden kann, wurde hier zum ersten Mal bei einer Wildpopulation gezeigt.
Originalpublikation:
Davidian E, Höner OP (2022): Kinship and similarity drive coordination of breeding-group choice in male spotted hyenas. Biology Letters 18. DOI: 10.1098/rsbl.2022.0402

20.12.2022, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
In bester Gesellschaft – Neue Funde aus Uganda erhellen Evolution der Hirschferkel
Neue Fossilfunde aus Uganda zeigen, dass zur Zeit des Miozän vor 20,5 bis 16 Millionen Jahren deutlich mehr Hirschferkelarten auf dem afrikanischen Kontinent lebten, als bisher angenommen. Eine der Fundstellen am Akisim Mountain offenbarte die bisher älteste Gemeinschaft von mehreren Hirschferkelarten in Afrika. SNSB Paläontologinnen veröffentlichten ihre Ergebnisse kürzlich in der paläontologischen Fachzeitschrift Historical Biology.
Hirschferkel (Tragulidae) sind kleine Paarhufer, die heute in Zentralafrika und Süd- bis Südostasien zurückgezogen und scheu im dichten Unterholz leben. Sie sind weder Hirsche noch Schweine, auch wenn der Name das vermuten lässt, sondern eine eigene Wiederkäuergruppe. Funde fossiler Hirschferkel aus Afrika sind nur aus wenigen Regionen bekannt, die Fossilien selbst sind oft unvollständig. Bisher wusste man, dass ursprünglich nur eine kleine Hirschferkelart im frühen Miozän Afrikas lebte (vor ca. 20.5 Mio Jahren), die etwas später (vor ca. 20 Mio Jahren) Gesellschaft von einer weiteren kleinen und drei größeren Arten bekam.
Nun brachten neue Fossilfunde und geologische Untersuchungen Licht in die frühe Evolution der Hirschferkelfauna Afrikas. Ein Team um die Paläontologinnen Sarah Musalizi und Gertrud Rößner von der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG) untersuchten Zähne von fossilen Hirschferkeln aus 12 frühmiozänen Fundstellen in Napak, Uganda. Die Fossilien waren eingebettet in 700 m mächtige und 20,5 bis 16 Millionen Jahre alte Sedimentschichten am Akisim Mountain. Die Paläontologen:innen entdeckten dort nicht nur die bisher älteste Hirschferkelsympatrie Afrikas, also das gemeinsame Vorkommen mehrerer nah verwandter Arten im selben Gebiet. Sie konnten auch zeigen, dass die Vielfalt der Hirschferkel zur Zeit des frühen Miozäns größer war als bisher angenommen.
„Unsere Untersuchungen widersprechen der bisherigen Annahme der anfänglichen Existenz von nur einer Hirschferkelart auf dem afrikanischen Kontinent. Auch die etwas später auftretenden größeren Arten entpuppten sich als viel diverser, als uns bisher bekannt war. Unsere Funde erfordern eine neue Sichtweise auf die Evolutionsgeschichte der miozänen afrikanischen Hirschferkel“, sagt Sarah Musalizi, Erstautorin, DAAD-Stipendiatin an der SNSB-BSPG und Hauptkuratorin für Denkmäler und Museen in Uganda.
„Die Wiederkäuergruppe war offenbar schon früh sehr artenreich, lange bevor Antilopen und Giraffen Afrika eroberten. Wir rechnen in Zukunft mit weiteren spannenden Fossilfunden, die unsere Ergebnisse zusätzlich untermauern“, ergänzt Gertrud Rößner, Kuratorin an der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie und Seniorautorin der Arbeit.
Hirschferkel (Tragulidae) gehören zur großen Gruppe der Wiederkäuer (Ruminantia). Sie sind Paarhufer und entfernt verwandt mit Hirschen oder Giraffen. Jedoch haben die Tiere nur eine Schulterhöhe von 20 bis 35 cm und tragen keinerlei Kopfschmuck. Eines der vielen besonderen Merkmale der Hirschferkel sind die verlängerten oberen Eckzähne der Männchen. Heute leben Hirschferkel nur noch in Reliktarealen in Zentralafrika und Südost-Asien. Die ältesten Nachweise fossiler Hirschferkel stammen aus Asien (Eozän, ca. 35 Mio. Jahre). Hyemoschus aquaticus heißt die einzige heute noch lebende afrikanische Art. Zur Zeit des Oligozän und Miozän (34-25 und 18-5 Mio. Jahre) gab es die Tiere auch in Europa.
Originalpublikation:
Sarah Musalizi, Johann Schnyder, Loic Segalen & Gertrud E. Rössner (2022): Early and Middle Miocene Tragulidae of the Napak Region (Uganda) including the Oldest African tragulids: Taxo-nomic revision, stratigraphical background, and biochronological framework, Historical Biology, https://doi.org/10.1080/08912963.2022.2144285

20.12.2022, Universität Hamburg
Neuer Buchband zur Biodiversität Afrikas erschienen – Termiten schaffen Artenvielfalt
Seit mehr als einem Jahrzehnt untersucht ein internationales Forschungsteam aus Deutschland, dem südlichen Afrika sowie den USA, die Bedeutung sozialer Insekten für die Ökosysteme der Trockengebiete und Savannen des südlichen Afrikas. Nun stellen die Forschenden unter Leitung des Fachbereichs Biologie der Universität Hamburg die Ergebnisse in einem umfangreichen Buchband auf 376 Seiten mit fast 800 Abbildungen und Tabellen vor.
Als Ankerpunkt des Buches „Fairy circles of the Namib Desert – Ecosystem engineering by subterranean social insects“ dienen die mysteriösen Feenkreise der Namib-Wüste, bei denen es sich um große runde Kahlstellen handelt, die zu tausenden die Graslandschaften am Rande der Wüste mit regelmäßigen Mustern versehen. Die Verursacher dieser Feenkreise wurden von Norbert Jürgens, Leiter der Arbeitsgruppe Biodiversität am Fachbereich Biologie der Universität Hamburg identifiziert. Es handelt sich um Sandtermiten der Gattung Psammotermes, die unterirdisch in einem fragilen Tunnelsystem leben. Die Kahlstellen erzeugen sie durch Wurzelschädigung der Gräser in einem kreisförmigen Bereich, wodurch Regenwasser in dem sandigen Boden rasch versickern und in der Tiefe des Bodens über Jahre gespeichert werden kann. In der umgebenden Landschaft nehmen die Gräser dagegen das Regenwasser binnen weniger Wochen über die Wurzeln auf und verbrauchen es mit ihrer Transpiration.
In dem Buch werden zahlreiche weitere Vegetationsmuster und die sie verursachenden Prozesse erstmals vorgestellt. Die 15 Autorinnen und Autoren verschiedener Disziplinen präsentieren ihr umfangreiches Datenmaterial und zugleich Abbildungen, Karten und Tabellen, die zukünftigen Forschenden den Zugang zu den Organismen erleichtern werden.
„Wir stellen mit dem Buch dar, in welch großem Maße Organismen, allen voran soziale Insekten und vor allem Termiten, die Eigenschaften der Landschaften und Ökosysteme Afrikas gestalten und stabilisieren“, sagt Norbert Jürgens. „Die Artenvielfalt der Insekten sichert zugleich die Biodiversität in den von ihnen geschaffenen Ökosystemen. Sie sind deshalb auch in der Lage, die durch Klimawandel und Landnutzungsänderungen verursachten Schäden in den Ökosystemen teilweise abzupuffern.“
Im rasch austrocknenden Grasland des südlichen Afrikas findet Leben vorwiegend in kurzzeitigen Entwicklungsschüben nach den seltenen Regenfällen statt, während unter und am Rande der wasserspeichernden Feenkreise eine reiche Tierartenvielfalt trotz der extremen Wüstenbedingungen dauerhaft leben kann. In diesen Feuchtstellen haben sich im Laufe der Evolutionsgeschichte gut angepasste Tierarten entwickelt, deren Stammbaum in der Doktorarbeit von Felicitas Gunter vom Fachbereich Biologie erforscht und nun in einem Buchbeitrag beschrieben wird. Zugleich sind komplizierte Lebensgemeinschaften von Tieren und Pflanzen entstanden, die ebenfalls in dem Buch erstmals publiziert werden, unter anderem von Joh Henschel, dem früheren Direktor der Wüsten-Forschungsstation Gobabeb in Namibia.
Die jetzt vorgestellte Monographie enthält auch Modellierungen des Bodenwasserhaushaltes in und neben den Feenkreisen, die von Alexander Gröngröft aus der Arbeitsgruppe von Annette Eschenbach am Fachbereich Erdsystemwissenschaften der Universität Hamburg durchgeführt wurden. Sie bauen auf bodenhydrologischen Daten auf, die über mehr als 14 Jahre in verschiedenen Regionen der Namib-Wüste von automatischen Messsystemen gespeichert wurden.
Außer den Feenkreisen werden in dem Buch auch die unübersehbaren Termitenkolonien mit oberirdischen Bauten bis zu Höhen von mehreren Metern vorgestellt. Die dafür verantwortlichen Termitenarten verändern nicht nur den Wasserhaushalt, sondern auch die chemischen Eigenschaften der Böden. Viele der Termitenbauten sind extrem hart und dienen dem Schutz der Kolonien und ihrer Pilzgärten. In von Gräsern bewachsenen Sumpflandschaften in Sambia bilden Termiten meterhohe Inseln, auf denen Bäume wachsen. Ein umfangreiches Kapitel von Joe McAuliffe, dem früheren Direktor des Botanischen Gartens von Phoenix, Arizona, stellt die „Kleinen Hügel“ der südafrikanischen Karoo vor, die durch von Termiten ausgelöster Akkumulation von wind-transportiertem Sand und Staub entstehen.
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20.12.2022, Universität Trier
Die Zahl der Insektenarten bleibt in heimischen Wäldern über Jahrzehnte stabil
Biogeographen der Universität Trier stellen durch die Auswertung von Umwelt-DNA aber einen Verlust an Vielfalt durch Homogenisierung fest.
„Insektensterben“ war auch in diesem Jahr wieder ein dominantes Thema in Schlagzeilen und Diskussionen. Das große Interesse an diesen Tieren rührt daher, dass sie für das Ökosystem von enormer Bedeutung sind. Ein Forschungsteam der Universität Trier hat nun festgestellt, dass die Anzahl von Insektenarten über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren in Wäldern nicht markant abnimmt. Die Ergebnisse der Trierer Biogeographen basieren auf einer ungewöhnlichen Datenquelle. Sie analysieren DNA-Proben aus Blättern von Bäumen, die über mehrere Jahrzehnte gesammelt und archiviert wurden.
Allerdings weisen die Untersuchungen eine andere Auswirkung auf die Vielfalt von Insektengemeinschaften nach: eine allmählich erfolgende Homogenisierung durch die stärkere räumliche und zeitliche Verbreitung von wenigen Insektenarten. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Wandel der biologischen Vielfalt in Insektengemeinschaften komplex ist und mehr beinhaltet als einen bloßen Verlust von Insektenarten“, fasst der Leiter des Forschungsprojekts, Prof. Dr. Henrik Krehenwinkel, die Erkenntnisse zusammen.
Bislang durchgeführte Studien zum Insektensterben konzentrieren sich häufig auf begrenzte Standorte, beobachten Veränderungen über kurze Zeiträume, beschränken sich in der Regel auf die Ermittlung von Daten zum Verlust der Anzahl oder der Häufigkeit von Arten und arbeiten meist mit gefangenen Tieren. Die von den Trierer Biogeographen durchgeführten Untersuchungen heben sich insbesondere durch zwei Aspekte ab – den langen Untersuchungszeitraum und Blätter als Datenquelle.
Durch die Beteiligung der Universität Trier an der Umweltprobenbank des Bundes stehen dem Trierer Forschungsteam Proben zur Verfügung, die über mehrere Jahrzehnte hinweg kontinuierlich nach streng standardisierten Verfahren bundesweit entnommen und fachgerecht konserviert wurden. Für ihre Studie zu Veränderungen der Vielfalt bei Insektenarten analysieren sie Proben aus dem Blattmaterial von vier Baumarten an 24 Standorten in ganz Deutschland, das einen Zeitraum von über 30 Jahren abbildet. Die Standorte repräsentieren vier Landnutzungstypen: städtische Parks, landwirtschaftliche Flächen, Wälder und Nationalparks.
Den Blättern, die ursprünglich zur Messung von Luftschadstoffen in der Umwelt dienten, entnehmen die Forschenden in einem spezialisierten Verfahren sogenannte Umwelt-DNA (eDNA), die zum Beispiel durch Kauspuren von Insekten zurückbleiben. Mit der angereicherten und sequenzierten eDNA (environmental DNA) lassen sich mehrere Tausend Insektenarten nachweisen, die mit den Blättern in Kontakt gekommen sind.
Die Daten ergeben, dass zahlenmäßig rückläufige Insektenarten stetig und über lange Zeiträume durch neue Arten ersetzt werden und somit kein markanter Verlust in der Artenzahl auftritt. Viele der sich neu ansiedelnden Insektenarten haben jedoch einen hohen Verbreitungsdrang. Dies führt zu einer räumlichen Homogenisierung, indem diese Arten in immer mehr Gebieten dominieren und somit die Zahl weit verbreiteter Insektenarten rückläufig ist. „Diese Effekte sind unabhängig von der Landnutzungsart und für alle Insektenordnungen zu beobachten“, stellt Sven Weber fest, Doktorand und Co-Autor der Studie.
„Unsere Arbeit zeigt, dass standardisierte Zeitreihendaten benötigt werden, um Muster und Triebkräfte des Wandels der biologischen Vielfalt in Insektengemeinschaften zu verstehen. Sie unterstreicht den immensen Wert bestehender Umweltarchive, deren volles Potenzial mit neuartigen Ansätzen zur Bereitstellung dieser kritischen Zeitreihendaten erschlossen werden kann“, plädiert Henrik Krehenwinkel für eine Intensivierung dieser Forschungsrichtung.
Originalpublikation:
Krehenwinkel, Henrik, Sven Weber, Rieke Broekmann, Anja Melcher, Julian Hans, Rüdiger Wolf, Axel Hochkirch et al. „Environmental DNA from archived leaves reveals widespread temporal turnover and biotic homogenization in forest arthropod communities.“ Elife 11 (2022): e78521.

20.12.2022, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
„Große Muckies und Runzelhaut“: die Herkules-Pseudoskorpione
Forschende des LIB haben in ihrer neuesten Publikation drei neue Gattungen mit insgesamt zwölf neuen Arten von Pseudoskorpionen entdeckt und beschrieben. Sie alle stammen aus Madagaskar – einem Hotspot für Biodiversität und endemische Arten. Das Team aus Forschenden um Michelle Lorenz hatte dabei kreative Ideen für die Namensvergabe der etwa zwei Millimeter großen Tierchen.
Frida Kahlo, Arnold Schwarzenegger und Herkules – sie alle gehören zu den Namensvetterinnen und -vettern der neuen Pseudoskorpione, die in der Arachnologie am Museum der Natur Hamburg kürzlich beschrieben wurden. Die prominenten Namen passen zu den Tierchen, da sie sich in ihrem Körperbau widerspiegeln: Sie verfügen über vergleichsweise massige „Arme“, sogenannte Pedipalpen, die sie optisch von den meisten ihrer Verwandten abheben. Die Art, die nach der mexikanischen Künstlerin benannt ist, zeichnet sich durch ein besonders dichtes „Fell“ über der Augenpartie aus.
Alles begann mit der Bachelor-Arbeit von Michelle Lorenz, die sie in der Arachnologie des LIB in Zusammenarbeit mit Dr. Danilo Harms, schrieb. Hier grenzte sie die ersten vier Arten ab und lernte dabei viel über die taxonomische und molekulare Arbeit an Naturkundemuseen. Pseudoskorpione sind die kleinen Verwandten der Skorpione und so winzig, dass es schwierig ist, ohne Hilfsmittel und mit dem bloßen Auge Unterschiede zwischen den einzelnen Arten zu erkennen. Mithilfe von molekularen Untersuchungen und der Rasterelektronenmikroskopie fielen Lorenz aber dennoch Unterschiede auf, die sie bei den Beschreibungen der neuen Arten nutzen konnte. „Mit jeder neuen Untersuchungsmethode, die ich anwandte, habe ich neue Details – zum Beispiel neue Organe – erkannt, die mir bei der Abgrenzung geholfen haben.“, sagt Lorenz. Unter dem Rasterelektronenmikroskop kämen die extrem kräftigen Arme der Pseudoskorpione mit scharfen Scheren am Ende gut zur Geltung – obwohl sie in Realität nur etwa 0,2 Millimeter groß sind.
Für die Veröffentlichung in „Arthropod Systematics & Phylogeny“ haben die Forschenden noch weitere acht Arten beschrieben, die sie auf drei neue Gattungen aufteilen konnten. Diese richten sich nach ihrem jeweiligen Vorkommen im Norden, Süden und Westen Madagaskars. Die Tiere wurden während einer Expedition von der California Academy of Science (CAS) zwischen 2002 und 2004 gesammelt und an Experten vom Museum in Hamburg übersandt. „Wenn wir uns bewusstmachen, dass diese Tiere sehr versteckt in der Bodenstreu leben und höchstens einige Zentimeter weit am Tag krabbeln können, ist der Fund echt ein Glücksgriff.“, resümiert Lorenz. „Unsere Forschungen sind wichtig, denn kaum eine andere Region der Erde erleidet so starken Biodiversitätsverlust wie Madagaskar. Einige der neuen Arten haben extrem kleine Verbreitungsareale und sind vermutlich stark bedroht oder sogar schon ausgestorben, wenn man bedenkt, dass etwa 95 Prozent der natürlichen Habitate auf Madagaskar bereits verloren gegangen sind. Deshalb ist ihre Entdeckung und Beschreibung auch praktisch wichtig.“
Für Arnold Schwarzenegger als Namensgeber haben sich die Forschenden nicht nur aufgrund seiner beeindruckenden Oberarme entschieden: Sie wollen hiermit auch seinen Einsatz für den Umweltschutz ehren, den er während seiner zwei Amtszeiten als Gouverneur von Kalifornien geleistet hat. Die vielfältige Biodiversität von Madagaskar ist von uns Menschen und unserer Lebensweise stark bedroht, sodass wir mit den prominenten Namen auf eine sehr lockere Weise, auf ein ernstes Thema hinweisen wollen.“, sagt Danilo Harms, Sektionsleiter der Arachnologie am LIB.
Originalpublikation:
Michelle Lorenz, Stephanie F. Loria, Mark S. Harvey, Danilo Harms, „The Hercules pseudoscorpions from Madagascar: A systematic study of Feaellidae (Pseudoscorpiones: Feaelloidea) highlights regional endemism and diversity in one of the “hottest” biodiversity hotspots“, Arthropod Systematics & Phylogeny 80 (2022), https://doi.org/10.3897/asp.80.e90570

20.12.2022, Universität Greifswald
Inselzwerge und ihre Innenohren: Dinosaurier aus Niedersachsen war vermutlich Nestflüchter
Wie sein weltberühmter Verwandter Brachiosaurus war Europasaurus holgeri ein langhalsiger, pflanzenfressender Dinosaurier auf vier Beinen. Beide gehören zur Gruppe der Sauropoden und lebten in der Jurazeit. Doch anders als sein riesiger, ungefähr 15 m hoher Verwandter (heutige Giraffen werden etwa 5 m hoch) aus Nordamerika, gilt Europasaurus aus Niedersachsen mit einer Kopfhöhe von nur etwa 3 m als erster fossiler Dinosaurier, bei dem wissenschaftlich das evolutionsbiologische Phänomen der Inselverzwergung nachgewiesen wurde. Die Spezies lebte vor 154 Millionen Jahren auf einer Insel im heutigen Norddeutschland und ist bisher nur aus einer einzigen Fundstelle bekannt.
Jetzt haben Forscher*innen der Universitäten in Greifswald und Wien die Schädelreste von verschiedenen Europasaurus-Individuen mit hochauflösenden Computertomographen untersucht. Der kleine Gigant war für die Forscher*innen der ideale Kandidat für ihre Untersuchungen, denn von kaum einem anderen Sauropoden weltweit ist mehr Schädelmaterial aus verschiedenen Altersstadien bekannt. Die Studie ist bei eLife erschienen und legt unter anderem nah, dass die Art ein Nestflüchter war.
Für die veröffentlichten Ergebnisse untersuchten Marco Schade von der Universität Greifswald und seine Kolleg*innen fossile Hirnschädel von Europasaurus, die zu unterschiedlich alten Individuen gehören: von sehr jungen und kleinen bis hin zu ausgewachsenen Tieren. Um mehr über die Lebensweise von Europasaurus in Erfahrung zu bringen, rekonstruierten die Wissenschaftler*innen erstmals die Hohlräume, die einst das Gehirn und die Innenohren dieser längst ausgestorbenen Tiere beherbergten.
Der Teil des Innenohres, der für das Hören verantwortlich ist, die Lagena oder Cochlea, ist bei Europasaurus relativ lang. Diese Tatsache legt nahe, dass die Tiere recht gut hören konnten und in ihrer Herde eine innerartliche Kommunikation stattfand. Die Forscher*innen konnten auch einen weiteren Teil des Innenohres, das Gleichgewichtsorgan, welches aus drei kleinen Bogengängen besteht, rekonstruieren. Sie stellten fest, dass die Gehäuse dieser Gleichgewichtsorgane bei sehr jungen Europasauriern in Form und Größe denen ausgewachsener Tiere sehr nahekommen. Daraus schlossen die Forscher*innen, dass bereits sehr junge Individuen von Europasaurus stark auf ihren Gleichgewichtssinn angewiesen waren. Einige der untersuchten Schädelreste sind dabei so winzig (~2 cm), dass sie vielleicht von Schlüpflingen stammen und die Art damit ein Nestflüchter war. Während andere Sauropoden viele Tonnen schwerer waren als ihr frisch geschlüpfter Nachwuchs und damit eine lebensgefährliche Bedrohung darstellten, könnten die Europasaurus-Schlüpflinge direkt in der Nähe der Gruppe mitgewandert sein.
Die vorgelegten Erkenntnisse vermitteln einen Eindruck der Entwicklungsgeschichte vergangener Biodiversität zu einer Zeit, in der es noch keine Menschen auf der Erde gab.
Veröffentlichung
Neurovascular anatomy of dwarf dinosaur implies precociality in sauropods https://elifesciences.org/articles/82190

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