Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

Letzte Woche gab es einige Probleme mit dem Blog, die inzwischen behoben wurden, es mir aber nicht gestattet hatten bestimmte Beiträge zu veröffentlichen (und selbst die veröffentlichten waren nicht unbedingt lesbar). Inzwischen ist das Problem behoben und ich kann den Blog wieder führen, wie ich es gewohnt bin.
Auf die wissenschaftlichen Neuigkeiten der letzten Wochen muss aber niemand verzichten. Und natürlich sind wieder einige interessante darunter, von kleinen Kreaturen wie ausgestorbene Schnecken und großen wie rezenten Nashörnern.

25.10.2022, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Haarige Schnecke in 99 Millionen Jahre altem Bernstein entdeckt
Internationale Forschende, unter ihnen Senckenbergerin Dr. Adrienne Jochum, haben eine neue Landschnecken-Art in einem etwa 99 Millionen Jahre alten Bernstein entdeckt. Das Gehäuse der Schnecke weist kurze, borstige Haare auf, die an dessen Rand angeordnet sind. In ihrer im Fachjournal „Cretaceous Research“ erschienenen Studie schlussfolgert das Team rund um Erstautor Dr. Jean-Michel Bichain vom Museum für Naturgeschichte und Ethnographie im französischen Colmar, dass die Behaarung den Weichtieren möglicherweise einen Selektionsvorteil bei ihrer Evolution bot.
Nur 150 bis 200 Mikrometer lang sind die feinen Härchen, die auf der Schale der neu entdeckten Art Archaeocyclotus brevivillosus sp. nov. mittels klassischer Mikroskopie und 3D-Röntgen-Mikro-Computertomographie gefunden wurden. „Es ist bereits die sechste Art aus der Familie der Cyclophoridae, der ‚Turmdeckelschnecken‘, die behaart ist“, erläutert Dr. Adrienne Jochum vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt und dem Naturhistorischen Museum in Bern und fährt fort: „Die Verzierung von fossilen und heutigen Landschneckengehäusen mit Rippen, Haaren, Noppen oder Falten ist nicht ungewöhnlich – die Ausbildung solch einer ‚Dekoration‘ ist dennoch ein komplexer Prozess, der in der Regel nicht ohne Zweck geschieht.“
Die Behaarung von Schneckenhäusern wird von der obersten proteinhaltigen Schalenschicht (Periostracum) gebildet. Bei mehreren Familien von Landschnecken, wie beispielsweise den Laub-, Schnirkel- oder Polygyridaeschnecken sind behaarte Schalen bekannt, was darauf hindeutet, dass die Behaarung im Laufe der Evolution der Landschnecken mehrmals unabhängig voneinander auch bei nur entfernt verwandten Gruppen aufgetreten ist.
„Die von uns neu beschriebene Art, Archaeocyclotus brevivillosus, stammt aus einer kreidezeitlichen Bernstein-Mine aus dem Hukawng-Tal in Birma und wurde dort bereits vor 2017 gesammelt. Die fossile Schnecke ist 26,5 Millimeter lang, 21 Millimeter breit und 9 Millimeter hoch. Sie trägt kurze Haare, die den äußeren Rand der Schale säumen und sich an der Schalenöffnung bündeln. Ihr folgerichtiger Name leitet sich vom Lateinischen brevis – kurz, klein – und villōsus – haarig, zottelig – ab“, beschreibt Jochum das Tier.
Insgesamt acht Arten der Familie Cyclophoridae wurden aus dem birmanischen Bernstein geborgen – sechs davon tragen borstige Schalen. Kein Zufall, glauben die Wissenschaftler*innen: Sie gehen davon aus, dass die Behaarung den Schnecken einen evolutionären Vorteil bot. „Die Haare könnten den Tieren beispielsweise – das wurde schon bei heute lebenden Schnecken beobachtet – helfen, sich an einem Pflanzenstamm oder an Blättern besser zu verankern. Möglicherweise sorgten sie auch für die Wärmeregulierung der Schnecke, indem sie das Anhaften von winzigen Wassertropfen an der Schale ermöglichten und so als ‚Klimaanlage‘ dienten. Oder sie schützten das Schneckenhaus vor dem Zerfall in der stark sauren Erde und dem Blattstreu des alten tropischen Waldbodens. Die Borsten könnten auch der Tarnung gedient haben oder die Schnecke vor einem direkten Angriff geschützt haben. Und letztlich ist es auch nicht auszuschließen, dass die Haare als Vorteil bei der sexuellen Selektion dienten“, fasst Jochum die möglichen Vorzüge der haarigen Schnecken zusammen.
Originalpublikation:
Jean-Michel Bichain, Adrienne Jochum, Jean-Marc Pouillon, Thomas A. Neubauer (2022): Archaeocyclotus brevivillosus sp. nov., a new cyclophorid land snail (Gastropoda: Cyclophoroidea) from mid-Cretaceous Burmese amber,
Cretaceous Research, Volume 140, https://doi.org/10.1016/j.cretres.2022.105359.

27.10.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Bewegungskünstler mit „Rüsselspitzengefühl“: Berliner Forschende entschlüsseln Gesichtsmotorik von Elefanten
Elefanten verfügen über ein erstaunliches Arsenal der Bewegung in Gesicht, Ohren und Rüssel. Der Rüssel besteht aus weit mehr Muskeln als der gesamte menschliche Körper und kann sowohl kräftige als auch sehr filigrane Bewegungen ausführen. Ein Wissenschaftsteam der Humboldt-Universität zu Berlin und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) untersuchten nun den Gesichtskern (facial nucleus) Afrikanischer und Asiatischer Elefanten, jener Hirnstruktur welche die Gesichtsmuskulatur der Tiere kontrolliert. Dieser enthalte mehr Nervenzellen als bei allen anderen auf dem Land lebenden Säugetieren, erläutern sie in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift „Science Advances“.
Der Elefantenrüssel ist ein einzigartiges Organ. Zum einen ist der Rüssel sehr muskulös und stark und besteht aus weit mehr Muskeln als der gesamte menschliche Körper. Zum andern ist der Rüssel hochempfindlich und geschickt. Tatsächlich erinnert die Art und Weise, wie Elefanten ihren Rüssel nutzen, an die menschliche Hand. Lena Kaufmann und Kollegen im Labor von Michael Brecht an der HU Berlin und die Arbeitsgruppe von Thomas Hildebrandt am Leibniz-IZW untersuchten und beschrieben nun erstmals detailliert den sogenannten Gesichtskern der Elefanten ¬– jener Hirnstruktur, die für die Steuerung und Kontrolle der Gesichtsmuskulatur der Elefanten, von den Ohren bis zur Rüsselspitze, verantwortlich ist.
„Der Gesichtskern der Elefanten ist einzigartig, und enthält mehr Nervenzellen als in allen anderen auf dem Land lebenden Säugetieren“, sagt Erstautorin Lena Kaufmann von der HU Berlin. Die Berliner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zählten circa 54.000 Nervenzellen im Gesichtskern von Asiatischen Elefanten (Elephas maximus), bei ihren afrikanischen Verwandten (Loxodonta africana) sind es sogar rund 63.000. Das Team führte die noch höhere Zahl der sogenannten „facial nucleus neurons“ bei Afrikanische Elefanten auf deren größere Ohren und ausgefeiltere Rüsselspitze zurück. „Afrikanische Elefanten ergreifen Objekte mit den zwei sogenannten Rüsselfingern an der Spitze des Rüssels“, sagt Thomas Hildebrandt vom Leibniz-IZW. „Diese Art des Zangengriffs erfordert viel Fingerspitzengefühl. Passend dazu gibt es im Hirn afrikanischer Elefanten markante Nervenzellhaufen für die Fingerspitzenkontrolle.“ Asiatische Elefanten haben dagegen nur einen Rüsselfinger und umwickeln Objekte mit dem Rüssel; bei den asiatischen Elefanten ist auch die neuronale Fingerspitzenkontrolle durch das Gehirn weniger markant.
„Der Gesichtskern der Elefanten ist eine höchst ungewöhnliche Hirnstruktur“, sagt Michael Brecht. ‚Es ist nicht nur die große Zahl von Nervenzellen. Wir sehen Größenunterschiede von Nervenzellen entlang der Rüsselrepräsentation, die wir in anderen Säugern nicht beobachten. Wahrscheinlich ergibt sich die Notwendigkeit von Riesennervenzellen in Elefanten wegen der meterlangen Rüsselverkabelung.“
Originalpublikation:
Kaufmann LV, Schneeweiß U, Maier E, Hildebrandt TB, Brecht M (2022): Elephant facial motor control. Science Advances, Vol 8, Issue 43. DOI: 10.1126/sciadv.abq2789

03.11.2022, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Ältestes Paläogenom vom afrikanischen Kontinent erzählt vom Aussterben des Blaubocks
Ein internationales Forschungsteam unter Leitung des Museums für Naturkunde Berlin und der Universität Potsdam sequenzierte die ersten beiden Kerngenome des ausgestorbenen Blaubocks. Eines der Genome ist mit ca. 9.950 Jahren das bislang älteste sequenzierte vom afrikanischen Kontinent. Die Daten erlauben Einblicke in das Aussterben einer Art. Der Blaubock ist die einzige große afrikanische Säugetierart, die historisch ausgestorben ist. Die Ergebnisse, die in Molecular Biology and Evolution, publiziert sind, zeigen, dass der Blaubock trotz geringer Populationsgröße die klimatischen Veränderungen der letzten 10.000 und mehr Jahre überlebte, bis die europäischen Siedler die Art ausrotteten.
Der Blaubock (Hippotragus leucophaeus) war eine afrikanische Antilopenart mit bläulich-grau schimmernden Fell. Er ist verwandt mit den rezenten Rappen- und Pferdeantilopen. Der letzte Blaubock wurde um 1800 geschossen, nur 34 Jahre nach seiner wissenschaftlichen Erstbeschreibung. Dadurch ist er die einzige große afrikanische Säugetierart, die in historischer Zeit ausgestorben ist. Eine vorherige Studie des gleichen Teams konnte zeigen, dass der Blaubock eine der seltensten Säugetierarten in Museen weltweit ist. Bisher konnten Studien lediglich relativ kleine Teile der DNA extrahieren, nämlich das mitochondrielle Genom.
Nun ist es einem Team unter Leitung des Museums für Naturkunde Berlin und der Universität Potsdam gelungen, die ersten Kerngenome dieser Art von einem der seltenen historischen Objekte aus dem Swedish Natural History Museum in Stockholm sowie aus einem 9.300 bis 9.800 Jahre alten fossilen Zahn aus dem Iziko Museum of South Africa in Kapstadt zu gewinnen. Das fossile Genom ist derzeit das älteste Paläogenom aus Afrika. Die vorherrschenden Umweltbedingungen in Afrika, vor allem die hohen Temperaturen, sind im Allgemeinen schädlich für die Erhaltung von Biomolekülen, was die Gewinnung von alter DNA äußerst schwierig macht.
„Das Genom des Blaubocks zeigt, dass seine Populationsgröße bereits seit dem Ende des letzten Eiszeitalters vor rund 10.000 Jahren gering war – und damit auch als die europäischen Kolonisten im 17. Jahrhundert im südlichen Afrika ankamen“, erklärt Elisabeth Hempel, Paläogenetikerin am Museum für Naturkunde Berlin und an der Universität Potsdam. Auch Fossilfunde zeigen eine deutliche Abnahme in der relativen Häufigkeit von Blaubockfossilien zum Ende des letzten Eiszeitalters. „Trotz ihres geringen Verbreitungsgebiets und ihrer geringen Populationsgröße haben Blauböcke die letzten 10.000 Jahre gemeinsam mit Menschen in der Region überlebt. Dies änderte sich, als die europäischen Kolonisten mit Schusswaffen das südliche Afrika erreichten. Dies führte zum Aussterben einer Art, die möglicherweise bereits seit Jahrtausenden mit Habitatverlust und der Fragmentierung ihres Verbreitungsgebiets zu kämpfen hatte“, so Hempel.
Die genomischen Daten sind weltweit abrufbar.
https://academic.oup.com/mbe/advance-article/doi/10.1093/molbev/msac241/6794086
Publikation: Elisabeth Hempel, Faysal Bibi et al., 2022. Blue turns to grey – Palaeogenomic insights into the evolutionary history and extinction of the blue antelope (Hippotragus leucophaeus).
https://doi.org/10.1093/molbev/msac241

04.11.2022, Forschungsinstitut für Nutztierbiologie
Die Kühe und das Klima – historische Daten offenbaren Überraschendes
Seit 2003 stoßen Nutztiere in Deutschland weniger Methan aus als im Jahr 1892
Zwei Wissenschaftler des Forschungsinstituts für Nutztierbiologie Dummerstorf (FBN) haben den Methanausstoß von landwirtschaftlichen Nutztieren am Ende des 19. Jahrhunderts mit heutigen Werten verglichen. Das Ergebnis überraschte: Seit 2003 sind die Methanemissionen geringer als 1892. Die Ergebnisse der Studie wurden in der Fachzeitschrift „Science of The Total Environment“ veröffentlicht*.
Methan ist als Treibhausgas für die Erderwärmung mitverantwortlich. Ein Großteil der Emissionen entstehen durch den Menschen, dabei entfällt ein erheblicher Anteil auf die Landwirtschaft und besonders die Nutztierhaltung. Deutschland verfolgt in seinem Klimaschutzgesetz das Ziel, bis 2045 Treibhausgasneutralität zu erreichen. Dafür müssen die Emissionen aller Bereiche bis 2030 um 65 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden. Die Methanemissionen, die im Zuge der Verdauung durch Nutztiere entstehen, müssten bis 2030 demnach auf 853.000 Tonnen (2020: 927.000 Tonnen) gesenkt werden.
Methanemissionen von Nutztieren gestern und heute
Während wir heute die aktuellen Methanemissionen von Nutztieren recht genau kennen, wissen wir relativ wenig über Situation im 19. Jahrhundert, wo der Beginn der Erderwärmung bereits nachweisbar ist. Das haben Dr. Björn Kuhla und Dr. Gunther Viereck vom FBN zum Anlass genommen, zu schauen, ob es möglich ist, eine datenbasierte Aussage über die Methanemissionen von Nutztieren im Deutschen Kaiserreich zu treffen und sie mit heutigen Werten vergleichbar zu machen.
„Wir haben die Daten der deutschlandweiten Viehzählungen der Jahre 1872, 1883 und 1892 ausgewertet. Aus den Körpergewichten konnten wir die Futteraufnahme berechnen. In anderen Quellen fanden wir Angaben zur Fütterung und zur Fleisch- und Milchproduktion im 19. Jahrhundert. Mit diesen Informationen war die Berechnung des Methanausstoßes mit Hilfe von standardisierten Schätzgleichungen möglich. Dabei wurden auch die territorialen Veränderungen seit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 berücksichtigt“, erläuterte Kuhla. „Dabei haben wir erstaunt festgestellt, dass die Methanemissionen aus der Verdauung von Nutztieren in Deutschland seit dem Jahre 2003 geringer sind als im Jahr 1892. Unsere Studie zeigt, dass die von der Bundesregierung angestrebten Klimaziele im Nutztierbereich in greifbarer Nähe sind.“
Die jährlichen Methanemissionen aus der Viehhaltung betrugen 1883 898.000 Tonnen und 1892 ganze 1.060.000 Tonnen. Das Emissionsziel von 853.000 Tonnen für 2030 liegt damit 207.000 Tonnen unter dem Emissionsniveau von 1892. Seit 2003 stoßen die Viehbestände in Deutschland im Vergleich zu 1892 sogar weniger Methan aus als 1892. Von 1990 bis 2021 gingen die Methanemissionen aus der Verdauung von Nutztieren um 390.000 Tonnen auf 930.000 Tonnen zurück.
Einen Grund dafür sehen die beiden Forscher in der starken Abnahme der Tierzahlen bei Rindern, Schafen und Ziegen. Obwohl die Bevölkerung auf dem heutigen Gebiet Deutschlands mit damals ca. 34 Millionen Menschen in den letzten 130 Jahren auf 84 Millionen deutlich gewachsen ist, konnte ihre Versorgung dank der höheren Leistung der Tiere und einer hohen Effizienz in der Tierhaltung mit einer geringeren Anzahl an Tieren gewährleistet werden, was mit einem Rückgang der Methanemissionen einherging.
So wurden im Jahr 1892 insgesamt 12,45 Millionen „Kühe und sonstige Rinder“, 8,93 Millionen Schafe, 2,53 Millionen Ziegen und 2,33 Millionen Pferde statistisch erfasst. In Deutschland werden derzeit 11 Millionen Rinder, 1,5 Millionen Schafe, 140.000 Ziegen und 1,3 Millionen Pferde gehalten (Quelle: bmel-statistik.de und AWA-Analyse).
Wie können die Emissionsziele in Deutschland erreicht werden?
Lösungsansätze für eine weitere erfolgreiche Senkung der Methanemissionen sehen die Forschenden am FBN vor allem in der Schweinehaltung. Zwar produzieren Schweine relativ wenig Methan, andererseits wird jedes fünfte Schwein in Deutschland nicht für die Ernährung der Bevölkerung gebraucht. Eine Reduzierung der Bestände um 20 Prozent würde 5.000 Tonnen Methan pro Jahr sparen. Hinzu kämen Einsparungen von mehreren tausend Tonnen Kohlendioxid – ebenfalls ein schädliches Treibhausgas – im Zusammenhang mit dem Import von Sojafutter. Da Soja auch für die menschliche Ernährung geeignet ist, würde ein verringerter Einsatz als Futtermittel die Konkurrenz zwischen Trog und Teller verkleinern.
Auch bei den Rindern gibt es Möglichkeiten, die Methanemissionen zu verringern. Der Selbstversorgungsgrad mit Milch beträgt in Deutschland 112 Prozent. Eine Reduzierung der Bestände würde weder die Ernährungssicherheit gefährden noch Ernährungsgewohnheiten in Frage stellen. Auch die Fütterung mit regional verfügbarer Biomasse, die für die menschliche Ernährung nicht geeignet ist, würde Emissionen durch den wegfallenden Futterimport reduzieren, ohne dabei in Nahrungskonkurrenz zum Menschen zu stehen.
Und die internationale Perspektive?
„Wir beobachten in Afrika, Asien und Südamerika einen starken Anstieg der Bevölkerungszahlen und parallel dazu der Nutztierbestände und ihrer Methanemissionen“, so Kuhla. „Gleichzeitig weisen Kühe, Schafe und Ziegen in diesen Regionen die geringste Effektivität bei der Produktion von Nahrungsmitteln auf. Durch eine Verbesserung der Effizienz ließen sich auch in diesen Regionen die Tierzahlen und die Emissionen reduzieren und die regionale Versorgung mit Nahrungsmitteln tierischer Herkunft gewährleisten.“
*Originalpublikation
Science of The Total Environment B. Kuhla, G. Viereck (2022) Enteric methane emission factors, total emissions and intensities from Germany’s livestock in the late 19th century: A comparison with the today’s emission rates and intensities, Science of The Total Environment 848, 157754, https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2022.157754

07.11.2022, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Neue Giftschlangen in Kolumbien entdeckt
Senckenberg-Wissenschaftler Juan Pablo Hurtado-Gómez hat gemeinsam mit einem südamerikanischen Team zwei neue Arten aus der Gattung der Krötenkopf-Lanzenottern beschrieben. Diese in Kolumbien lebenden Giftschlangen sind noch nahezu unerforscht. Möglich wurde die Neubeschreibung durch eine Sammlung des Nationalen Gesundheitsinstituts in Kolumbien zum Zweck der besseren Behandlung von Schlangenbissen. In der im Fachjournal „Vertebrate Zoology“ erschienenen Studie wird unter anderem der Nutzen der Taxonomie für die medizinische Versorgung dargestellt.
Krötenkopf-Lanzenottern (Bothrocophias) leben in isolierten und schwer zugänglichen südamerikanischen Regenwaldgebieten, wie dem Regenwald des Choco in Ecuador, dem westlichen Tiefland des Amazonas-Regenwaldes, dem pazifischen Hochland und dem östlichen Teil der Anden. „Diese Giftschlangen gehören zu den rätselhaftesten und am wenigsten bekannten südamerikanischen Vipern“, erklärt Letztautor der Studie und Doktorand an den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen in Dresden Juan Pablo Hurtado-Gómez und fährt fort: „Der Mangel an Bothrocophias-Material in wissenschaftlichen Sammlungen sowie die Tendenz, die Arten dieser Gattung mit den häufigeren und weit verbreiteten Mitgliedern der Amerikanischen Lanzenottern (Bothrops) zu verwechseln, haben die taxonomische Bewertung dieser Gruppe erheblich erschwert.“
Hurtado-Gómez ist es – gemeinsam mit kolumbianischen Kollegen – dennoch gelungen zwei neue Arten innerhalb der Bothrocophias-Gattung zu identifizieren. Die Schlangen stammen aus dem Hochland der kolumbianischen Anden und wurden bislang mit der Art Bothrocophias microphthalmus verwechselt. Basierend auf morphologischen und genetischen Analysen konnte das Team nun aber feststellen, dass es sich um zwei bisher unbekannte Arten handelt: Bothrocophias myrringae sp. nov. und Bothrocophias tulitoi sp. nov. „Die neuen Arten unterscheiden sich in einer Reihe äußerlicher Merkmale, wie beispielsweise der Anordnung und der Anzahl ihrer Schuppen oder dem Farbmuster von Körper und Schwanz“, fügt der in Dresden arbeitende Wissenschaftler aus Kolumbien hinzu.
Benannt wurden die beiden neuen Arten nach Tulio Angarita und Myriam Sierra. Die beiden entwickelten maßgeblich ein – heute an allen Schulen Kolumbiens eingesetztes – modernes Bildungsmodell und sind die Eltern des Hauptautors der Studie, Teddy Angarita Sierra.
Möglich wurde die Entdeckung durch das Nationale Gesundheitsinstitut in Kolumbien (Instituto Nacional de Salud, INS), welches in den letzten zehn Jahren große Anstrengungen unternommen hat, um Sammlungen von Giftschlangen – unter ihnen auch das untersuchte neue Bothrocophias-Material – zusammenzutragen. Ziel der Initiative ist es Gegengifte für die Behandlung schwerer Vergiftungen durch Schlangenbisse zu entwickeln. Auch alle Arten der von Hurtado-Gómez und Co untersuchten Gattung Bothrocophias gelten als giftig. Die wenigen Angaben zur Giftwirkung bei Menschen reichen von leichten Verläufen mit kurz anhaltenden Schmerzen und leichten Schwellungen bis zu schweren Vergiftungen und vereinzelten Todesfällen.
Senckenberg-Reptilienexperte Prof. Dr. Uwe Fritz erläutert: „Die Klärung der Taxonomie der Krötenkopf-Lanzenottern hat erhebliche Auswirkungen auf die Behandlung von Giftschlangen-Bissen in den Andenländern. Leider enden solche Unfälle teils tödlich. Der erste Schritt bei der effektiven Behandlung von Schlangenbissen ist die genaue Identifizierung der Schlange, die die Vergiftung verursacht hat. Das erleichtert dann auch die Herstellung und Gabe des richtigen Antiserums, also des Gegengifts. Die Kenntnis der Biologie und des Lebensraums einer bestimmten Art verringert zudem das Risiko überhaupt gebissen zu werden. Die neuen taxonomischen Erkenntnisse der Studie leisten somit einen wichtigen Beitrag zum Erreichen des Ziels der Weltgesundheitsorganisation: Die Reduktion der Anzahl von Schlangenbissen!“
Originalpublikation:
Angarita-Sierra T, Cubides-Cubillos SD, Hurtado-Gómez JP (2022) Hidden in the highs: Two new species of the enigmatic toadheaded pitvipers of the genus Bothrocophias. Vertebrate Zoology 72: 971-996. https://doi.org/10.3897/vz.72.e87313

08.11.2022, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
Ausgestorben und Entdeckt – Deutschlands älteste Süßwassergarnele
Ein internationales Forscherteam unter Leitung des Museums für Naturkunde Berlin hat Deutschlands erste fossile Süßwasser-Garnelenart im Fachjournal Scientific Reports beschrieben. Die meisten Garnelen lieben marine Lebensräume, doch dieser 48 Millionen Jahre alte versteinerte Shrimp aus dem Eozän stammt aus der UNESCO-Welterbe Grube Messel, einem ehemaligen Süßwassersee. Da sogar seltene Organstrukturen erhalten sind ist die Garnele ein weiterer Puzzlebaustein bei der Rekonstruktion dieses einzigartigen Ökosystems.
„Die neue Art Bechleja brevirostris ist der erste und einzige fossile Nachweis von Süßwasserkrebsen aus dem Eozän in Europa und der zweite weltweit nach Bechleja rostrata aus der 8000 km entfernten Green River Formation in Wyoming, USA“, freut sich Erstautor Valentin de Mazancourt, der als Alexander von Humboldt Postdoc am Museum für Naturkunde Berlin arbeitet.
Garnelen helfen durch ihre Nahrungsaufnahme am Boden das Ökosystem im Gleichgewicht zu halte, Man würde sie in marinen Habitaten, in Korallenriffen und in der Tiefsee vermuten, aber nicht in einem Frischwassersee, wie er sich in Messel vor ca. 48 Millionen Jahren gebildet hatte. Doch es gibt eben auch Süßwasserarten. Forschende des Museums für Naturkunde Berlin arbeiten seit Jahrzenten in Sulawesi an lebenden Süßwassergarnelen. Eine neue Art wurde sogar 2018 von Hörern des Inforadio RBB als Caridina clandestina benannt.
Im Falle der neuen fossilen Süßwasser-Garnelenart Bechleja brevirostris erlaubt die Erhaltung sogar Aussagen über interne Organstrukturen, was bei derartigen Organismen recht selten ist. Somit liefert die Erforschung eines kleinen Shrimps neue Erkenntnisse über das Paläoökosystem eines uralten Kratersees. Aufgrund des außergewöhnlichen Erhaltungszustandes und der Fülle der Fossilien bietet die Grube Messel wohl den detailliertesten Einblick in ein terrestrisches Ökosystem vor 48 Millionen Jahren. Die Funde befinden sich in den Messel-Sammlungen des Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseums Frankfurt und des Hessischen Landesmuseums Darmstadt.
Fossile Garnelen wurden bisher aus Süßwasserablagerungen in Brasilien und Spanien (alter Kreidezeit), aus Frankreich und Brasilien (Alter Tertiär) beschrieben. Solche Fossilien werden von den Forschenden als Kalibrierungspunkte für molekulare Uhren verwendet. Molekulare Uhren werden in der Genetik genutzt, um Evolutionsereignisse zeitlich einzuordnen.
Publikation: de Mazancourt, V., Wappler, T., & Wedmann, S. (2022). Exceptional preservation of internal organs in a new fossil species of freshwater shrimp (Caridea: Palaemonoidea) from the Eocene of Messel (Germany). Scientific Reports, 12(1), 18114. doi:10.1038/s41598-022-23125-9

09.11.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Zweite Chance für das Sumatra-Nashorn
Der Nashornbulle Kertam – das letzte männliche Sumatra-Nashorn Malaysias – starb im Jahr 2019. Nun gelang es einem Team vom Max Delbrück Center, aus seinen Hautzellen Stammzellen und daraus „Mini-Hirne“ zu züchten. Das nächste Ziel sei die Herstellung von Spermien aus Stammzellen, um die bedrohte Art vor dem Aussterben zu bewahren, schreiben die Forschenden in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift „iScience“. Das Max Delbrück Center entwickelt stammzellassoziierte Technologien (SCAT) im Rahmen von BioRescue, eines vom Leibniz-IZW geleiteten internationalen Projekts zur Entwicklung und Anwendung von Technologien zur Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns.
Einst war das Sumatra-Nashorn in weiten Teilen Ost- und Südostasiens verbreitet. Heute leben nur noch wenige Dutzend Exemplare dieser kleinsten und ursprünglichsten Nashornart in den Regenwäldern Sumatras und des indonesischen Teils der Insel Borneo. Wilderei und die Zerstörung ihres Lebensraums haben den meisten Tieren den Garaus gemacht. Paarungsbereite Nashörner finden nur schwer zusammen.
Die letzten ihrer Art in Malaysia
In Malaysia gilt das Sumatra-Nashorn, die einzige behaarte Nashornart, seit dem Tod des Bullen Kertam im Jahr 2019 und der Kuh Iman, die ihn nur wenige Monate überlebte, als ausgestorben. Damit geben sich Berliner Forscher:innen um Dr. Vera Zywitza und Dr. Sebastian Diecke, Leiter der Technologieplattform „Pluripotente Stammzellen“ am Berliner Max Delbrück Center, und ihre internationalen Kooperationspartner nicht zufrieden. Ihr ehrgeiziges Ziel: Sie wollen Hautzellen verstorbener Nashörner zunächst in Stammzellen verwandeln und aus diesen wiederum Ei- und Samenzellen züchten, die sich für die assistierte Reproduktion, in diesem Falle die Befruchtung im Labor, eignen. Tierische Leihmütter sollen die in der Petrischale entstehenden Nashorn-Embryonen dann austragen – als Nachkommen von Kertam und anderer schon verstorbener Tiere.
In der Fachzeitschrift „iScience“ vermeldet das Team um die Erstautorin Zywitza und den Letztautor Diecke nun einen ersten Erfolg: Es sei gelungen, aus den Hautproben von Kertam induzierte pluripotente Stammzellen, kurz iPS-Zellen, zu generieren. Diese Zellen haben zwei entscheidende Vorteile. Zum einen sind sie unsterblich, da sie sich immer wieder aufs Neue teilen können. Zum anderen sind sie in der Lage, sich in jede beliebige Zellart des Körpers zu verwandeln. Mini-Gehirne (Hirn-Organoide) hat die Gruppe für ihre jetzt publizierte Studie bereits aus ihnen gezüchtet.
Vom Breitmaulnashorn abgeschaut
Die Technologieplattform hat die Methoden zur Stammzellgewinnung im Rahmen des Forschungsprojekts „BioRescue“ für das noch stärker bedrohte Nördliche Breitmaulnashorn entwickelt, von dem weltweit nur noch zwei Weibchen in einem kenianischen Wildtierreservat leben. „Unsere aktuelle Studie hat viel von den Erkenntnissen profitiert, die durch dieses vom Bundesforschungsministerium geförderte Großprojekt gewonnen wurden“, sagt Zywitza. Maßgeblich beteiligt waren zudem der BioRescue-Projektleiter Prof. Thomas Hildebrandt, Leiter der Abteilung für Reproduktionsmanagement am Leibniz-Institut für Zoo und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) in Berlin, und seine Arbeitsgruppe.
Alle an der wissenschaftlichen Untersuchung Beteiligten seien überrascht und erfreut gewesen, dass die Methoden, mit denen die Hautzellen der Nördlichen Breitmaulnashörner in Stammzellen verwandelt wurden, auch bei den Zellen des Sumatra-Nashorns gut funktioniert hätten, sagt Zywitza. Unter dem Mikroskop seien die Stammzellen beider Nashornarten kaum von menschlichen iPS-Zellen zu unterscheiden. Artspezifische Unterschiede gab es trotzdem: „Die iPS-Zellen von Kertam konnten wir beispielsweise – anders als die der Nördlichen Breitmaulnashörner –nicht ohne Ammenzellen kultivieren, die Wachstumsfaktoren freisetzen, die helfen, Stammzellen in einem pluripotenten Zustand zu halten“, erläutert Zywitza.
Tiefer Blick in die Evolution
Neben dem Erhalt der Art dienen die aus der Haut von Kertam gewonnenen Stammzellen noch einem weiteren Zweck: „Anhand von iPS-Zellen exotischer Tiere können wir einzigartige Einblicke in die Evolution der Organentwicklung gewinnen“, sagt Zywitza. Um das zu zeigen, hat Dr. Silke Frahm-Barske, die ebenfalls zur Arbeitsgruppe von Diecke gehört, aus den Zellen Hirn-Organoide gezüchtet.
„Soweit wir wissen, wurden solche Mini-Gehirne bisher nur aus iPS-Zellen von Mäusen, Menschen und nichtmenschlichen Primaten gewonnen“, sagt Frahm-Barske. „Daher waren wir sehr froh, dass sich aus den von uns erzeugten Stammzellen eines Sumatra-Nashorns Organoide bildeten, die denen des Menschen recht ähnlich sind.“ Allerdings habe das Team die iPS-Zellen von Mensch und Nashorn leicht unterschiedlich behandeln müssen, um die Gehirne im Miniaturformat zu erzeugen, ergänzt die Forscherin.
Spermien nur über Umwege
Das nächste Ziel des Teams ist es nun, aus Kertams iPS-Zellen Samenzellen zu züchten, die sich für eine künstliche Befruchtung eignen. „Dieser Schritt ist allerdings schwieriger“, sagt Zywitza. „Um Spermien zu gewinnen, ist es erforderlich, aus den iPS-Zellen zunächst primordiale Keimzellen, die Vorläufer von Ei- und Samenzellen, zu generieren.“ Diese kniffelige Aufgabe soll jetzt angegangen werden. Darüber hinaus sei geplant, auch von anderen Sumatra-Nashörnern iPS-Zellen herzustellen.
Warum ein solcher Aufwand nötig ist, erklärt der Fortpflanzungsexperte Thomas Hildebrandt: „Zwar gibt es in Indonesien Bemühungen, den Bestand zu sichern, indem die noch vorhandenen Sumatra-Nashörner in Wildtierreservaten zusammengebracht werden. Doch Weibchen, die lange Zeit nicht trächtig waren, werden oft unfruchtbar, zum Beispiel durch Zysten an ihren Fortpflanzungsorganen“, sagt er. Oder sie seien für Nachwuchs inzwischen schlicht zu alt.
„Auch wenn unsere Arbeit versucht, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen, nämlich Arten zu erhalten, die ansonsten vermutlich von unserem Planeten verschwinden würden, muss sie eine Ausnahme bleiben und darf nicht zur Regel werden“, sagt Zywitza. „Trotz aller Begeisterung: Was wir im Labor tun, kann allenfalls ein kleines Stück weit dazu beitragen, die Nashörner vor dem Aussterben zu retten.“ Ebenso wichtig sei definitiv, die noch vorhandenen Lebensräume der Tiere zu schützen und zu bewahren.
Originalpublikation:
Zywitza V, Frahm S, Krueger N, Weise A, Goeritz F, Hermes R, Holtze S, Colleoni S, Galli C, Drukker M, Hildebrandt TB, Diecke S (2022): Induced pluripotent stem cells and cerebral organoids from the critically endangered Sumatran rhinoceros. iScience, DOI: 10.1016/j.isci.2022.105414

11.11.2022, Universität zu Köln
Warum gibt es so viele Arten? Chaos ist ein wichtiger Faktor für Biodiversität
Studie zeigt, dass unvorhersehbare Dynamiken auch ohne Umwelteinflüsse auftreten und wichtig für eine stabile Artenvielfalt sind / Veröffentlichung in PNAS
Wissenschaftler*innen der Universität zu Köln und der Universität Osnabrück haben erstmals in biologischen Systemen mit einer einzigen Art nachgewiesen, dass chaosähnliche, nicht vorhersehbare Dynamiken unter völlig konstanten äußeren Bedingungen entstehen können. Solche Dynamiken, zum Beispiel Schwankungen in der Populationsdichte, treten auch ohne Interaktionen mit der Umwelt oder anderen Arten auf. Das kann erklären, warum auf unserem Planeten eine solch enorme Artenvielfalt entstanden ist. Wenn – anders als früher angenommen – verschiedene Arten und Evolutionslinien aus sich selbst heraus irregulären chaotischen Dynamiken unterworfen sind, treffen sie nie zu gleicher Zeit in gleicher Individuenzahl aufeinander. Da eine direkte Konkurrenz der Arten somit selten wird, können sie viel länger koexistieren und sich evolutionär entwickeln. Die aktuelle Studie wurde im Fachjournal Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht.
Unter Biodiversität versteht man die Vielfalt des Lebens auf allen Ebenen, von den Genen bis hin zu ganzen Ökosystemen. Sie umfasst evolutionäre, ökologische und kulturelle Prozesse. Es geht dabei nicht nur um Arten, die wir als selten, bedroht oder gefährdet betrachten, sondern um alle Lebewesen – vom Menschen bis zu Organismen, über die wir wenig wissen, wie Mikroorganismen, Pilze und kleine Wirbellose. Die Biodiversität ist essentieller Bestandteil unseres Lebens. Neben der Erhaltung der Stabilität unseres eigenen Lebensraumes trägt sie auch zur Erfüllung vieler Grundbedürfnisse des Menschen bei, unter anderem als Nahrung, als Lieferant von Energie oder auch als Basis für Medikamente. Daneben ist biologische Artenvielfalt für die Bestäubung und Samenverbreitung und die Bekämpfung landwirtschaftlicher Schädlinge wichtig. Eine hohe Biodiversität ist Voraussetzung für die Klimaregulierung. Auch Nährstoffkreisläufe und die Reinigung von Trinkwasser und Abwasser benötigen eine hohe Diversität an Organismen. Die Menschheit zerstört zurzeit die Biodiversität in erschreckender Geschwindigkeit. Ein Viertel aller Arten gilt als bedroht.
Die vorliegende Studie, an der die Arbeitsgruppe von Professor Dr. Hartmut Arndt am Institut für Zoologie beteiligt war, hat untersucht, welche Mechanismen zur Artendiversität auf unserem Planeten geführt haben und was wir beachten müssen, damit diese Mechanismen weiter wirksam sind. Arndt und sein Team untersuchen schon seit vielen Jahren die dynamischen Prozesse der Koexistenz von Arten als Basis für Evolutionsprozesse an Modellorganismen.
Die Kölner Wissenschaftler*innen demonstrieren mit Hilfe von Laborexperimenten und Modelldaten erstmalig, dass ungleichmäßige Dynamiken der Individuenzahlen einer Population bereits auf der Ebene eines einzelnen Zelltyps ohne äußere Antriebe von großer Bedeutung für die Koexistenz von Arten sein können. Die Bedeutung von Schwankungen in den Populationsdichten und deterministischem Chaos – einem scheinbar chaotischen Verhalten, obwohl die zugrundeliegenden Bedingungen vorhersagbar erscheinen – wird seit mehreren Jahrzehnten als wichtiger Faktor der Artenvielfalt in natürlichen biologischen Systemen diskutiert. Die beiden Doktoranden Johannes Werner und Tobias Pietsch in Arndts Team zeigten nun, dass die Entwicklungen von Systemen mit nur einer einzelnen Art in einem kontinuierlichen Durchfluss von Nährmedium wider Erwarten Dynamiken aufweisen, die nicht gradlinig sind, sondern sogar Merkmale von deterministischem Chaos aufweisen.
Das bedeutet, dass unvorhersehbare Schwankungen der Individuenzahlen auch unter ganz konstanten Bedingungen und ohne Interaktionen zwischen verschiedenen Arten oder schwankende Umweltbedingungen entstehen. Diese Daten wurden durch eine Modelluntersuchung, die zusammen mit dem Osnabrücker Theoretiker Frank Hilker durchgeführt wurde, ergänzt. „Das recht einfache und allgemeine Modell, das wir für die Analyse des Zellteilungszyklus entwickelt haben, weist ein bemerkenswertes Spektrum an dynamischem Verhalten auf“, sagt Johannes Werner, Erstautor der Studie.
Das beobachtete Phänomen hat grundlegende Konsequenzen für das Verständnis evolutionärer Prozesse, denn die potentielle Koexistenz konkurrierender Arten oder Zelllinien in wechselnder Häufigkeit ist eine wichtige Grundlage für die hohe Biodiversität auf der Erde. „Das Ermöglichen dieser Schwankungen ist für den Schutz der Biodiversität und ihrer Funktionen unerlässlich. Naturschutzgebiete sollten zum Beispiel so groß sein, dass das natürliche Auf und Ab der Individuenzahlen der Arten nicht zur kompletten Auslöschung führt, sondern auch bei extremen Witterungsbedingungen immer Individuen übrig bleiben, die das Überstehen der jeweiligen Art gewährleisten“, erläutert Professor Hartmut Arndt.
Publikation:
Intrinsic non-linear dynamics drive single-species systems.
Johannes Werner, Tobias Pietsch, Frank Hilker, Hartmut Arndt
PNAS 119 (44) e2209601119; https://doi.org/10.1073/pnas.2209601119

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