Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

25.11.2022, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft
Was Oktopus und Mensch verbindet
Kopffüßler sind hochintelligente Tiere mit komplexem Nervensystem. Dessen Evolution ist mit der Entwicklung von auffällig viel neuer microRNA verbunden, zeigt ein Team um Nikolaus Rajewsky vom Max Delbrück Center in „Science Advances“.
Geht man in der Evolution weit zurück, ist der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Oktopus eine recht primitives wurmartiges Tier ohne große Intelligenz und mit simplen Augenflecken. Später lässt sich das Tierreich einteilen in Organismen mit Rückgrat – und ohne. Während sich bei Vertebraten, speziell bei Säugetieren und Primaten, große und komplexe Gehirne mit vielfältigen kognitiven Fähigkeiten entwickelten, blieb dies bei den Invertebraten aus. Mit einer Ausnahme: den Kopffüßlern (Cephalopoden).
Warum sich einzig bei diesen Weichtieren ein so komplexes Nervensystem entwickeln konnte, fragt sich die Wissenschaft schon lange. Über eine mögliche Ursache berichtet nun ein internationales Team um Forschende des Max Delbrück Centers und des Dartmouth College, USA, im Fachblatt „Science Advances“. Sie haben in neuronalen Geweben von Oktopussen entdeckt, dass das microRNA-Repertoire dieser Kopffüßler erheblich erweitert ist. Vergleichbare Entwicklungen gab es auch bei Wirbeltieren. „Das verbindet uns also mit dem Oktopus!“, sagt Professor Nikolaus Rajewsky, der Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie des Max Delbrück Centers (MDC-BIMSB), Leiter der Arbeitsgruppe „Systembiologie genregulatorischer Elemente“ und Letztautor der Studie. Zugleich bedeute es, dass microRNAs wahrscheinlich fundamental wichtig für die Entwicklung komplexer Gehirne sind.
2019 las Rajewsky eine Publikation über Genanalysen beim Oktopus. Man hatte entdeckt, dass er viel RNA-Editing betreibt, also bestimmte Enzyme intensiv nutzt, die den Code der RNA verändern können. „Ich dachte mir: Vielleicht ist er ja nicht nur im Editing gut, sondern auch sonst ein RNA-Künstler?“ Also begann Rajewsky eine Kollaboration mit der Meeresforschungsstation in Neapel, die 18 verschiedene Gewebetypen von toten Oktopussen schickte.
Das Ergebnis der Genanalysen war unerwartet: Nicht das RNA-Editing war spektakulär. („Es ist zwar häufig, aber wir glauben, dass es nicht in interessanten Bereichen der RNA stattfindet.“) Nein, sondern die Tatsache, dass eine berühmte Gruppe von RNA-Genen, die microRNAs, im Oktopus extrem angewachsen ist – um 42 neue Genfamilien. Sie finden sich spezifisch im neuronalen Gewebe und die meisten davon im Gehirn. Dass diese Gene funktionell wichtig sind, schließt das Team aus dem Nachweis, dass sie während der Cephalopoden-Evolution konserviert wurden. Sie waren also vorteilhaft für die Tiere.
Rajewsky forscht seit über 20 Jahren an microRNAs. Diese Gene werden nicht etwa in Boten-RNAs übersetzt, die die Anweisungen für die Proteinproduktion in der Zelle weitergeben. Vielmehr kodieren sie für kleine RNA-Stücke, die wiederum an Boten-RNA binden und darüber die Herstellung der Proteine beeinflussen. Auch diese Bindungsstellen waren in der Cephalopoden-Evolution konserviert – ein weiteres Indiz, dass diese neuen microRNAs funktional wichtig sind.
Familienzuwachs für die microRNA
„Dies ist die drittgrößte Erweiterung von microRNA-Familien im Tierreich und die größte jenseits der Wirbeltiere“, betont Erstautor Grygoriy Zolotarov, M.D., ein ukrainischer Wissenschaftler, der während seines Medizinstudiums in Prag und danach im Labor von Rajewsky am MDC-BIMSB forschte. „Zum Vergleich: die Auster, ebenfalls ein Weichtier, bekam seit dem letzten gemeinsamen Vorfahren mit den Oktopoden nur fünf neue microRNA-Familien dazu – der Oktopus 90!“ Austern seien ja auch gerade nicht für ihre Intelligenz berühmt.
Schon vor Jahren faszinierte Rajewsky die Begegnung mit einem Oktopus bei einem abendlichen Rundgang im kalifornischen Monterey Bay Aquarium. „Da sah ich eine Gestalt im Becken sitzen und wir haben uns – meine ich – über mehrere Minuten hinweg gegenseitig angeguckt.“ Es sei ein großer Unterschied, ob man einen Kraken oder einen Fisch anschauen würde. „Auch wenn das wenig wissenschaftlich ist: Man hat das Gefühl von Intelligenz, die durch die Augen spricht.“ Oktopusse haben ähnlich komplexe Kameraaugen wie der Mensch.
Evolutionär gesehen sind Oktopoden einzigartig im Reich der Wirbellosen. Sie haben ein zentrales Gehirn, aber auch ein peripheres Nervensystem, das teilweise autark handeln kann: Verlieren sie einen Tentakel, bleibt er berührungsempfindlich und kann sich noch schlängeln. Dass sich bei ihnen unabhängig von allen anderen Arten so komplexe Gehirnfunktionen entwickelt haben, könnte daran liegen, dass sie ihre Arme gezielt einsetzen. Etwa als Werkzeug, um Muschelschalen zu öffnen. Oktopusse sind – auch ein Zeichen von Intelligenz – sehr neugierig, haben ein Gedächtnis, erkennen Menschen wieder und haben diesbezüglich ihre Vorlieben. Inzwischen glaubt man, dass sie sogar träumen. Sie verändern im Schlaf ihre Farbmuster und Hautstrukturen.
So fremd wie ein Alien
„Man sagt, wenn man einem Alien begegnen will, soll man tauchen gehen und sich mit einem Oktopus anfreunden“, sagt Nikolaus Rajewsky. Er will nun mit anderen Oktopus-Forscher*Innen ein europäisches Netzwerk organisieren, um sich mit den (bisher wenigen) besser austauschen zu können. Das Interesse an diesen Tieren nehme weltweit zu. Auch in der Verhaltensforschung. Schließlich sei es spannend, eine Intelligenz zu analysieren, die sich ganz unabhängig von unserer eigenen entwickelt hat. Doch einfach wäre das nicht „Wenn man mit ihnen Tests macht, die über Belohnungen funktionieren – also kleine Snacks – haben sie bald keine Lust mehr. Zumindest berichten mir das Kollegen“, sagt Rajewsky.
„Da Kraken keine typischen Modellorganismen sind, waren unsere molekularbiologische Werkzeugen sehr eingeschränkt“, erklärt Zolotarov. „Daher wissen wir noch nicht, in welchen Zelltypen genau die neuen microRNAs exprimiert werden.“ Als nächstes will Rajewskys Team nun eine Technik, die in seinem Labor entwickelt wurde, beim Oktopus anwenden. Nämlich Zellen im Gewebe molekular aufgelöst sichtbar machen.
Originalpublikation:
Grygoriy Zolotarov et al. (2022): „MicroRNAs are deeply linked to the emergence of the complex octopus brain“, Science Advances. DOI: 10.1126/sciadv.add9938

28.11.2022, Eberhard Karls Universität Tübingen
Allgäuer Biber leben seit mehr als elf Millionen Jahren im Familien-Clan
Forscherteam gelingt erstmals Einblick in die Ökologie der Nagetiere während des Miozän
Die Hammerschmiede im Allgäu, Fundstelle des Menschenaffen Danuvius, ist eine einmalige Fundgrube für Paläontologen: Bereits über 140 fossile Wirbeltierarten konnten hier geborgen werden. Anhand der Knochenfunde lässt sich nun auch die Lebensweise und Entwicklung einer ausgestorbenen Biberart nachvollziehen: Steneofiber depereti war etwas kleiner als heutige Biber und besiedelte bereits vor über elf Millionen Jahren die Fließgewässer Süddeutschlands. Thomas Lechner und Madelaine Böhme vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen schließen aus einer vergleichenden Untersuchung der Zähne des prähistorischen Nagers, dass die Populationsdynamik und Ökologie dieser Art der heutiger europäischer Biber bereits sehr ähnlich waren.
„Heutige Biber sind sehr familiär. Elterntiere und bis zu zwei Jungtiergenerationen kümmern sich gemeinsam um den Nachwuchs“, sagt der Grabungsleiter der Fundstelle, Doktorand Thomas Lechner. Geschlechtsreife Tiere verlassen schließlich den Clan und suchen sich ihr eigenes Gebiet. Die optimalen Biber-Reviere liegen vor allem an größeren Flüssen und sind meist schon besetzt, sodass junge erwachsene Biber gezwungen sind, flussaufwärts an kleineren Bachläufen zu siedeln. Die Überlebensbedingungen sind hier deutlich schwieriger und die Sterblichkeitsrate ist in dieser Altersstufe entsprechend höher als bei Alttieren, die einen optimalen Lebensraum besiedeln.
„Es ist ungewöhnlich, dass Aussagen zu Sterblichkeit und Ökologie fossiler Tierarten möglich sind – meist existieren nur Einzelfunde“, sagt Professorin Madelaine Böhme. Den Schlüssel liefere in diesem Fall die Fundstelle selbst: „Die Fundstelle Hammerschmiede gibt einen detaillierten Einblick in zwei unterschiedliche fossile Habitate, einen kleineren Bachlauf – der Lebensraum des Menschenaffen Danuvius guggenmosi ‒ und einen größeren Fluss.“ So wird es möglich, die Sterblichkeit der Biber im Fluss mit derer im Bach zu vergleichen. „Aus beiden Ablagerungsbereichen konnten wir die Zähne von vielen Bibern sammeln und anhand der jeweiligen Zahnabnutzung ‚Mortalitäts-Profile‘ erstellen und vergleichen“, erklärt Lechner.
„Das Ergebnis zeigt deutlich, dass im Bachbereich vor allem junge erwachsene Biber eine hohe Sterblichkeit aufwiesen und so gut wie keine Jung- und Alttiere vorhanden waren. Im Fluss hingegen, zeigt sich genau das Gegenteil: mit einer hohen Sterblichkeit im Baby-Alter und einer linear fallenden Alterssterblichkeit – junge erwachsene Biber scheinen hier zu fehlen.“ Exakt dieses Bild zeichnen auch heutige Biberpopulationen. Der optimale Lebensraum für Steneofiber depereti lag demnach wie bei heutigen Vertretern dieser Gattung in größeren Flussbereichen. Zudem ist zu vermuten, dass bereits vor elf Millionen Jahren Biber im Allgäu in Familienclans mit mehrjähriger elterlicher Fürsorge lebten.
Sowohl die ökologischen Gemeinsamkeiten dieser Biberart, als auch die morphologischen Eigenschaften der Zähne, lassen zudem schließen, dass Steneofiber depereti in der direkten Stammeslinie der heutigen Biber einzuordnen ist. „Die Backenzähne unseres fossilen Bibers zeigen Übereinstimmungen mit dem Vorläufer der heutigen Biber. Sie füllen eine kleine Lücke zwischen bisher klar abgegrenzten Arten und belegen eine eher kontinuierliche Biberevolution hin zur heutigen Form“, erklärt Lechner.
„Die Studie zeigt einmal mehr, wie lohnenswert die akribische Grabungsarbeit ist und welch einzigartiges Potential Fossilien besitzen können, indem nicht nur die reine Morphologie, sondern auch statistische Altersverteilungen der Funde unerwartete Einblicke geben können“, sagt Böhme.
Unter Leitung von Professorin Madelaine Böhme vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen finden die Ausgrabungen in der Menschenaffen-Fundstelle Hammerschmiede seit 2011 statt. Seit 2020 werden sie vom Freistaat Bayern finanziell unterstützt.
Originalpublikation:
Thomas Lechner, Madelaine Böhme: The beaver Steneofiber depereti from the lower Upper Miocene hominid locality Hammerschmiede and remarks on its ecology. Acta Palaeontologica Polonica 67 (4): xxx-xxx. DOI: https://doi.org/10.4202/app.00997.2022

29.11.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Geschlechterrollen im Tierreich hängen vom Verhältnis von Weibchen und Männchen ab
Wie wählerisch sollten Weibchen und Männchen sein, wenn sie einen Partner auswählen? Wie heftig sollten sie um Partner konkurrieren? Und wie intensiv sollten sie sich jeweils in der Jungenaufzucht engagieren? Die Antworten auf diese Fragen hängen weitgehend vom Verhältnis zwischen erwachsenen Weibchen und Männchen in einer sozialen Gruppe, Population oder Art ab. Zu diesem Ergebnis kommt ein Wissenschaftsteam unter Beteiligung des Deutschen Primatenzentrums – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ), des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz, in Gründung, und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in einem Aufsatz in „Biological Reviews“.
Bei Tierarten mit getrennten Geschlechtern unterscheiden sich Weibchen und Männchen oft in Bezug auf Körperbau, Stoffwechsel und Verhalten. Auch das Ausmaß des Wettbewerbs um Paarungspartner, die Partnerwahl und die elterliche Fürsorge sind oft geschlechtsabhängig. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass Weibchen im Allgemeinen bei der Partnerwahl wählerischer sind als Männchen, und dass Männchen eher um Paarungsmöglichkeiten konkurrieren als Weibchen. Dieses Muster wird oft als „konventionelle“ Geschlechterrollen bezeichnet. Es gibt aber auch das entgegengesetzte Muster („umgekehrte“ Geschlechterrollen). Außerdem variieren die Geschlechterrollen im Allgemeinen sowohl zwischen als auch innerhalb von Arten stark. Doch wie lässt sich diese erstaunlich große Variation der Geschlechterrollen erklären? Das Team um Peter Kappeler vom Deutschen Primatenzentrum wertete nun die Literatur zu Geschlechterrollen bei Tieren aus und stellte fest, dass das Verhältnis von erwachsenen Männchen zu Weibchen in einer Population wahrscheinlich ein starker evolutionärer Faktor für die Erklärung von Geschlechterrollen ist. Die Untersuchung zeigt auch unbeantwortete Fragen auf und macht Vorschläge für Forschungsarbeiten, die zu einem besseren Verständnis der sexuellen Selektion und der Evolution der Geschlechterrollen führen können.
Nach neueren theoretischen und empirischen Erkenntnissen spielt das Geschlechterverhältnis zwischen erwachsenen Männchen und Weibchen in einer sozialen Gruppe, Population oder Art („adult sex ratio“) eine entscheidende Rolle für die Variation der Geschlechterrollen. Obwohl man im Allgemeinen ein ausgewogenes Verhältnis von Männchen zu Weibchen (50:50) erwartet, weicht das Geschlechterverhältnis in der Natur bei einer Vielzahl von Tieren erheblich davon ab. Bei manchen Asseln beispielsweise liegt der Anteil der Männchen bei nur einem Prozent, während bei einigen Vogelarten bis zu 90 Prozent Männchen sind. Variationen im Geschlechterverhältnis können auf verschiedenen räumlichen Ebenen gemessen werden. Zum Beispiel kann das Geschlechterverhältnis von sozialen Arten zwischen benachbarten Gruppen erheblich variieren. So ergaben Langzeituntersuchungen große Unterschiede im Geschlechterverhältnis zwischen Gruppen von Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta). „Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der sozialen Dominanz – ein Merkmal, das direkt mit den Geschlechterrollen zusammenhängt – hängen bei Tüpfelhyänen von der Gruppenzusammensetzung ab. Wir müssen aber noch herausfinden, ob das Geschlechterverhältnis das Konkurrenzverhalten von Weibchen und Männchen beeinflusst“, sagt Oliver Höner, Leiter des Ngorongoro-Hyänenprojekts am Leibniz-IZW und Co-Autor des Aufsatzes.
„Es wäre auch interessant herauszufinden, ob sich Veränderungen im Geschlechterverhältnis von Hyänengruppen auf die Leistungsfähigkeit dieser Gruppen und der Gesamtpopulation auswirken“, ergänzt Sarah Benhaiem, Leiterin des Serengeti-Tüpfelhyänenprojekts am Leibniz-IZW und Co-Autorin des Aufsatzes. Auch innerhalb von Gruppen kann das Geschlechterverhältnis im Laufe der Zeit erheblich schwanken. Die Bedeutung dieser Schwankungen hängt natürlich von der Lebensgeschichte und der Generationszeit einer bestimmten Art ab, aber der springende Punkt ist, dass das lokale Geschlechterverhältnis in einem bestimmten Lebensraum nicht unbedingt stabil ist.
Das Geschlechterverhältnis kann mehrere Komponenten der Geschlechterrollen beeinflussen. Bei Grillkuckucken (Centropus grillii) zum Beispiel gibt es deutlich mehr Männchen als Weibchen, was mit vermehrtem weiblichem Wettbewerb und ausschließlich männlicher Brutpflege verbunden ist. „Wir liefern die erste systematische Übersicht über die Auswirkungen von Verzerrungen des Geschlechterverhältnisses auf Partnerwahl, Geschlechterkonflikte, elterliche Brutfürsorge, Paarungssysteme, Sozialverhalten, Hormonphysiologie und Fitness“, sagt Wolfgang Goymann vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz, in Gründung, und Mitautor des Fachaufsatzes. Ein Beispiel sind Hormone: Sie spielen eine Schlüsselrolle in der Regulation von Konkurrenz, der Interaktion mit Paarungspartnern und des elterlichen Verhaltens. Die Hormonspiegel selbst wiederum können durch solche Interaktionen beeinflusst werden. Einer der besten Belege für einen Zusammenhang stammt aus einer Studie am Menschen: Bei einem Frisbee-Turnier beeinflusste das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Zuschauern den Testosteronspiegel der Spieler beider Geschlechter.
Abgesehen von diesen Beziehungen zwischen dem Geschlechterverhältnis und den Geschlechterrollen können Unterschiede in der Anzahl der Weibchen und Männchen auch für Naturschutzbelange von Bedeutung sein. Bei vielen Arten wird das Geschlecht eines Individuums nicht genetisch, sondern durch abiotische Umweltfaktoren wie beispielsweise der Umgebungstemperatur bestimmt. Bei diesen Arten können die Auswirkungen des Klimawandels zu extremen Verzerrungen des Geschlechterverhältnisses führen und somit die Populationsdemografie und -genetik beeinflussen. Bei Zauneidechsen (Lacerta viviparia) führte beispielsweise ein Überschuss an Männchen zu verstärkter Aggression gegenüber den Weibchen, deren Überlebensrate und Fruchtbarkeit in der Folge abnahmen. Dadurch verstärkte sich der männliche Anteil weiter, und die Größe des gesamten Bestandes der Art ging dramatisch zurück. Die möglichen Auswirkungen von Verzerrungen im Geschlechterverhältnis auf die Populationsdynamik könnten daher auch für Naturschutzmaßnahmen von Bedeutung sein.
Originalpublikation:
Kappeler PM, Benhaiem S, Fichtel C, Fromhage L, Höner OP, Jennions MD, Kaiser S, Krüger O, Schneider JM, Tun, C, van Schaik J, Goymann, W (2022): Sex roles and sex ratios in animals. Biol Rev. DOI: 10.1111/brv.12915

30.11.2022, Veterinärmedizinische Universität Wien
Das Sexleben von Laubenvögeln: Für schwächere Männchen kann es sich auszahlen, sich zusammenzuschließen
Männliche Gefleckte Laubenvögel (lat.: Ptilonorhynchus maculatus) bauen und verteidigen eine Struktur aus Stöcken und Stroh – die Laube. Diese Nester schmücken sie mit Gegenständen, um während der Brutzeit Partnerinnen anzulocken. Bestimmte ortsfremde, untergeordnete Männchen werden von ansässigen Männchen in ihren Lauben über mehrere Brutzeiten toleriert. Frühere Untersuchungen zeigten, dass „Männerbünde“ untergeordneten Männchen indirekte Vorteile bringen. Unklar war jedoch, ob rangniedrigere Männchen auch direkte Vorteile haben. Eine aktuelle Studie der Vetmeduni zeigt nun erstmals, dass in seltenen Fällen die rangniedrigeren Vögel direkt durch Kopulationen profitieren.
Eine aktuelle Studie der Vetmeduni dokumentiert vier Fälle von heimlichen Paarungen bzw. Paarungsversuchen von untergeordneten Männchen. Die Fälle wurden in den Lauben von Gefleckten Laubenvögeln während der Brutsaison 2018 beobachtet. Mehrere gebietsfremde Männchen störten die laufenden Kopulationen zwischen dem Laubenbesitzer und einem empfänglichen Weibchen, und diesen Ereignissen folgten heftige aggressive Interaktionen. „Diese Beobachtungen werfen ein neues Licht auf die gleichgeschlechtliche soziale Dynamik bei Laubenvögeln und stützen die Hypothese, dass untergeordnete Männchen geschlechtsreife Individuen sind, die gelegentlich Zugang zu Weibchen erhalten, während sie etablierte Lauben besuchen“, so Studien-Erstautor Giovanni Spezie vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Vetmeduni.
Erstmalige Beobachtung extrem seltener Ereignisse
Die Seltenheit der nun beobachteten Ereignisse ist bemerkenswert. Bei Gefleckten Laubenvögeln werden umfangreiche Beobachtungen bereits seit mehreren Jahrzehnten durchgeführt – doch bisher konnte keines der nun beobachteten Kopulationsereignisse dokumentiert werden. Dazu Studien-Letztautor Leonida Fusani vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Vetmeduni: „Dass wir mindestens vier unabhängige Beobachtungen bei verschiedenen Individuen aufzeichnen konnten, weist stark darauf hin, dass hinterhältige Kopulationen kein isoliertes und abnormales Verhalten sind. Vielmehr handelt es sich um ein Verhaltensmuster oder eine alternative Fortpflanzungsstrategie von untergeordneten Männchen.“
Beta profitiert von Alpha – Männerbünde zum eigenen Vorteil nützen
Mann-Mann-Koalitionen wurden bisher insbesondere bei Vögeln wie Manakins, Moorhühnern, Pfauen, Wildtruthähnen und Laubenvögeln beobachtet. Ein gemeinsames Merkmal der meisten Balzkoalitionen ist, dass auf ein dominantes „Alpha“-Männchen alle oder die meisten Kopulationen entfallen, während untergeordnete „Beta“-Männchen auf die Fortpflanzung verzichten und keinen – oder nur sehr begrenzten – Zugang zu Partnerinnen erhalten. Das Opfern des Fortpflanzungspotentials für einen Männerbund mag paradox erscheinen, hat aber direkte und indirekte Vorteile für die untergeordneten Männchen. Indirekt profitieren die Tiere beispielsweise davon, dass sie die Stellung des Alpha-Männchens nach dessen Tod übernehmen oder von diesem für den Paarungserfolg wichtige Verhaltensformen lernen. Direkte Vorteile ziehen sie aus heimlichen Paarungen mit Weibchen.
Originalpublikation:
Der Artikel „Sneaky copulations by subordinate males suggest direct fitness benefits from male-male associations in spotted bowerbirds (Ptilonorhynchus maculatus)“ von Giovanni Spezie und Leonida Fusani wurde in „Ethology“ veröffentlicht.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/eth.13336

30.11.2022, Deutsche Wildtier Stiftung
Klimawandel bringt Vogelzug durcheinander
Die Opportunisten unter den Vögeln kommen mit den veränderten Umweltbedingungen zurecht, sensible Vögel wie der Waldrapp brauchen unsere Hilfe
Eine aktuelle Meldung des Waldrappteam Conservation & Research lässt Ornithologen aufhorchen: Der Großteil der Waldrappe aus den Kolonien des nördlichen Alpenvorlandes hat noch immer nicht die Berge Richtung Süden überquert. Nun sind die Zugvögel durch den nahenden Wintereinbruch akut gefährdet. Konkret sind es 17 Vögel aus der Kolonie Überlingen am Bodensee in Baden-Württemberg, die sich nahe der Stadt Chur im Schweizer Kanton Graubünden aufhalten, sowie 29 Vögel aus den beiden Kolonien Kuchl im Land Salzburg und Burghausen in Bayern. Die Vögel müssen nun von den Artenschützern des Waldrappteams eingefangen und in den Südalpenbereich gefahren werden. Von dort aus sollen sie allein in ihr Winterquartier in die Toskana fliegen. Die Jungvögel in der Gruppe konnten somit nicht die gesamte Zugroute erlernen. Trotzdem – so hoffen die Artenschützer – werden sie als geschlechtsreife Tiere den Weg zurück in ihre Brutgebiete selbständig finden. Klappt das nicht, könnten sie in Brutkolonien südlich der Alpen integriert werden.
„Der Klimawandel bringt den Vogelzug gehörig durcheinander. Die Zugvögel müssen lernen, mit den veränderten Umweltbedingungen zurechtzukommen. Das schaffen einige Arten schnell, andere bleiben sprichwörtlich auf der Strecke“, sagt Professor Dr. Klaus Hackländer, Wildtierbiologe und Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung. Vor allem der ungewöhnlich milde Oktober mit Temperaturen von bis zu 26 Grad wirkte sich dieses Jahr auf die Aktivität vieler Zugvögel aus. Laut Deutschem Wetterdienst lagen die Temperaturen dabei etwa acht bis neun Grad über dem langjährigen Mittel. Das hat Folgen – auch für die Tiere. Johannes Fritz, Leiter des Waldrappteam Conservation & Research bestätigt: „Seit die Waldrappe vor rund 10 Jahren mit dem Zugverhalten begonnen haben, beobachten wir einen klaren Trend: Der Beginn der Herbstmigration wird zunehmend variabler und die Abflüge erfolgen immer später.“ Anfänglich begannen die Anflüge der Waldrappe Richtung Alpen in den ersten Oktobertagen. Im vergangenen Jahr querte ein Großteil der Vögel die Alpen erst am 26. Oktober und in diesem Jahr starteten sie erst am 31. Oktober.
Während sensible und seltene Vögel wie der Waldrapp den Abflug verpassen, fliegen opportunistisch veranlagte Vögel mit großen Populationen wie die Kraniche oder Graugänse gar nicht erst los. So platzt der Galenbecker See, ein bedeutendes Schlaf- und Rastgebiet nahe des Stiftungsgutes Klepelshagen in Mecklenburg-Vorpommern mit bis zu 25.000 Kranichen im Herbst aus allen Nähten. Ein Teil der Kraniche versucht jedes Jahr dort auch zu überwintern. „Solange die Seen nicht zufrieren, in denen die Schlafplätze der Kraniche liegen, und sie genug zu futtern finden, sehen sie keinen Grund, woanders hinzuziehen“, sagt Hackländer.
Das Zugverhalten eines Vogels liegt in seinen Genen. Wie lange einzelne Vogelarten brauchen werden, um sich an den Klimawandel anzupassen, lässt sich schwer vorhersagen. „Natürlich brauchen alle Vögel unserer Unterstützung“, sagt Hackländer. „Wollen wir aber seltene Arten retten, dann müssen wir vor allem jene Vögel im Auge haben, die sich mit der Klimaveränderung schwer tun, und ihnen helfen.“ Die Deutsche Wildtier Stiftung unterstützt das Waldrappteam Conservation & Research, indem sie GPS-Sender zur Verfügung stellt, die die Flugroute der Tiere dokumentieren. So lassen sich Zugverhalten und Gefahrenstellen schnell ermitteln.

02.12.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Markierungsbäume von Geparden sind Hotspots der Kommunikation – auch für andere Tierarten
Markierungsbäume sind für Geparde wichtige Hotspots der Kommunikation: Dort tauschen sie über Duftmarken, Urin und Kot Informationen mit anderen und über andere Geparde aus. Ein Team vom Gepardenforschungsprojekt des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) zeigte nun, dass weitere Säugetierarten auf Farmland in Namibia an den Bäumen der Geparde ein Netzwerk für inner- und zwischenartliche Kommunikation unterhalten. Schabrackenschakale, Afrikanische Wildkatzen und Warzenschweine besuchten und beschnüffelten die „Szenekneipen der Geparde“ häufiger als die Kontrollbäume.
Dies analysierte das Team des Gepardenforschungsprojekts anhand von Fotos und Videos aus Wildtierkameras in der Fachzeitschrift „Mammalian Biology“. Eine klassische Beutetierart der Geparde mied deren Hotspots hingegen.
Viele Säugetierarten nutzen Duftmarken, Urin und Kot, um indirekt miteinander zu kommunizieren. Damit hinterlassen, erhalten oder tauschen sie Informationen über ihre territorialen Besitzansprüche, Fortpflanzungsbereitschaft Gesundheitsstatus oder Nahrung aus. Ob und wie die Geruchskommunikation einer Tierart auch von anderen Tierarten genutzt wird, ist jedoch kaum erforscht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Gepardenforschungsprojekt des Leibniz-IZW beobachteten nun mit Wildtierkameras neun Markierungsbäume von Geparden (Acinonyx jubatus) und neun ähnlich aussehende Kontrollbäume auf Farmland in Namibia. Das Team stellte fest, dass einige Tierarten die Gepardenmarkierungsbäume häufiger besuchten und beschnüffelten als die Kontrollbäume. Das ist ein Anzeichen dafür, dass diese Tierarten wichtige Informationen von den Gepardendüften erhielten. Andere Tierarten tauschten Geruchsinformationen gleich häufig an Gepardenmarkierungsbäumen und Kontrollbäumen aus. Das deutet darauf hin, dass diese Tierarten gerne auffällige Bäume für ihre eigene Kommunikation nutzten, jedoch nicht spezifisch die Gepardenbäume dafür auswählen. Die Forschenden schließen daraus, dass einige Säugetierarten auf Farmland in Namibia ein Netzwerk für inner- und zwischenartliche Kommunikation unterhalten.
Während der 65 Tage dauernden Überwachung besuchten 29 Säugetierarten die Gepardenmarkierungsbäume und Kontrollbäume. Es wurde eine höhere Diversität von Arten an den Gepardenmarkierungsbäumen als den Kontrollbäumen festgestellt, wobei die meisten Tierarten die Bäume nur wenige Male besuchten. Für die Analysen wurden nur die Tierarten miteinbezogen, die mindestens 20 Mal die Bäume besuchten, an ihnen rochen oder sie markierten. Die Gepardenmarkierungsbäume und Kontrollbäume wurden auf diesem hohen Niveau von 13 Tierarten besucht, von 9 Arten beschnüffelt und von einer Art markiert.
Mit Afrikanischen Wildkatzen (Felis lybica lybica), Schabrackenschakalen (Lupulella mesomelas) und Warzenschweinen (Phacochoerus africanus) besuchten und beschnüffelten zwei kleine fleischfressende Arten sowie eine von Geparden nur selten erlegt Art die Gepardenmarkierungsbäume häufiger als die Kontrollbäume. „Wahrscheinlich besuchen kleine fleischfressende Arten die Gepardenmarkierungsbäume, um abzuschätzen, wann Geparde zum letzten Mal bei den Bäumen waren oder auch um unverdaute Beutereste in deren Kot zu fressen”, interpretiert Dr. Sarah Edwards, Erstautorin des Aufsatzes, die Ergebnisse. „Warzenschweine sind Allesfresser und opportunistische Aasfresser, daher fressen sie wahrscheinlich auch unverdaute Beutereste im Gepardenkot. Zudem waren sie die einzige Tierart, die Geruchsinformationen hinterließen und zwar mit der gleichen Häufigkeit an Gepardenmarkierungsbäumen und Kontrollbäumen. Das deutet darauf hin, dass sie auffällige Strukturen wie große Bäume für ihre innerartliche Kommunikation nutzten”, ergänzt Edwards.
Umgekehrt besuchten Kronenducker (Sylvicapra grimmia), eine wichtige Beutetierart für Geparde, deren Markierungsbäume weniger häufig als die Kontrollbäume. Leoparden hingegen, die stärksten Raubtiere im Untersuchungsgebiet des Projekts, besuchten sowohl Gepardenmarkierungsbäume als auch Kontrollbäume und rochen, urinierten, kratzten und scheuerten Kopf und Körper an den Bäumen. „Auch wenn sie die Bäume weniger als 20 Mal besuchten, ist es möglich, dass Leoparden auffällige Bäume für ihre innerartliche Kommunikation nutzten und gleichzeitig an den Gepardenmarkierungsbäume ihre Anwesenheit gegenüber den Geparden demonstrierten“, sagt Dr. Bettina Wachter, Letztautorin des Aufsatzes und Leiterin des Gepardenforschungsprojekts.
Zwischenartliche Kommunikation wird meist zwischen Beutetieren und Raubtieren oder zwischen fleischfressenden Tierarten beschrieben. Meist riechen dabei Beutetiere und kleine Fleischfresser an Markierungen von Raubtieren. Während Beutetiere normalerweise nicht an Markierungsstellen von Raubtieren Duftmarken absetzen, kommt es durchaus vor, dass Fleischfresser bereits bestehende Duftmarken mit eigenen überdecken. Wenn solche Duftüberlagerungen an auffälligen Stellen stattfinden, ist die Information wahrscheinlich eher an Artgenossen als an artfremde Individuen gerichtet. „In unserer Untersuchung überwachten wir neun Markierungsbäume von Geparden und neun ähnlich aussehende, nahegelegene Kontrollbäume. Auch die Kontrollbäume waren auffällige, einzelnstehende und große Exemplare, was typisch für Gepardenmarkierungsbäume ist“, erklärt Dr. Jörg Melzheimer, Initiator der Analyse. „Wir nutzten diesen vergleichenden Ansatz um herauszufinden, ob Säugetierarten nur für innerartliche oder auch für zwischenartliche Kommunikation zu den Bäumen kommen.“
Mit der Kameraüberwachung beider Baumtypen konnten die Forschenden zeigen, dass einige Tierarten wichtige Informationen von anderen Säugetierarten einholten. „Es ist daher wahrscheinlich, dass Säugetiere in Namibia ein über Arten hinweg bestehendes Kommunikationsnetzwerk unterhalten”, folgern Wachter und Melzheimer. „Dieses Netzwerk ist wahrscheinlich entlang den Gepardenmarkierungsbäumen sowie entlang von Kommunikationsstellen anderer Tierarten ausgerichtet – beispielsweise Latrinen von Schabrackenhyänen oder Tüpfelhyänen. Wissenschaftliche Untersuchungen zu zwischenartlicher Kommunikation von verschiedenen Tierarten in unterschiedlichen Populationen und Ökosystemen werden weitere Details über die Komplexität von Kommunikationsnetzwerken aufdecken.”
In einer vorherigen Arbeit zeigten Melzheimer, Wachter und Kolleg:innen die große Bedeutung und Funktionsweise der Gepardenmarkierungsbäume als Hotspots innerartlicher Kommunikation auf und wiesen nach, dass dieses detaillierte Wissen zur räumlichen Ökologie und Kommunikation der Raubkatzen dazu genutzt werden kann, Konflikte zwischen Menschen und Wildtieren zu reduzieren. Diese Arbeit wurde im Dezember 2020 in den „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ veröffentlicht.
Originalpublikation:
Edwards S, Mueller R, Roeder R, Melzheimer J, Wachter B (2022): Cheetah marking sites are also used by other species for communication: evidence from photographic data in a comparative setup. MAMM BIOL. DOI: 10.1007/s42991-022-00284-w

Dieser Beitrag wurde unter Wissenschaft/Naturschutz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert