26.09.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Hilfsbereitschaft bei gruppenlebenden Tieren hängt von den Familienbanden ab – und diese ändern sich mit dem Alter
Die Bereitschaft, Artgenossen zu helfen, unterscheidet sich von Tierart zu Tierart – und auch zwischen Männchen und Weibchen. Ein internationales Team von Wissenschaftler:innen unter Beteiligung des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) zeigte nun für sieben gruppenlebende Tierarten, dass sich der Verwandtschaftsgrad eines Tieres zu den anderen Gruppenmitgliedern im Laufe seines Lebens verändern kann und diese Veränderung systematischen Mustern folgt – bei Tüpfelhyänenweibchen sinkt er beispielsweise im Laufe des Lebens, während er bei deren Männchen steigt. Diese „Verwandtschaftsdynamik“ hat einen großen Einfluss auf den Anreiz, anderen Gruppenmitgliedern zu helfen.
Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Nature Ecology & Evolution“ erschienen und tragen zu einem besseren Verständnis von sozialem Verhalten und der Entstehung unterschiedlicher Sozialsysteme bei.
Ein zentrales Ziel von Lebewesen ist, die eigenen Gene an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Da nahe Verwandte einen Großteil identischer Gene besitzen, sollten Tiere auch nahen Verwandten helfen, ihre Gene weiterzugeben. Wer in einer Gruppe von nahen Verwandten lebt, sollte daher im eigenen Interesse den Gruppenmitgliedern helfen. Wer dagegen in Gruppen mit Mitgliedern lebt, die nur entfernt oder gar nicht verwandt sind, wie etwa Cousinen zweiten Grades oder völlig Fremden, kann einen Vorteil davon haben, egoistisch zu handeln oder den anderen sogar Schaden zuzufügen. Ein Team von 21 Wissenschaftler:innen unter der Leitung der University of Exeter (Großbritannien) untersuchte bei sieben Säugetierarten, wie sich der Verwandtschaftsgrad im Laufe des Lebens verändert.
„Wir wollten herausfinden, wie sich der Verwandtschaftsgrad mit zunehmendem Alter verändert und wie sich dies auf das Sozialverhalten der Gruppenmitglieder auswirkt“, so Dr. Sam Ellis, Erstautor der Arbeit. „Dafür entwickelten wir ein theoretisches Modell zur Vorhersage von Veränderungen im Verwandtschaftsgrad und verglichen unsere Vorhersagen mit empirischen Daten aus jahrzehntelangen Feldforschungsprojekten an Schwertwalen, Schimpansen, Tüpfelhyänen, Zebramangusten, Dachsen, Rhesusaffen und Pavianen.“ Das Team untersuchte auch, ob sich diese „Verwandtschaftsdynamik“ bei Männchen und Weibchen der gleichen Art voneinander unterschieden.
Das Team fand heraus, dass der Verwandtschaftsgrad von Art zu Art variiert, und zwar abhängig davon, ob die männlichen oder weiblichen Nachkommen (oder beide) die Gruppe verlassen, in die sie geboren wurden, und zu neuen Gruppen abwandern. Bei Schwertwalen beispielsweise bleiben männliche und weibliche Nachkommen in der gleichen Gruppe wie ihre Mutter, so dass die Weibchen mit zunehmendem Alter mit einer wachsenden Zahl von Kindern und Enkeln zusammen leben. Bei anderen Tieren ist das ganz anders. „Bei Tüpfelhyänen verlassen die Männchen in der Regel nach Erreichen der Geschlechtsreife ihre Geburtsgruppe, so dass die Weibchen mit zunehmendem Alter in der Regel unter weniger nahen Verwandten leben“, so Dr. Eve Davidian, Mitautorin des Aufsatzes und Mitglied des Ngorongoro-Hyänenprojekts des Leibniz-IZW.
Die empirischen Daten der Feldforschungsprojekte stimmten gut mit den Vorhersagen des Modells überein. „Das ist spannend, weil unser Modell nur auf zwei Merkmalen des Sozialsystems von Arten aufbaut, nämlich welches Geschlecht auswandert und wie häufig sich Weibchen und Männchen mit Mitgliedern anderer Gruppen verpaaren. Dadurch können wir auch für andere in Gruppen lebende Tiere vorhersagen, wie und wann sich ihre Hilfsbereitschaft verändert“, so Ellis.
Eine der sieben in die Studie einbezogenen Tierpopulationen ist die der Tüpfelhyänen im Ngorongoro-Krater in Tansania. Leibniz-IZW-Wissenschaftler:innen untersuchen diese aus acht Clans bestehende Population seit 26 Jahren und erstellten einen einzigartigen genetischen Stammbaum, der mehr als 2000 Individuen aus neun Generationen umfasst. „Unsere Langzeitdaten stimmten gut mit der vom Modell vorhergesagten Verwandtschaftsdynamik überein: die Verwandtschaft nimmt bei den Männchen mit zunehmendem Alter zu, bei den Weibchen jedoch ab“, sagt Dr. Oliver Höner vom Leibniz-IZW und Mitautor des Aufsatzes. „Mit Hilfe dieses neuen Modells können wir weiterführende Modelle zur Hilfsbereitschaft mit Daten füttern und nun allgemeine Voraussagen für gruppenlebende Tiere treffen, wann und wie ausgeprägt Männchen und Weibchen in welchem Alter hilfsbereit sein sollten.“
Die Ergebnisse könnten auch erklären, weshalb sich Arten und die Geschlechter in ihrer Hilfsbereitschaft voneinander unterscheiden. „Der Verwandtschaftsgrad und damit die Anreize zu helfen, ändern sich oft mit dem Alter und abhängig vom Geschlecht, entsprechend der sozialen Organisation und dem Paarungssystem der Tierart, also je nachdem, wo sich die Tiere verpaaren und welches Geschlecht aus der Geburtsgruppe auswandert“, sagt Prof. Darren Croft von der University of Exeter und Senior-Autor des Aufsatzes.
Die wissenschaftliche Untersuchung liefert Vorhersagen, die mit empirischen Daten überprüft werden können. „Bei Tüpfelhyänen wird es spannend sein zu überprüfen, ob die Männchen mit zunehmendem Alter wie vorhergesagt ihren Gruppenmitgliedern mehr – und die Weibchen weniger – helfen“, so Höner. Die Arbeit öffnet damit die Tür für neue theoretische und empirische Untersuchungen, die es ermöglichen werden, besser zu verstehen, wie das Sozialsystem einer Art die Hilfsbereitschaft von Tieren beeinflusst und wie unterschiedliche Tiergesellschaften entstehen.
Originalpublikation:
Ellis S, Johnstone RA, Cant MA, Franks DE, Weiss MN, Alberts SC, Balcomb KS, Benton CH, Brent LJN, Crockford C, Davidian E, Delahay RJ, Ellifrit DK, Höner OP, Meniri M, McDonald RA, Nichols HJ, Thompson FJ, Vigilant L, Wittig RM, Croft DP (2022) Patterns and consequences of age-linked change in local relatedness in animal societies. Nature Ecology & Evolution. doi:10.1038/s41559-022-01872-2
26.09.2022, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
Mit dem Klimawandel Schritt halten? – Ruderfußkrebse können sich anpassen, wenn nicht zu viele Stressoren zusammenkommen
Die für die Nahrungsnetze der Ozeane wichtigen Copepoden können sich genetisch an wärmere und saurere Meere anpassen. Dies ist das Ergebnis einer vom GEOMAR gemeinsam mit der University of Vermont und der University of Connecticut durchgeführten Studie, die jetzt in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht wurde. Gleichzeitig warnen die Forschenden, dass die Anpassungsfähigkeit eingeschränkt sein könnte, wenn andere Stressfaktoren wie Sauerstoff- oder Nahrungsmangel hinzukommen.
Copepoden gehören zu den wichtigsten Organismen im Ozean. Die millimeterkleinen Tiere sind Nahrung für viele Fischarten und damit von zentraler Bedeutung für das Leben im Meer. Meeresbiolog:innen befürchten, dass der Klimawandel die kleinen Krebse in Zukunft beeinträchtigen könnte – und damit die wichtigste Nahrungsquelle für Fische und viele andere Meerestiere dezimiert werden könnte. Ein Team vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, der University of Connecticut und der University of Vermont hat deshalb erstmals genauer untersucht, ob sich Ruderfußkrebse im Laufe der Evolution genetisch an veränderte Lebensbedingungen anpassen können. Dabei haben sie sowohl die Auswirkungen höherer Wassertemperaturen als auch die Ozeanversauerung berücksichtigt. Die Arbeit der deutsch-amerikanischen Gruppe ist besonders, weil sie als eine der ersten die Meerestiere im Labor mehreren Stressfaktoren ausgesetzt hat.
Die Ergebnisse, die kürzlich in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht wurden, sind vorsichtig optimistisch. Das Team unter der Leitung von Professor Dr. Reid Brennan, Meeresökologe am GEOMAR, und Professor Dr. Melissa Pespeni von der University of Vermont fand durch eine detaillierte genetische Analyse heraus, dass sich die Kleinkrebse tatsächlich im Laufe von etwa 25 Generationen an die neuen Bedingungen anpassen können – was einem Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr entspricht, da bei moderaten Wassertemperaturen mehrere Generationen von Krebstieren in einem Jahr heranreifen können. Die Forschenden fanden heraus, dass sich mit steigenden Wassertemperaturen und saurer werdenden Bedingungen Genvarianten im Genom der Copepoden durchsetzen, die dazu führen, dass die Tiere dem Umweltstress besser standhalten können. „Diese Mechanismen tragen unter anderem dazu bei, dass sich die Eier der Copepoden trotz ungünstiger Umweltbedingungen richtig entwickeln und wichtige Stoffwechselprozesse weiterlaufen“, sagt Reid Brennan.
Mehrere Stressfaktoren verstärken die Wirkung
In ihrer Studie untersuchte das Team zum einen, wie sich die Erwärmung und die Versauerung der Ozeane jeweils einzeln auf die Tiere auswirken, und zum anderen, wie die beiden Faktoren zusammenwirken. Der Vergleich zeigte, dass die Erwärmung einen deutlich größeren Effekt hat als die Versauerung. Das bedeutet, dass unter wärmeren Bedingungen deutlich mehr Gene reagieren und sich Varianten in der Häufigkeit verschieben. Noch stärker war der Effekt, als die Forscher die Copepoden beiden Stressfaktoren – Erwärmung und Versauerung – aussetzten. Dabei machten die Expert:innen eine beunruhigende Entdeckung: Eigentlich hätte man erwarten können, dass sich unter kombiniertem Wärme- und Säurestress jene Gene verändern, die auf Wärme reagieren und jene, die auf Versauerung reagieren, also dass sich beides schlicht aufaddiert. Tatsächlich aber reagierte eine ganze Reihe weiterer Gene auf den Doppelstress. Für die Ruderfußkrebse bedeutet das, dass die Belastung des Stoffwechsels weiter zunimmt und dass es noch schwieriger werden dürfte, sich anzupassen.
„Die Ergebnisse zeigen uns auch, dass wir nur schwer abschätzen können, wie Organismen auf eine sich zunehmend verändernde Meeresumwelt reagieren, wenn mehrere Stressoren zusammenwirken“, sagt Reid Brennan.
„Selbst wenn wir wissen, wie einzelne Stressoren wirken, ist es schwierig vorherzusagen, wie der Organismus reagieren wird, wenn zum Beispiel Sauerstoff- oder Nährstoffmangel hinzukommen“, ergänzt Melissa Pespeni. „Eins plus eins ist nicht immer gleich zwei, wenn es um Stressoren des globalen Wandels geht“. Dies kann besonders für Organismen problematisch sein, die sich nicht so schnell vermehren und an veränderte Umweltbedingungen anpassen können wie Copepoden. Um mehr über die ungewisse Zukunft der Meerestiere zu erfahren, sollen weitere Experimente folgen, in denen andere Stressoren untersucht werden.
Diese Veröffentlichung ist die jüngste in einer Reihe von Arbeiten und wurde von der National Science Foundation (USA) finanziert. Sie knüpft an eine frühere Studie an, die von demselben Team unter der Leitung von Professor Dr. Hans Dam von der University of Connecticut veröffentlicht wurde und die zeigt, dass sich die Tiere schnell, aber nur begrenzt an die Erwärmung und Versauerung der Ozeane anpassen.
Originalpublikation:
Brennan, R. S., deMayo, J. A., Dam, H. G., Finiguerra, M., Baumann, H., Buffalo, V., Pespeni, H. M. (2022): Experimental evolution reveals the synergistic genomic mechanisms of adaptation to ocean warming and acidification in a marine copepod. Proceedings of the National Academy of Sciences,
https://doi.org/10.1073/pnas.2201521119
26.09.2022, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau
Mehrjährige Blühstreifen in Kombination mit Hecken unterstützen Wildbienen in Agrarlandschaften am besten
• Blühzeitpunkte von Blühstreifen und Hecken ergänzen sich gegenseitig und fördern Bienendiversität
• Vivien von Königslöw: „Ergebnisse legen nahe, bevorzugt mehrjährige Blühstreifen statt einjährige Blühstreifen zu pflanzen, denn diese blühen im zweiten Standjahr viel früher als im Jahr der Aussaat und fördern über die Jahre verschiedene Bienengemeinschaften.“
Landwirt*innen sollten ein Netzwerk aus mehrjährigen Blühstreifen in Kombination mit Hecken schaffen, um Wildbienen ein kontinuierliches Blütenangebot zu bieten. Zu dieser Empfehlung kommen die Ökolog*innen Dr. Vivien von Königslöw, Dr. Felix Fornoff und Prof. Dr. Alexandra-Maria Klein vom Institut für Geo- und Umweltnaturwissenschaften an der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen der Universität Freiburg nach ihren Untersuchungen in Apfelplantagen in Süddeutschland. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichten sie im Journal of Applied Ecology.
Weniger Wildbienen wegen Blütenmangel
„In intensiven Agrarlandschaften sind Wildbienen vielfach selten geworden, da meist nur wenige Blüten als Nektar- und Pollenquellen zur Verfügung stehen“, erklärt von Königslöw. „Eine Kombination aus Blühstreifen und Hecken am Rand der Produktionsflächen könnte diesen Mangel an Blüten ausgleichen, denn ihre Blühzeitpunkte ergänzen sich gegenseitig.“
Bienendiversität durch Netzwerk von mehrjährigen Blühstreifen mit blütenreichen Hecken fördern
Das Forschungsteam verglich von 2018 bis 2020 die zeitliche Entwicklung der Blühressourcen und der Wildbienengemeinschaften in mehrjährigen Blühstreifen und Hecken am Rand von 18 konventionellen Apfelplantagen. „Unsere Ergebnisse legen nahe, bevorzugt mehrjährige Blühstreifen statt einjährige Blühstreifen zu pflanzen, denn diese blühen im zweiten Standjahr viel früher als im Jahr der Aussaat und fördern über die Jahre verschiedene Bienengemeinschaften. Am besten ergänzt man das Blütenangebot mit arten- und blütenreichen Hecken“, so von Königslöw.
In ihrer Studie beobachteten die Freiburger Ökolog*innen, dass die Wildbienen die Hecken hauptsächlich im zeitigen Frühjahr und teilweise auch noch bis in den Juni hinein besuchten. Die Blühstreifen suchten sie im ersten Standjahr hingegen erst von Juni bis August auf, doch ab dem zweiten Jahr bereits schon ab April. Insgesamt betrachtet war die Bienenanzahl und Artenvielfalt in den Blühstreifen höher als in den Hecken.
Originalpublikation:
von Königslöw, V., Fornoff, F., Klein, A.M. (2022): Temporal complementarity of hedges and flower strips promotes wild bee communities in apple orchards. Journal of Applied Ecology. DOI: 10.1111/1365-2664.14277
27.09.2022, Universität Hohenheim
Artenschutz durch Forstwirtschaft: Fahrspuren im Wald schützen bedrohte Gelbbauchunke
Universität Hohenheim präsentiert praxisnahes Konzept zum Unkenschutz in der Waldbewirtschaftung.
Sie sehen nach Zerstörung aus, schaffen aber wichtige Lebensräume: Fahrspuren auf Rückegassen im Wald. Die Gelbbauchunke braucht diese zum Überleben. Mit ihren herzförmigen Pupillen und dem gelb-schwarz gemusterten Bauch ist sie ein besonderer, aber mittlerweile seltener Anblick in süddeutschen Wäldern. Sie ist stark gefährdet und streng geschützt. Herkömmliche Maßnahmen zum Amphibienschutz eignen sich allerdings nicht zum Schutz der Pionierart Gelbbauchunke. Nun haben Forschende der Universität Hohenheim in Stuttgart ein nachhaltiges Schutzkonzept zur Herstellung von Laichgewässern für die bedrohte Art erarbeitet. Sie empfehlen, Schutzmaßnahmen in die Waldbewirtschaftung zu integrieren. Infos und Praxis-Leitfaden: https://www.unkenschutz-bw.de
Schlammige Pfützen auf zerfurchten Waldwegen: Die Spuren der Forstwirtschaft stören das Bild einer vermeintlich unberührten Natur im Erholungsgebiet Wirtschaftswald. Der gefährdeten Gelbbauchunke bieten solche Fahrspuren jedoch eine unverzichtbare Möglichkeit zur Vermehrung. Das zeigen die Ergebnisse eines Forschungsprojekts der Universität Hohenheim.
Der globale Verbreitungsschwerpunkt der Gelbbauchunke liegt in Süddeutschland – daher trägt Deutschland eine besondere Verantwortung für den weltweiten Erhalt dieser Art. Die Forschenden fanden heraus, dass die gefährdete Unke langfristig nicht von herkömmlichen Maßnahmen im Amphibienschutz profitiert, sondern spezielle Schutzkonzepte benötigt. Der Grund dafür: Die Pionierart kann sich nur in neu entstandenen, kurzlebigen Kleinstgewässern erfolgreich vermehren. Nur unmittelbar nach der Entstehung sind derartige Gewässer frei von Fressfeinden.
Die Dynamik des Entstehens und Vergehens von Kleinstgewässern war ursprünglich besonders in Auenlandschaften mit deren regelmäßigen Überschwemmungen gegeben. Da solche Landschaften in Deutschland immer seltener werden, zieht es die Gelbbauchunke in Lebensräume, die eine ähnliche Störungsdynamik aufweisen – wozu die Wirtschaftswälder zählen.
Waldnutzung schafft seltene Laichgewässer
„Fahrspuren von Waldmaschinen auf Rückegassen schaffen ideale Laichgewässer für die Gelbbauchunke“, sagt Prof. Dr. Martin Dieterich, Leiter des Forschungsprojekts zum nachhaltigen Schutz der Gelbbauchunke. Innerhalb des ersten Jahres dienen solche Fahrspuren als Lebensstätte, in der sich die bedrohte Art vermehren kann. Da Wirtschaftswälder im Zuge der Holzernte regelmäßig befahren werden, entstehen Laichgewässer immer neu. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts belegen: Die Gelbbauchunke vermehrt sich in diesen neuen Pfützen besonders erfolgreich.
Von dauerhaft angelegten Gewässern zum Amphibienschutz profitiert die Gelbbauchunke langfristig nicht. „In Baggertümpeln vermehrte sich die Gelbbauchunke im ersten Untersuchungsjahr zwar besonders gut“, berichtet Felix Schrell, Koordinator des Forschungsprojekts. Aber: „Bereits im zweiten Jahr siedeln sich in diesen permanenten Gewässern auch Fressfeinde der Gelbbauchunke an. Der Nachwuchs der Pionierart hat dann keine Chance mehr zu überleben. Auch eine Sanierung dieser Gewässer, wie es für die Gelbbauchunke oft betrieben wird, bringt keinen populationserhaltenden Reproduktionserfolg.“
Forscher empfehlen Integration des Artenschutzes in Waldnutzung
„Die Gelbbauchunke hat in Baden-Württemberg nicht trotz, sondern wegen der Forstwirtschaft überlebt“, betont Prof. Dr. Dieterich. Der Artenschutz müsse im Fall der Unke daher in die Waldnutzung integriert werden. Dafür hat das Forschungsteam einen praxisnahen Leitfaden entwickelt. Die Empfehlung lautet: Fahrspuren im Wald sollen während der Laichsaison der Gelbbauchunke über den Sommer erhalten bleiben und dann eingeebnet werden. Durch gezieltes Befahren der Gassen können die Spuren anschließend wieder neu entstehen.
Da die Fahrspuren bei Waldarbeiten ohnehin entstehen, fällt in der Forstwirtschaft kein besonderer Mehraufwand für den Artenschutz an. „Eine Win-Win-Situation für die Gelbbauchunke und für die Bewirtschafter“, fasst Prof. Dr. Dieterich zusammen. Um Laichgewässer auch außerhalb der Rückegassen zu schaffen, können im Frühjahr zudem Fahrspuren auf Wildäckern angelegt und im Zuge der regulären Bodenbearbeitung im Herbst wieder beseitigt werden.
Integrierter Artenschutz erfordert Akzeptanz in Bevölkerung und Naturschutz
Oft werden Fahrspuren auf Rückegassen unmittelbar nach den Waldarbeiten eingeebnet oder die Gassen vorbeugend mit Reisig bedeckt, sodass sich keine Pfützen bilden. Dadurch versuchen Forstleute mögliche Beschwerden aus der Bevölkerung oder von Naturschutzverbänden zu vermeiden – denn in der öffentlichen Wahrnehmung gelten die Fahrspuren gemeinhin als Zerstörung des Ökosystems Wald. „Dabei wird vergessen, dass Rückegassen gerade für den Bodenschutz im Wald ausgewiesen werden“, gibt Prof. Dr. Dieterich zu bedenken. „Denn so bleibt die Befahrung von Waldböden zur Holz-Ernte auf die Rückegasse beschränkt. Die bereits vorgeschädigten Bereiche dienen im Fall der Gelbbauchunke dem Artenschutz.“
Die fehlende Akzeptanz erschwert einen nachhaltigen Schutz der Gelbbauchunke. „Wir möchten der Bevölkerung vermitteln: Artenschutz und Waldbewirtschaftung passen bei der Gelbbauchunke zusammen“, sagt Felix Schrell. Ein wichtiger Aspekt des Schutzkonzepts ist daher die Öffentlichkeitsarbeit: Mit Exkursionen, Vorträgen, Flyern und Infotafeln informiert das Projekt über den Nutzen der Fahrspuren.
28.09.2022, Deutsche Wildtier Stiftung
Auch Wildtiere helfen unserem Wald
Im Mastjahr 2022 werden Eichelhäher und Eichhörnchen zu Waldbauern
Sie fallen auf Straßen und Bürgersteige, liegen unter Bäumen und hinterlassen manchmal sogar eine Delle auf dem Autodach: Der Herbst ist die Zeit der Baumfrüchte – und in diesem Jahr gibt es besonders viele Eicheln und Bucheckern. 2022 ist ein sogenanntes Mastjahr. Der Begriff kommt aus der Landwirtschaft; denn lagen früher besonders viele Baumfrüchte in den Wäldern, trieben die Bauern ihre Schweine dorthin, damit sie sich an den fett- und proteinhaltigen Samen dick und rund futtern konnten – sie wurden gemästet.
Etwa alle drei bis zwölf Jahre kommt ein Mastjahr vor. Das sind sehr gute Jahre für Wildtiere, die sich dann vor dem Winter noch einmal ordentlich Speck anfressen oder mit Vorräten eindecken können – und dabei ganz nebenbei zu Waldbauern werden. „Vor allem Eichelhäher und Eichhörnchen legen jede Menge Nahrungsdepots an, um diese über den Winter hinweg zu nutzen“, erklärt Petra Riemann, Flächenmanagerin der Deutschen Wildtier Stiftung. „Vergessen die Vögel den einen oder anderen Samen im Waldboden, wächst aus ihm ein junger Baum – Forstwirte nennen das Hähersaat.“ Einzelne Eichen oder Buchen in ansonsten eintönigen Nadelwäldern sind typisch für die Arbeit des Eichelhähers. In den Alpen ist es der Tannenhäher, der die Zirbensamen im Boden versteckt. Daher haben diese tierischen Hilfsförster sogar ihre Namen: Häher ist ein altes Wort für Heger, also einer, der Lebensräume erhält und pflegt.
Ein Eichelhäher kann in seinem Kehlsack bis zu zehn Eicheln transportieren und in einem Mastjahr bis zu 5000 Baumsamen verstecken. Ein Eichhörnchen schafft vielleicht sogar noch mehr. Und so tragen die vergessenen Vorräte dieser Wildtiere zur natürlichen Ausbreitung von Laubbäumen bei. „Gerade Eichen und Buchen spielen bei einem Umbau naturferner Nadelbaumforste zu naturnahen Laubmischwäldern eine wichtige Rolle“, sagt Petra Riemann. Mischwälder sind widerstandsfähiger zum Beispiel gegen Trockenstress, der unter anderem durch den Klimawandel hervorgerufen wird oder auch gegen Forstschädlinge wie den Borkenkäfer. Außerdem finden viele unserer heimischen Amphibien- oder Fledermausarten sowie Käfer, Wildbienen oder Tag- und Nachtfalterraupen nur in naturnahen Laubmischwäldern einen geeigneten Lebensraum.
Auch auf den Flächen der Deutschen Wildtier Stiftung tragen Eichelhäher und Eichhörnchen zum Waldumbau und damit zur natürlichen Verjüngung des Waldes bei. Beispielsweise auf der Stiftungsfläche Alte Fahrt, die in Mecklenburg-Vorpommern südlich des Müritz-Nationalparks liegt. „Die Hähersaat ist neben der Pflanzung von heimischen Laubbäumen unsere wichtigste Strategie zum Umbau der einst monotonen Kieferforsten“, so Riemann. „Mithilfe der Faktoren Licht und Zeit können so in wenigen Jahrzehnten struktur- und artenreiche Mischwälder entstehen.“
28.09.2022, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) im Forschungsverbund Berlin e.V.
Genoms der gemeinsamen Vorfahren aller Säugetiere ist enthüllt
Ein internationales Team hat die Genom-Zusammensetzung des frühesten gemeinsamen Vorfahren aller Säugetiere rekonstruiert. Das rekonstruierte Vorfahren-Genom kann zum Verständnis der Evolution der Säugetiere und zum Erhalt der heutigen Wildtiere beitragen. Der früheste Vorfahre der Säugetiere sah wahrscheinlich aus wie das fossile Tier „Morganucodon“, das vor etwa 200 Millionen Jahren lebte. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ veröffentlicht.
Alle heutigen Säugetiere, vom Schnabeltier bis zum Blauwal, stammen von einem gemeinsamen Vorfahren ab, der vor etwa 180 Millionen Jahren lebte. Man weiß nicht viel über dieses Tier, aber der Aufbau seines Genoms wurde jetzt von einem internationalen Team von Wissenschaftler:innen computergestützt rekonstruiert.
„Unsere Ergebnisse haben wichtige Auswirkungen auf das Verständnis der Evolution von Säugetieren und auf die Naturschutzbemühungen“, sagt Harris Lewin, Professor für Evolution und Ökologie an der University of California, Davis, und Hauptautor der Studie.
Das Wissenschaftsteam stützte sich auf hochwertige Genomsequenzen von 32 lebenden Arten, die 23 der 26 bekannten Säugetierordnungen repräsentieren. Darunter waren Menschen und Schimpansen, Wombats und Kaninchen, Seekühe, Hausrinder, Nashörner, Fledermäuse und Schuppentiere. In die Analyse wurden auch die Genome von Hühnern und chinesischen Alligatoren als Vergleichsgruppen einbezogen. Einige dieser Genome werden im Rahmen des Earth BioGenome Projects und anderer groß angelegter Biodiversitätsgenom-Sequenzierungsprojekte erstellt. Lewin ist Vorsitzender der Arbeitsgruppe für das Earth BioGenome Project.
„Die Rekonstruktion zeigt, dass der Vorfahre der Säugetiere 19 autosomale Chromosomen hatte, die die Vererbung der Merkmale eines Organismus außerhalb der von den geschlechtsgebundenen Chromosomen beeinflusst (diese sind in den meisten Zellen gepaart, was insgesamt 38 ergibt), plus zwei Geschlechtschromosomen“, sagt Joana Damas, Erstautorin der Studie und Postdoktorandin am UC Davis Genome Center. Das Team identifizierte 1.215 Genblöcke, die in allen 32 Genomen immer in der gleichen Reihenfolge auf demselben Chromosom vorkommen. Diese Bausteine aller Säugetiergenome enthalten Gene, die für die Entwicklung eines normalen Embryos entscheidend sind.
Chromosomen blieben über 300 Millionen Jahre stabil
Die Wissenschaftler:innen rekonstruierten bei dem Vorfahren der Säugetiere neun ganze Chromosomen oder Chromosomenfragmente, deren Reihenfolge der Gene die gleiche ist wie bei den Chromosomen der heutigen Vögel. „Dieser bemerkenswerte Befund zeigt die evolutionäre Stabilität der Anordnung und Ausrichtung der Gene auf den Chromosomen über einen ausgedehnten evolutionären Zeitrahmen von mehr als 320 Millionen Jahren“, sagt Lewin. Im Gegensatz dazu enthielten die Regionen zwischen den konservierten Genblöcken mehrere sich wiederholende Sequenzen und diese Regionen waren anfälliger für Brüche, Umlagerungen und Sequenzverdoppelungen. Das sind wichtige Triebkräfte der Genomevolution.
„Die Rekonstruktion des Genoms der Vorfahren ist von entscheidender Bedeutung, um zu verstehen, wo und warum der Selektionsdruck in verschiedenen Genomen variiert. Diese Studie stellt eine klare Beziehung zwischen Chromatinarchitektur, Genregulation und Bindungserhaltung her“, sagt Professor William Murphy von der Texas A&M University, der nicht zu den Autoren der Studie gehört. „Dies bildet die Grundlage für die Bewertung der Rolle der natürlichen Selektion bei der Chromosomenevolution im gesamten Lebensbaum der Säugetiere.“
Das Wissenschaftsteam war in der Lage, die Chromosomen der Vorfahren von einem gemeinsamen Vorfahren aus zeitlich zu verfolgen. Sie fanden heraus, dass die Geschwindigkeit der Chromosomenumlagerung bei den verschiedenen Säugetierlinien unterschiedlich war. Bei den Wiederkäuern, die zu den heutigen Rindern, Schafen und Hirschen führten, beispielsweise, beschleunigte sich die Umlagerung vor 66 Millionen Jahren, als ein Asteroideneinschlag die Dinosaurier auslöschte und zur Entstehung der Säugetiere führte.
„Die Ergebnisse werden zum Verständnis der genetischen Anpassungen beitragen, die es den Säugetieren ermöglicht haben, in den letzten 180 Millionen Jahren auf einem sich verändernden Planeten zu gedeihen“, erklärt die Koautorin Camila Mazzoni, Leiterin der Forschungsgruppe Evolutions- und Naturschutzgenomik am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) und Leiterin “Evolutions- und Naturschutzgenetik” am Berlin Center for Genomics in Biodiversity Research (BeGenDiv).
Originalpublikation:
Damas J, Corbo M, Kim J, Turner-Maier J, Farré M, Larkin DM, Ryder OA, Steiner C, Houck ML, Hall S, Shiue L, Thomas S, Swale T, Daly M, Korlach J, Uliano-Silva M, Mazzoni CJ, Birren BW, Genereux DP, Johnson J, Lindblad-Toh K, Karlsson EK, Nweeia MT, Johnson RN, Zoonomia Consortium, Lewin HA (2022): Evolution of the ancestral mammalian karyotype and syntenic regions. PNAS 119, e2209139119. doi:10.1073/pnas.2209139119.
29.09.2022, NABU
Verluste bei jeder zweiten Vogelart
BirdLife-Statusbericht zeigt stark besorgniserregenden Zustand der globalen Vogelwelt
Fast die Hälfte aller Vogelarten weltweit weist Verluste auf. Das zeigt der am 27. September veröffentlichte Bericht des NABU-Dachverbands BirdLife International „State of the World’s Birds 2022“, der alle vier Jahre erstellt wird. Viele Vogelpopulationen sind demnach sogar stark dezimiert. Vom Aussterben bedroht ist derzeit laut der jüngsten internationalen Roten Liste jede achte Vogelart. „Der nun fünfte Statusreport zeichnet das bisher besorgniserregendste Bild der Zukunft der Vogelarten und damit des gesamten Lebens auf der Erde. Sowohl die schädliche Praxis in der Land- und Forstwirtschaft als auch die Effekte der Klimakrise sind die Haupttreiber für die Verluste, denen wir uns mit aller Kraft entgegenstellen müssen“, so NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller.
Den 49 Prozent abnehmenden Vogelarten stehen lediglich sechs Prozent Zunahmen entgegen. Seit dem Jahr 1500 gelten inzwischen 187 Vogelarten als ausgestorben. Ein wesentlicher Grund für den schlechten Zustand der Vogelbestände liegt laut BirdLife-Bericht in der Landwirtschaft. Die zunehmende Mechanisierung, der Einsatz von Agrochemikalien und die Umwandlung von Grünland in Ackerland haben dazu geführt, dass die Zahl der Feldvögel in Europa seit 1980 um 57 Prozent zurückgegangen ist. Weltweit sind die Ausweitung und Intensivierung der Landwirtschaft das größte Problem für die Vögel der Welt und betrifft 73 Prozent aller bedrohten Arten. Problematisch ist auch nicht nachhaltige Waldbewirtschaftung und Abholzung, wobei der Verlust von über sieben Millionen Hektar Wald – jedes Jahr eine Fläche so groß wie Irland – die Hälfte aller bedrohten Vogelarten betrifft.
Die Klimakrise ist ebenfalls eine erhebliche Bedrohung und zeigt bereits verheerende Auswirkungen auf die Vögel der Welt. 34 Prozent der bedrohten Arten sind bereits betroffen. Geringere Niederschläge für Feuchtgebietsarten, reduzierte Verbreitungsgebiete von Gebirgs- und polaren Vogelarten gehören zu den Problemen wie auch zunehmende Brände, Dürren und Stürme. Weitere gravierende Effekte entstehen durch invasive Arten, Jagd und Beifang, Flächenverbrauch, Rohstoffabbau und Energieinfrastruktur. Für die Rückgänge von 70 Prozent aller Greifvögel in Kenia sind beispielsweise Verluste an Stromleitungen hauptverantwortlich, nur einem von vielen Ländern, in dem die Stromversorgung massiv ausgebaut wird.
Der BirdLife-Bericht zeigt aber auch, dass durch entschlossenes Handeln Arten gerettet und Natur wiederhergestellt werden kann. Seit 2013 haben 726 weltweit bedrohte Vogelarten direkt von den Maßnahmen der BirdLife-Partnerschaft profitiert. In Europa wäre etwa der Waldrapp ohne gezielten Artenschutz ausgestorben. So wurden etwa 450 wichtige Vogel- und Biodiversitätsgebiete (IBAs) durch die Lobbyarbeit von BirdLife Partnern als Schutzgebiete ausgewiesen. „Wir müssen beschädigte Ökosysteme renaturieren und wichtige Naturräume schützen. Nur so können wir die biologische Vielfalt auf Dauer erhalten“, betont Miller. „Das Weltnaturabkommen, welches im Dezember von der globalen Gemeinschaft in Montréal, Kanada beschlossen werden soll, bietet einen Ansatzpunkt, das katastrophale Artensterben noch aufzuhalten. Doch dafür braucht es ambitionierte und messbare Ziele, verbesserte Kontroll- und Umsetzungsmechanismen und eine ausreichende Finanzierung.“
30.09.2022, Bundesanstalt für Gewässerkunde
Spurensuche: BfG wirkte an der Aufklärung des Fischsterbens an der Oder mit
Heute veröffentlichten das BMUV und das UBA den Statusbericht einer vom BMUV eingerichteten nationalen Expert/-innengruppe zum Fischsterben in der Oder. In die Arbeitsgruppe brachten Fachleute der BfG ihre Erfahrungen und Fähigkeiten mit ein. Die Untersuchungen der Bundesanstalt liefern wichtige Informationen, um die Ursachen der Katastrophe nachvollziehen zu können.
Für die Aufklärung des Fischsterbens an der Oder erhielt die Bundesanstalt für Gewässerkunde zur Untersuchung von Wasser- und Schwebstoffproben seit dem 12. August mehrere Bitten um Amtshilfe des Landeslabors Berlin-Brandenburg (LLBB) und des Landesamtes für Umwelt (LU) Brandenburg. Das BMUV bat die BfG im Rahmen der aktuellen „Verwaltungsvereinbarung im Bereich der Wasserwirtschaft sowie zur grenzüberschreitenden und internationalen Wasserkooperation“ tätig zu werden. In den darauffolgenden Wochen führten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BfG chemische und ökotoxikologische Analysen zur Identifizierung möglicher Schadstoffe durch. Weiter wurden von der BfG taxonomische und molekularbiologische Untersuchungen zur Identifizierung der Algenzusammensetzung vorgenommen.
Parallel dazu konstituierte sich eine deutsche Expertengruppe mit Fachleuten aus den Landesbehörden in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern sowie dem THW, dem WSA Oder-Havel, dem BMUV, dem UBA und der BfG sowie eine polnisch-deutsche Expertengruppe. Gemeinsames Ziel war es, auf Basis der vorliegenden Informationen und der aktuellen Messergebnisse die möglichen Ursachen des Fischsterbens wissenschaftlich – soweit wie möglich – aufzuklären.
Dr. Birgit Esser, Leiterin der BfG: “In den vergangenen sechs Wochen haben meine Kolleginnen und Kollegen unter Hochdruck daran gearbeitet, um unseren Beitrag bei der Suche nach den Ursachen für das dramatische Fischsterben in der Oder zu liefern. Gemeinsam mit unseren Partnern haben wir eine breite und wissenschaftliche Datengrundlage geschaffen, die eine Bewertung der Hypothesen zu den Ursachen ermöglicht.“
Monitoringstationen bewähren sich
Bei Hohenwutzen, einem Ort im Landkreis Märkisch-Oderland, ist die BfG an einer automatisierten Messstation (Fluss-km 661,6) beteiligt. Die Station wird in Kooperation mit dem LfU Brandenburg und den Mitarbeitenden des WSA Oder-Havel betrieben. Mit Hilfe standardmäßig erhobener Tagesmischproben konnten u. a. die Zusammensetzung und der Eintrag der Salze, die zu einem Anstieg der elektrischen Leitfähigkeit des Oder-Wassers führten, identifiziert und im Vergleich mit Langzeitdaten eingeordnet werden.
Diese Informationen sind wichtige Indizien bei der Suche nach der Ursache der Katastrophe. Erhöhte Chloridkonzentrationen treten seit vielen Jahren in der Oder auf. Diese erhöhten Konzentrationen und die daraus resultierende hohe Leitfähigkeit sind nach Auffassung der BfG nicht unmittelbar ursächlich für das Sterben der Fische. Sie leisteten jedoch einen sehr deutlichen Beitrag, insbesondere als Sekundäreffekt in Bezug auf die Lebensbedingungen der Algen.
Giftige Toxine einer Brackwasser-Algenart in der Oder
Ein sprunghafter Anstieg der Sauerstoffkonzentration, des pH-Wertes und der Chlorophyllgehalte, sowie ein Absinken der Nitrat-Konzentration wiesen bereits früh auf eine massive Algenblüte in der Oder hin. Im Verdacht stand die Alge Prymnesium parvum, die eigentlich in salzhaltigen Gewässern beheimatet ist. Die Alge wurde durch molekularbiologische Analysen der BfG eindeutig identifiziert. In Hohenwutzen wurde am 16.08.2022 eine maximale Zellzahl von 141 Millionen Zellen P. parvum pro Liter festgestellt. Laut Literatur ist bereits ab einer Zellzahl von 20 Millionen Zellen pro Liter mit einem Fischsterben zu rechnen.
Es ist bekannt, dass P. parvum giftige Stoffwechselprodukte (Algentoxine) bilden kann. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BfG haben diese Toxine im Rahmen eines sogenannten Non-Target-Screening (NTS) in Gewässerproben der Oder identifiziert. Jedoch konnte die Konzentration der Toxine bislang nicht ermittelt werden, weil es keine allgemein zugänglichen Referenzstandards gibt. Weiter fehlen für diese Toxine abgesicherte Erkenntnisse, ab welchen Konzentrationen Fische und andere Organismen geschädigt oder getötet werden. Wissenschaftlich kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar kein eindeutiger Nachweis geführt werden, dass die Toxine zum Fischsterben geführt haben. Unter Berücksichtigung der gesammelten Erkenntnisse spricht jedoch viel dafür.
Detektivarbeit mit Spurenanalytik
Die Expert/-innen der BfG analysierten die Tagesmischproben der Messstation bei Hohenwutzen auch auf die darin enthaltenen Schadstoffe. Dazu führten sie u. a. das NTS durch. Diese Methode liefert eine Momentaufnahme von über tausend bekannten und unbekannten Substanzen in einer Probe und damit eine Art umfassenden „Fingerabdruck“. Durch das NTS wurde neben den Algentoxinen im Ereigniszeitraum auch ein erhöhtes Vorkommen anderer Substanzen detektiert, darunter z. B. Nebenprodukte, die bei der Herstellung von Herbiziden entstehen. Inwieweit einzelne dieser Substanzen oder deren Summe direkt oder indirekt zum Fischsterben beigetragen haben, ist derzeit nicht bekannt.
Zusätzliche Untersuchungen
Über die im Statusbericht veröffentlichten Ergebnisse hinaus führte die BfG weitere Analysen durch. So wurden beispielweise Wasser- und Schwebstoffproben auf 86 Metalle und weitere Elemente sowie zahlreiche organische Schadstoffe untersucht. Diese und weitere Ergebnisse wird die BfG zu einem späteren Zeitpunkt in einem separaten Bericht veröffentlichen.
Ausblick
Die BfG will sich auch an der Bearbeitung der aus wissenschaftlicher Sicht offenen Fragen beteiligen, z. B. zum Vorkommen von der Alge P. parvum und zur Wirkung der Algentoxine auf Fische. Der hohe Nutzen der Non-Target-Analytik hat sich gezeigt. Die BfG wird diese Methodik gezielt ausbauen und einsetzen. Dr. Birgit Esser, Leiterin der BfG: „Es ist insgesamt unser Anspruch, anthropogene und natürliche Effekte zu differenzieren und so wirksame Maßnahmen für die Gewässerentwicklung aus ökosystemarer und funktioneller Sicht abzuleiten. Mit diesem Grundverständnis bringt die BfG gerne ihre fachliche Expertise in die von Bund und Ländern initiierten weiteren Aktivitäten rund um die Oder ein.“
30.09.2022, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart
Veränderungen in der Schweizer Flora und die Auswirkungen auf blütenbesuchende Insekten
Bisherige Naturschutzmaßnahmen steigern kaum die Artenvielfalt heimischer Pflanzen mit spezialisierter Bestäubungsbiologie. Ökologische Untersuchungen relativieren positiven Biodiversitätstrend in der Schweizer Flora. Eine Studie liefert Hinweise für Naturschutzmaßnahmen in Mitteleuropa.
Der Verlust von Lebensräumen hat in weiten Teilen Europas zu einem drastischen Rückgang der Artenvielfalt von Pflanzen sowie zu massiven Veränderungen in der Zusammensetzung der Artengemeinschaften geführt. Studien in einzelnen Regionen Mitteleuropas deuten aber darauf hin, dass dieser Trend seit den späten 1990er Jahren aufgrund von Naturschutzmaßnahmen regional gestoppt oder sogar umgekehrt werden konnte. Unklar war bisher, ob diese Entwicklung bei verschiedenen Pflanzengruppen gleichermaßen zu beobachten ist. Ein deutsch-schweizerisches Wissenschaftlerteam der Universitäten in Bonn, Zürich und Basel sowie des Naturkundemuseums Stuttgart haben in einer Studie die Veränderungen in der Schweizer Flora seit dem Jahr 2002 analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass die Generalisten unter den Pflanzenarten aufgrund von Naturschutzbemühungen wieder zugenommen haben. Spezialisierte Pflanzen und Insekten profitieren davon aber kaum. Die Ergebnisse der Wissenschaftler können bei zukünftigen Renaturierungsplanungen in Mitteleuropa helfen. Die Publikation ist in der Fachzeitschrift „BMC Ecology and Evolution“ erschienen.
Die Intensivierung der Landwirtschaft und der wachsende Flächenverbrauch durch die Ausweitung von Siedlungen, Gewerbegebieten und Infrastruktur, als auch der Klimawandel haben zu einer starken Verarmung der Flora seit Beginn des 20. Jahrhunderts geführt. Dieser Diversitätsrückgang war vor den 1990er Jahren am stärksten ausgeprägt. Seitdem haben Änderungen in der Naturschutzpolitik die Abnahme des Artenreichtums zwar verlangsamt und für einige Gruppen auf kleineren räumlichen Skalen sogar umgekehrt. Allerdings ging die Vereinheitlichung der Pflanzengemeinschaften oft weiter. Die Wiederzunahme der Artenzahl erfolgt meist durch weit verbreitete Arten und Neophyten, eingewanderte Pflanzen, die sich unter anderem aufgrund des Klimawandels ausbreiten können.
Unklar war bisher, ob Pflanzen, die von generalistischen Insekten oder dem Wind bestäubt werden, genauso stark zugenommen haben, wie Pflanzen, die an spezialisierte Bestäuber, wie Hummeln oder Schmetterlinge, angepasst sind. Außerdem war unbekannt, ob sich Pflanzen, die auf Pollen anderer Individuen derselben Art zur Samenproduktion angewiesen sind, genauso stark vermehrt haben wie Pflanzen, die mit dem eigenen Pollen Samen bilden können.
„Bei den Untersuchungen der Schweizer Flora konnten wir feststellen, dass es positive Entwicklungen über alle Artgruppen hinweg gibt. Diese Entwicklung ist allerdings viel deutlicher ausgeprägt bei Arten, die vom Wind und nicht von Insekten bestäubt werden. Innerhalb der insektenbestäubten Pflanzenarten profitieren Arten, die von generalistischen Insekten, wie z.B. Fliegen oder Bienen mit kurzen Zungen bestäubt werden mehr, als Arten, die auf spezialisierte Bestäuber angewiesen sind. Hierunter fallen Hummeln und langzüngige Wildbienen. Ebenfalls erholen sich Pflanzenarten stärker, die nicht auf Pollen eines anderen Individuums der eigenen Art angewiesen sind besser, als fremdbestäubte Pflanzen. Spezialisten hingegen profitieren kaum“, so Dr. Stefan Abrahamczyk, Botaniker am Naturkundemuseum Stuttgart. Der Experte für Bestäubungsbiologie hatte 2021 mit den Arbeiten zur Studie an der Universität Bonn begonnen.
Diese Erkenntnis lässt sich ebenfalls auf Insekten übertragen, die auf der Suche nach Nektar und Pollen auf spezifische, hoch spezialisierte Nahrungspflanzen angewiesen sind. Was die Bestäuber betrifft, so hat Europa in den letzten Jahrzehnten einen viel beachteten Zusammenbruch der Insektenpopulationen erlebt. Vor allem Insektenarten mit spezialisiertem Brut- oder Fressverhalten, darunter viele langzüngige Arten, sind drastisch zurückgegangen.
Aus naturschutzfachlicher Sicht belegen diese Ergebnisse der Studie, dass bei zukünftigen Schutz- und Renaturierungsplanungen die reproduktionsbiologischen Eigenschaften der habitattypischen Pflanzenarten berücksichtigt werden sollten. Naturschutzmaßnahmen sollten so ausgewählt werden, dass spezialisierte Pflanzen profitieren. Wenn diese Punkte in der Planung berücksichtigt werden, können sich spezialisierte, heimische Pflanzen und Insekten in Zukunft erholen.
https://www.naturkundemuseum-bw.de/
Originalpublikation:
Abrahamczyk S., Roth T., Kessler M., Heer N. 2022 Temporal changes in the Swiss flora – implications for flower-visiting insects. BMC Ecology & Evolution 22: 109.
DOI: https://doi.org/10.1186/s12862-022-02061-2
30.09.2022, Deutsche Wildtier Stiftung
Deutsche Wildtier Stiftung: Am Wisent im Rothaargebirge zeigen sich die Grenzen des Artenschutzes in Deutschland
Es sollte ein Vorzeigeprojekt im deutschen Artenschutz werden: Die Wiederansiedlung der einst in Deutschland ausgestorbenen Wisente (Bison bonasus) im südwestfälischen Bad Berleburg. Nun hat der Trägerverein das Projekt frühzeitig beendet, indem er einen öffentlich-rechtlichen Vertrag unter anderem mit dem Kreis-Siegen-Wittgenstein und dem Landesbetrieb Wald und Holz Nordrhein-Westfalen gekündigt hat. Damit gipfeln die vor Gericht geführten Auseinandersetzungen des Vereins „Wisent Welt Wittgenstein“ und einiger regionaler Grundbesitzer, die die Wisente nicht auf ihrem Grund und Boden dulden wollen, vorerst in einer juristischen Sackgasse.
Offensichtlich ist ein Miteinander von Mensch und Wisent, das bis zum frühen Mittelalter durch die Urwälder Westeuropas zog, heute nicht mehr möglich. Klaus Hackländer, Wildtierbiologe und Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung, sieht in der Beendigung des Experiments auch einen moralischen Wiederspruch: „Wenn wir es nicht schaffen, in Deutschland einen großen Pflanzenfresser auf einer kleinen Fläche zu tolerieren, wie können wir dann von afrikanischen Ländern fordern, Schäden von Elefanten in der Land- und Forstwirtschaft zu dulden?“ Die Deutsche Wildtier Stiftung hatte gemeinsam mit dem Zoo Köln und dem Trägerverein des Projektes erst im Frühjahr 2022 die Zusammenarbeit in einer Wisent-Allianz vereinbart, um das Projektmanagement zu professionalisieren und insbesondere die Bedeutung des Projektes für den Artenschutz hervorzuheben.
Durch die im Jahr 2013 im Rothaargebirge gestartete Initiative sollte das europäische Bison auf sehr begrenzter Fläche wieder in Deutschland heimisch werden. Dazu wurden insgesamt acht Tiere ausgesetzt, bis heute wuchs die Zahl auf über 20. Der öffentlich-rechtliche Vertrag regelte die Freisetzungsphase und eine Duldungswirkung gegenüber betroffenen Waldbauern. Vor einigen Wochen wurde nun ein Urteil des OLG Hamm rechtskräftig, demzufolge private Waldbesitzer keine Tiere mehr auf ihrem Grund und Boden dulden müssen, und das obwohl die bei ihnen entstehenden Waldschäden durch einen Ausgleichsfonds seit Jahren großzügig ausgeglichen werden. Als Konsequenz des Urteils hätten nun alle Tiere entweder eingefangen oder abgeschossen werden müssen. Ersteres ist bei den mittlerweile nicht mehr an Menschen gewöhnten Tieren sehr schwierig. Durch die Kündigung des öffentlich-rechtlichen Vertrages gibt der Verein nun sein bisheriges Eigentum an den Wisenten auf. Die frei lebenden Tiere unterliegen ab sofort dem Artenschutz – und sind damit streng geschützt.
05.10.2022, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Darum ist der Schwarm so schnell: Vorhersehen, was die anderen tun werden
Fischschwärme, die sich synchron im Wasser bewegen – faszinierend ist die Geschwindigkeit, mit der sie die Richtung wechseln: Wie machen sie das? Profisportler können die Bewegungen ihrer Mitspielenden vorhersehen und sind daher besonders reaktionsschnell. Fische können das auch, so das Ergebnis von Forschenden des Exzellenzclusters „Science of Intelligence“ der Humboldt-Universität zu Berlin (HU Berlin) und des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Das Team konnte mit einem Roboterfischs zeigen, dass Guppys das Verhalten des künstlichen Artgenossen antizipieren und sowohl die Richtung als auch die Dynamik seiner Bewegungen vorhersehen können.
Der Begriff Antizipation leitet sich vom Lateinischen „anticipare“ ab, was vorwegnehmen bedeutet. Im sozialen Kontext ist Antizipation ein zweistufiger Prozess mit einer anfänglichen Vorhersage der Handlungen anderer, auf die eine eigene Handlung folgt, die die ursprüngliche Vorhersage berücksichtigt. Antizipation ist Teil eines umfassenden Konzepts der sozialen Responsivität oder der sogenannten sozialen Kompetenz. „Vorhersagen, was Sozialpartner in Zukunft tun werden, kann ein großer Vorteil in sozialen Interaktionen sein, wenn das eigene Verhalten dann adaptiv verändert werden kann“, erläutert Professor Jens Krause, Forscher an der HU Berlin und am IGB. Der Verhaltensökologe hat die Studie geleitet.
Am Beispiel von sich synchron im Schwarm bewegenden Fischen hat das Forschungsteam die Hypothese untersucht, ob Individuen die Bewegungen ihrer Nachbarn antizipieren, um die Reaktionszeit bei Richtungsänderungen der Sozialpartner zu minimieren. Außerdem nahmen die Forschenden auf der Grundlage von vorangegangenen Experimenten an, dass in Gruppen lebende Tiere die Orte im Lebensraum vorhersehen können, die ein Sozialpartner in der Zukunft aufsuchen wird.
Beim Fischschwarm ähnliche Mechanismen wie im Mannschaftssport:
„Aus Studien weiß man, dass Profis im Ballsport verschiedene Anzeichen wie Körperhaltung oder Bewegungen ihrer Mitspielenden nutzen können, um die Flugkurve oder den Auftreffpunkt des Balls vorherzusagen, noch bevor der Ball geworfen oder getreten wird. Und zwar deutlich besser als Laien. Die Antizipation ist uns Menschen zwar angeboren, kann aber durch Training und Übung verbessert werden. Auch ein Fischschwarm bewegt sich sehr schnell und wir kennen bereits einige Aspekte, die das beeinflussen. Wir wussten bisher aber nicht, ob die Antizipation ein Teil dieses komplexen Prozesses ist“, sagt David Bierbach, Forscher im Exzellenzcluster und Hauptautor der Studie.
Die Forschenden ließen lebende Guppys (Poecilia reticulata) wiederholt mit einem Roboterfisch interagieren, der sich zuvor als akzeptierter Artgenosse erwiesen hat. Der Roboterfisch schwamm immer die gleiche Zickzackbahn im Versuchsbecken ab, die in einer der Ecken endete, was den lebenden Fischen die Möglichkeit gab, in drei aufeinanderfolgenden Versuchen sowohl die Lage des Endziels als auch die spezifische Drehungen des Roboters zu erlernen. Die Reaktionen der lebenden Fische wurden in eine allgemeine Antizipation eingeteilt, definiert als relative Zeit bis zum Erreichen der endgültigen Position des Roboterfischs. Außerdem bestimmten die Forschenden die lokale Antizipation, also Zeitpunkt und Ort der Drehungen des lebenden Fisches im Verhältnis zu den Drehungen des Roboterfischs.
Und tatsächlich zeigten die Fische allgemein antizipierendes Verhalten: Sie erreichten im dritten Versuchsdurchgang die Zielecke des Roboterfischs deutlich früher als der Roboterfisch selbst. Insgesamt erreichten mehr als die Hälfte aller Fische vor dem Roboter den Zielort. Als Indikator für lokale Antizipation zeigte sich, dass die Fische ihr Drehverhalten als Reaktion auf den Roboter im Laufe der Versuche änderten. Anfangs drehten sich die Fische nach dem Roboter, was sich am Ende umkehrte, als sie im letzten Versuch sogar schon leicht vor dem Roboter die Richtung änderten.
„Die Ergebnisse zeigen, dass Fische in der Lage sind, das Verhalten von Sozialpartnern zu antizipieren und durch Training sogar besser darin zu werden. Dies ist also eine weitere Erklärung dafür, warum Fische im Schwarm – die sich untereinander gut kennen – zu extrem schnellen kollektiven Bewegungen fähig sind,“ resümiert David Bierbach. Experimente wie diese sind auch wichtig, um Muster von biologischer Intelligenz zu verstehen und smarte Technologien zu entwickeln.
Originalpublikation:
Live fish learn to anticipate the movement of a fish-like robot
David Bierbach, Luis Gómez-Nava, Fritz A. Francisco, Juliane Lukas, Lea Musiolek,Verena V. Hafner, Tim Landgraf, Pawel Romanczuk and Jens Krause
Accepted Manuscript online 31 August 2022 • © 2022 IOP Publishing Ltd
https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-3190/ac8e3e
06.10.2022, Universität Wien
Aus Feind wird Freund: Schädlinge werden zu Pflanzenbestäubern
Einem möglichen Ursprung der Tierbestäubung auf der Spur
Einem internationalen Forscherteam um Florian Etl und Jürg Schönenberger (Universität Wien), Stefan Dötterl und Mario Schubert (Universität Salzburg) sowie Christian Kaiser und Oliver Reiser (Universität Regensburg) ist es erstmals gelungen, eine wichtige Hypothese zur Diversität der Bestäubung durch Tiere zu bestätigen: Pflanzenschädlinge können im Lauf der Evolution zu nützlichen Bestäubern werden.
Botaniker*innen nennen diese Hypothese „antagonist capture“. Dabei „schnappen“ sich die Pflanzen durch evolutive Anpassungen in den Blüten oder Blütenständen einen Schädling und machen ihn zu einem Bestäuber. Diese Theorie ist nun erstmals an einem Aronstabgewächs (Araceae) aus der Gattung Syngonium in Costa Rica bestätigt worden. Die Untersuchungen, die auch ein völlig neues Bestäubungssystem und einen bisher unbekannten Blütenduftstoff ans Licht brachten, wurden im renommierten Fachblatt „Current Biology“ publiziert.
Syngonium hastiferum wird ausschließlich von einer bisher unbekannten, tagaktiven Weichwanzenart bestäubt und ist damit die einzige Blütenpflanze, von der diese Art der Bestäubung bekannt ist. Weichwanzen kommen aber auch bei von Käfern bestäubten Aronstabgewächsen als Blütenbesucher vor, allerdings nur als Schädlinge, die Pollen und Blütengewebe fressen, ohne die Pflanzen zu bestäuben.
Pflanzen passen sich tag- oder nachtaktiven Bestäubern an
Untersuchungen an den Blüten und Blütenständen von Syngonium hastiferum haben gezeigt, dass sich diese in verschiedenen Blütenmerkmalen von nah verwandten, durch Käfer bestäubte Arten unterscheiden. Beispielsweise erwärmen sich die Blütenstände von Syngonium hastiferum durch einen als Thermogenese bezeichneten Prozess in den frühen Morgenstunden und geben parallel dazu einen starken Blütenduft ab, wodurch die bestäubenden Weichwanzen tagsüber angelockt werden. Bei den käferbestäubten Arten erfolgen diese Prozesse am Abend und in der Nacht. Darüber hinaus fehlen bei Syngonium hastiferum die sonst üblichen Futterkörper für Käfer und auch die Oberfläche der Pollenkörner hat sich von glatt und klebrig zu stachelig verändert, was das Anhaften des Pollens an den Weichwanzen erst ermöglicht.
Analyse und synthetische Herstellung von Blütenduft
Markante Veränderungen gab es auch bei der Zusammensetzung des Blütenduftes, der für die Anlockung der Wanzen ausschlaggebend ist. Während Blütenstände von Syngonium hastiferum zwar ähnlich intensiv duften wie jene von käferbestäubten Vertretern, ist ihr Duft aus anderen chemischen Substanzen zusammengesetzt. Als Hauptbestandteil des Duftes von Syngonium hastiferum haben die Forschenden eine bisher unbekannte Substanz entdeckt. Mittels Kernspinresonanzspektroskopie konnte die Struktur der unbekannten Verbindung entschlüsselt werden und so war der Weg für einen weiteren wichtigen Schritt geebnet: die synthetische Herstellung des neuen Naturstoffes, um damit die Lockwirkung des Stoffes auf die Wanzen testen zu können. In Costa Rica hat dieses Syntheseprodukt genauso viele bestäubende Wanzen angelockt wie die Blütenstände der Pflanze. „Wir konnten zeigen, dass alleine diese Substanz für die Anlockung der Wanzen verantwortlich ist“, so Florian Etl. Da die Untersuchungen in Costa Rica zur Bestäubung von Syngonium hastiferum im sogenannten Regenwald der Österreicher an der Tropenstation La Gamba der Universität Wien durchgeführt wurden, wurde die neu beschriebene Substanz zu Ehren der Forschungsstation auf den Namen „Gambanol“ getauft.
Die Studie eröffnet einen neuen Blickwinkel auf die Evolution der Blütenpflanzen und der spektakulären Vielfalt ihrer Blüten und ihrer Bestäuber, indem sie erstmals den Beweis dafür erbringt, dass Blütenparasiten durch Veränderungen in den Blüten zu effizienten Bestäubern werden können. Ob ähnliche Veränderungen auch in anderen Entwicklungslinien der Blütenpflanzen vorgekommen sind, werden künftige Untersuchungen zeigen müssen.
Originalpublikation:
Evidence for the recruitment of florivorous plants bugs as pollinators: Florian Etl, Christian Kaiser, Oliver Reiser, Mario Schubert, Stefan Dötterl, Jürg Schönenberger
DOI: 10.1016/j.cub.2022.09.013
https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(22)01457-9
07.10.2022, Universität Stuttgart
Dornröschen im Eiswürfel: Wie Bärtierchen Eiseskälte überdauern
Bärtierchen können sich hervorragend an raue Umweltbedingungen anpassen. Bereits 2019 bewies Ralph Schill, Professor am Institut für Biomaterialien und biomolekulare Systeme der Universität Stuttgart, dass anhydrobiotische (getrocknete) Bärtierchen viele Jahre ohne Wasseraufnahme unbeschadet überdauern können. Ob Tiere in gefrorenem Zustand schneller oder langsamer Altern oder das Altern gar zum Stillstand kommt, war bislang unklar. Das Rätsel ist nun gelöst: Gefrorene Bärtierchen altern nicht.
Bärtierchen, auch Wasserbären genannt, gehören zur Familie der Fadenwürmer. Ihre Gangart erinnert an die eines Bären, womit die Gemeinsamkeiten bereits erschöpft wären. Die nur knapp einen Millimeter großen Bärtierchen haben es geschafft, sich im Laufe der Evolution perfekt an schnell wechselnde Umweltbedingungen anzupassen und können bei extremer Hitze austrocknen und bei Kälte gefrieren. ,,Sie fallen in einen Dornröschenschlaf ohne zu sterben“, erklärt Schill.
Dornröschen-Hypothese
Für einen Zellorganismus bedeutet es unterschiedlichen Stress, je nachdem ob er nun gefriert oder austrocknet. Doch Bärtierchen über-stehen Hitze und Kälte gleichermaßen unbeschadet. Sie zeigen dabei keine offensichtlichen Lebenszeichen mehr. Daraus ergibt sich die Frage, was mit der inneren Uhr der Tiere passiert und ob sie in diesem Ruhezustand altern.
Für getrocknete Bärtierchen, die viele Jahre in ihrem Lebensraum auf den nächsten Regen warten, haben Ralph Schill und sein Team die Frage nach dem Altern schon vor einigen Jahren beantwortet. In einem Märchen der Gebrüder Grimm fällt die Prinzessin in einen tiefen Schlaf. Als ein Prinz sie nach 100 Jahren küsst, erwacht sie und sieht noch immer so jung und schön aus wie zuvor. Bei den Bärtierchen im getrockneten Zustand ist es genauso und daher wird dies auch als „Dornröschen“-Hypothese („Sleeping Beauty“-Model) bezeichnet. „Während inaktiver Perioden bleibt die innere Uhr stehen und läuft erst wieder weiter, sobald der Organismus reaktiviert wird“, sagt Schill. „So können Bärtierchen, die ohne Ruheperioden normalerweise nur wenige Monate leben, viele Jahre und Jahrzehnte alt werden.
Bislang war noch unklar, ob dies auch für gefrorene Tiere gilt. Altern sie schneller oder langsamer als die getrockneten Tiere oder kommt das Altern auch zum Stillstand?
Alterungsprozess stoppt auch in gefrorenem Zustand
Um dies zu erforschen, haben Schill und sein Team in mehreren Experimenten insgesamt über 500 Bärtierchen bei -30 °C eingefroren, wieder aufgetaut, gezählt, gefüttert und wieder eingefroren. Dies geschah so lang bis alle Tiere gestorben sind. Zur selben Zeit wurden Kontrollgruppen bei gleichbleibender Raumtemperatur gehalten. Die Zeit in gefrorenem Zustand ausgenommen, zeigte der Vergleich mit den Kontrollgruppen eine nahezu identische Lebensdauer. „Bärtierchen halten also auch im Eis wie Dornröschen ihre innere Uhr an“, schlussfolgert Schill.
Originalpublikation:
Reduced ageing in the frozen state in the tardigrade Milnesium inceptum (Eutardigrada: Apochela, Sieger, J., Brümmer, F., Ahn, H., Lee, G., Kim, S., Schill, R.O., Journal of Zoology (ZSL), September 2022