Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

14.11.2022, Dipl. Soz. Steven Seet Wissenschaftskommunikation
Die Erfassung des Kollisionsrisikos für Fledermäuse wird bei großen Windkraftanlagen ungenau
Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Um Fledermäuse vor der Kollision mit Windenergieanlagen zu schützen, werden in Genehmigungsverfahren akustische Erhebungen durchgeführt. Diese erfassen die Aktivität der Tiere in der Risikozone der drehenden Rotorblätter und helfen somit, Abschaltzeiten zur Verminderung des Kollisionsrisikos zu definieren. In einer neuen Untersuchung zeigte ein Forschungsteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW), dass diese akustischen Erhebungen unzureichend sind, wenn Fledermäuse ungleichmäßig in der Risikozone verteilt sind und wenn der Erfassungsbereich der akustischen Detektoren zu klein ist – wie es bei großen Anlagen der Fall ist.
Aufgrund dieser Forschungsergebnisse sollten die akustischen Erhebungen regelmäßig durch Schlagopfersuche begleitet und die akustischen Erhebungen gegebenenfalls um weitere Ultraschalldetektoren zum Beispiel am unteren Streifpunkt der Rotorblätter ergänzt werden, so das Team in einem Aufsatz in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Conservation Science and Practice“.
Energieproduktion aus Windkraft ist ein wichtiges Standbein der deutschen Energiewende, um die Abhängigkeit von fossilen und nuklearen Energieträgern zu reduzieren und eine klimaneutrale Energieproduktion zu erreichen. Die Bundesregierung formulierte jüngst ehrgeizige Ziele zum schnellen Ausbau der Windenergieproduktion auf 2 Prozent der Fläche Deutschlands. Um die Energieausbeute zu maximieren, kommen dabei immer häufiger große Windenergieanlagen (WEA) mit besonders langen Rotorblättern zum Einsatz. Jedoch kollidieren viele seltene und geschützte Fledermäuse an Windenergieanlagen. „Das massenhafte Sterben lässt sich verhindern, wenn die Anlagen in Zeiten hoher Fledermausaktivität zeitweise abgestellt werden. Die Einbußen in der Energieproduktion sind klein und sollten angesichts der günstigen Energieproduktion aus Windkraft tolerierbar sein“, sagt PD Dr. Christian Voigt, Leiter der Abteilung für Evolutionäre Ökologie am Leibniz-IZW.
Im Rahmen von Genehmigungsverfahren wird die Aktivität von Fledermäusen in der Risikozone von WEA – jener Bereich, der von den Rotorblättern durchstreift wird – mit Hilfe von Ultraschalldetektoren erfasst. Damit sollen jene Zeiten und Umweltbedingungen wie Umgebungstemperatur und Windstärke ermittelt werden, bei denen Fledermäuse aktiv sind und bei denen somit die Anlagen zeitweise abgestellt werden sollten. „Um wirksame Abschaltzeiten für den Fledermausschutz zu formulieren, müssen die akustischen Erhebungen insbesondere in der Risikozone der drehenden Rotorblätter durchgeführt werden. Tatsächlich werden aktuell die WEA immer größer und die akustische Erfassung mit Ultraschalldetektoren hält mit dieser technischen Entwicklung nicht Schritt. Die technischen Lösungen zum Schutz von Fledermäusen könnten deshalb an großen Anlagen unwirksam werden, was potenziell auf Kosten der Fledermäuse wie auf Kosten der Energieproduktion geht.“
Gemeinsam mit einem Kollegen des Leibniz-IZW sowie einem Experten für die akustische Erfassung von Fledermäusen an WEA untersuchte Voigt deshalb, welche Faktoren die Vorhersagegüte der relevanten analytischen mathematischen Modelle beeinflussen. Dazu variierten sie in einer mathematischen Simulation sowohl die räumliche Verteilung der Fledermäuse als auch den Erfassungsbereich der Ultraschalldetektoren in der Risikozone der Rotorblätter. Der Erfassungsbereich der Ultraschallgeräte nimmt mit der Länge der Rotorblätter und mit zunehmender Echoortungsfrequenz der lokal vorkommenden Fledermäuse ab. Hochfrequente Echoortungsrufe werden bei der Schallausbreitung besonders stark gedämpft und können deshalb von Ultraschalldetektoren nur über kurze Distanzen von 10-20 Metern erfasst werden.
Die Autoren stellten fest, dass bei einer gleichmäßigen Verteilung der Durchflüge von Fledermäusen in der Risikozone der WEA die Vorhersagen der Modelle akkurat sind, auch bei großen Anlagen. Fledermausarten mit tieffrequenten Echoortungsrufen wurden ebenfalls ausreichend erfasst, da deren Rufe über relativ weite Distanzen tragen.
Wenn jedoch die Fledermäuse ungleichmäßig in der Risikozone verteilt sind, kommt es je nach räumlicher Verteilung zu Unter- oder Überschätzungen der akustischen Aktivität in der Risikozone und somit zu fehlerhaften Abschaltzeiten. Eine Unterschätzung kann es auch dann geben, wenn an den WEA besonders häufig Fledermäuse mit hochfrequenten Echoortungsrufen anfliegen. „Wird die akustische Aktivität der Fledermäuse unterschätzt, werden die WEA zu kurz und zu falschen Zeiten abgeschaltet und es kommen viele Fledermäuse zu Tode. Wird hingegen die akustische Aktivität überschätzt, sind die Abschaltungsvorschriften zu strikt und die WEA produzieren keine Energie, obgleich keine Fledermäuse in Gefahr sind“, sagt Voigt. „Wir könnten die akustische Erfassung bei großen WEA zum Beispiel durch empfindlichere und zusätzliche Ultraschalldetektoren verbessern. Und natürlich würde es helfen, wenn wir die räumliche Verteilung der Durchflüge von Fledermäusen an WEA besser verstünden und somit lokal präzise vorhersagen können.“ Dadurch ließe sich der Schutz von Fledermäusen vor allem an den neuen großen Anlagen unter Optimierung der Energieausbeute verbessern. Zusätzlich müsste über die Schlagopfersuche an neuen WEA geprüft werden, ob die empfohlenen Abschaltzeiten greifen. „Vertrauen in solche Modelle ist gut, Kontrolle ist besser“, empfiehlt Voigt.
WEA stellen weltweit ein großes Artenschutzproblem dar, da viele Fledermäuse und Greifvögel an den Anlagen zu Tode kommen. Besonders ziehende Fledermausarten und solche, die im offenen Luftraum nach Insekten jagen, sind vom Schlag an WEA betroffen. Der wirksamste Schutz für Fledermäuse besteht darin, nur an solchen Orten WEA zu errichten, an denen eine geringe Fledermausaktivität besteht, so die Autoren. Wenn die WEA in Betrieb genommen werden, solle die Anlage darüber hinaus in Zeiten hoher Fledermausaktivität abgestellt werden. Dies wird bei ungefähr 25% der 30.000 Anlagen, die in Deutschland in Betrieb sind, praktiziert. Bei mehr als 20.000 Altanlagen wird in Deutschland kein Fledermausschutz praktiziert. Da im Durchschnitt an jeder WEA pro Jahr 15 Fledermäuse zu Tode kommen, liegt die geschätzte Schlagopferzahl von Fledermäusen an WEA in Deutschland bei einhundert bis zweihundert tausend Fledermäusen pro Jahr. „Präzise und wirksame Abschaltauflagen für den Fledermausschutz sollten sowohl für neue als auch für alte WEA die Regel sein, um eine ökologisch nachhaltige Energiewende zu erreichen“, schließt Voigt.
Originalpublikation:
Voigt CC, Scherer C, Runkel V (2022): Modelling the power of acoustic monitoring to predict bat fatalities at wind turbines. Conservation Science and Practice. DOI: 10.1111/csp2.12841

14.11.2022, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Weltweit erster fossiler Beleg für lebendgebärende Schlangen
Ein argentinisch-deutsches Wissenschaftler*innen-Team, unter ihnen Senckenberger Krister Smith, hat den weltweit ersten fossilen Beleg für eine Lebendgeburt bei Schlangen erbracht. Das untersuchte Fossil stammt aus dem hessischen UNESCO-Welterbe Grube Messel. In der im Fachjournal „The Science of Nature“ erschienenen Studie beschreiben die Forschenden Knochen von Schlangenembryonen, die im Körper des Muttertiers entdeckt wurden. Der Fund zeigt, dass es schon vor mindestens 47 Millionen Jahren lebendgebärende Schlangen gab.
Die meisten heute lebenden Reptilien legen Eier, die sogenannte Oviparie ist ihre gängigste Fortpflanzungsweise. Doch es gibt auch Ausnahmen: Zahlreiche Eidechsen- und Schlangen-Arten sind dafür bekannt von der Norm abzuweichen und ihren Nachwuchs lebend – vivipar – auf die Welt zu bringen. „Die fossile Erhaltung von Fortpflanzungsereignissen ist generell sehr selten. Insgesamt wurden bislang nur zwei Fossilbelege zu viviparen Reptilien entdeckt. Uns ist es nun gelungen das weltweit erste Fossil einer lebendgebärdenden Schlange zu beschreiben!“, berichtet PD Dr. Krister Smith vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt.
Das Fossil Messelophis variatus aus einer Familie der Boa-Artigen ist etwa 50 Zentimeter lang, stammt aus der Zeit des Eozäns und ist mit heutigen Zwergboas Mittelamerikas verwandt. „Die Art gehört zu den häufigsten Schlangen, die wir aus Messel kennen. Dennoch hat uns dieses etwa 47 Millionen Jahre alte Exemplar überrascht: Es handelt sich um ein trächtiges Weibchen mit mindestens zwei Embryonen, die sich im hinteren Drittel ihrer Rumpfregion finden“, erklärt Dr. Mariana Chuliver, Erstautorin der Studie von der Fundación de Historia Natural in Buenos Aires. Ihre Kollegin und Mitautorin Dr. Agustín Scanferla ergänzt: „Bei unserer Untersuchung haben wir festgestellt, dass einige der Schädelknochen im Fossil von kleinen, nicht mehr als 20 Zentimeter langen Boas stammen. Diese Knochen liegen ein gutes Stück hinter dem Magen – würde es sich dabei um Beutetiere der Schlange handeln, wären diese so weit hinten im Darm bereits zersetzt und nicht mehr zu erkennen. Es muss sich also um Embryonen der Boa handeln. Die Tatsache, dass die Knochen von sehr jungen – aber dennoch weiter als in einem ungelegten Ei entwickelten – Schlangen stammen, unterstreicht, dass es sich um ein trächtiges, lebendgebärendes Weibchen handelt.“
Bei der Lebendgeburt bleiben die Jungen im Körper des Weibchens bis sie lebensfähig sind – das macht eine schützende Eischale überflüssig. Dies wird als eine gute evolutionäre Strategie für Reptilien in kalten Klimazonen angesehen, da die Temperatur im Körper des Weibchens stabiler und damit sicherer für deren Nachwuchs ist. So haben sich viele heutige lebendgebärende Eidechsen und Schlangen in eher kühleren Gebieten entwickelt. „Zur Zeit des eozänen Messelsees herrschte auf der Erde aber ein anhaltendes Treibhausklima mit warmen Temperaturen, einem hohen Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre und eisfreien Polen. Rund um Messel lagen die Durchschnittstemperaturen damals bei etwa 20 Grad Celsius, die Wintertemperaturen fielen nicht unter den Gefrierpunkt. Warum die Boas vor 47 Millionen Jahren dennoch ihren Nachwuchs lebend zur Welt brachten, ist noch ungeklärt. Vielleicht werden uns weitere Fossilien aus dieser einzigartigen Fundstelle helfen, dieses Rätsel zu lösen!“, fasst Smith zusammen.
Originalpublikation:
Chuliver, M., Scanferla, A. & Smith, K.T. Live birth in a 47-million-year-old snake. Sci Nat 109, 56 (2022). https://doi.org/10.1007/s00114-022-01828-3

15.11.2022, Deutsche Wildtier Stiftung
Das Tier des Jahres 2023 ist der Gartenschläfer
Der Bilch mit der Augenmaske findet immer weniger geeignete Lebensräume und steht als „stark gefährdet“ auf der Roten Liste Deutschlands
Die Deutsche Wildtier Stiftung ernennt den Gartenschläfer (Eliomys quercinus) zum Tier des Jahres 2023. Er ist ein eher unbekanntes Familienmitglied der Bilche, zu denen auch der Siebenschläfer, die Haselmaus und der sehr seltene Baumschläfer gehören. Einst in vielen Landesteilen verbreitet, steht das Nagetier inzwischen als „stark gefährdet“ auf der Roten Liste Deutschlands. Der Gartenschläfer war eines von drei Säugetieren des Lebensraumes Wald, das die Stiftung ihren Spenderinnen und Spendern zur Wahl gestellt hatte. Mit dem Titel „Tier des Jahres“ möchte die Stiftung auf diese faszinierende und bedrohte Art aufmerksam machen, um so zu ihrem Schutz beizutragen.
Schwarze Augenmaske, langer Schwanz und große Ohren – das sind die drei charakteristischsten Merkmale des gut faustgroßen Pelzträgers. Er ist ein Kletterkünstler, Winterschläfer und ein echter Allesfresser. Der Gartenschläfer lebt gerne in unseren Parks und Gärten – in Südwestdeutschland sind sie seine Hauptverbreitungsgebiete. Dort verkriecht er sich in Hecken, Mauerspalten, Schuppen oder Nistkästen. Und so kann man seine Zorro-Maske manchmal sogar auf dem Balkon entdecken. Allerdings nur nachts, denn das Tier des Jahres 2023 verschläft seine Tage und ist nur in der Dunkelheit aktiv. Sein Winterschlaf dauert rund sechs Monate und seine Körpertemperatur sinkt dann bis auf rekordverdächtige -1 Grad. In Spanien, wo der Gartenschläfer ganzjährig Futter findet, muss er – wenn überhaupt – nur kurz in den Winterschlaf gehen; dafür hält er dort in trockenen Sommern ohne Nahrung schon mal eine mehrtägige Siesta.
Ursprünglich war der maskierte Schläfer in vielen struktur- und felsreichen Mittelgebirgen beheimatet – in diesen natürlichen Lebensräumen gibt es ihn heute nur noch im Harz, im Schwarzwald und in Bayern. Dort findet er ausreichend Versteckmöglichkeiten in Felsspalten, Baumhöhlen oder Totholz und dazu seine Lieblingsnahrung wie Käfer und Tausendfüßer. Wichtig ist für ihn zudem eine deckende Kraut- und Strauchschicht, in der er auch pflanzliche Nahrung wie Wildfrüchte und Beeren findet und sich vor allem gut vor seinen Feinden wie Füchsen, Mardern und Eulen verstecken kann. Da diese vielfältigen Strukturen in unseren Wäldern selten geworden sind, sind die Gartenschläfer-Bestände in natürlichen Lebensräumen sehr stark rückläufig. In Siedlungsbereichen lauern dagegen ganz andere Gefahren wie offene Regentonnen, Rattengift oder hungrige Hauskatzen auf ihn. Insgesamt ist das Verbreitungsgebiet des Gartenschläfers in Europa in den letzten 30 Jahren um fast die Hälfte geschrumpft.
„Die Deutsche Wildtier Stiftung möchte nicht nur die Aufmerksamkeit auf dieses bedrohte Tier lenken, sondern auch dabei helfen, wenigstens einige der noch bestehenden Geheimnisse rund um den Bilch zu lüften“, sagt Julia-Marie Battermann, Bilch-Expertin der Deutschen Wildtier Stiftung. „Denn je mehr wir über den Gartenschläfer wissen, umso besser können wir ihn schützen. Deshalb wollen wir Forschungsprojekte unterstützen, die die Ansprüche des Gartenschläfers untersuchen, um so Maßnahmen für seinen Fortbestand in Deutschland entwickeln zu können.“

15.11.2022, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Gut und schön: Biodiversität von Wiesen- und Weideflächen kann Gewinn für Natur, Landwirtschaft und Tourismus sein
Ein internationales Team um die Senckenberg-Forscher*innen Dr. Gaëtane Le Provost und Dr. Peter Manning hat in einer langangelegten Studie nachgewiesen, wie wichtig die Biodiversität von Wiesenflächen für ein breites Spektrum von Ökosystemleistungen und unterschiedliche Interessengruppen ist, vom Tourismus bis zur Landwirtschaft. Die jetzt in der Zeitschrift „Nature Ecology & Evolution“ erschienene Studie weitet dabei erstmals den Blick auf insgesamt 16 Ökosystemleistungen – von ökologisch bis kulturell – und betrachtet die Biodiversität landwirtschaftlich genutzter Wiesen- und Weideflächen im großen Maßstab.
Wo artenreiche Wiesenflächen Lebensraum für Bienen und andere Insekten bieten, profitiert neben der Natur auch die Landwirtschaft durch Ökosystemleistungen wie Bestäubung oder natürliche Schädlingsbekämpfung. Wie aber sieht es mit weniger offensichtlichen Ökosystemleistungen aus, die von Organismen unter der Erde erbracht werden und die Bodenqualität betreffen? Und wie genau wirkt sich eine hohe Biodiversität auf das Naturerlebnis aus, das als Freizeitaktivität und Erholungsmöglichkeit auch für den lokalen Tourismus eine wichtige Rolle spielt?
Um ein umfassendes Bild dieser Biodiversitätsdynamiken zu erhalten, hat ein internationales Forschungsteam um Dr. Gaëtane Le Provost und Dr. Peter Manning vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum in Frankfurt landwirtschaftlich genutzte Wiesen- und Weideflächen in verschiedenen ländlichen Regionen Deutschlands untersucht. Dabei werteten sie Daten aus, die seit 2006 im Rahmen des Projekts „Biodiversity Exploratories“ kontinuierlich für Flächen in der Schwäbischen Alb, der mitteldeutschen Hainich-Dün-Region und dem Brandenburgischen Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin erhoben werden. „Die Flächen unterscheiden sich in Klima und Topographie und sind gleichzeitig beispielhaft für unterschiedliche Arten typischer Wiesen-Nutzung in Mitteleuropa“, erklärt Le Provost und fährt fort: „Wir haben insgesamt 150 Wiesenflächen über den Zeitraum von 2006 bis 2018 untersucht und dabei erstmals 16 verschiedene Ökosystemleistungen in den Blick genommen – von Futterqualität und Bestäubung über eine Vielzahl von Faktoren zur Bodenqualität wie Kohlenstoffspeicherung oder Grundwasserneubildung bis zu sogenannten kulturellen Ökosystemleistungen, die unser Naturerlebnis betreffen. Zum Beispiel die Möglichkeit zur Vogelbeobachtung – oder schlicht der wohltuende Anblick einer üppig blühenden Wiese und der akustische Reichtum, den eine artenreiche Wiesenfläche durch Vogelgesang und andere Naturgeräusche bietet. Bei sehr vielen Ökosystemleistungen konnten wir einen positiven Effekt durch hohe Pflanzendiversität nachweisen!“
Erstmals nahmen die Forschenden für ihre nun im Journal „Nature Ecology & Evolution“ veröffentlichten Studie auch die Bedeutung der Ökosystemleistungen für verschiedene lokale Interessengruppen in den Blick: In Kooperation mit dem ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung wurden unter anderem Anwohner*innen sowie Vertreter*innen von Naturschutzorganisationen und der Agrar- und Tourismuswirtschaft zu Workshops eingeladen und repräsentativ befragt. „Wir haben festgestellt, dass ausnahmslos alle befragten Gruppen von einer hohen Biodiversität profitieren könnten – von Anwohner*innen bis zum Tourismus“, berichtet Sophie Peter, wissenschaftliche Mitarbeiterin am ISOE.
Zuletzt konnte das Forschungsteam den Nutzen hoher Pflanzendiversität nicht nur für kleinere Flächen nachweisen, sondern nahm auch die Biodiversitätsdynamiken in Bezug auf die weitere Umgebung in den Blick. „Dass die Pflanzendiversität der Umgebung Einfluss auf die Bereitstellung verschiedener Ökosystemleistungen hat, ist eine wichtige Grundlage für lokale Entscheidungsträger*innen“, betont Manning und fasst zusammen: „Politische Entscheidungen zur Landnutzung werden meist im großen Flächenmaßstab getroffen. Dass auch in diesen Dimensionen eine hohe Pflanzendiversität Vorteile für alle Beteiligten bringt – das ist mit unseren Daten nachweisbar!“
Originalpublikation:
Le Provost, G., Schenk, N.V., Penone, C. et al. The supply of multiple ecosystem services requires biodiversity across spatial scales. Nat Ecol Evol (2022). https://doi.org/10.1038/s41559-022-01918-5

17.11.2022, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Dornenkronenseesterne aus dem Roten Meer sind endemische Art
LMU- bzw. SNSB-Forschende haben korallenfressende Dornenkronenseesterne im Roten Meer als eigene Art identifiziert, die ausschließlich in diesem Lebensraum vorkommt.
Tropische Korallenriffe gehören zu den besonders gefährdeten Ökosystemen der Erde. Neben dem Klimawandel stellen korallenfressende Dornenkronenseesterne (Acanthaster spp.) in Teilen des Indo-Pazifiks eine der größten Bedrohungen dar. Diese bis zu 40 cm großen Tiere ernähren sich insbesondere von den Polypen schnellwachsender Steinkorallen. In vielen Fällen kommt es zu regelrechten Massenausbrüchen, bei denen sich die Seesterne schnell und massiv vermehren und viele Tausend Individuen Riffkorallen großflächig vernichten können. Diese Massenausbrüche wurden in den letzten Jahrzehnten immer häufiger, unter anderem weil die natürlichen Feinde der Seesterne durch Überfischung dezimiert wurden.
Dornenkronenseesterne sind im gesamten Indopazifik weit verbreitet. Ihr Name bezieht sich auf große Giftstacheln, die sie auf ihren Armen tragen. Aufgrund regionaler morphologischer Unterschiede wurden bereits in Vergangenheit verschiedene Arten beschrieben, die Verwandtschaftsverhältnisse blieben jedoch diffus. „Lange nahm man an, dass die erstbeschriebene Art der Gattung, Acanthaster planci, vom Roten Meer über den indischen Ozean bis über den gesamten Pazifik verbreitet ist“, sagt Gert Wörheide, Professor für Paläontologie und Geobiologie an der LMU sowie Direktor der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG). DNA-Barcoding-Daten aus einer von Wörheide betreuten Doktorarbeit zeigten aber bereits vor mehr als 10 Jahren, dass sich A. planci in vier stark divergierende genetische Linien unterteilen lässt, die mutmaßlich unterschiedliche Arten darstellen. Ein Team um Wörheide und Gerhard Haszprunar, Professor für Systematische Zoologie sowie Direktor der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM), hat nun mithilfe morphologischer Untersuchungen und genetischer Analysen nachgewiesen, dass die im Roten Meer beheimateten Dornenkronenseesterne eine eigene Art bilden, die nun als Acanthaster benziei beschrieben wurde. „Das hebt wieder einmal die Bedeutung des Roten Meeres als Ökosystem mit einer einzigartigen Fauna und zahlreichen endemischen Arten hervor“, unterstreicht Wörheide. Der neue Artname ehrt John Benzie, Professor am University College Cork, der mit seinen wegweisenden genetischen Studien über Dornenkronenseesterne in den 1990ern und seiner umfangreichen Sammlung Pionierarbeit geleistet hat.
Weniger Arme, dünnere Stacheln
Mit A. benziei gelang den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die erste Beschreibung einer neuen Art von Dornenkronenseesternen seit mehreren Jahrzehnten. „Bei Dornenkronenseesternen aus dem Roten Meer wurden zwar bereits früher vereinzelte Besonderheiten beobachtet, zum Beispiel eine eher nachtaktive Lebensweise oder eine wahrscheinlich geringere Toxizität der Stacheln, aber wir wussten noch nicht, dass es sich tatsächlich um eine eigenständige Art handelt“, so Wörheide. Die Untersuchungen bestätigten nun deutliche Unterschiede zwischen A. benziei und den anderen Arten des „A. planci“ Artenkomplexes. Neben charakteristischen Sequenzen in der mitochondrialen DNA gehören dazu auch morphologische Merkmale wie etwa eine geringere Anzahl von Armen und dünnere, anders geformte Stacheln.
„Da wir nun wissen, dass es sich um eine eigenständige Art handelt, können wir das Augenmerk jetzt auf die Biologie, Ökologie und Toxikologie von A. benziei und der anderen Acanthaster-Arten legen“, so Wörheide. Den Dornenkronenseesternen im Roten Meer wurde in der Vergangenheit auch eine geringere Tendenz zu Massenausbrüchen zugeschrieben. „Die sind vor allem von Acanthaster cf. solaris aus dem westlichen Pazifik bekannt und richten am Großen Barriere-Riff regelmäßig erhebliche Schäden an, während das Phänomen im Roten Meer weniger heftig aufzutreten scheint – ob das auch mit artspezifischen Charakteristika zu tun hat, könnte ein Gegenstand zukünftiger Untersuchungen sein“, sagt Wörheide. Bisher stammen die meisten Daten zu Biologie und Ökologie der Dornenkronenseesterne von Acanthaster cf. solaris aus dem westlichen Pazifik. „Durch die saubere Abgrenzung der verschiedenen Arten von korallenfressenden Dornenkronenseesternen können wir die Dynamik von Massenausbrüchen und damit einen weiteren der multiplen Stressoren, die auf tropische Riffe einwirken, noch detaillierter erforschen – letztendlich ein Schritt in Richtung eines besseren Managements der Riff-Ökosysteme.“
Originalpublikation:
Gert Wörheide, Emilie Kaltenbacher, Zara-Louise Cowan, Gerhard Haszprunar. A new species of crown-of-thorns sea star, Acanthaster benziei sp. nov. (Valvatida: Acanthasteridae), from the Red Sea. ZOOTAXA, 2022. DOI: 10.11646/zootaxa.5209.3.7
https://www.mapress.com/zt/article/view/zootaxa.5209.3.7

17.11.2022, Universität Rostock
Auf die Kleinen achten: Auswirkung der Eisbedeckung auf winzige Meerestiere
Gemeinsame Pressemitteilung der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und der Universität Rostock: Erstmals vergleichende Studie zu kleinsten und mittleren Bodentieren in der Antarktis veröffentlicht.
Wissenschaftlerinnen der Universität Rostock und Senckenberg am Meer haben erstmals untersucht, wie sich Gemeinschaften von Meiofauna und Makrofauna unter verschiedenen Umweltbedingungen im Südpolarmeer zusammensetzen. Sie zeigen in ihrer im Fachjournal „Marine Ecology Progress Series“ veröffentlichten Studie, dass sich eine unterschiedliche Meereisbedeckung zwar auf alle Organismengruppen am Meeresboden auswirkt – die kleineren Tiere der Meiofauna aber deutlich stärker beeinflusst sind.
Für zukünftige Bewertungen des Einflusses von Umwelt- und Klimaveränderungen auf die Ökosysteme des Antarktischen Ozeans sollten diese Organismen daher stärker berücksichtigt werden, so das Forscherinnen-Team.
Die kollabierten und schrumpfenden riesigen Larsen-Eisschelfe und ein antarktisches Meereis, das die geringste Ausdehnung seit Beginn der Messungen im Jahr 1979 hat – die Folgen des Klimawandels sind am Südpol bereits deutlich sichtbar. „Uns hat interessiert, wie sich eine unterschiedliche Meereisbedeckung in der Antarktis auf die Lebewesen am Meeresboden auswirkt – auch vor dem Hintergrund der globalen Erwärmung und als Beitrag zur Planung von zukünftigen Schutzgebieten. Hierfür haben wir erstmalig die Gemeinschaften von Organismen der Meiofauna und der Makrofauna in verschiedenen Regionen des Südozeans miteinander verglichen“, erklärt Friederike Säring, Erstautorin der Studie und Doktorandin an der Universität Rostock.
In ihrer großangelegten Studie werteten die Wissenschaftlerinnen 585.825 Individuen aus der Meiofauna – zwischen 32 und 500 Mikrometer große Tiere, wie Fadenwürmer, Ruderfußkrebse oder Bärtierchen – sowie 3.974 Tiere aus der Gruppe der Makrofauna – über 500 Mikrometer große Meeresbewohner, wie Ringelwürmer, Muscheln oder Asseln, aus. „Die Einflüsse der Umwelt auf verschiedene Gruppen von Bodentieren zu untersuchen war nur möglich, weil wir die Expertisen von Universität Rostock und Senckenberg am Meer bündeln konnten“, so Dr. Heike Link, die Initiatorin der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG im Schwerpunktprogramm „Antarktisforschung“ geförderten Studie. Die Sediment- und Wasserproben stammen von fünf geographisch und ökologisch unterschiedlichen Regionen, die im Rahmen zweier Expeditionen mit dem Forschungsschiff Polarstern in Tiefen von 222 bis 757 Metern gesammelt wurden.
„Die ausgewählten Beprobungsareale unterscheiden sich in der Bedeckung des Meereises: in der Drake-Passage gibt es beispielsweise kein Meereis, im nordwestlichen Weddellmeer ist die Bedeckung saisonal und im nördlichen Teil des Filchnergrabens ganzjährig und konstant“, erläutert Dr. Gritta Veit-Köhler von Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven und fährt fort: „In Gebieten mit einer konstanten Eisbedeckung und wenig Schmelze gelangen die im Eis lebenden Mikroalgen nicht zum Meeresboden und es bildet sich keine Algenblüte im Wasser – dadurch fehlt es an Nahrung für die Organismen am Boden. Wenn es dagegen kein oder nur sehr wenig Meereis gibt, kann sich zwar im freien Wasser ein ‚Phytoplanktonbloom‘ ausbilden, aber das ‚Zusatzangebot‘ der Eisalgen fehlt. Auch hier müssen die Tiere mit weniger Nahrung auskommen.“
Die meisten Tiere beider Größenklassen fand das Forscherinnen-Team in Regionen, in denen sich die Eisdecke regelmäßig öffnet und schließt: Dort fallen Eisalgen zum Meeresboden und Süßwasser, das aus dem schmelzenden Meereis frei wird, führt zu einer stabilen Schichtung der Wassersäule und einer Begünstigung von Algenblüten im freien Wasser. „In solchen Gebieten finden wir aufgrund des guten Nahrungsangebots insgesamt die meisten Tiere – es gibt jedoch deutliche Unterschiede bei der Meio- und Makrofauna. Die kleineren Organismen der Meiofauna sind abhängig von der Meereisbedeckung im Vorjahressommer, aber auch von der Anwesenheit des Eises gemittelt über die letzten neun Jahre vor unserer Probennahme. Die Makrofauna ist dagegen – so die Ergebnisse unserer Analyse – nur signifikant abhängig vom Meereis des Vorjahressommers“, so Säring.
Die Forscherinnen empfehlen daher, die Meiofauna in zukünftige Bewertungen des Einflusses von Umweltveränderungen auf die Ökosysteme des Südlichen Ozeans stärker einzubeziehen. „Um den Einfluss von Klima- und Umweltfaktoren auf die antarktischen Lebensgemeinschaften verlässlich vorhersagen zu können, müssen wir auch auf die Kleinsten achten“, resümiert Veit-Köhler.
Originalpublikation:
Publikation: Säring F, Veit-Köhler G, Seifert D, Liskow I, Link H (2022) Sea-ice–related environmental drivers affect meiofauna and macrofauna communities differently at large scales (Southern Ocean, Antarctic). Mar Ecol Prog Ser 700:13-37. https://doi.org/10.3354/meps14188

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