Neues aus Wissenschaft und Naturschutz

17.05.2022, NABU
NABU: Mehr Mauersegler und Nachtigallen
Bei der 18. „Stunde der Gartenvögel“ wurden einige Arten häufiger als sonst gesichtet
Auf Platz eins liegt wieder der Haussperling
Ihn überflügelt so leicht keiner: Der Haussperling wurde bei der 18. „Stunde der Gartenvögel“ am vergangenen Wochenende am häufigsten gesichtet. Danach folgen wie im Vorjahr Amsel, Kohlmeise und der Star. 32,2 Vögel wurden pro Garten oder Park gemeldet, das entspricht in etwa den Zahlen der Vorjahre.
„Bei wirklich gutem Wetter wurden uns bereits knapp eine Million Vögel gemeldet“, sagt NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller. „Und dabei gab es auch einige Überraschungen.“ Mit einem deutlichen Plus schneiden Nachtigallen mit 93 Prozent mehr Meldungen als im Vorjahr ab. Mauersegler kamen auf 78 Prozent mehr als bei der Zählung im vergangenen Mai. „Hier könnte das sonnige Wetter dafür gesorgt haben, dass man insbesondere den Mauersegler sehr häufig gesehen und gehört hat. Denn dann sind auch Insekten, die von ihnen gejagt werden, vermehrt in der Luft“, so Miller, „Zudem sind die Mauersegler in diesem Jahr etwas später aus ihren Winterquartieren in Afrika zurückgekehrt. Bei der letzten Stunde der Gartenvögel waren sie während des Zählwochenendes schon mit Brüten beschäftigt, während sie jetzt noch mitten in der Balz und daher öfter am Himmel zu sehen sind.“ Auch die Nachtigallen sind in diesem Jahr etwas später zurückgekommen. Sie sind daher noch voll in der Balz und darum häufiger zu hören.
Die Mehlschwalbe erreicht mit 22 Prozent mehr als im Vorjahr ihr bestes Ergebnis seit vier Jahren. Aber ob dies möglicherweise eine Trendwende in der Bestandsabnahme der Art markiert, müssen die nächsten Jahre zeigen. Auch der Zilpzalp kann mit 40 Prozent ein sattes Plus verbuchen.
Das Rotkehlchen wurde in diesem Jahr an zehn Prozentpunkte weniger Zählpunkten beobachtet als noch im Vorjahr, in dem es als Vogel des Jahres 2021 besondere Aufmerksamkeit erhielt und bei einem Anteil von fast 60 Prozent der Gärten und Parks mit Abstand das beste Ergebnis seit Jahren erzielte.
Die Blaumeise kann, mit einem Minus von elf Prozentpunkte nicht an die letztjährige Zählung anschließen. Miller: „Und das, obwohl es in diesem Jahr deutlich weniger Verdachtsfälle von Erkrankungen mit dem Bakterium Suttonella ornithocola gibt, welches in den vergangenen Jahren das Blaumeisensterben verursacht hat.“
Das gute Wetter sorgte zwar für häufigere Sichtungen einiger Arten, hat aber verbunden mit den wegfallenden Einschränkungen der letzten Jahre der „Stunde der Gartenvögel“ offenbar starke Konkurrenz beschert. Weniger als die Hälfte an Teilnehmenden und Meldungen der Vorjahre sind bis jetzt beim NABU eingegangen. Daher hoffen die Ornithologen darauf, dass in den kommenden Tagen noch viele Meldungen nachgereicht werden. Denn das ist noch bis zum 23. Mai möglich unter www.stundedergartenvoegel.de. Noch bis 20. Mai läuft für kleine Vogelfreunde die „Schulstunde der Gartenvögel“. Weitere Informationen dazu unter www.NAJU.de/sdg.
Die „Stunde der Gartenvögel“ ist eine wissenschaftliche Mitmachaktion von NABU und seinem bayerischen Partner LBV (Landesbund für Vogelschutz) und findet seit 2005 jedes Jahr am zweiten Maiwochenende statt. Jeder kann mitmachen und die Vögel zählen, die er oder sie im Laufe einer Stunde sieht oder hört.

17.05.2022, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
Schimpansen kombinieren Rufe zu einer Vielzahl von Lautsequenzen
Verglichen mit dem menschlichen Sprachgebrauch erscheint Tierkommunikation einfach. Unklar blieb bisher, wie sich unsere Sprache aus einem so einfachen System entwickelt haben könnte. Forschende der Max-Planck-Institute für evolutionäre Anthropologie und Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und des CNRS-Instituts für Kognitionswissenschaften in Lyon zeichneten in Taï (Elfenbeinküste) Tausende Lautäußerungen freilebender Schimpansen auf und konnten nachweisen, dass die Tiere Hunderte von verschiedenen Lautsequenzen produzierten, die aus bis zu zehn unterschiedlichen Rufen bestanden. Dabei folgte die Reihenfolge der Rufe ganz bestimmten Regeln.
Der Mensch ist die einzige bekannte Art auf der Erde, die Sprache verwendet. Wir tun dies, indem wir Laute zu Wörtern und Wörter zu hierarchisch strukturierten Sätzen zusammensetzen. Woher diese außergewöhnliche Fähigkeit stammt, blieb bisher ungeklärt. Um den evolutionären Ursprung der menschlichen Sprache zurückzuverfolgen, untersuchen Forschende, wie andere Tiere, insbesondere Primaten, im Vergleich zum Menschen Laute produzieren. Im Gegensatz zum Menschen verwenden nicht-menschliche Primaten häufig einzelne Rufe, die sie aber nur selten zu Lautfolgen miteinander kombinieren.
Die Lautkommunikation bei nicht-menschlichen Primaten erscheint daher viel weniger komplex zu sein als die menschliche Kommunikation. Doch die Komplexität der menschlichen Sprache ergibt sich nicht aus der Anzahl der Laute, die wir beim Sprechen verwenden – in den meisten Sprachen sind das weniger als 50 Laute – sondern aus der Art und Weise, wie wir Laute strukturiert zu Wörtern kombinieren und diese hierarchisch zu Sätzen zusammensetzen, um eine unendliche Anzahl von Bedeutungen auszudrücken. Tatsächlich verwenden auch nicht-menschliche Primaten bis zu 38 verschiedene Rufe, um zu kommunizieren, kombinieren diese aber nur selten miteinander. Struktur und Vielfalt der Lautsequenzen wurden bisher nicht ausreichend detailliert untersucht.
Forschende zeichneten Tausende von Rufen auf
Forschende des MPI-EVA und des MPI-CBS in Leipzig sowie des Instituts für Kognitionswissenschaften des CNRS in Bron, Lyon, Frankreich, zeichneten Tausende von Rufen auf, die von den Mitgliedern dreier Gruppen freilebender Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste erzeugt wurden. Sie identifizierten zwölf verschiedene Typen von Rufen und untersuchten, wie die Schimpansen sie zu Lautsequenzen kombinierten. „Die Beobachtung von Tieren in ihrem natürlichen sozialen und ökologischen Umfeld offenbart, wie ungeahnt komplex ihre Kommunikation ist“, sagt Erstautor Cédric Girard-Buttoz. „Die Zusammensetzung von Wörtern oder Wortgruppen zu Sätzen – die Syntax – ist ein Merkmal menschlicher Sprache. Um ihren Ursprung zu ergründen, müssen wir zunächst verstehen, wie genau die Lautäußerungen von Menschenaffen strukturiert sind“, fügt Emiliano Zaccarella, ein Hauptautor der Studie, hinzu.
Wenn Schimpansen miteinander kommunizieren, verwenden sie Hunderte von verschiedenen Sequenzen, die sich aus jeweils bis zu zehn verschiedenen Typen von Rufen aus ihrem Gesamtrepertoire zusammensetzen. In der aktuellen Studie dokumentieren die Autorinnen und Autoren diese Vielfalt erstmalig für eine nicht-menschliche Primatenart. Darüber hinaus belegen die Forschenden, dass Rufe – in Kombination mit bestimmten anderen Rufen – immer an bestimmten Positionen innerhalb der Sequenz auftreten. Das gilt auch für Sequenzen, die aus drei Typen von Rufen bestehen.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass das vokale Kommunikationssystem der Schimpansen viel komplexer und strukturierter ist als bisher angenommen“, sagt Co-Autorin Tatiana Bortolato, die die Rufe im Wald aufgezeichnet hat. „Dies ist die erste Studie im Rahmen eines größeren Projekts. Indem wir die Komplexität der Lautsequenzen freilebender Schimpansen erforschen, einer Tierart mit einem komplexen Sozialleben, ähnlich dem des Menschen, erhoffen wir uns mehr darüber zu erfahren, woher wir kommen und wie sich unsere einzigartige Sprache entwickelt hat“, sagt Catherine Crockford, eine Hauptautorin der Studie.
Zukünftig wird das Forschungsteam die Bedeutung dieser komplexen und strukturierten Lautsequenzen untersuchen und herausfinden, ob Schimpansen sich diese zunutze machen, um über eine größere Bandbreite an Themen miteinander kommunizieren zu können.
Originalpublikation:
Girard-Buttoz, C., Zaccarella, E., Bortolato, T. et al.
Chimpanzees produce diverse vocal sequences with ordered and recombinatorial properties
Communications Biology, 16 May 2022, https://doi.org/10.1038/s42003-022-03350-8

17.05.2022, Universität Zürich
Unbekannte Delfinarten aus dem Schweizer Mittelland identifiziert
Vor 20 Millionen Jahren schwammen Delfine dort, wo heute das Schweizer Mittelland liegt. Forschende des paläontologischen Instituts der Universität Zürich haben nun anhand ihrer Ohrknochen zwei bisher unbekannte Arten entdeckt, die mit den heute lebenden Pottwalen und ozeanischen Delfinen verwandt sind.
Vor ungefähr 20 Millionen Jahren wurde das Klima immer wärmer, die Meeresspiegel stiegen an und überschwemmten die tiefliegenden Gebiete Europas. Damals war die Schweiz Teil einer Insellandschaft, die von Fischen, Haien und Delfinen besiedelt war und auf deren Grund Muscheln und Seeigel heimisch wurden.
Paläontologen der Universität Zürich untersuchten nun in einer Studie rund 300 Fossilien von Walen und Delfinen aus jener Zeit. In den wichtigsten naturhistorischen und paläontologischen Sammlungen der Schweiz sind jedoch meist Fragmente von Zähnen, Wirbeln und Ohrknochen vorhanden, die in der sogenannten Oberen Meeresmolasse gefunden wurden. Dies deutet darauf hin, dass damals starke Strömungen die Tierskelette über den Meeresboden zogen und die Knochen verteilten.
Hörfähigkeit rekonstruiert
Dabei sind die Knochen, die das Innenohr enthalten, für die Wissenschaft am interessantesten: Sie erlauben eine Klassifizierung der einzelnen Arten. Sie sind jedoch eher selten zu finden. «Wir haben es dennoch geschafft, zwei Delfinfamilien zu identifizieren, deren Vorkommen in der Schweiz bisher unbekannt war», fasst der Paläontologe Gabriel Aguirre die Studienergebnisse zusammen.
Dank Mikro-Computertomographie konnten die Forschenden die weicheren Organe um die harten Ohrknochen herum rekonstruieren und 3D-Modelle erstellen. «Dies half uns, die Höhr-Fähigkeit der Delfine besser zu analysieren», erklärt Aguirre. Gemäss dieser Daten sind die ausgestorbenen Tiere mit den heute lebenden Pottwalen und ozeanischen Delfinen verwandt.
Originalpublikation:
Literatur:
Gabriel Aguirre-Fernández, Jürg Jost and Sarah Hilfiker. First records of extinct kentriodontid and squalodelphinid dolphins from the Upper Marine Molasse (Burdigalian age) of Switzerland and a reappraisal of the Swiss cetacean fauna. PeerJ, 16 Mai 2022. Doi: 10.7717/peerj.13251

18.05.2022, Dem Insektensterben auf der Spur: Landnutzung und Klima stören Kolonieentwicklung der Steinhummel
Universität Ulm
Bestäubende Insekten sind für die Biodiversität und die landwirtschaftliche Produktion unersetzlich. Doch seit Jahren geht der Bestand an Bienen, Hummeln und weiteren Insekten stark zurück. Mögliche Gründe reichen vom Klimawandel über den Einsatz von Pestiziden bis zum Verlust von Lebensraum. Nun haben Biologinnen und Biologen der Universität Ulm erstmals nachgewiesen, dass die Landnutzungsintensität und klimatische Veränderungen das chemische Duftprofil und die Körpergröße von Steinhummeln beeinflussen. Beide Faktoren könnten mitursächlich für den Insekten-Rückgang sein. Die Forschungsergebnisse sind im Fachjournal PLOS ONE erschienen.
Die große Mehrzahl der Wild- und Kulturpflanzen wird von Insekten bestäubt. Umso beunruhigender sind Ergebnisse der Forschungsplattform Biodiversitäts-Exploratorien: In einem Zeitraum von zehn Jahren ist die Anzahl der Insektenarten um ein Drittel zurückgegangen. Nun haben sich Ulmer Forschende auf Ursachensuche begeben: In den Exploratorien Schwäbische Alb, Hainich-Dün und Schorfheide-Chorin analysierten sie, wie sich Umweltbedingungen auf Arbeiterinnen der Steinhummel (Bombus lapidarius) auswirken. Die untersuchten Gebiete in Nord-, Mittel- und Süddeutschland sind in verschieden stark genutzte landwirtschaftliche Flächen eingebettet. Im Rahmen der Forschungsplattform werden zum Beispiel regelmäßig Klima-Daten aufgezeichnet und die Landnutzungsintensität erhoben – festgemacht an Beweidung, Mahd und Düngung.
Professor Manfred Ayasse, Seniorautor der jetzt veröffentlichten Publikation in PLOS ONE, ist Experte für die chemische Kommunikation von Insekten. Der Ulmer Biologe weiß: Eine Störung der Pheromonproduktion – etwa durch Umwelteinflüsse – kann den Fortbestand ganzer Kolonien gefährden. Daher stehen Oberflächenduftstoffe der Steinhummel im Zentrum der aktuellen Studie.
Alle benötigten Steinhummeln wurden im Sommer 2018 auf 42 Experimentierflächen der Biodiversitäts-Exploratorien eingesammelt und im Labor untersucht. „Mithilfe von chemischen Analysen haben wir die Menge und Zusammensetzung der Oberflächenduftstoffe von 307 Hummeln analysiert. Zudem wurde die Größe jedes Insekts gemessen; und letztlich haben wir unsere Ergebnisse mit der Bewirtschaftungsintensität der Untersuchungsflächen aus den drei Exploratorien korreliert“, erklärt Erstautor Florian Straub, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ulmer Institut für Evolutionsökologie und Naturschutzgenomik.
Die Untersuchungen zwischen Feld und Labor belegen den Einfluss der Umweltfaktoren und insbesondere der landwirtschaftlichen Nutzung. Tatsächlich verändert sich das Duftprofil der Steinhummel in Abhängigkeit von der Temperatur und Bewirtschaftungsintensität am Standort. Im Exploratorium Schorfheide-Chorin konnten die Forschenden zudem zeigen, dass die Gesamtduftstoffmenge durch eine steigende Landnutzungsintensität zunimmt. Sowohl die Veränderung des Duftprofils als auch der Duftstoffmenge birgt das Risiko, die chemische Insekten-Kommunikation zu stören.
Von einer solchen Modifikation ist auch das Königinnenpheromon betroffen, das eine Schlüsselrolle beim Insektensterben spielen könnte. Dieses Pheromon erfüllt nämlich eine wichtige Funktion bei der Arbeitsteilung und der sozialen Interaktion im Nest. Eine Störung dieser chemischen Kommunikation hat somit Auswirkungen auf die Fortpflanzung und die weitere Entwicklung der Kolonie.

Für die abnehmende Körpergröße der Insekten fanden die Forschenden ebenfalls eine Erklärung: Ursächlich ist wohl die Wechselwirkung zwischen Landnutzungsintensität und Untersuchungsregion, die beispielsweise das Futterangebot beeinflusst. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass weniger Futter einen nachteiligen Effekt auf die Larven-Entwicklung hat. Eine geringere Körpergröße gefährdet wiederum den Steinhummel-Bestand, indem kleinere Insekten weniger Nahrung transportieren und nicht so lange Strecken bei der Futtersuche zurücklegen können.
„Offenbar wirken sich eine intensive landwirtschaftliche Nutzung und Temperatur-Änderungen nachteilig auf die Fortpflanzung und Kolonieentwicklung der Steinhummel aus. Dies könnte eine Ursache für den dramatischen Insekten-Rückgang sein“, resümiert Professor Manfred Ayasse von der Universität Ulm. Allerdings sei der Effekt der Landnutzung oft erst in Verbindung mit klimatischen Veränderungen relevant gewesen.
Zukünftige Studien sollten die verschiedenen Einflussfaktoren – insbesondere rund um die landwirtschaftliche Nutzung – stärker differenzieren und die Mobilität der Insekten berücksichtigen.
Die Forschenden der Universität Ulm (Institut für Evolutionsökologie und Naturschutzgenomik), der TU München und der drei Exploratorien wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Zuge des Langzeit-Projekts „Biodiversitäts-Exploratorien“ unterstützt.
Originalpublikation:
Straub F, Kuppler J, Fellendorf M, Teuscher M, Vogt J, Ayasse M (2022) Land-use stress alters cuticular chemical surface profile and morphology in the bumble bee Bombus lapidarius. PLoS ONE 17(5): e0268474. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0268474

18.05.2022, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels
Bauchbrüten bei Reisfischen: Welche Faktoren die Evolution der komplexen Fortpflanzungsstrategie begünstigt haben
Reisfische auf Sulawesi haben eine besondere Art der Brutpflege entwickelt – das Bauchbrüten. Nur wenige Genorte bestimmen die assoziierten, morphologischen Merkmale und der Körper der Fische ist modular aufgebaut. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung des LIB fand heraus, dass diese beiden Faktoren die Evolution der komplexen Fortpflanzungsstrategie des Bauchbrütens erleichtert haben. Aufgrund der Modularität des Körperbaus konnten sich zum Beispiel die Bauchflosse und die Rippen in der Körpermitte – unabhängig von anderen Körperregionen – an das Bauchbrüten anpassen. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der Fachzeitschrift „Evolution” veröffentlicht.
Bauchbrütende Reisfischweibchen tragen ihre Eier unter ihrem Bauch gut geschützt von ihren Bauchflossen bis die Larven schlüpfen. Dafür haben die weiblichen Fische längere Bauchflossen und kürzere Rippen entwickelt. Ausgehend von der Eihülle sind die Eier mit dünnen Fäden im Innern der Mutter befestigt. Diese ganz besondere Form der Brutpflege ist bislang nur für drei Arten der Reisfische Sulawesis beschrieben und kommt in keiner anderen Fischgruppe in dieser Form vor.
Forschende des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB), Museum Koenig Bonn, des Zoologischen Museums Bogor, Java, Indonesien, des Departments Fischerei und Meeresforschung der Universität Manado, Indonesien und der Carl-von-Ossietzky Universität in Oldenburg haben untersucht was die genetischen Grundlagen für Entwicklung dieser Fortpflanzungsstrategie des Bauchbrütens sind. Im Rahmen der Studie wurde eine bauchbrütende Art mit einer nicht-bauchbrütenden Art gekreuzt. Die Nachkommen verschiedener Kreuzungslinien wurden morphologisch untersucht und vermessen.
Das Forschungsteam konnte zeigen, dass die an das Bauchbrüten angepassten Merkmale nur von wenigen Genorten (Loci) festgelegt werden. Diese genetischen Regionen steuern höchstwahrscheinlich mehrere Merkmale gleichzeitig (Pleiotropie). Dies schlossen die Forschenden aufgrund der starken Korrelationen zwischen den Merkmalen, die sowohl in der bauchbrütenden als auch in der nicht-bauchbrütenden Art gefunden wurden. Entscheidend ist außerdem, dass sich die für das Bauchbrüten typischen morphologischen Anpassungen in der Körpermitte unabhängig von den restlichen Körperregionen entwickeln konnten. „Die geringe Anzahl an verantwortlichen Loci sowie der modulare Körperbau könnten die schnelle Evolution der besonderen Weise der Brutpflege ermöglicht haben“, fasst Jana Flury, Doktorandin am LIB, Museum Koenig und Erstautorin der Studie die Ergebnisse zusammen. „Die bauchbrütenden Reisfische aus Sulawesi sind ein vielversprechendes Modellsystem, um zukünftig verschiedene Aspekte der Evolution komplexer Fortpflanzungsstrategien zu untersuchen“, erläutert Dr. Julia Schwarzer, Sektionsleiterin Evolutionäre Genomik am LIB, Museum Koenig Bonn.
Originalpublikation:
Flury, J.M., Hilgers, L., Herder, F., Spanke, T., Misof, B., Wowor, D., Boneka, F., Wantania, L.L., Mokodongan, D.F., Mayer, C., Nolte, A.W. and Schwarzer, J. (2022), The genetic basis of a novel reproductive strategy in Sulawesi ricefishes: How modularity and a low number of loci shape pelvic brooding. Evolution.
https://doi.org/10.1111/evo.14475

18.05.2022, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen
Tierisch flexibel: Wie Orang-Utan-Mütter mit ihrem Nachwuchs kommunizieren
Wissenschaftlerin Dr. Marlen Fröhlich hat mit einem Team Mutter-Kind-Interaktionen bei Orang-Utans untersucht. Sie legten besonderes Augenmerk auf individuelle Unterschiede und Flexibilität in den Kommunikationsstrategien von Orang-Utan-Müttern und untersuchte diese in freier Wildbahn und im Zoo. In ihrer heute im Fachjournal „Proceedings of the Royal Society B“ erschienenen Studie zeigen die Forschenden, dass die Affenmütter ihre Kommunikation sehr individuell an verschiedene soziale Kontexte anpassen. Unterschiede bestehen nicht nur in der Zusammensetzung ihres Gestenrepertoires, sondern auch in den kommunikativen Taktiken und den Reaktionen auf die Belange der Affenjungen.
Orang-Utans sind in freier Wildbahn normalerweise einzeln oder in sehr kleinen Gruppen anzutreffen. Dauerhafte Bindungen gibt es nur zwischen Müttern und ihren Jungtieren. Dort besteht der Zusammenhalt dafür besonders lange: Bis zu neun Jahre bereitet eine Orang-Utan-Mutter ihr Kind auf das selbstständige Leben vor. „Für unsere Studie zur innerartlichen Kommunikation bei Menschenaffen eignet sich daher die Mutter-Kind-Beziehung bei Orang-Utans ideal“, erklärt Marlen Fröhlich und fährt fort: „Denn trotz ihres Rufs als ‚einsame Menschenaffen‘ verfügen Orang-Utans sowohl in Gefangenschaft als auch in freier Wildbahn über ein reichhaltiges Repertoire an taktilen und visuellen Gesten, die sie in einer Vielzahl sozialer Kontexte einsetzen.“
Fröhlich und ein Team aus der Schweiz und aus Deutschland haben nun untersucht, zu welchem Grad das kommunikative Verhalten von Orang-Utans zwischen einzelnen Individuen variiert und wie es gleichzeitig an unterschiedliche soziale Bedingungen angepasst wird. Sie erläutert: „Wir haben hierfür untersucht, wie sich die auf das Kind gerichteten Repertoires von Orang-Utan-Müttern unterscheiden. Dafür haben wir die Ähnlichkeit der Gesten zwischen einzelnen Müttern analysiert, die entweder in Gefangenschaft oder in freier Wildbahn leben.“ Zudem analysierte das Team, wie sich die Kommunikationsmuster der Orang-Utan-Weibchen in verschiedenen sozialen Kontexten, zum Beispiel beim Teilen von Nahrung oder im sozialen Spiel, verändern. Insgesamt 4.839 Videoaufnahmen von 13 Borneo-Orang-Utans (Pongo pygmaeus) und 13 Sumatra-Orang-Utans (Pongo abelii) werteten die Forscher*innen hierfür aus.
„Die Gesten sowohl von Borneo- als auch von Sumatra-Orang-Utan-Müttern unterscheiden sich deutlich, wenn diese in unterschiedlichen Umgebungen leben. Dieser Befund deckt sich mit bisherigen Vergleichen von in freier Wildbahn und im Zoo lebenden Tieren. Überraschender ist, dass Orang-Utan-Mütter eine deutliche Verhaltensflexibilität auf individueller Ebene aufweisen. Sie kommunizieren in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedlich“, fasst die Tübinger Wissenschaftlerin zusammen und gibt ein Beispiel: „Während eine Mutter vor allem dem Bettelverhalten ihres Jungtiers nachkommt, reagiert eine andere gleichbleibend auf die Forderungen ihres Jungtiers über alle sozialen Kontexte hinweg.“
Die Forscher*innen schlussfolgern daraus, dass bei Orang-Utans das kommunikative Verhalten und die soziale Reaktionsbereitschaft zwischen den Individuen variiert, dabei aber gleichzeitig auch flexibel ist. Orang-Utan-Mütter unterscheiden sich somit nicht nur in der Zusammensetzung ihres auf den Nachwuchs gerichteten Gestenrepertoires, sondern auch in den kommunikativen Taktiken, wie etwa bei gestischen Wiederholungen oder in Reaktion auf Forderungen ihrer Kinder.
Originalpublikation:
Fröhlich Marlen, van Schaik Carel P., van Noordwijk Maria A. and Knief Ulrich 2022Individual variation and plasticity in the infant-directed communication of orang-utan mothersProc. R. Soc. B.2892022020020220200
http://doi.org/10.1098/rspb.2022.0200

19.05.2022, Eberhard Karls Universität Tübingen
Neue Krokodilart lebte vor 39 Millionen Jahren in Asien
Maomingosuchus wurde vier Meter lang ‒ Forschungsteam identifiziert Fossilien aus Vietnam
Wissenschaftler des Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen haben in Vietnam die Fossilien einer bisher unbekannten Krokodilart identifiziert. Das knapp vier Meter lange, fast vollständig erhaltene Skelett aus der Fundstelle Na Duong gehört zu den langschnäuzigen Krokodilen aus der Verwandtschaft der Sundagaviale. Das zwischen 35 und 39 Millionen Jahre alte Fossil gibt neuen Aufschluss über die Verbreitung dieser Krokodile von ihren Ursprüngen in Nordafrika und Westeuropa nach Südostasien. Die Studie erschien im Fachmagazin Journal of Systematic Palaeontology.
Gaviale haben eine lange Schnauze und sind auf Fischfang spezialisiert. Die heute lebenden Vertreter dieser Familie sind in ihrem Bestand gefährdet: der Sundagavial (Tomistoma schlegelii) von der Malaiischen Halbinsel, Borneo, Sumatra und Java sowie der Gangesgavial (Gavialis gangeticus) aus Nepal und Indien. Die genauen Verwandtschaftsverhältnisse dieser heutigen Krokodilarten sind trotz genetischer Untersuchungen noch nicht abschließend geklärt.
Aufgrund vieler Fossilfunde von Sundagavial-Verwandten aus Nordafrika und Europa geht die Wissenschaft davon aus, dass diese Krokodilart ihren Ursprung vor mehr als 50 Millionen Jahren in der westlichen Tethys hatte, einem Vorläufer des heutigen Mittelmeeres. Jedoch ist bislang wenig darüber bekannt, auf welchen Wegen, warum und wann genau sie ihr heutiges Verbreitungsgebiet in Südasien erreichte.
Die neu beschriebene Art erhielt den Namen Maomingosuchus acutirostris (acutirostris: lateinisch „der Spitzschnäuzige“) und ist nun – gemeinsam mit bereits bekannten Krokodilarten aus Südchina und Thailand – der älteste Vertreter der Sundagavial-Verwandten aus Asien. „Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die Verbreitung dieser Arten nach Asien nicht einmalig, sondern in einem komplexen Szenario stattfand“, sagt Tobias Massonne vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen. „Die Daten sprechen dafür, dass Verwandte des Sundagavials Südostasien dreimal unabhängig voneinander besiedelt haben: Das erste Mal fand eine Besiedlung durch die Stammlinie von Maomingosuchus von Nordafrika und Westeuropa aus nach Ostasien während des Zeitalters des Eozäns statt, vor über 39 Millionen Jahren.“
Bereits 2019 beschrieb das Forscherteam einen neuartigen, circa zwei Meter langen Alligatorverwandten (Orientalosuchus naduongensis) aus der gleichen Fundstelle. Beide Krokodile, der kurzschnäuzige Orientalosuchus und der langschnäuzige Maomingosuchus, lebten im gleichen damals in Nordvietnam zu findenden See. Nahe Verwandte beider Arten lebten auch zu etwa der gleichen Zeit im südlichen China und in Thailand. „Trotz der Nähe der drei Orte, in denen Maomingosuchus und Verwandte von Orientalosuchus gefunden wurden, ist auffällig, dass es verschiedene Arten sind und keine Art in allen drei Regionen vorkommt. Dies sehen wir als Beleg für die hohe Diversität von Krokodilen in Asien zu dieser Zeit“, ergänzt Professorin Madelaine Böhme, die die Grabungskampagne in Vietnam von 2009 bis 2012 leitete.
Originalpublikation:
Tobias Massonne, Felix J. Augustin, Andreas T. Matzke, Erich Weber, und Madelaine Böhme: A new species of Maomingosuchus from the Eocene of the Na Duong Basin (northern Vietnam) sheds new light on the phylogenetic relationship of tomistomine crocodylians and their dispersal from Europe to Asia. Journal of Systematic Palaeontology, https://doi.org/10.1080/14772019.2022.2054372.

19.05.2022, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Neue Virusvariante bedroht Bienengesundheit weltweit
Eine gefährliche Variante des Krüppelflügelvirus ist weltweit auf dem Vormarsch. Das Virus befällt Honigbienen und sorgt dafür, dass ihre Flügel verkümmern und die Tiere sterben. Die neue Variante, die in Europa den ursprünglichen Virenstamm bereits abgelöst hat, breitet sich auch in anderen Regionen der Welt aus und führt zum Kollaps ganzer Völker. Das zeigt eine Studie eines internationalen Forschungsteams unter Leitung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), das Daten zur Verbreitung der Virenvarianten aus den vergangenen 20 Jahren analysiert hat. Die Arbeit erschien im „International Journal for Parasitology: Parasites and Wildlife“. Am Freitag, 20. Mai, ist Weltbienentag.
Das „Deformed Wing Virus“ (Krüppelflügelvirus, DVW) wird über die Varroamilbe übertragen. „Die Milben übertragen aber nicht nur Viren, sondern fressen auch die Puppen der Bienen“, sagt der Bienenforscher Prof. Dr. Robert Paxton von der MLU. Er forscht seit vielen Jahren zur Verbreitung verschiedener Krankheitserreger bei Honig- und Wildbienen. „Das Krüppelflügelvirus ist definitiv die größte Bedrohung für Honigbienen“, sagt Paxton weiter. Der ursprüngliche Stamm des Virus („DVW-A“) wurde Anfang der 1980er Jahre in Japan entdeckt, die neue Variante „DVW-B“ wurde erstmals im Jahr 2001 in den Niederlanden beschrieben. „Unsere Laborstudien haben gezeigt, dass die neue Variante Bienen schneller tötet und dass sie gleichzeitig besser übertragen wird“, sagt Paxton.
Das Team um den Zoologen wollte deshalb herausfinden, wie weit die neue Variante bereits in der Natur verbreitet ist. Hierfür werteten die Forschenden rund 3.000 Datensätze von Honigbienen, Erdhummeln und Varroamilben aus der US-Biodatenbank NCBI aus, in denen sich Hinweise auf das Erbgut der Viren befinden. Zudem recherchierten sie für zahlreiche Länder die ersten wissenschaftlich dokumentierten Erwähnungen der „DVW-B“-Variante. „Unsere Analysen zeigen, dass sich die neue Variante in Europa bereits durchgesetzt hat und dass es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis die Variante überall auf der Welt dominant ist“, so Paxton. In den 2000er Jahren wurde die neue Variante vor allem in Europa und Afrika gefunden. In Nord- und Südamerika entdeckte man sie Anfang der 2010er Jahre, 2015 in Asien. Mit der Ausnahme von Australien ist die Virusvariante auf allen Erdteilen nachgewiesen. Das könnte den Forschenden zufolge daran liegen, dass sich die Varroamilbe in Australien bislang nicht weiträumig ansiedeln konnte.
Auch in den Proben von Erdhummeln ließen sich Hinweise auf das Virus finden. „Ob das Virus bei Hummeln und anderen Wildbienen ähnlich verheerende Folgen haben wird, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Bislang sterben kommerziell gehaltene Hummelvölker mit dem Virus immerhin nicht deutlich häufiger“, so Paxton. Es gebe verschiedene Mittel und Methoden, um Bienen vor der Varroamilbe und dem Virus zu schützen: „Das Wichtigste ist es, auf die Hygiene im Bienenstock zu achten. Hier können einfache Maßnahmen helfen, nicht nur das eigene Volk vor Varroa zu schützen, sondern auch Wildbienen, um die sich sonst niemand kümmert“, so Paxton abschließend.
Honigbienen sind als Bestäuber vieler Wild- und Kulturpflanzen unverzichtbar für den Fruchtertrag und für den Erhalt der Artenvielfalt. Der Verlust von Bienenvölkern wird daher von Expertinnen und Experten weltweit mit Sorge beobachtet. Um an die Bedeutung der Bienen zu erinnern hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 20. Mai als „Weltbienentag“ ausgerufen.
Die Studie wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem iranischen Ministerium für Wissenschaft und Technologie gefördert.
Originalpublikation:
Studie: Paxton et al. Epidemiology of a major honey bee pathogen, deformed wing virus: potential worldwide replacement of genotype A by genotype B. International Journal for Parasitology: Parasites and Wildlife (2022). doi: 10.1016/j.ijppaw.2022.04.013
https://doi.org/10.1016/j.ijppaw.2022.04.013

18.05.2022, Eberhard Karls Universität Tübingen
Unerwartete Unterschiede zwischen Männchen und Weibchen der frühen Hirschferkel
Tübinger Wissenschaftlerinnen untersuchen rund elf Millionen Jahre alte Schädelfunde aus der Tongrube Hammerschmiede im Allgäu
Hirschferkel gehören zu den kleinsten Wiederkäuern der Welt. Sie leben heute in den Tropen Afrikas und Asiens und sind kaum größer als Hasen. Männchen und Weibchen unterscheiden sich äußerlich nur wenig. Das war vor rund elf Millionen Jahren anders: Josephina Hartung und Professorin Madelaine Böhme vom Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen stießen bei der Untersuchung zweier fossiler Hirschferkelschädel aus der Tongrube Hammerschmiede im Allgäu auf einen bisher unbekannten Geschlechtsunterschied. Sie entdeckten am Schädel eines männlichen Hirschferkels auffällige Knochenwülste über den Augen, die den Weibchen fehlten. Die Studie wurde vor Kurzem im Fachmagazin PLOS ONE veröffentlicht.
„Bei heute lebenden Hirschferkeln unterscheiden sich die Männchen von den Weibchen nur durch vergrößerte und äußerlich sichtbare obere Eckzähne“, sagt die Doktorandin Josephina Hartung. Diese säbelartigen Hauer dienten im Kampf zweier Männchen als Waffe oder zur Demonstration von Stärke. Die Hirschferkel der ausgestorbenen Art Dorcatherium naui, die vor elf Millionen Jahren in der heutigen süddeutschen Gegend um Pforzen lebten, seien etwas größer gewesen als heutige Arten. Sie waren Zeitgenossen des ersten aufrecht gehenden Menschenaffen Danuvius guggenmosi, dessen Überreste aus der Hammerschmiede bereits vor einigen Jahren untersucht wurden.
Luftgefüllte Knochenstrukturen
„Das Ungewöhnliche an den männlichen Schädeln der Hirschferkel aus der Hammerschmiede sind gut ausgeprägte Knochenwülste, die das Schädeldach nahezu kranzartig umschließen“, erläutert Hartung. Dieses Merkmal war bisher sowohl bei heutigen als auch bei fossilen Hirschferkeln unbekannt. Weibliche Hirschferkelschädel vom selben Fundort wiesen dieses Merkmal nicht auf. Die Forscherinnen schlossen daraus, dass es sich um einen bis jetzt unentdeckten Geschlechtsunterschied, auch als Geschlechtsdimorphismus bezeichnet, handeln müsse. Eine Bestätigung dieses Befunds erhielten sie durch den Vergleich mit weiteren fossilen Schädeln dieser Hirschferkelart.
Interessant sei, dass die Schädelwülste des Männchens mit Luft gefüllt waren, sagt Hartung. Das hätten Messungen mithilfe der Mikro-Computertomografie ergeben, einem Röntgenverfahren, mit dem man dreidimensionale Bilder der inneren Struktur kleiner Proben erhält. „Diese Daten haben uns gezeigt, dass die Wülste keineswegs mit dichtem Knochenmaterial gefüllt waren, sondern vielmehr viele kleine Hohlräume besaßen, ähnlich wie bei heutigen Giraffen.“ Ob diese Hohlräume zur Verringerung des Gewichts des Schädels dienten oder eine andere Funktion hatten, ist derzeit noch unklar. „Möglicherweise schützte der über der Augenpartie liegende Wulstabschnitt das Auge vor Kampfverletzungen durch die dolchartigen Eckzähne eines anderen Männchens, wie man dies von Muntjakhirschen kennt“, mutmaßt Madelaine Böhme.
Hinweis auf eine ökologisch diverse Familie
Die Forscherinnen halten es auch für wahrscheinlich, dass die Knochenwülste als eine Art Darstellungsmerkmal dienten, als Schmuck oder zum Imponieren, um Weibchen zu beeindrucken oder andere Männchen abzuschrecken. Ähnliches sei von den nahverwandten Huftieren wie Giraffen, Hirschen und Antilopen bekannt, die als Stirnwaffenträger hornartige Auswüchse, Hörner oder Geweihe tragen. „Dass die evolutionsgeschichtlich primitiveren Hirschferkel Knochenwülste auf ihren Schädeln trugen, ist ein Novum für die Biologie dieser kleinen Wiederkäuer“, sagt Hartung. Dies deute darauf hin, dass die Hirschferkel einst eine ökologisch diversere Familie bildeten.
„Erneut haben die Grabungen in der Hammerschmiede gezeigt, welches einzigartige Potenzial die Fossilien besitzen. Sie helfen uns, mehr über die Evolution und Biologie ausgestorbener Arten zu erfahren“, sagt Böhme.
Originalpublikation:
Josephina Hartung & Madelaine Böhme 2022. Unexpected cranial sexual dimorphism in the tragulid Dorcatherium naui based on material from the middle to late Miocene localities of Eppelsheim and Hammerschmiede (Germany). PLOS ONE, https://doi.org/10.1371/journal.pone.0267951

20.05.2022, Justus-Liebig-Universität Gießen
Delfine nutzen Korallen zur Selbstbehandlung von Hautproblemen
JLU-Lebenswissenschaftlerin kann Biofunktionalität der präferierten Korallen nachweisen
Wenn ein Mensch einen Ausschlag hat, geht er vielleicht zum Arzt und nimmt eine Salbe mit, die er aufträgt. Indopazifische Große Tümmler bekommen auch Hautprobleme, aber sie besorgen sich Hilfe, indem sie sich an bestimmten Korallen und Schwämmen reiben. In der Zeitschrift „iScience“ vom 19. Mai zeigt ein internationales Forschungsteam, an dem die Lebenswissenschaftlerin Prof. Dr. Gertrud Morlock von der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) beteiligt ist, dass diese Korallen und Schwämme, an denen sich die Delphine reiben, biologisch aktive Stoffe beinhalten und hilfreiche biofunktionelle Eigenschaften haben. Das deutet darauf hin, dass die Delfine die wirbellosen Meerestiere zur Behandlung von Hautproblemen nutzen können.
Vor dreizehn Jahren beobachtete Angela Ziltener, eine Wildtierbiologin an der Universität Zürich, erstmals Delfine, die sich im nördlichen Roten Meer vor der Küste Ägyptens an Korallen rieben. Ihr und ihrem Team fiel auf, dass die Delfine wählerisch waren, an welchen Korallen sie sich rieben: „Ich hatte dieses Verhalten beim Reiben an Korallen noch nie zuvor gesehen, und es war klar, dass die Delfine genau wussten, welche Koralle sie benutzen wollten“, sagt Ziltener.
Die meisten Delfinforschungen werden von der Wasseroberfläche aus durchgeführt, aber da Ziltener Taucherin ist, konnte sie die Delfine aus der Nähe studieren. Sie brauchte einige Zeit, um das Vertrauen der Delfine zu gewinnen, was ihr auch deshalb gelang, weil die Delfine sich von den großen Blasen, die von den Tauchflaschen freigesetzt werden, nicht abschrecken lassen und sich an Taucher gewöhnt haben. „Manche Delfine, wie die Spinnerdelfine im südägyptischen Roten Meer, sind schüchterner, wenn es um Luftblasen geht“, sagt sie.
Als die Delfine es ihr erlaubten, sie regelmäßig zu besuchen, konnte das Team die Korallen und Schwämme, an denen sich die Delfine reiben, identifizieren und untersuchen. Die Forschenden fanden heraus, dass das wiederholte Reiben an den Korallen dazu führte, dass die winzigen Polypen, aus denen die Korallengemeinschaft besteht, Schleim abgaben. Um zu verstehen, welche Eigenschaften der Schleim hat, sammelte das Team diese Proben.
Als die Erstcoautorin Gertrud Morlock, analytische Chemikerin und Lebensmittelwissenschaftlerin an der JLU Gießen, und ihr Team Proben der Gorgonienkoralle Rumphella aggregata, der Lederkoralle Sarcophyton sp. und des Schwamms Ircinia sp. analysierten, fanden sie 17 biologisch aktive Substanzen mit antimikrobiellen, antioxidativen, hormonellen und toxischen Eigenschaften. Die Entdeckung dieser biologisch aktiven Verbindungen veranlasste das Team zu der Annahme, dass der Schleim der Korallen und Schwämme dazu dient, das Mikrobiom der Delfinhaut zu regulieren und Infektionen zu behandeln bzw. vorzubeugen. „Durch wiederholtes Reiben kommen die biologisch aktiven Substanzen der Korallen und Schwämme mit der Haut der Delfine in Kontakt“, sagt Morlock. „Diese Metaboliten könnten die Homöostase ihrer Haut unterstützen und für die Prophylaxe oder Zusatzbehandlung gegen mikrobielle Infektionen nützlich sein.“
Die Riffe, in denen diese Korallen zu finden sind, sind wichtige Orte für die lokalen Delfinpopulationen. „Viele Menschen wissen nicht, dass diese Korallenriffe Schlafplätze für die Delfine sind, aber auch Spielplätze“, sagt Ziltener. Zwischen den Nickerchen wachen die Delfine oft auf, um sich an den Korallen zu reiben. „Es ist fast so, als würden sie duschen und sich reinigen, bevor sie schlafen gehen oder für den Tag aufstehen“, sagt sie.
Die Forschung wurde unterstützt vom ägyptischen Umweltministerium, den Rangern der Red Sea National Parks Authority, der Sawiris Foundation, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der TU Berlin, Campus El Gouna, der Dolphin Watch Alliance, dem Orca Dive Club El Gouna sowie sowie an Aqualung, Deutschland, und Merck, Darmstadt, Deutschland.
Originalpublikation:
Morlock und Ziltener et al: „Evidence that Indo-Pacific bottlenose dolphins self-medicate with invertebrates in coral reefs“. DOI:10.1016/j.isci.2022.104271

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