Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

26.08.2022, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
Beeinflussten Flüsse die Entwicklung der Sumatra-Kaskadenfrösche?
Ist die geografische Geschichte des Sundalandes eng mit der Evolution der Sumatra-Kaskadenfrösche verknüpft? Diese Frage untersuchte ein internationales Team um Herpetologin Umilaela Arifin des LIB in ihrer neusten Studie, die im Fachmagazin „Nature Scientific Report“ erschienen ist. Sie vermuten, dass sich diese Frösche bereits ausbreiteten, bevor sich die Formation der Wassereinzugsgebiete im Pleistozän – also der Erdgeschichte vor etwa 2,5 Millionen bis vor 11.650 Jahren – gebildet hat. Diese Erkenntnisse stellen vorherige Annahmen der Fachwelt in Frage.
Flüsse gelten als natürliche Barrieren, die die Verteilung von Arten auf bestimmte Landmassen stark beeinflussen. Das Sundaland – eine geografische Region in Südosten Asiens, die unter anderem die Inseln Java, Borneo sowie Sumatra umfasst – gilt in der Fachwelt als Hotspot der Biodiversität. Bislang argumentierten Forschende, dass die dortige Flusslandschaft einer der wichtigsten Faktoren dafür war, wie sich die Arten auf den genannten Inseln voneinander genetisch abspalteten. Die Ergebnisse einer aktuellen Studie von einem internationalen Team um Dr. Umilaela Arifin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum der Natur Hamburg des Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB), stellen diese Hypothese jedoch auf die Probe.
Anhand zweier Gattungen der Sumatra-Kaskadenfrösche, Sumaterana und Wijayarana, haben die Forschenden deren Evolutionsgeschichte zurückverfolgt: „Wir suchten uns diese Gattungen, die wir in früheren Studien beschrieben haben, aus, weil ihre Kaulquappen in hohem Maße auf die Lebensräume von Wasserläufen angewiesen sind. Das zeigt der Besitz eines großen Saugnapfes an ihrem Bauch. Mit dieser sogenannten Gastromyzophorie haben sich die Frösche an die nasse Umgebung angepasst“, sagt Umilaela Arifin. Sie und ihr Team finden bei dieser Entwicklung keinen Zusammenhang zwischen den Ausbreitungsmustern und der geografischen Ausbildung der Flusssysteme: „Unsere zeitlich kalibrierten Phylogenien und biogeografischen Modelle legen nahe, dass die Arten Sumaterana und Wijayarana die Insel Sumatra vor etwa 25,1 beziehungsweise 27,7 Millionen Jahren vom asiatischen Festland aus besiedelt haben. Überraschenderweise ist dies viel früher als die Entstehung des Entwässerungssystems, das sich während des Pleistozäns bildete“, fasst Arifin zusammen.
Amphibien durchlaufen biphasische Lebenszyklen – das bedeutet, dass sie sich nach Ansicht von Arifin auf zwei Arten über Sundaland ausgebreitet haben: über den Fluss, als sie Larven waren, und über den Landweg, als sie erwachsen wurden. In der Konsequenz bedeute dies, dass sich die raum-zeitliche Entwicklung der beiden Gattungen viel komplexer gestalte als zuvor von der Fachwelt angenommen: In früheren Studien wurden Taxa von Fischen und Schlammnattern verwendet, die in Bezug auf ihre Ausbreitungswege stärker eingeschränkt sind. Den Ergebnissen der aktuellen Studie zufolge, scheint sich die Diversifizierung von Sumaterana und Wijayarana geografisch weitgehend entlang der Ausrichtung des Bukit-Barisan-Gebirgszugs zu orientieren. Dieser Gebirgszug zieht sich ohne Unterbrechung vom Norden bis in den äußersten Süden Sumatras.
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Sumaterana und Wijayarana ab dem späten Miozän (vor 3 bis 5,3 Millionen Jahren) oder dem frühen Pliozän (vor 5,3 bis 2,6 Millionen Jahren) eine rasche evolutionäre Auseinanderentwicklung erlebten, die in erster Linie durch die episodische Abkühlung und Erwärmung des Klimas und das daraus resultierende zyklische Absinken des Meeresspiegels während dieses Zeitraums bedingt war.
Diese Arbeit sei die erste, die moderne biogeografische Ansätze nutze, um die Evolution dieser Sumatra- Kaskadenfrösche mit gastromyzophoren – also mit Bauchsaugnapf ausgestatteten – Kaulquappen aufzuklären, erklärt Arifin: „Unsere Befunde zeigen, dass die Schaffung einer stabilen Taxonomie für die Sumatra-Kaskadenfrösche mit gastromyzophoren Kaulquappen in Verbindung mit einer umfangreichen Dokumentation ihrer geografischen Verbreitung wichtige Schritte zum besseren Verständnis der Diversifizierungsmuster und -prozesse in den hyperdiversen tropischen Regenwäldern des Sundalandes darstellen.“
Originalpublikation:
Arifin, U., Smart, U., Husemann, M. et al. Phylogeographic inference of Sumatran ranids bearing gastromyzophorous tadpoles with regard to the Pleistocene drainage systems of Sundaland. Sci Rep 12, 12013 (2022). https://doi.org/10.1038/s41598-022-14722-9

26.08.2022, Deutsche Wildtier Stiftung
Großer Bahnhof für den kleinen Feldhamster
Bundesumweltministerin Lemke besucht auf ihrer Pressereise das Projekt „Feldhamsterland“ in Sachsen-Anhalt
Im Rahmen ihrer Pressereise hat sich Bundesumweltministerin Steffi Lemke am gestrigen Donnerstag über den vom Aussterben bedrohten Feldhamster und die Maßnahmen zu seinem Schutz im Rahmen des bundesweiten Projekts „Feldhamsterland“ informiert. In der Nähe von Eilsleben in der Magdeburger Börde erläuterte Projektleiter Simon Hein von der Deutschen Wildtier Stiftung in einem bewirtschafteten Roggenfeld mögliche Verfahren, wie das der sogenannten hohen Stoppelbrache. „Wir freuen uns sehr, dass Frau Lemke unsere Arbeit für den Feldhamster unterstützt. Denn er ist in ganz Deutschland akut vom Aussterben bedroht“, sagte Hein.
„Wirtschaftliche Interessen und notwendige Schutzmaßnahmen für bedrohte Tier- und Pflanzenarten werden gerne gegeneinander ausgespielt. Dabei verarmen unsere Böden ohne Biodiversität, sie speichern weniger Wasser und werfen weniger Erträge ab. Das hat dann auch wirtschaftliche Folgen. Wir können es uns nicht leisten, mal hier eine Art und mal dort eine Art zu verlieren, denn Ökosysteme werden dadurch instabil. Das Artenaussterben ist für die Menschen genauso bedrohlich wie die Klimakrise“, sagte Lemke. Sie fügte hinzu: „Dem Gemeinschaftsprojekt Feldhamsterland ist es offensichtlich gelungen, Lösungen für den Erhalt einer einzelnen Art zu finden. Sie bedeuten aber auch wirtschaftliche Einschränkungen für Landwirte. Deshalb sollten wir Artenhilfsprogramme und Agrarumweltmaßnahmen in Zukunft stärker darauf ausrichten, dass Landnutzer einen angemessenen Ausgleich für Ernteausfälle oder Mehraufwand erhalten, wenn sie sich an Maßnahmen zum Erhalt der Biodiversität beteiligen.“
Die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundeslandwirtschaftsministerium, Dr. Ophelia Nick, die die Bundesministerin begleitete, sagte: „Dieses Beispiel zeigt, dass Artenschutz funktionieren kann, wenn Landwirtschaft, Naturschutz und Politik gut miteinander arbeiten: gemeinsam und nicht gegeneinander. Und deshalb bedanke ich mich bei den Landwirtinnen und Landwirten, die bei dem Projekt mitmachen und bei der Deutschen Wildtier Stiftung und den anderen Projektpartnern für ihre wissenschaftlich fundierte Steuerung des Projekts und die gute Öffentlichkeitsarbeit für den Feldhamster.“
Bereits seit mehr als vier Jahren kämpfen die Artenschützer von Feldhamsterland, einem Verbundprojekt unter der Koordination der Deutschen Wildtier Stiftung, um das Überleben des bunten Nagers. Obwohl Sachsen-Anhalt das flächenmäßig größte potenzielle Verbreitungsgebiet stellt, wird das Sorgenkind des Artenschutzes im Verlauf der nächsten Jahrzehnte auch hier aussterben – wenn es keine gravierenden Änderungen in der Agrarpolitik und damit in der Landbewirtschaftung gibt. „Die deutschlandweit gesammelten Daten zeigen eine kontinuierliche Abnahme der Bestände und der Verbreitung“, erläutert Dr. Tobias Erik Reiners, der das Projekt am Senckenberg Forschungsinstitut in Frankfurt wissenschaftlich begleitet.
Noch vor wenigen Jahrzehnten galten Feldhamster in Deutschland als Ernteschädlinge, sie wurden gefangen und sogar für den damals florierenden Pelzhandel getötet. Heute setzen die immer intensivere Landwirtschaft – vor allem auf günstigen Standorten wie der Magdeburger Börde – und die damit verbundene geringe Kulturvielfalt sowie das Fehlen von Blühstreifen und Brachen dem Feldhamster zu. Durch die riesigen Ackerschläge auf ertragreichen Böden, die möglichst effektiv bewirtschaftet und abgeerntet werden, verliert der Hamster innerhalb weniger Stunden seinen Schutz vor Fressfeinden. Sein gesamter Lebensraum besteht dann nur noch aus kahlen Stoppeln, das Feld wird zur lebensfeindlichen Wüste. „Es ist sehr frustrierend, 50 Hektar Ackerfläche nach Hamsterbauen abzusuchen und nur zwei Baue zu finden“, sagt Dr. Saskia Jerosch, Feldhamsterland-Koordinatorin für Sachsen-Anhalt bei der Deutschen Wildtier Stiftung.
Mit Feldhamsterland wird das deutschlandweit größte Projekt zur Rettung des Nagers vom Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesumweltministeriums im Bundesprogramm Biologische Vielfalt bis einschließlich 2023 gefördert.
Forderung der Deutschen Wildtier Stiftung
Die Deutsche Wildtier Stiftung fordert vom Bundesumweltministerium (BMUV) ein nationales Artenhilfsprogramm für den Feldhamster, in dem gemeinsame Maßnahmen mit dem Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) zur Rettung des Feldhamsters auch auf Gunststandorten formuliert werden. Darin müssen die vier Prozent aus der Nutzung genommenen Bewirtschaftungsflächen aus den Konditionalität-Verpflichtungen der zukünftigen Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) ebenso enthalten sein wie Maßnahmen, die auch auf Gunststandorten für Landwirte attraktiv sind und die Populationen des Feldhamsters schützen. Wenn mindestens sieben Prozent der Offenland-Lebensräume wieder naturnahe Strukturen aufweisen, haben Feldhamster und mit ihnen viele andere Bewohner der Feldflur eine Chance zum Überleben.

29.08.2022, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns
Gesamtgenom der „Spanischen“ Wegschnecke entschlüsselt
Die „Spanische“ Wegschnecke (Arion vulgaris) breitet sich in Europa immer weiter aus. Für ihr enormes Ausbreitungs- und Schädlingspotential könnte eine besonders hohe Anzahl sogenannter „springender“ Genabschnitte die Grundlage sein, vermuten SNSB Zoolog:innen. Die Forscher:innen veröffentlichten kürzlich die vollständige Entschlüsselung des Gesamtgenoms der Landschnecke in der Fachzeitschrift Scientific Reports.
Die „Spanische“ Wegschnecke, die eigentlich Gemeine oder Gewöhnliche Wegschnecke heißt (Arion vulgaris), gilt als einer der größten Schädlinge in Europa. Sie richtet nicht nur in Haus- und Nutzgärten, sondern auch in der Landwirtschaft erhebliche Schäden an. Die äußerst robuste und anpassungsfähige Schneckenart breitet sich in Westeuropa immer weiter in nördliche und östliche Gebiete aus. Dabei verdrängt Arion vulgaris sehr erfolgreich andere heimische Landschneckenarten.
Eine neue Studie zeigt nun, dass das Genom von Arion vulgaris über eine besonders große Anzahl an mobilen Genabschnitten, sogenannte transponierbare Elemente (TE), verfügt, die innerhalb des Gesamtgenoms ihre Position verändern können. SNSB Forscher:innen vermuten hier den Ursprung für die extrem gute Anpassungsfähigkeit dieser invasiven Spezies.
Zeyuan Chen, Gastwissenschaftlerin an der Zoologischen Staatssammlung München (SNSB-ZSM) gelang es, im Rahmen ihrer Doktorarbeit das Gesamtgenom von Arion vulgaris zu entschlüsseln. Das Genom entpuppte sich als sehr groß und komplex und es ist eines von bisher nur wenigen entschlüsselten Gesamtgenomen einer Landschnecke, das erste einer terrestrischen Nacktschnecke überhaupt.
„Die Menge an mobilen oder auch „springenden“ Genabschnitten in der DNA der „Spani-schen“ Wegschnecke hat uns überrascht. Sie machen mehr als 75% ihres Gesamtgenoms aus. Die besonders hohe Rate an solchen springenden Genen kann bedeuten, dass ein Organismus sich besser an neue Umweltbedingungen anpassen kann als andere. Sie könnte der Hintergrund für das enorme Ausbreitungs- und Schädlingspotential von Arion vulgaris sein“, deutet Erstautorin Zeyuan Chen die Ergebnisse ihrer Arbeit. „Motor für die rasche und flächendeckende Ausbreitung des Schneckenschädlings ist vermutlich die Erwärmung des Klimas wie auch die Verschleppung der Tiere durch menschliche Transporte.“
„Das hier entschlüsselte Genom bildet eine wichtige Grundlage für die weitere Erforschung der evolutionären Entwicklung von Schnecken und anderen Weichtieren wie z. B. die Evolution von Molluskenschalen sowie deren Verlust“, so Prof. Dr. Michael Schrödl, Schneckenexperte und Leiter der Molluskensektion an der Zoologischen Staatssammlung München.
Originalpublikation:
Chen, Z., Doğan, Ö., Guiglielmoni, N. et al. Pulmonate slug evolution is reflected in the de novo genome of Arion vulgaris Moquin-Tandon, 1855. Sci Rep 12, 14226 (2022). https://doi.org/10.1038/s41598-022-18099-7

29.08.2022, NABU
NABU: Hummeln haben den Hintern vorn
Insektensommer erfreut sich großer Beliebtheit
Seit fünf Jahren werden jedes Jahr im Juni und August tausende Menschen zu Hobbyforschern. In diesem Jahr besonders im Fokus: Acker, Erd- und Steinhummel. „Kannst Du Hummeln am Hintern erkennen?“ lautete die Entdeckungsfrage für die Teilnehmenden, die zum ersten Mal genauer bei Insekten hinschauen
Insgesamt haben sich in den beiden Zählzeiträumen im Juni und August über 18.300 Menschen beteiligt. Damit zählten über 5.000 Hobbyforscher mehr als im Sommer 2021 mit. Gesamtsieger und damit den Hintern vorn haben die Hummeln. Acker-, Stein- und Erdhummel wurden auch durch die Entdeckungsfrage fleißig gemeldet.
Sehr weit vorne ist auch der Kleine Fuchs, den man gut an seinen farbenprächtigen orange-braunen Flügeln erkennen kann. Er flattert stellvertretend für die vielen Falter, die in diesem Jahr gesichtet wurden, durch die Gegend.
NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller freut sich über die rege Teilnahme an der Aktion: „Das auch in diesem Sommer wieder so viele Menschen Insekten beobachten und zählen, freut uns außerordentlich. Auch im fünften Jahr der Aktion scheint das Interesse an den Sechsbeinern nicht nachzulassen. Das ist wichtig, denn der Schutz der Insekten ist zwingend notwendig gerade mit Blick auf die Biodiversität. Und man schützt nur, was man kennt.“
Neben dem Tagfalter Kleiner Fuchs trifft man in diesem Jahr auch häufiger auf die quirlig-fröhlichen Taubenschwänzchen. Die langrüsseligen Nachtfalter, die im Flug an Kolibris erinnern, ließen sich bereits im Frühjahr zahlreich blicken, gute Überwinterungsbedingungen machten das möglich.
„Für die meisten bleibt der heimische Garten der beliebtes Beobachtungsort, um sich für die Artenvielfalt der Insekten zu begeistern“, sagt Daniela Franzisi, Projektleiterin des Insektensommers.
Der NABU-Insektensommer ist eine gemeinsame Aktion von NABU und seinem bayerischen Partner, dem Landesbund für Vogelschutz. Die Daten der Zählaktion werden in Zusammenarbeit mit der Plattform www.naturgucker.de erfasst.
Die Ergebnisse werden vom NABU transparent und zeitnah auf www.NABU.de/insektensommer-ergebnisse veröffentlicht. Eine genaue Auswertung der Daten erfolgt im Herbst, wo die Datensätze der fünf Jahre detailliert unter die Lupe genommen werden.
Auch in diesem Jahr hatte die Aktion prominente Unterstützung: Die Moderatoren Ruth Moschner und Ralf Caspers, der forensische Entomologe Dr. Mark Benecke, die Schauspielerin Dr. Maria Furtwängler und die bekannte Figur Biene Maja und ihre Freunde (www.diebienemaja-bienenschutz.de) riefen zum Mitzählen auf. Die Schriftstellerin, Biologin, Kuckuckshummel-Expertin und Wissenschaftsjournalistin Jasmin Schreiber ist seit diesem Jahr ebenfalls als NABU-Insektenbotschafterin im Namen der Sechsbeiner unterwegs.
Infos zur Aktion: www.insektensommer.de

30.08.2022, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)
Nach der Oder-Katastrophe: Gibt es Hoffnung für den Stör und seinen Lebensraum?
Die Oder ist der letzte große Fluss in Deutschland, den Fische und andere Tiere noch über weite Strecken barrierefrei durchwandern können. Seit 2006 ist sie auch das Schwerpunktgebiet zur Wiederansiedlung des Baltischen Störs. Er steht auf der Roten Liste der Weltnaturschutzorganisation (IUCN); keine Tiergruppe ist heute stärker gefährdet als Störe. Theoretisch hätten in diesem Sommer in der Oder zum ersten Mal Jungstöre aus Eiern von in den Fluss zurückkehrenden Elterntieren schlüpfen können. Doch dann kam die menschengemachte Umweltkatastrophe. Wie geht es nun weiter mit dem Stör?
Sehr wahrscheinlich sind der Katastrophe die meisten der über 1.000 Jungstöre zum Opfer gefallen, die im Frühjahr dieses Jahres in den Fluss ausgewildert wurden. Das Fischsterben hat nach aktuellem Kenntnisstand aber auch Fische getroffen, die bis zu drei Jahre alt und bis zu 90 cm groß waren. Sie wurden im Unteren Odertal entdeckt – auf dem Weg zur Ostsee, die sie nie erreichten. „Wie viele Störe noch in der Oder schwimmen oder gestorben sind, ist derzeit nicht seriös abzuschätzen“, sagt Jörn Geßner, Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Doch eines ist gewiss: Die durch Menschen verursachte Umweltkatastrophe ist ein schwerer Rückschlag für das Wiederansiedlungsprogramm, das Geßner bereits seit 1996 koordiniert.
Störe in Fluss und Aufzuchtanlagen verendet:
Die toxische Welle betraf nicht nur Störe, die bereits im Fluss schwammen. Auch zwei Aufzuchtanlagen mit insgesamt etwa 20.000 Jungstören wurden von der Katastrophe getroffen. Kaum ein Stör hat dort überlebt. „Die verendeten Tiere waren erst einen Monat alt und sollten eigentlich noch im Herbst in die Oder besetzt werden, um zu helfen, dort künftig sich selbst erhaltende Bestände aufzubauen“, erklärt der Biologe. Damit sich die Tiere an ihren späteren Lebensraum und seine normale Wasserbeschaffenheit gewöhnen und eines Tages den Weg in ihre natürlichen Laichgründe finden, werden beide Anlagen mit Flusswasser gespeist. Und so wurden sie am 10. und 11. August von der Giftwelle erreicht. „Wäre frühzeitig von den polnischen Behörden gewarnt worden, hätten die Fische vermutlich gerettet werden können“, kritisiert Geßner.
Seit 2007 hat er mit vielen Partnern etwa 3,5 Millionen Jungtiere in die Oder entlassen. Bis die Tiere selbst für Nachwuchs sorgen können, vergeht viel Zeit. Im Alter von einem bis drei Jahren ziehen sie in die Ostsee, wachsen dort heran und kehren erst mit 14 bis 16 Jahren zum Laichen in ihren Heimatfluss zurück. Die bereits größeren und älteren Tiere in der Ostsee dürften daher überlebt haben. „Wir hoffen jetzt, dass nur ein kleiner Teil der Tiere aus dem Gesamtprogramm betroffen ist,“ sagt Jörn Geßner. Vor allem kleinere Fische halten sich mitunter auch in den Seitenarmen des Zwischenoderlandes auf, wo sie eventuell überlebt haben. Insbesondere im Stettiner Haff, das vom Fischsterben bisher noch weitgehend verschont geblieben ist, dürften sich Jungtiere zur Nahrungssuche tummeln.
Ungewisse Zukunft für das Wiederansiedlungsprogramm:
Es ist jedoch unklar, wann die Besatzmaßnahmen im Rahmen des Wiederansiedlungsprogramms an der Oder fortgesetzt werden können. Selbst wenn die Algenblüte weiter abnimmt, müssen die Reste des Giftstoffes noch abgebaut oder ausgetragen werden, bevor erneuter Besatz möglich ist. Ungewiss ist auch, ob die Jungtiere ausreichend Nahrung finden würden. Denn neben den Fischen sind u.a. auch die Schnecken- und Muschelpopulationen im Fluss besonders stark betroffen. Inwieweit andere wirbellose Fischnährtiere betroffen sind, ist noch völlig ungeklärt. Deshalb hängt jetzt viel davon ab, wie schnell sich das Ökosystem erholt. Um das herauszufinden, würde Jörn Geßner zusammen mit weiteren IGB-Forschenden gern möglichst bald intensive Untersuchungen vor Ort vornehmen. Zeigt sich dabei, dass im Fluss nicht genug Nahrung vorhanden oder das Wasser noch immer zu stark belastet ist, könnten in diesem Jahr keine Störe mehr in die Freiheit entlassen werden. Dies hätte zur Folge, dass die verbliebenen Jungstöre mindestens bis zum nächsten Frühjahr in Fischbecken gehältert werden müssten – in diesen sollte über den Winter aber eigentlich schon die nächste Stör-Generation heranwachsen. Hier könnten dann akute Platzprobleme entstehen.
Wie sich Ökosystem und Bestände erholen können:
Mittelfristig ist es vor allem wichtig, das Angebot an Laich- und Brutaufwuchsgebieten in der Oder zu erhöhen, um dem Stör – und mit ihm vielen typischen Flussfischarten – bessere Ausgangsbedingungen für eine erfolgreiche Eigenvermehrung zu schaffen, die die Bestände stabilisiert. „Viele dieser Fischarten, die in der Oder heimisch sind, laichen auf Kies. Hätte man mehr Kiesflächen, ginge ein Erholungsprozess schneller vor sich“, erklärt IGB-Forscher Christian Wolter, der seit vielen Jahren die Fischgemeinschaften in der Oder untersucht. Denn Fische haben generell ein hohes Reproduktionspotenzial und können sich auch von solchen Katastrophen relativ schnell wieder erholen, wenn die Rahmenbedingungen dafür vorhanden sind. Eine solche Hilfe zur Selbsthilfe könnte die Erholung der Bestände unterstützen und beschleunigen.
Langfristig müssten zudem mehr Nebengewässer mit dem Fluss verbunden werden, damit Ausweichrefugien entstehen. Renaturierung sei demnach die beste Krisenprävention, sind sich Jörn Geßner und Christian Wolter einig. Es brauche mehr Vernetzung des Flusses mit seinen Nebenarmen sowie mehr natürlichen Wasserrückhalt in der Aue, um über das Jahr mehr Wasser im Fluss zu haben. Intakte Flussauen sind nicht nur Wasserspeicher, sie bieten auch natürlichen Hochwasserschutz. Dem steht das Oder-Ausbauprojekt der polnischen Regierung diametral entgegen – und auch Deutschland hat sich 2015 in einem bilateralen Staatsvertrag eigentlich verpflichtet, selbst dementsprechende flussbauliche Maßnahmen an der Oder durchzuführen. Deshalb empfehlen die Wissenschaftler dringend, sofort alles zu unterlassen, was den Fluss und seine Artengemeinschaft zusätzlich belastet – vor allem die aktuellen Baggerarbeiten auf polnischer Seite, durch die u.a. giftige Altlasten wie z.B. Quecksilber aus dem Sediment ins Flusswasser gelangen könnten. Infolge dieser schweren Eingriffe verliere die Oder ihre Resilienz, also die natürliche Widerstandskraft. „Im Zuge des Klimawandels nehmen Extremwetterlagen zu, zeitgleich steigt der menschliche Nutzungsdruck immer weiter. Wenn die aquatischen Ökosysteme und ihre Lebewesen diesen Umständen standhalten sollen, dann müssen sie dafür widerstandsfähig genug sein – dies lässt sich nur über deutlich verbesserte Vielfalt der Gewässerstruktur und der Artengemeinschaften erreichen, aber nicht über rein technische Lösungen“, unterstreicht Wolter.
Ein Lichtblick – aber nicht für alle Arten:
Störe haben einen großen Vorteil: Sie werden bis zu 100 Jahre alt, manchmal auch älter – wenn die Bedingungen stimmen. Andere gefährdete Arten wie der Atlantische Lachs, der Ostsee-Schnäpel und der Baltische Goldsteinbeißer, aber auch typische Flussfischarten wie Barbe, Nase oder Zährte, ebenso zahlreiche seltene Großmuschel- und Insektenarten können keine so langen Zeiträume überbrücken. Einige kommen oder kamen nur noch in der Oder vor, wie z.B. der Baltische Goldsteinbeißer. „Diese gefährdeten Arten sind nun doppelt bedroht: durch die Giftwelle, aber auch konstant durch den vorangetriebenen Oder-Ausbau und alle bereits bestehenden und noch kommende Belastungen“, sagt Christian Wolter. Es sei sogar zu befürchten, dass die einzige Population des Baltischen Goldsteinbeißers in Deutschland die Katastrophe nicht überlebt hat. Trotz Niedrigwassers und hoher Temperaturen erfolgten im Kerngebiet der kleinen Population am polnischen Ufer bei Reitwein umfangreiche Bagger- und Buhnenbau-Maßnahmen. Allein diese Arbeiten hätten den Lebensraum des Goldsteinbeißers erheblich beeinträchtigt, bevor auch noch die Giftwelle hinzukam. Nach Abklingen der toxischen Welle müsse nun erst einmal gesucht werden, ob die Tiere überhaupt noch in ihrem Lebensraum zu finden seien.
Während der Stör weiterhin auf Besatzmaßnahmen im Rahmen des Wiederansiedlungsprogramms angewiesen sein wird, die wissenschaftlich gut begründet und begleitet sind, rät Christian Wolter bei anderen Flussfischarten entschieden davon ab: „Die Population der Ostsee-Schnäpel in der Oder ist beispielsweise einzigartig und auch die Elritzen und Döbel der Oder sind eigene Arten bzw. genetische Einheiten, die durch Besatz mit gebietsfremden Herkünften geschwächt und ausgelöscht werden könnten.“ Gerade in einem Populationstief nach einem solchen Fischsterben könne Fischbesatz mit gebietsfremden Tieren zum Verlust der genetischen Identität der Oderfische führen.

31.08.2022, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Kaiserpinguine leben bis zu 600 Kilometer weiter nördlich als angenommen
Besenderungsprojekt weist nach, dass Jungtiere sich weit außerhalb bestehender und geplanter Schutzgebiete aufhalten
Junge Kaiserpinguine aus der Atka-Bucht nahe der deutschen Neumayer-Station III in der Antarktis schwimmen in ihrem ersten Lebensjahr bis weit über den 50. südlichen Breitengrad nach Norden hinaus. Somit sind sie durch bestehende und geplante Schutzgebiete und -maßnahmen nur unzureichend geschützt, berichten Forschende unter Beteiligung des Alfred-Wegener-Instituts in einer aktuellen Studie im Fachmagazin Royal Society Open Science.
Kaiserpinguine stehen für die Antarktis wie kaum eine andere Art und spielen eine wichtige ökologische Rolle im Nahrungsnetz des Südlichen Ozeans. Da letzterer unter anderem durch die Klimaerwärmung und Fischerei unter Druck gerät, gibt es Meeresschutzgebiete und Fischereiregulierung. Die zuständigen Kommissionen beziehen für das Management bestehender und die Einrichtung neuer Schutzgebiete sowie die Festlegung von Fischereiquoten unter anderem die Ausbreitung der Vorkommen des Kaiserpinguins mit ein. Diese basiert bisher überwiegend auf Beobachtungen erwachsener Tiere. Damit eine Art überleben kann, müssen jedoch alle Lebensphasen gute Bedingungen vorfinden.
Wie weit junge Kaiserpinguine nach Norden schwimmen, hat ein internationales Forschungsteam jetzt untersucht. Im Januar 2019 (antarktischer Sommer) statteten sie acht Jungtiere mit Sendern aus, die in der Folgezeit sechsmal täglich ihre Positionsdaten per Satellit übermittelten. Die sogenannten Juvenilen sind im Südwinter 2018 in der Kaiserpinguin-Kolonie in der Atka-Bucht geschlüpft, nahe der deutschen Neumayer-Station III, die vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) betrieben wird. Die Kaiserpinguine waren bei der Besenderung etwa sechs Monate alt und dabei, sich vom plüschigen hellgrauen Küken zum typischen Frackträger zu mausern.
Das überraschende Ergebnis der so aufgezeichneten Schwimmrouten: Alle Jungtiere hielten sich im antarktischen Winter (August) außerhalb des Ausmaßes des Vorkommens (Extent of Occurrence: EOO) auf, das die Internationale Union zur Bewahrung der Natur (International Union for Conservation of Nature: IUCN) für die Art angibt. Einige der besenderten Kaiserpinguine waren zusätzlich sogar bis zu 1260 Kilometer von den vorgeschlagenen Schutzgebieten entfernt, so dass Kaiserpinguine in diesem Lebensstadium nur unzureichend geschützt würden, wenn nur das Schwimmverhalten adulter Tiere als Basis zur Definition der Schutzgebiete genommen wird. Ein Vergleich mit weiteren wissenschaftlichen Studien an jungen Kaiserpinguinen anderer Kolonien in anderen Gebieten des Südozeans zeigte, dass auch deren Schwimmgebiete überwiegend außerhalb von Schutzgebieten liegen.
Somit zeigen die Ergebnisse der Forschenden an, dass das von der IUCN definierte EOO des Kaiserpinguins um das aktuelle Verbreitungsgebiet der Art vergrößert werden sollte. Bestehende und geplante Meeresschutzgebiete (Marine Protected Areas, MPAs) sind derzeit zu klein angelegt, da sie im Durchschnitt nur 10 ± 5 % der geschätzten Verbreitungsgebiete abdecken. Was die in Schutzgebieten verbrachte Zeit betrifft, so verließen junge Kaiserpinguine aus der Kolonie in der Atka-Bucht, die sich innerhalb des vorgeschlagenen MPA im Weddellmeer (WSMPA, das größte derzeit vorgeschlagene MPA im Südlichen Ozean) befindet, im Januar im Durchschnitt nach nur neun Tagen (± 4 Tagen) die Grenzen des MPA und blieben nur 10,6 ± 7,5 % ihrer Zeit innerhalb der Grenzen. Lediglich im Sommer (Januar und Dezember) verbrachten die Jungtiere einen nennenswerten Teil der Zeit innerhalb des vorgeschlagenen Weddellmeer-MPA (48 ± 24 % bzw. 31 ± 13 %). Im Februar sowie von Juli bis November befand sich kein einziger der markierten Pinguine innerhalb der Grenzen dieses Schutzgebiets. „Unsere Daten verdeutlichen, dass strategische Schutzpläne für den Kaiserpinguin und andere langlebige, ökologisch wichtige Arten den dynamischen Lebensraumbereich aller Altersklassen berücksichtigen sollten. Auf der diesjährigen Sitzung der Antarktisvertragsstaaten in Berlin unterstützten viele Länder, den Kaiserpinguin als eine speziell geschützte Art auszuweisen. Unsere Daten zeigen, wie wichtig ein solch verbesserter Schutz wäre.“, fasst Prof. Dr. Olaf Eisen, wissenschaftlicher Leiter der AWI-Antarktis-Forschungsinfrastrukturen und Mitautor der aktuellen Studie die Erkenntnisse zusammen.
Originalpublikation:
Aymeric Houstin, Daniel P. Zitterbart, Karine Heerah, Olaf Eisen, Víctor Planas-Bielsa, Ben Fabry, Céline Le Bohec: Juvenile emperor penguin range calls for extended conservation measures in the Southern Ocean. Royal Society Open Science (2022). DOI: https://doi.org/10.1098/rsos.211708

31.08.2022, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover
Umgang mit Haustieren in sozialen Netzwerken
In einer Studie untersuchen TiHo-Forschende, wie Haustiere in Videos auf Social-Media-Plattformen dargestellt werden und analysieren, welche Inhalte als tierschutzrelevant einzuordnen sind.
Der kleine Mops, an dessen Alltag wir teilhaben können, die Katze, der mal wieder ein Missgeschick passiert ist oder eine Challenge, die Besitzer*innen mit ihren Tieren durchführen: Tiere besitzen nicht selten eigene Accounts mit tausenden Follower*innen und einer Community, die immer mehr und mehr sehen möchte. Dr. Michaela Fels und Alina Stumpf aus dem Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) führen in dem Projekt „Umgang mit Haustieren in den sozialen Medien“ eine empirische Umfrage durch. Sie möchten wissen, welche persönlichen Erfahrungen Userinnen und User mit Tiervideos gemacht haben, wie sie diese wahrnehmen und wie sie selbst damit umgehen. Die Teilnahme dauert lediglich etwa zehn Minuten. Der Link zur Umfrage: www.tiho-hannover.de/umgang-haustiere
Tiervideos gibt es in verschiedenen Variationen und Formaten, sodass für alle etwas dabei sein kann. Für Nutzerinnen und Nutzer der sozialen Medien sind Tiervideos oftmals die perfekte Ablenkung zum Alltagsstress. Tiere sind süß, wirken teilweise raffiniert oder unbeholfen – doch eines haben sie gemeinsam: Sie bereiten den Zuschauenden viel Freude. Aber ist die Freude auch auf der Seite der Tiere? „Darüber würden wir gern mehr erfahren“, berichtet Fels. „Zusätzlich zur Umfrage analysieren wir das Verhalten der Tiere in den Videos nach wissenschaftlichen Vorgaben. Vor allem nehmen wir Videos auf den Netzwerken YouTube, Instagram und Facebook unter die Lupe.“ Zusätzlich möchten die Forscherinnen für die Thematik sensibilisieren und Strategien entwickeln, mit denen weniger tierschutzrelevante Inhalte verbreitet werden. Im Laufe des Projekts werden sie verschiedene gesellschaftliche Gruppen einbeziehen. „Unser Ziel ist, eine gesellschaftliche Debatte anzuregen“, sagt Fels.

01.09.2022, Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY
Fund in 20 Millionen Jahre altem Bernstein: Neue Ameisengattung nach DESY benannt
In einem rund 20 Millionen Jahre alten Stück Bernstein hat ein internationales Forscherteam unter Leitung der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine bislang unbekannte Ur-Ameise identifiziert. Das Team hatte mit DESYs Röntgenlichtquelle PETRA III an der vom Helmholtz-Zentrum Hereon betriebenen Messstation P05 die gut erhaltenen fossilen Überreste von 13 individuellen Tieren untersucht. Die Entdeckung begründet eine neue Ameisengattung. Mit dem wissenschaftlichen Namen †Desyopone hereon gen. et sp. nov. ehren die Entdecker die beiden Forschungseinrichtungen DESY und Hereon, die mit modernen Bildgebungsverfahren erheblich zu diesem Fund beigetragen hätten.
In einem rund 20 Millionen Jahre alten Stück Bernstein hat ein internationales Forscherteam unter Leitung der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine bislang unbekannte Ur-Ameise identifiziert. Das Team hatte mit DESYs Röntgenlichtquelle PETRA III an der vom Helmholtz-Zentrum Hereon betriebenen Messstation P05 die gut erhaltenen fossilen Überreste von 13 individuellen Tieren untersucht und erkannt, dass sie keiner bekannten Art zugerechnet werden können. Die neue Art begründet sogar eine komplette neue Gattung der Ur-Ameisen, wie die Wissenschaftler der Universitäten Jena, Rennes (Frankreich) und Danzig (Polen) sowie des Hereon im Fachblatt „Insects“ berichten. Die neue Gattung wurde nach DESY benannt, die neue Art nach Hereon: Mit dem wissenschaftlichen Namen †Desyopone hereon gen. et sp. nov. honorieren die Entdecker die beiden Forschungseinrichtungen, die mit modernen Bildgebungsverfahren erheblich zu diesem Fund beigetragen hätten.
„Es ist eine große Ehre, dass DESY Namenspate der neuen Ur-Ameisengattung ist“, betont der wissenschaftliche Leiter von PETRA III, DESY-Forscher Christian Schroer, der nicht Mitglied des Entdeckerteams ist. „Und wir freuen uns, dass wir mit unserer Anlage das brillante Röntgenlicht für solche hochklassige Forschung liefern können.“ PETRA III ist ein Teilchenbeschleuniger, der schnelle Elektronen gezielt auf Schlingerbahnen schickt, wo sie stark gebündeltes Röntgenlicht aussenden, mit dem sich feinste Details verschiedenster Proben untersuchen lassen.
Erste anatomische Vergleiche der fossilen Ameisen hatten nahegelegt, dass es sich um eine Art der Aneuretinae handelt, einer fast ganz ausgestorbenen Unterfamilie der Ameisen, die bisher nur durch Fossilien und eine einzige lebende Art aus Sri Lanka bekannt ist. Doch dank der hochauflösenden 3D-Röntgenbilder, die an der Hereon-Messstation an PETRA III gewonnen wurden, mussten die Forscher diese These revidieren: „Das komplexe Taillensegment und die großen aber rudimentären Mandibeln, die Mundwerkzeuge, sind uns eher von den Ponerinae bekannt, einer dominanten Gruppe räuberischer Ameisen“, sagt Hauptautor Brendon Boudinot, der derzeit im Rahmen eines Humboldt-Forschungsstipendiums an der Universität Jena arbeitet. „Deshalb ordnen wir die neue Art und Gattung dieser Unterfamilie zu, auch wenn sie darin eine bisher einzigartige Gestalt aufweist, da die lange Taille und der ansonsten nicht eingeschnürte Hinterleib eher an die Aneuretinae erinnern.“
Auch die Datierung des Fundes stellte die Wissenschaftler vor einige Herausforderungen, denn der Bernstein aus Äthiopien ist ebenso einzigartig wie sein Innenleben. „Das Stück mit diesen Ameisen stammt aus dem bisher einzigen bekannten Bernsteinvorkommen aus Afrika, das fossile Organismen in Einschlüssen aufweist. Überhaupt gibt es nur wenige fossile Insekten von diesem Kontinent“, berichtet Ko-Autor Vincent Perrichot von der Universität Rennes. „Zwar wird der Bernstein in der Region schon seit langen von Einheimischen als Schmuck verwendet, seine wissenschaftliche Bedeutung offenbart sich den Forschern aber erst seit etwa zehn Jahren. Das Exemplar bietet deshalb den derzeit einmaligen Einblick in ein uraltes Waldökosystem in Afrika.“ Der Bernstein stammt demnach aus dem frühen Miozän und ist 16 bis 23 Millionen Jahre alt. Eine Datierung sei nur indirekt durch die Altersbestimmung der fossilen, im Bernstein eingeschlossenen Sporen und Pollen möglich gewesen.
Forschungsergebnisse wie diese sind nur durch den Einsatz modernster Technik möglich. Da Fossilien in der Regel kein intaktes Erbgut für eine Genanalyse mehr enthalten, werden sie oft anhand der Details von Körperform und -merkmalen klassifiziert. Die untersuchten Ameisen sind allerdings nur 3 bis 3,5 Millimeter lang. Daher nutzte das Team die Technik der Mikro-Computertomographie (µCT) an der Hereon-Messstation, um mit dem extrem brillanten Röntgenlicht von PETRA III hochaufgelöste 3D-Röntgenbilder der einzelnen Ameisen zu gewinnen. Auf den Bildern lassen sich noch Details von der Größe eines tausendstel Millimeters erkennen.
„Da die zu untersuchenden im Bernstein eingeschlossenen Ameisen sehr klein sind und bei der klassischen CT nur einen sehr schwachen Kontrast zeigen, haben wir die CT an unserer Messstation durchgeführt, die auf solche Mikro-Tomographie spezialisiert ist“, erklärt Ko-Autor Jörg Hammel vom Helmholtz-Zentrum Hereon. „So erhielten die Forschenden einen Stapel von Bildern, die im Prinzip die untersuchte Probe scheibchenweise abbilden.“ Zusammengesetzt ergaben diese dann detaillierte dreidimensionale Abbildungen der inneren Struktur der Tiere, anhand derer sich die Anatomie genau nachvollziehen lässt. Nur so ließen sich die Details genau erkennen, die schließlich zur Bestimmung der neuen Art und Gattung führten.
Ameisen gibt es nach aktuellem Wissen seit rund 140 Millionen Jahren. Bis heute sind etwa 14 000 lebende und 763 ausgestorbene Arten beschrieben worden. Sie gehören zu rund 350 lebenden und 167 ausgestorbenen Gattungen. Desyopone hereon ist die 764. ausgestorbene Art und die bislang einzige der neuen (168.) ausgestorbenen Gattung. Es sei jedoch denkbar, dass eine noch existierende Art der neuen Gattung Desyopone einmal irgendwo in Afrika entdeckt werde, schreiben die Forscher. Ein entsprechendes Beispiel gebe es von einer südamerikanischen Ameisengattung. „Desyopone könnte also noch irgendwo dort draußen sein“, sagt Boudinot.
DESY zählt zu den weltweit führenden Teilchenbeschleuniger-Zentren und erforscht die Struktur und Funktion von Materie – vom Wechselspiel kleinster Elementarteilchen, dem Verhalten neuartiger Nanowerkstoffe und lebenswichtiger Biomoleküle bis hin zu den großen Rätseln des Universums. Die Teilchenbeschleuniger und die Nachweisinstrumente, die DESY an seinen Standorten in Hamburg und Zeuthen entwickelt und baut, sind einzigartige Werkzeuge für die Forschung: Sie erzeugen das stärkste Röntgenlicht der Welt, bringen Teilchen auf Rekordenergien und öffnen neue Fenster ins Universum. DESY ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten Wissenschaftsorganisation Deutschlands, und wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent von den Ländern Hamburg und Brandenburg finanziert.
Originalveröffentlichung:
Genomic-phenomic reciprocal illumination: †Desyopone hereon gen. et sp. nov., an exceptional aneuretine-like fossil ant from Ethiopian amber (Hymenoptera: Formicidae: Ponerinae); Brendon E. Boudinot, Adrian K. Richter, Jörg U. Hammel, Jacek Szwedo, Błażej Bojarski, Vincent Perrichot; „Insects“, 2022; DOI: https://dx.doi.org/10.3390/insects13090796

02.09.2022, NABU
NABU und LBV rufen wieder zur Vogelwahl auf
Braunkehlchen, Feldsperling, Neuntöter, Teichhuhn oder Trauerschnäpper – wer wird Vogel des Jahres 2023?
Ab 2. September lassen der NABU und sein bayerischer Partner, der LBV (Landesbund für Vogelschutz), den Vogel des Jahres wieder öffentlich wählen. Jeder und jede kann unter www.vogeldesjahres.de mitbestimmen, wer Jahresvogel 2023 wird.
„Im vergangenen Jahr haben mehr als 143.000 Menschen bei unserer Wahl mitgemacht und den Wiedehopf zum Vogel des Jahres 2022 gekürt“, sagt NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller, „Wir freuen uns sehr, dass das Interesse an Naturschutz und der heimischen Vogelwelt so groß ist. Jetzt können wieder alle mitentscheiden, wer die Krone der Vogelwelt 2023 tragen soll.“
In Deutschland leben mehr als 300 Vogelarten. Die Vogelkundler des NABU haben wieder fünf Arten ausgesucht, unter denen abgestimmt werden kann. Für den Jahresvogel 2023 ins Rennen gehen: Braunkehlchen, Feldsperling, Neuntöter, Teichhuhn und Trauerschnäpper. Miller: „Jeder der fünf Vögel steht für ein Naturschutzthema, das dringend mehr Aufmerksamkeit braucht. Klimakrise, Insektenschwund, intensive Landwirtschaft und Verlust von naturnahem Grün bedrohen die Bestände unserer Vogelarten.“
Zum Beispiel der Trauerschnäpper: Anders als sein Name vermuten lässt, ist er ein fröhlicher Luftakrobat. Er fängt sein Insekten-Futter im Flug. Doch Insekten gibt es immer weniger. Außerdem hat er ein Zeitproblem: Weil der Frühling durch die Klimakrise immer früher beginnt, geht der Trauerschnäpper oft leer aus bei der Suche nach Bruthöhlen. Wenn er aus seinem Winterquartier südlich der Sahara zurück ist, sind viele Baumhöhlen und Nistkästen schon besetzt. Sein Slogan: „Schnappt zu für mehr Klimaschutz!“
Der Volksmund hat dem Neuntöter das Image eines Serienkillers verpasst. Das liegt am speziellen Umgang mit seiner Beute. Er spießt Käfer, Heuschrecken und Hummeln an Dornen und Stacheln von Sträuchern und Hecken auf, um sie später zu verzehren. Leider hat der Neuntöter trotz dieser klugen Vorratshaltung immer weniger zu picken. Das liegt am immensen Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft, der eine der Hauptursachen für den Insektenschwund ist. Sein Wahlslogan: „Schnabel auf für mehr Insekten!“
Das Teichhuhn hält sich am liebsten im geschützten Uferdickicht stiller Gewässer auf. Aber leider gibt es immer weniger grüne Ufer. Schilf, Büsche und Bäume müssen oft zubetonierten oder kahlen Flächen weichen, Flüsse werden begradigt. Das Teichhuhn fordert darum: „Lasst es wuchern an Ufern!“
Das Braunkehlchen baut als Wiesenbrüter sein Nest am Boden. Damit hat es leider schlechte Karten, wenn in der intensiven Landwirtschaft Wiesen häufig gemäht werden und Ackerflächen selten brach liegen. Ungemähte Blühstreifen könnten dieser Art sehr helfen. Es tritt mit dem Slogan an: „Wiesen wieder wilder machen!“
Der Feldsperling war bei der vergangenen Wahl auf Platz vier gelandet und geht nun noch einmal ins Rennen. Er hat sich wie auch der Haussperling den Menschen angepasst und lebt häufig in unseren Siedlungen, in Gärten und Parks. Der Feldsperling braucht bunte Grünflächen mit alten Bäumen und entspannte Gärtner, die es ein bisschen wilder im Garten mögen. Darum fordert er: „Wilder Garten für mehr Arten!“
Am 2. September wird das virtuelle Wahllokal unter www.vogeldesjahres.de freigeschaltet. Bis zum Vormittag des 27. Oktobers kann abgestimmt werden. Noch am selben Tag wird der Sieger bekanntgegeben. Der „Vogel des Jahres“ wurde in Deutschland erstmals im Jahr 1971 gekürt. Seit 2021 wird er durch eine öffentliche Wahl bestimmt.
Vogelportraits: www.nabu.de/vogelportraits

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